Skip to main content

Full text of "Mikrokosmus; Ideen zur Naturgeschichte & Geschichte der Menschheit"

See other formats




Google 





This ıs a digital copy of a book that was preserved for generations on library shelves before ıt was carefully scanned by Google as part of a project 
to make the world’s books discoverable online. 


It has survived long enough for the copyright to expire and the book to enter the public domain. A public domain book is one that was never subject 
to copyright or whose legal copyright term has expired. Whether a book is in the public domain may vary country to country. Public domain books 
are our gateways to the past, representing a wealth of history, culture and knowledge that’s often difficult to discover. 


Marks, notations and other marginalia present in the original volume will appear ın this file - a reminder of this book’s long journey from the 
publisher to a library and finally to you. 


Usage guidelines 


Google ıs proud to partner with lıbraries to digitize public domain materials and make them widely accessible. Public domain books belong to the 
public and we are merely their custodians. Nevertheless, this work is expensive, so in order to keep providing this resource, we have taken steps to 
prevent abuse by commercial parties, including placing technical restrictions on automated querying. 


We also ask that you: 


+ Make non-commercial use of the files We designed Google Book Search for use by individuals, and we request that you use these files for 
personal, non-commercial purposes. 


+ Refrain from automated querying Do not send automated queries of any sort to Google’s system: If you are conducting research on machine 
translation, optical character recognition or other areas where access to a large amount of text ıs helpful, please contact us. We encourage the 
use of public domain materials for these purposes and may be able to help. 


+ Maintain attribution The Google “watermark” you see on each file is essential for informing people about this project and helping them find 
additional materials through Google Book Search. Please do not remove it. 


+ Keep it legal Whatever your use, remember that you are responsible for ensuring that what you are doing is legal. Do not assume that just 
because we believe a book is in the public domain for users in the United States, that the work is also in the public domain for users ın other 
countries. Whether a book is still in copyright varies from country to country, and we can’t offer guidance on whether any specific use of 
any specific book is allowed. Please do not assume that a book’s appearance ın Google Book Search means it can be used in any manner 
anywhere in the world. Copyright infringement liability can be quite severe. 


About Google Book Search 


Google’s mission is to organıze the world’s information and to make it universally accessible and useful. Google Book Search helps readers 
discover the world’s books while helping authors and publishers reach new audiences. You can search through the full text of this book on the web 


atihttp: //books.gooqle.com/ 








Digitized by Google 





Digitized by Google 


Digitized by Google 


Digitized by Google 





Digitized by Google 


Mikrokosmus. 


Ideen zur Naturgeſchichte und Geſchichte 
der Menſchheit. 


-Berfuh einer Anthropologie 
von 


Hermann Kotze. 


Erster Band. 
1. Der Leib. 2. Die Seele. 3. Das Leben. 





Berlag von S. Hirzel 
1884, 


3/7636 


Das Recht ber Ueberfegung ift vorbehalten. 





Den treuen Freunden 


Wilhelm Baum 


und 
Heinrich Ritter. 








— — 


— — ne. 





ARrA 
9 or THR 








®n 
UNIVFRSIT 


co: : no 
4 De > - 





Zwiſchen den Bedürfniſſen des Gemüthes und den Er- 
gebnifjen menjchliher Wiſſenſchaft ift ein alter nie gejchlich- 
teter Zwiſt. Jene hohen Träume des Herzens aufzugeben, 
die den Zufammenhang der Welt anders und fchöner geital- 
tet wiſſen möchten, als der unbefangene Blick der Beobach⸗ 
tung ibn zu ſehen vermag: dieſe Entjagung ift zu allen Zei⸗ 
ten al8 der Anfang jeglicher Einficht gefordert worden. Und 
gewiß ift das, was man fo gern als höhere Anficht der Dinge 
dem gemeinen Erkennen gegenüberjtellt, am bäufigften doch 
nur eine fehnfüchtige Ahnung, wohl fundig der Schranken, 
denen fie entfliehen, aber nur wenig des Zieles, das fie er- 
reichen möchte. Denn aus dem beften Theile unſeres Wefens 
entiprungen, empfangen doch jene Anfichten ihre beftimmtere 
Färbung von ſehr verfehiedenartigen Einflüffen. Genährt an 
mancherlei Zweifeln und Nachgevanfen über die Schickſale des 
Lebens und über den Inbalt eines doch immer befchräntten 
Erfabrungskreifes, verleugnen fie weder die Eindrücke überlie- 
ferter Bildung und augenblidlicher Zeitrichtungen, noch find 
fie feldft unabhängig von dem natürlichen Wechfel der Stim- 
mungen, bie andere find in der Jugend, andere nach der Auf- 
fammlung mannigfaltiger Erfahrungen. Dan Tann nicht 
ernjtlich hoffen, dag eine fo unklare und unrubige Bewe⸗ 


N 


VI 


gung des Gemüthes den Zuſammenhang der Dinge rich- 
tiger zeichnen werbe, als die bejonnene Unterfuchung, mit 
der in der Wifjenichaft Das Allen gemeinfame Denken befchäf- 
tigt ift. Dürfen wir dem menjchlichen Herzen nicht gebieten, 
jeine fehnfüchtigen ragen zu unterbrüden, fo wirb es gleich- 
wohl ihre Beantwortung als eine nebenher reifende Frucht 
jener Erfenntniß erwarten müſſen, bie nicht von denſelben 
Tragen, jondern von leivenfchaftsloferen und darum klareren 
Anfängen ausging. 

Aber das wachſende Selbftgefühl der Wiſſenſchaft, die 
nach Jahrhunderten des Schwankens einzelne Gebiete der Er- 
ſcheinungen zweifellofen Gefegen unterworfen jieht, droht die⸗ 
ſes richtigere Verhältniß zwiichen Gemüth und Erfennen in 


‚eine neue unwahre Stellung zu verfchieben. Man begnügt 


fih damit nicht, am Anfange der Unterfuchung fich der zu- 
dringlichen Fragen zu erwehren, mit denen unfere Wünfche 
Träume und Hoffnungen das beginnende Werk zu verwirren 
bereit find: man leugnet zugleich die Verpflichtung, im Laufe 
der Forſchung fich jemals zu ihnen zurüdzumenden. in rei- 
ner Dienjt der Wahrheit um der Wahrheit willen, babe die 
Wiſſenſchaft nicht zu forgen, ob fie die felbftfüchtigen Wünſche 
des Gemüthes befriebigen oder verlegen werde. Und von der 
Berzagtheit werdet fich auch hier das menschliche Herz zum Trotze. 
Nachdem es einmal den Stolz der unbefangenen und rüd- 
fiht8lofen Unterfuchung gefoftet Hat, wirft e8 fich in jenen 
falfchen und fo gebrechlichen Heroismus, der dem entfagt zu 
haben fih rühmt, dem nie entfagt werben darf, und fchäkt, 
in maßlofem Vertrauen auf keineswegs unbeftreitbare Voraus⸗ 
jegungen, die Wahrheit feiner neuen Weltanfiht nach dem 
Grade der Feindfeligkeit, mit welchem fie Alles beleidigt, was 
das lebendige Gemüth außerhalb der Wilfenichaft für unan- 
taſtbar achtet. | 

Diefe Vergötterung der Wahrheit fcheint mir weder als 
unabhängige Schätung ihres Werthes gerecht, noch vortheil- 








vo 


baft für den Zweck zu bewirkenver Veberzeugung, den bie 
Wiſſenſchaft Doch ſtets verfolgen muß. 

Könnte e8 der menſchlichen Forſchung nur darauf anlom- 
men, den Beitand der vorhandenen Welt erkennend abzubil- 
den, welchen Werth hätte dann doch ihre ganze Mühe, die 
mit der öden Wiederholung fchlöffe, daß, was außerhalb der 
Seele vorhanden war, nun nachgebilvet in ihr noch einmal 
vorkäͤme? Welche Bedeutung hätte das leere Spiel diefer Ver- 
boppelung, welche Pflicht der denkende Geift, ein Spiegel zu 
fein für das was nicht denkt, wäre nicht die Auffindung ber 
Wahrheit überall zugleich die Erzeugung eines Gutes, deſſen 
Werth die Mühe feiner Gewinnung rechtfertigt? Der Ein- 
zelne, in die Theilung der geiftigen Arbeit verſtrickt, welche der 
wachjende Umfang der Wiffenfchaft unvermeidlich berbeiführt, 
mag für Augenblide den Zuſammenhang feiner engbegrenzten Be- 
ſchäftigung mit den großen Zwecken des menjchlichen Lebens ver- 
geſſen; es mag ihm fcheinen, als fet die Förderung des Wiſſens 
um des Wiſſens willen an fich ein verſtändliches und würdiges 
Ziel menfchlicher Beitrebungen. Aber alle feine Bemühungen 
haben zulett Doch nur die Bedeutung, zufammtengefaßt mit denen 
unzähliger Andern, ein Bild der Welt zu entwerfen, das ung 
ausdeutet, was wir als den wahren Sinn des Daſeins zu 
ehren, was wir zu thun, was zu hoffen haben. Jene ſtrenge 
Unbefangenheit der Forſchung aber, die ohne alle Rückſicht 
auf dieſe Fragen zu dem Aufbau des Wiſſens mitwirkt, iſt 
nur eine weiſe Enthaltſamkeit, die eine ſpäte aber volle Be— 
antwortung derſelben von dem vereinigten Ergebniffe der Un- 
terfuchungen erwartet und diefe der verfrühten und einfeitigen 
Aufklärung vorzieht, mit welcher untergeoronete und zufällige 
Standpunkte unjer Verlangen unzureichend befchwichtigen. Den 
unrubigen Fragen baber, wie fie unzufammenbängend die Be- 
brängniß bes Lebens erzeugt, mag die Wifjenfchaft eine augen- 
blicliche Antwort vorenthalten; fie mag auf den Fortſchritt 
der Forſchung verweilen, der manche Schwierigkeit in Nichte 


nn — —— — — — — — — ·— — 


VIII 


auflöſen wird, ohne die neuen Verwirrungen zu verſchulden, 
in welche die vereinzelten Beantwortungen zudringlicher Zwei⸗ 
fel uns ſtets zu verwickeln pflegen. Aber das Ganze der 
Wahrheit dürfen wir nicht als eine abgeſchloſſene Glorie für 
ſich betrachten, von der keine nothwendige Beziehung mehr zu 
den Bewegungen des Gemüthes hinüberliefe, aus denen doch 
ſtets der erſte Antrieb zu ihrer Entdeckung hervorging. So 
oft vielmehr eine Umwälzung der Wiſſenſchaft alte Auffaſſungs⸗ 
weiſen verdrängt hat, wird die neue Geſtaltung der Anſichten 
ſich durch die bleibende oder wachſende Befriedigung rechtfer⸗ 
tigen müſſen, die ſie den unabweisbaren Anforderungen unſe⸗ 
res Gemüthes zu gewähren vermag. 

Ihre eigenen Zwecke müſſen jedoch die Wiſſenſchaft nicht 
minder beſtimmen, eine ſolche Verſtändigung zu ſuchen. Denn 
ſie ſelbſt, welchen andern Ort des Daſeins hätte ſie, als die 
Ueberzeugung derer, die von ihrer Wahrheit durchdrungen 
ſind? Aber ſie wird nie dieſe Ueberzeugung bewirken, wenn 
ſie vergißt, daß alle Bereiche ihrer Forſchung, alle Gebiete der 
geiſtigen und natürlichen Welt, vor jedem Anfange einer geord⸗ 
neten Unterſuchung längſt von unſern Hoffnungen Ahnun⸗ 
gen und Wünſchen überzogen und in Beſitz genommen ſind. 
Ueberall zu ſpät kommend, findet fie nirgends eine völlig un⸗ 
befangene Empfänglichleit; fie findet überall vielmehr bereits 
befeftigt jene Weltanficht des Gemüthes vor, die mit dem gan- 
zen Gewicht, welches fie ihrem Urfprunge aus der lebendigiten 
Sehnsucht des Geiftes verdankt, ſich hemmend an den Gang 
ihrer Beweife hängen wird. Und wo eine wideriwillige Ueber⸗ 
zeugung im Einzelnen dennoch erzivungen wird, da wird fie 
ebenfo leicht wieder im Ganzen durch die Erinnerung vereitelt, 
dag ja die Macht jener erften Grundſätze, Durch deren Folgen 
die Wiffenfchaft uns bezwingen will, zulegt auch nur auf 
einem unmittelbaren Glauben an ihre Wahrheit beruht. Mit 
demfelben Slauben meint man viel vichtiger fogleich jenes 
Weltbild felbft feithalten zu müſſen, deſſen Zuſammenklang mit 








IX 


der Stimme unferer Wünfche feine Wahrheit zu befräftigen 
fcheint. Und fo läßt man das Ganze der Wiſſenſchaft als ein 
Irrſal dahingeftellt fein, in welches die Erkenntniß, abgelöft 
von ihrem Zuſammenhange mit dem ganzen lebenpigen Geifte, 
auf nicht weiter angebbare Weife fich verwickelt babe. 

Man Tann im Glauben an die Welt des Gemüthes nicht 
ſchwärmen, ohne bei jevem Schritte des wirklichen Lebens die 
Vortheile der Wiſſenſchaft zu benugen und ihre Wahrheit ſtill⸗ 
fchweigend Dadurch anzuerkennen; man kann ebenfo wenig der 
Wiſſenſchaft leben, ohne Luft und Laſt des Dafeins zu em- 
pfinden und ſich von einer Weitorbnung anderer Art überall 
umfpannt zu fühlen, über welche jene kaum kärgliche Erläu- 
terungen gibt. Was liegt näher als die Ausflucht, ſich an 
beide Welten zu vertbeilen, beiden angehören zu wollen, obne 
fie doch zu vereinigen? in ber Wiſſenſchaft den Grundſätzen 
des Erkennens bis in ihre äußerſten Exrgebniffe zu folgen und 
im Leben fich von ven bergebrachten Gewöhnungen bes Glau- 
bens und Handelns nach ganz anderen Richtungen treiben zu 
laffen ? i 

Daß dieſe Zwiefpältigfeit der Ueberzeugung häufig die 
einzige Löſung tft, die man findet, ift nicht befremdlich; trau- 
tiger, wenn fie als die wahre Faſſung unferer Stellung zur 
Welt empfohlen würde. Die Unvollkommenheit menschlichen 
Willens kann uns wohl am Ende unferer Bemühungen zu 
bem Geſtändniſſe nöthigen, daß die Ergebniffe des Erkennens 
und bes Glaubens fich zu keinem Tüdenlojen Weltbaue vers 
einigen; aber nie können wir tbeilnahmlos aufehen, wie das 
Erkennen dur feinen Widerſpruch die Grundlagen des Glau⸗ 
bens unterhöhlt, oder dieſer kühl im Ganzen das ablehnt, 
was bie Wifjenfchaft eifrig im Einzelnen geftaltet hat. Im⸗ 
mer von neuem müffen wir vielmehr den ausprüdlichen Ver- 
fuch wiederholen, beiden ihre Rechte zu wahren und zu zeigen, 
wie wenig unauflöglih der Widerſpruch ift, in welchen fie 
unentwirrbar verwidelt erfcheinen. 


x 


Der Uebermuth der philoſophiſchen Forſchung und die 
raftlofen Fortſchritte der Naturwifjenfchaft haben von verichie- 
denen Seiten ber jenes Weltbild zu zerjtören gefucht, in wel- 
hen das menfchliche Gemüth die Befriedigung feiner Sehn- 
ſucht fand. Die Beunrubigungen jedoch, welche die Angriffe 
der Philofophie erzeugten, hat unfere Zeit durch das wird 
famfte Mittel überwunden, durch die völlige Theilnahmlofig- 
feit, mit der fie fich von den kaum mehr beachteten Anjtren- 
gungen der Speculation abwendet. Sie hat ficb nicht eben- 
jo Teicht der weit zudringlicheren Beredſamkeit der Natur- 
wiffenschaften entziehen können, deren Behauptungen jeden 
Augenblick die Erfahrungen des alitäglichiten Lebens beitä- 
tigten. Diefer übermächtige Einfluß, den die wahrhaft 
großartige Entwicdlung der Naturkenntniß auf alle Beftre- 
bungen unferes Jahrhunderts äußert, ruft unfehlbar einen 
ebenfo anwachſenden Widerftand gegen die Beeinträchtigungen 
hervor, die man von ihm für das Höchfte der menfchlichen 
Bildung erwartet. Und fo ftehen wieder die alten Gegenfäte 
zum Kampfe auf: bier die Erfenntniß der Sinnenwelt mit 
ihrem täglich ſich mehrenden Reichthum des beftimmteften 
Willens und der Ueberredungskraft anfchaulicher Thatfachen, 
dort die Ahnungen des Weberfinnlichen, Taum ihres eignen ° 
Inhaltes vecht ficher, jeder Beweisführung fehwer zugänglich, 
aber durch ein ftet8 wiederkehrendes Bewußtfein ihrer dennoch 
nothwendigen Wahrheit noch unzugänglicher für jede Wiber- 
legung. Daß der Streit zwifchen diefen beiden eine unnöthige 
Dual ift, die wir durch zu frühes Abbrechen der Unterfuchung 
uns felbft zufügen, dies ift die Weberzeugung, die wir bes 
feitigen möchten. 

Gewiß mit Unrecht werdet fich die Naturwiſſenſchaft ganz 
von den äſthetiſchen und religiöfen Gedankenkreiſen ab, vie 
man ihr als eine höhere Auffaffung der Dinge überzuordnen 
liebt; fie fürchtet ohne Grund, ihre fcharfbegrenzten Begriffe 
und bie fefte Fügung ihrer Methoden durch die Aufnahme von 





xI 


Elementen zerrüttet zu ſehen, bie alfer Berechnung unfähig, 
ihre eigne Unbeftimmtheit und Nebelhaftigfeit Allem mitthei- 
len zu müfjen feinen, was mit ihnen in Berührung fommt; 
fie vergißt endlich, daß ihre eignen Grundlagen, unjere Vor⸗ 
jtellungen von Kräften und Naturgefegen, noch nicht die Schluß- 
gewebe der Fäden find, die fich in der Wirklichkeit verfchlin- 
gen. Auch fie laufen vielmehr für einen ſchärferen Blid in 
daffelbe Gebiet des Meberfinnlichen zurück, deſſen Grenzen man 
umgeben möchte, 

Nicht minder unbegründet aber ift, was anderſeits der 
Anerkennung der mechanischen Naturauffaffung jo bemmend 
entgegenfteht: die ängftliche Furcht, vor ihren Folgerungen alle 
Lebendigkeit, Freiheit und Poefie aus der Welt verjchwinden 
zu ſehen. Wie oft ift dieſe Burcht ſchon geäußert worden, 
und wie oft bat der unaufbaltfame Fortfehritt der Entdeckun⸗ 
gen neue Duellen der Poefie eröffnet für die alten, die er 
verfchütten mußtel Jenes Gefühl der Heimatlichkeit, mit dem 
ein abgefchlofjenes Volt, unfundig des unermeßlichen menfch- 
lichen Lebens auch außerhalb feiner Grenzen, fich jelbft als die 
ganze Meenfchheit, und jeden Hügel, jeve Duelle feines Landes in 
der pflegenden Obhut einer befonderen Gottheit fühlen durfte: 
biefe Einigfeit des Göttlihen und Menfchlichen ift überall zu 
Grunde gegangen in dem Fortfchritte der geograpbifchen Kennt⸗ 
niß, den der wachſende Völkerverkehr herbeiführte. Aber Diefe 
erweiterte Ausficht verdarb nicht, ſondern veränderte nur und 
erhöhte den poetiſchen Keiz der Welt. Die Entdedungen der 
Aſtronomie zerftörten den Begriff des Hintmels, wie den ber 
Erde; fie Löften jenen, den anjchaulichen Wohnfig der Götter, 
in die Unermeßlichfeit eines Luftkreiſes auf, in welchem bie 
Phantafie Feine Heimat des Weberfinnlichen mehr zu finden 
wußte; fie wandelten die Erbe, die einzige Stätte des Lebens 
und ber Gefchichte, in einen der Heinften Theile des grenzen- 
Iojen Weltalis um. Und Schritt für Schritt nahm Diefe Jer- 
ftörung altgewohnter Anſchauungen ihren weiteren Verlauf. 





xu 


Aus einem ruhenden Mittelpunkte warb die Erde ein verloren 
wandelnder Planet, um eine Sonne kreifend, die vorher nur 
zu ihrem Schmud und Dienſt vorhanden ſchien; felbit bie 
Harmonie der Sphären fchiwieg, und Alle haben wir ung 
darein gefunden, daß ein ſtummer, allgemeinen Geſetzen ge» 
horchender Umſ chwung unzähliger Himmelskörper die um⸗ 
faſſende Welt iſt, in der wir mit allen unſeren Hoffnungen, 
Wünſchen und Beſtrebungen wohnen. 

Daß dieſe Umbildung der kosmographiſchen Anſchauun⸗ 
gen auf das Bedeutſamſte im Laufe der Geſchichte die Phan⸗ 
taſie der Völker umgeſtimmt bat, wer möchte dies leugnen? 
Anders lebt es fich gewiß auf der Scheibe der Erbe, wenn bie 
fihfbaren Gipfel des Olymp und in erreichbarer Ferne bie 
Zugänge der Unterwelt alle höchften und tiefiten Geheimnifje 
des Weltbaues in die vertrauten Grenzen der anfchaulichen 
Heimat einfchließen ; anders auf der rollenvden Kugel, die we⸗ 
der im Innern noch um fich in ber öden Unermeßlichkeit des 
Luftkreiſes Platz für jenes Verborgene zu haben jcheint, durch 
deffen Ahnung allein das menſchliche Leben zur Entfaltung 
feiner böchften Blüthen befruchtet wird. An dem Faden einer 
heiligen Weberlieferung mochte die Vorzeit das Gewirr der 
Völker, das den bunten Markt des Lebens füllt, in die ftille 
Heimlichkeit des Paradiefes zurücleiten, in deſſen Schatten 
die Mannigfaltigfeit der menjchlichen Gefchlechter das verbin- 
dende Bewußtfein eines gemeinſamen Urſprunges wiederfand; 
die Entdeckung neuer Erdtheile erichlitterte auch dieſen Glau⸗ 
ben; andere Völker traten in den Geſichtskreis ein, unkundig 
der alten Sagen, und die gemeinfame Heimat der Menjchheit 
wurde weit über die äußerſten Grenzen geſchichtlicher Erinne- 
rung hinausgerückt. Enblich that die ftarre Rinde des Pla⸗ 
neten jelbft, ven das menschliche Gefchlecht feit dem Tage fei- 
ner Entſtehung zu befiten wähnte, ihren verjchloffenen Mund 
auf und erzählte von unmeßbaren Zeiträumen des Dafeins, 
in denen dies menſchliche Leben mit feinem Trotz und feiner 





x 


Berzagtheit noch nicht war und die fchöpferifche Natur, auch 
fo fih genügend, zahlreiche Gattungen des Lebendigen wech 
felnd entftehen und vergeben ließ. 

Sp find alle die freundlichen Begrenzungen zerfallen, 
durch die unfer Dafein in eine fchöne Sicherheit eingefriedigt 
lag; unermeßlich, frei und kühl ift die Ausfiht um uns ber 
geworden. Aber alle diefe Erweiterungen unferer Kenntniffe 
haben weder die Poefie aus der Welt vertrieben, noch unfere 
religiöfen Weberzeugungen anders als förberlich berührt; fie 
haben ung gendtbigt, was in anfchaulicher Nähe uns verloren 
war, mit größerer geijtiger Anftrengung in einer überfinnlichen 
Welt wieberzufinden. Die Befriedigung, die unfer Gemüth 
in Lieblingsanfichten fand, tft ftetS, wenn diefe dem Forts 
jgritte der Wiffenfchaft geopfert werben mußten, in ande 
ren neuen Formen wieder möglich geworben. Wie dem Ein- 
zelnen im Verlaufe jeiner Lebensalter, jo verwandeln fich auch 
unvermeiblid in der Gejchichte des menfchlichen Gefchlechtes 
die beftimmten Umriſſe des Bildes, in dem e8 den Inhalt 
feiner höchften und unverlierbaren Ahnungen ausprägt. Nub- 
108 ift jede Anftrengung, der Haren Erfenntniß der Wiſſen⸗ 
ſchaft zu widerjtreben und ein Bild fefthalten zu wollen, von 
dent uns doch das heimliche Bewußtſein verfolgt, Daß es ein 
gebrechlicher Traum fer; gleich übel berathen aber ift bie Ver⸗ 
zweiflung, die das aufgibt, was bei allem Wechjel feiner For⸗ 
men doch der unerjchütterliche Zielpunkt menjchlicher Bildung 
fein muß. Geſtehen wir vielmehr zu, daß jene höhere Auf- 
fafjung der Dinge, deren wir uns bald rühmen, bald gänzlich 
unfähig fühlen, in ihrem dunklen Drange fich Des rechten Wer 
ges wohl bewußt iſt, und daß jede beachtete Einrede der Wiffen- 
fchaft nur eine der täufchenden Beleuchtungen zerftreut, welche 
die wechfelnden Standpunkte unferer veränderlichen Erfahrung 
auf das beftändig gleiche Ziel unferer Sehnfucht werfen. 

Jene Entgötterung des gefammten Weltbaues, welche die 
Tosmographiichen Entvedungen der Vorzeit unwiderruflich polls 


XIV 


zogen haben, ven Umfturz der Mythologie, dürfen wir als 
verichmerzt anfeben, und ber letten Klage, die in Schillers 
Göttern Griechenlands ſich ergoß, wird nie ein Verſuch fol- 
gen, im Wiberftreit mit den Kehren der Wiſſenſchaft den Glau- 
ben an diejes Vergangene wieberberzuftellen. Große Umwäl⸗ 
zungen der religiöfen Anfichten haben über dieſen Verluſt 
binausgeführt und längjt den überreichen Erſatz dargeboten. 
Aber wie die wachjende Ternficht der Aftronomie den großen 
Schauplat des menschlichen Lebens aus feiner unmittelbaren 
Verſchmelzung mit dem Göttlichen löſte, jo beginnt das wei⸗ 
tere Vorbringen der mechanifchen Wiſſenſchaft auch die Kleinere 
Welt, ven Milrofosmus des menſchlichen Weſens, 
mit gleicher Zerfegung zu bedrohen. Ich denke nur flüchtig 
hierbei an die überhandnehmende Verbreitung materialiftiicher 
Auffaffungen, die alles geiftige Leben auf das blinde Wirken 
eines körperlichen Mechanismus zurüdführen möchten. So 
breit und zuverfichtlich ver Strom diefer Anfichten fließt, hat 
er feine Quelle doch feineswegs in unabweisbaren Annahmen, 
die mit dem Geifte der mechanifchen Naturforſchung unzer- 
trennlich zuſammenhingen. Aber auch innerhalb der Grenzen, 
in denen fie fich mit befjerem echte bewegt, ift die zerſetzende 
und zerftörende Thätigfeit diefer Forſchung fichtbar genug und 
beginnt alle jene durchdringende Einheit des Körpers und ber 
Seele zu beitreiten, auf der jede Schönheit und Lebendigkeit 
der Geftalten, jeve Bebeutjamfeit und jeder Werth ihres Wech- 
felverfehrs mit der äußeren Welt zu beruhen fchien. Gegen 
die Wahrheit der finnlichen Erfenntniß, gegen die freie Will 
fürlichfeit der Bewegungen, gegen die fchöpferiiche, aus fich 
ſelbſt quellende Entwicklung des körperlichen Dafeins überhaupt 
find die Angriffe der phyſiologiſchen Wiſſenſchaft gerichtet ge- 
weſen und haben fo alle jene Züge in Frage geftellt, in de⸗ 
nen das unbefangene Gefühl den Kern aller Poefie des leben⸗ 
digen Dafeins zu befiten glaubt. Befremdlih kann daher die 
Standhaftigkeit nicht fein, mit welcher die Weltanficht des Ge⸗ 





XV 


müthes al8 höhere Auffafjung der Dinge den überzeugenden 
Darftellungen der mechanischen Naturbetrachtung bier zu wi- 
berjtreben ſucht; um fo nöthiger Dagegen der Verſuch, bie 
Harmloſigkeit diefer Anficht nachzuweifen, Die, wo fie ung 
zwingt, Anfichten zu opfern, mit benen wir einen Theil uns 
ſeres Selbit hinzugeben glauben, doch durch das, was fie uns 
zurüdgibt, die verlorene Befriedigung wieder möglich macht. 

Und je mehr ich felbft bemüht gewefen bin, den Grund- 
fügen der mechanifchen Naturbetrachtung Eingang in das Ge- 
biet des organischen Lebens zu bereiten, das fie zagbafter zu 
betreten ſchien, als das Wefen der Sache e8 gebot: um fo 
mehr. fühle ich den Antrieb, nun auch jene andere Seite her- 
vorzufehren, die während aller jener Beftrebungen mir gleich 
fehr am Herzen lag. Ich darf kaum hoffen, ein ſehr günfti- 
ges Vorurtheil für den Erfolg diefer Bemühung anzutreffen; 
denn was jene früheren Darftellungen an Zuftinnmung etwa 
gefunden haben mögen, das dürften fie am meiften der LXeich- 
tigfeit verdanfen, mit der jede vermittelnde Anficht fich dahin 
umdeuten läßt, daß fie Doch wieder einer der einfeitigen äußer⸗ 
ſten Meinungen günftig erſcheint, welche fie vermeiden wollte. 
Gleichwohl Liegt in diefer Vermittlung allein der wahre Le- 
benspunkt der Wiſſenſchaft; nicht darin freilich, daß wir bald 
der einen bald der andern Anficht zerftücelte Zugeſtändniſſe 
machen, fondern darin, daß wir nachweifen, wie ausnahms- 
los univerfell die Ausdehnung, und zugleich wie 
völlig untergeordnet die Bedeutung der Sendung 
ist, weldhe der Mehanismus indem Baue der Welt 
zu erfüllen bat. 

Es ift nicht der umfafjende Kosmos des Weltganzen, 
deſſen Beichreibung wir nach dem Mufter, das unferem Volle 
gegeben ift, auch nur in dem befchränkteren Sinne diefer aus⸗ 
gejprochenen Aufgabe zu wieverholen wagen möchten. Ie mehr 
die Züge jenes großen Weltbildes in das allgemeine Bewußt- 
fein dringen, deſto lebhafter werben fie uns auf uns felbft zu- 


XVI 


rũckleuken und die Fragen von neuem anregen, welche Be⸗ 
deutung nun der Menſch und das menfchliche Leben mit fei- 
nen beftändigen Erſcheinungen und dem veränberlichen Laufe 
feiner Geſchichte in den großen Ganzen der Natur hat, deren 
beftänbigem Einfiuffe wir uns nach den Ergebniffen der neue 
ren Wifienfchaft mehr als je unterworfen fühlen. Indem wir 
bierliber die Reflerionen zu fammeln fuchen, vie nicht alfein 
innerhalb ber Grenzen ver Schule, fondern überall im Leben 
fi dem nachvenflicden Gemũthe aufprängen, wiederholen wir 
unter den veränderten Anſchauungen, welde vie Gegenwart 
gewonnen, das Unternehmen, das in Herders Feen zur 
der Menſchheit feinen glänzenden Beginn gefun- 
t. 





Den treuen Freunden 


Bildbelm Baum 


und 


Seinrid Ritter. 


Zwiſchen den Bedürfniſſen des Gemüthes und den Er⸗ 
gebniſſen menſchlicher Wiſſenſchaft iſt ein alter nie gefchlich- 
teter Zwiſt. Jene hohen Träume des Herzens aufzugeben, 
die den Zuſammenhang der Welt anders und ſchöner geſtal⸗ 
tet willen möchten, als der unbefangene Blid der Beobach⸗ 
tung ihn zu ſehen vermag: dieſe Entjagung ift zu. allen Zei⸗ 
ten als der Anfang jeglicher Einficht gefordert worden. Und 
gewiß ift das, was man fo gern als höhere Anficht der Dinge 
dem gemeinen Erkennen gegenüberftellt, am bäufigften doch 
nur eine fehnfüchtige Ahnung, wohl kundig der Schranken, 
denen fie entfliehen, aber nur wenig des Zieles, das fie er- 
reichen möchte. Denn aus dem beiten Theile unferes Weſens 
entfprungen, empfangen doch jene Anfichten ihre beitimmtere 
Färbung von ſehr verſchiedenartigen Einflüffen. Genährt an 
mancherlei Zweifeln und Nachgedanken über die Schickſale bes 
Lebens und über den Inhalt eines doch immer befchräntten 
Erfabrungskreifes, verleugnen fie weder die Eindrücke überlie⸗ 
ferter Bildung und augenblidlicher Zeitrichtungen, noch find 
fie jeldjt unabhängig von dem natürlichen Wechjel der Stim- 
mungen, bie andere find in der Jugend, andere nach der Auf- 
fammlung mannigfaltiger Erfahrungen. Man kann nicht 
ernftlich hoffen, daß eine fo unflare und unruhige Bewe- 


VI 


gung des Gemüthes den Zuſammenhang der Dinge rich⸗ 
tiger zeichnen werde, als die beſonnene Unterſuchung, mit 
der in der Wiſſenſchaft das Allen gemeinſame Denken beſchäf⸗ 
tigt iſt. Dürfen wir dem menſchlichen Herzen nicht gebieten, 
feine ſehnſüchtigen Fragen zu unterdrücken, jo wird es gleich- 
wohl ihre Beantwortung als eine nebenher reifende Frucht 
jener Erfenntnig erwarten müffen, bie nicht von denfelben 
ragen, fondern von leivenfchaftsloferen und darum Tlareren 
Anfängen ausging. 

Aber das wachiende Selbftgefühl der Wiſſenſchaft, bie 
nach Sahrhunderten des Schwankens einzelne Gebiete der Er- 
fcheinungen zweifellofen Gefegen unterworfen ſieht, droht die⸗ 
ſes richtigere Verhältniß zwifchen Gemüth und Erkennen in 
eine nee unwahre Stellung zu verfchieben. Man begnügt 
fih damit nicht, am Anfange der Unterſuchung ſich der zu- 
dringlichen Fragen zu erwehren, mit denen unfere Wünfche 
Träume und Hoffnungen das beginnende Werk zu verwirren 
bereit find: man leugnet zugleich die Verpflichtung, im Laufe 
der Forſchung fich jemals zu ihnen zurüdzumenden. Ein rei» 
ner Dienft der Wahrbeit um der Wahrheit willen, babe die 
Wiſſenſchaft micht zu forgen, ob fie die felbftfüchtigen Wünſche 
des Gemüthes befriedigen oder verlegen werde. Und von der 
Verzagtheit wendet fich auch hier das menfchliche Herz zum Trotze. 
Nachdem es einmal ven Stolz der unbefangenen und rüd- 
ſichtsloſen Unterſuchung geloftet bat, wirft e8 ſich in jenen 
falichen und fo gebrechlichen Heroismus, der dem entjagt zu 
haben fich rühmt, dem nie entfagt werben darf, und fehägt, 
in maßlofem Vertrauen auf keineswegs unbejtreitbare Voraus⸗ 
jeßungen, die Wahrheit feiner neuen Weltanficht nach dem 
Grade der Feinpfeligfeit, mit welchem fie Alles beleidigt, was 
das Iebendige Gemüth außerhalb der Wilfenjchaft für unan- 
taftbar achtet. 

Diefe Vergötterung der Wahrheit Scheint mir weder als 
unabhängige Schätung ihres Werthes gerecht, noch vortheil- 











vo 


baft für den Zweck zu bewirkenver Ueberzeugung, ven bie 
Wiſſenſchaft doch ſtets verfolgen muß. 

Könnte es der menfjchlichen Forſchung nur darauf anlom- 
men, den Beſtand der vorhandenen Welt erfennend abzubil- 
den, welchen Werth Hätte dann doch ihre ganze Mühe, die 
mit der öden Wiederholung ſchlöſſe, daß, was außerhalb ver 
Seele vorhanden war, nun nachgebilvet in ihr noch einmal 
vorkäme? Welche Bebeutung hätte das leere Spiel diefer Ver- 
boppelung, welche Pflicht der denkende Geift, ein Spiegel zu 
fein für das was nicht denkt, wäre nicht die Auffindung der 
Wahrheit überall zugleich die Erzeugung eines Gutes, deſſen 
Werth die Mühe feiner Gewinnung rechtfertigt? Der Ein- 
zelne, in die Theilung der geiftigen Arbeit verftrickt, welche der 
wachjende Umfang der Wiſſenſchaft unvermeiblich herbeiführt, 
mag für Augenblide den Zuſammenhang feiner engbegrenzten Be- 
Tchäftigung mit ven großen Zwecken des menfchlichen Lebens ver- 
geſſen; es mag ihm fcheinen, als jet die Förderung des Willens 
um des Wiſſens willen an fich ein verftändliches und würbiges 
Ziel menſchlicher Beftrebungen. Aber alle feine Bemühungen 
haben zulegt doch nur die Bedeutung, zufammengefaßt mit denen 
unzäbliger Andern, ein Bild der Welt zu entwerfen, das ung 
ausdentet, was wir als den wahren Sinn bes Daſeins zu 
ehren, was wir zu thun, was zu hoffen haben. Jene jtrenge 
Unbefangenbeit der Forſchung aber, die ohne alle Nüdkficht 
auf diefe Fragen zu dem Aufbau des Wiſſens mitwirkt, ift 
nur eine weife Enthaltfamfeit, die eine fpäte aber volle Be⸗ 
antwortung derjelben von dem vereinigten Ergebniffe der Un- 
terfuchungen erwartet und diefe Der verfrühten und einfeitigen 
Aufklärung vorzieht, mit welcher untergeorbniete und zufällige 
Standpunkte unfer Verlangen unzureichend befchwichtigen. Den 
unrubigen Fragen daher, wie fie unzufammenhängend die Be- 
drängniß des Lebens erzeugt, mag die Wiffenfchaft eine augen- 
blickliche Antwort vorenthalten; fie mag auf den Fortſchritt 
der Forſchung verweilen, der manche Schwierigkeit in Nichts 


VII 


auflöfen wird, ohne bie neuen Verwirrungen zu verſchulden, 
in welche die vereinzelten Beantwortungen zubringlicher Zwei- 
fel uns ftetS zu verwideln pflegen. Aber das Ganze ber 
Wahrheit pürfen wir nicht als eine abgefchloffene Glorie für 
ſich betrachten, von der keine nothwendige Beziehung mehr zu 
den Bewegungen des Gemüthes hinüberliefe, aus denen boch 
jtet8 ber erjte Antrieb zu ihrer Entdedung hervorging. So 
oft vielmehr eine Umwälzung der Wiſſenſchaft alte Auffaſſungs⸗ 
weifen verbrängt hat, wird die neue Geftaltung ber Anfichten 
fich durch die bleibende oder wachjende Befriedigung rechtfer- 
tigen müſſen, die fie den unabweisbaren Anforderungen unfe- 
res Gemüthes zu gewähren vermag. 

Ihre eigenen Zwecke müffen jeboch die Wiffenfchaft nicht 
minder bejtimmen, eine folche Verftändigung zu fuchen. Denn 
fie felbjt, welchen andern Ort des Daſeins hätte fie, als die 
Meberzeugung derer, die von ihrer Wahrheit durchdrungen 
find? Aber fie wird nie dieſe Veberzeugung bewirken, wenn 
fie vergißt, daß alle Bereiche ihrer Forſchung, alle Gebiete ber 
geiftigen und natürlichen Welt, vor jedem Anfange einer geord⸗ 
neten Unterfuhung längft von unfern Hoffnungen Ahnun⸗ 
gen und Wünfchen überzogen und in Befig genommen find. 
Ueberall zu jpät kommend, findet fie nirgends eine völlig un- 
befangene Empfänglichleit; fie findet überall vielmehr bereits 
befejtigt jene Weltanficht des Gemüthes vor, die mit dem gan- 
zen Gewicht, welches fie ihrem Urfprunge aus der lebendigſten 
Sehnfucht des Geiftes verdankt, fich hemmend an den Gang 
ihrer Beweife hängen wird. Und io eine widerwillige Ueber⸗ 
zeugung im Einzelnen dennoch erzwungen wird, da wird fie 
ebenfo leicht wieder im Ganzen durch die Erinnerung vereitelt, 
daß ja die Macht jener erften Grundfäge, durch deren Folgen 
die Wifjenfchaft uns bezwingen will, zulekt auch nur auf 
einem unmittelbaren Glauben an ihre Wahrheit beruft. Mit 
demfelben Glauben meint man viel richtiger fogleich jenes 
Weltbild felbit feitbalten zu müffen, deſſen Zufammenklang mit 





IX 


der Stimme unferer Wünfche feine Wahrheit zu befräftigen ” 
ſcheint. Und fo läßt man das Ganze der Wilfenfchaft als ein 
Irrſal dahingeſtellt fein, in welches die Erkenntniß, abgelöſt 
von ihrem Zufammenbange mit vem ganzen lebendigen Geifte, 
auf nicht weiter angebbare Weife fich verwickelt babe. 

Man kann im Glauben an bie Welt des Gemüthes nicht 
ſchwärmen, ohne bei jedem Schritte des wirklichen Lebens die 
Bortheile der Wiſſenſchaft zu benugen und ihre Wahrheit jtill- 
fchweigend dadurch anzuerkennen; man kann ebenſo wenig der 
Wiffenichaft leben, ohne Luft und Laft bes Daſeins zu em- 
pfinden und fich von einer Weltordnung anderer Art überall 
umfpannt zu fühlen, über welche jene kaum Tärgliche Erläu- 
terungen gibt. Was liegt näher als die Ausflucht, fih an 
beide Welten zu vertbeilen, beiden angehören zu wollen, obne 
fie doch zu vereinigen? in der Wiſſenſchaft ven Grundſätzen 
des Erfennens bi8 in ihre äußerſten Ergebniffe zu folgen und 
im Leben fich von den bergebrachten Gewöhnungen des Glau- 
bens und Handelns nach ganz anderen Richtungen treiben zu 
laſſen? 

Daß dieſe Zwieſpältigkeit der Ueberzeugung häufig die 
einzige Löſung iſt, die man findet, iſt nicht befremdlich; trau⸗ 
riger, wenn ſie als die wahre Faſſung unſerer Stellung zur 
Welt empfohlen würde. Die Unvollkommenheit menſchlichen 
Wiſſens kann und wohl am Ende unſerer Bemühungen zu 
dem Gejtändniffe nöthigen, daß bie Ergebniffe des Erkennens 
und des Glaubens fich zu Teinem lückenloſen Weltbaue ver- 
einigen; aber nie können wir theilnahmlos zufehen, wie das 
Erfennen durch feinen Widerfpruch die Grundlagen des Slau- 
bens unterhöhlt, oder dieſer kühl im Ganzen das ablehnt, 
was die Wiſſenſchaft eifrig im Einzelnen geftaltet hat. Im⸗ 
mer von neuem müfjen wir vielmehr ven ausprüdlichen Ver- 
fuch wiederholen, beiden ihre Rechte zu wahren und zu zeigen, 
wie wenig unauflöslich der Widerfpruch ift, tn welchen ſie 
unentwirrbar verwickelt erſcheinen. 


x 


Der Vebermuth der philoſophiſchen Forſchung und die 
raftlofen Tortfchritte der Naturwiffenichaft Haben von verfchie- 
denen Seiten her jenes Weltbild zu zerjtören gefucht, in wel⸗ 
chem das menschliche Gemüth die Befriedigung feiner Sehn- 
jucht fand. Die Beunrubigungen jedoch, welche die Angriffe 
der Philofopbie erzeugten, bat unfere Zeit dur das wirk- 
jamfte Mittel überwunden, durch die völlige Theilnahmlofig- 
feit, mit der fie fih von den kaum mehr beachteten Anftren- 
gungen der Speculation abwendet. Sie hat fich nicht eben- 
jo leicht der weit zupdringlicheren Beredſamkeit der Natur- 
wiffenfchaften entziehen Tönnen, deren Behauptungen jeden 
Augenblid die Erfahrungen des alltäglichften Lebens bejtä- 
tigten. Dieſer übermächtige Einfluß, den die wahrhaft 
großartige Entwidlung der Naturkenntnig auf alle Beſtre⸗ 
bungen unferes Jahrhunderts äußert, ruft unfehlbar einen 
ebenſo anwachfenden Widerftand gegen die Beeinträchtigungen 
hervor, Die man von ihm für das Höchite der menfchlichen 
Bildung erwartet. Und fo fteben wieder die alten Gegenfäte 
zum Kampfe auf: bier die Erfenntniß der Sinnenwelt mit 
ihrem täglich ſich mehrenden Reichthum des beſtimmteſten 
Wiſſens und der Ueberredungskraft anſchaulicher Thatſachen, 
dort die Ahnungen des Ueberſinnlichen, kaum ihres eignen 
Inhaltes recht ſicher, jeder Beweisführung ſchwer zugänglich, 
aber Durch ein ſtets wiederkehrendes Bewußtſein ihrer Dennoch 
nothwendigen Wahrheit noch unzugänglicher für jede Wider⸗ 
legung. Daß der Streit zwifchen dieſen beiden eine unnöthige 
Dual ift, die wir durch zu frühes Abbrechen der Unterſuchung 
uns ſelbſt zufügen, dies ift die Meberzeugung, Die wir be- 
feftigen möchten. 

Gewiß mit Unrecht wendet fich die Naturwiſſenſchaft ganz 
von den äfthetifchen und religiöfen Gedankenkreiſen ab, bie 
man ihr als eine höhere Auffaffung der Dinge überzuorbnnen 
liebt; fie fürchtet ohne Grund, ihre ſcharfbegrenzten Begriffe 
und bie fefte Fügung ihrer Methoden durch die Aufnahme von 








XI 


Elementen zerrüttet zu ſehen, die aller Berechnung unfähig, 
ihre eigne Unbeſtimmtheit und Nebelhaftigkeit Allem mitthei⸗ 
len zu müſſen ſcheinen, was mit ihnen in Berührung kommt; 
ſie vergißt endlich, daß ihre eignen Grundlagen, unſere Vor⸗ 
ſtellungen von Kräften und Naturgeſetzen, noch nicht die Schluß⸗ 
gewebe der Fäden find, die ſich in der Wirklichkeit verſchlin⸗ 
gen. Auch fie laufen vielmehr für einen jchärferen Bid in 
daſſelbe Gebiet des Ueberſinnlichen zurüd, deffen Grenzen man 
umgeben möchte. 

Nicht minder unbegründet aber ift, was anderſeits der 
Anerkennung der mecbaniihen Naturauffaffung jo hemmend 
entgegenfteht: die ängftliche Furcht, vor ihren Folgerungen alle 
Lebendigkeit, Freiheit und Poefie aus der Welt verichwinden 
zu ſehen. Wie oft ift diefe Furcht ſchon geäußert worden, 
und wie oft hat der unaufhaltſame Fortjchritt der Entdeckun⸗ 
gen neue Duellen der Poeſie eröffnet für die alten, die er 
verjchütten mußtel Jenes Gefühl der Heimatlichkeit, mit dem 
ein abgefchlofjenes Volk, unfundig des unermeßlichen menjch- 
lichen Lebens auch außerhalb feiner Grenzen, fich ſelbſt als Die 
ganze Menfchheit, und jeden Hügel, jede Quelle feines Landes in 
der pflegenden Obhut einer befonderen Gottheit fühlen durfte: 
dieje Einigkeit des Göttlichen und Menfchlichen ift überall zu 
Grunde gegangen in dem Fortichritte der geographiichen Kennt» 
niß, den der wachſende Völkerverkehr berbeiführte. Aber dieſe 
erweiterte Ausficht verdarb nicht, fondern veränderte nur und 
erhöhte den poetifchen Neiz der Welt. Die Entdedungen ver 
Altronomie zeritörten den Begriff des Himmels, wie den ber 
Erde; fie Löften jenen, den anfchaulichen Wohnfik der Götter, 
in die Unermeßlichfeit eines Quftkreifes auf, in welchen bie 
Phantafie keine Heimat des Weberfinnlichen mehr zu finden 
wußte; fie wandelten die Erbe, die einzige Stätte des Lebens 
und der Geſchichte, in einen ber Heinften Theile des grenzen» 
Iojen Weltall um. Und Schritt für Schritt nahm diefe Zer- 
ftörung altgewohnter Anfchauungen ihren weiteren Verlauf. 


Xu 


Aus einem ruhenden Mittelpunfte warb bie Erbe ein verloren 
wanbelnver Blanet, um eine Sonne freifend, die vorher nur 
zu ihrem Schmud und Dienft vorhanden fehien; felbft bie 
Harmonie der Sphären fehwieg, und Alle haben wir ung 
barein gefunden, daß ein ftummer, allgemeinen Gefegen ge- 
horchender Umſchwung unzähliger Dimmelstörper die um⸗ 
faffende Welt ift, in der wir mit allen unferen Hoffnungen, 
Wünſchen und Beitrebungen wohnen. 

Daß diefe Umbildung der Tosmograpbifchen Anſchauun⸗ 
gen auf Das Bedeutſamſte im Laufe der Gefchichte die Phan⸗ 
tafie der Völker umgeftimmt bat, wer möchte bies leugnen? 
Anders lebt es fich gewiß auf der Scheibe der Erbe, wenn die 
fihtbaren Gipfel des Olymp und in erreichbarer Ferne bie 
Zugänge der Unterwelt alle höchſten und tiefiten Geheimniſſe 
des Weltbaues in die vertrauten Grenzen der anjchanlichen 
Heimat einjchliegen ; anders auf der vollenden Kugel, die we⸗ 
der im Innern noch um fich in der öden Unermeßlichkeit bes 
Zuftfreifes Platz für jenes Verborgene zu haben feheint, durch 
defien Ahnung allein das menfchliche Leben zur Entfaltung 
feiner höchſten Blüthen befruchtet wird. An dem Faden einer 
heiligen Weberlieferung mochte die Vorzeit das Gewirr ber 
Völker, das den bunten Markt des Lebens füllt, in die ftilfe 
Heimlichfeit des Paradiefed zurücleiten, in deſſen Schatten 
die Mannigfaltigleit der menfchlichen Gefchlechter das verbin- 
dende Bewußtjein eines gemeinfamen Urfprunges wieberfand; 
die Entdedung neuer Erdtheile erfchütterte auch dieſen Glau⸗ 
ben; andere Völker traten in ben Gefichtsfreid ein, unkundig 
ber alten Sagen, und bie gemeinfame Heimat der Menjchheit 
wurde weit über die äußerſten Grenzen gefchichtlicher Erinne- 
rung hinausgerüdt. Endlich that die ftarre Rinde des Pla- 
neten ſelbſt, den das menschliche Gefchlecht fett dem Tage fei- 
ner Entjtehung zu befigen wähnte, ihren verjchloffenen Mund 
auf und erzählte von unmehbaren Zeiträumen des Dafeing, 
in denen dies menjchlihe Leben mit feinem Trotz und feiner 














xımI 


Berzagtheit noch nicht war und bie fchöpferifche Natur, auch 
fo fich genügend, zahlreiche Gattungen des Lebenbigen wech 
ſelnd entftehen und vergeben Tief. 

Sp find alle die freundlichen Begrenzungen zerfallen, 
durch Die unfer Dajein in eine fchöne Sicherheit eingefriedigt 
lag; unermeßlich, frei und fühl tft die Ausficht um ung her 
geworden. Aber alle diefe Erweiterungen unferer Kenntniffe 
haben weder die Poefie aus der Welt vertrieben, noch unfere 
religiöfen Weberzeugungen anders als förderlich berührt; fie 
baben ung genöthigt, was in anfchaulicher Nähe uns verloren 
war, mit größerer geiftiger Anſtrengung in einer überfinnlichen 
Welt wiederzufinden. Die Befriedigung, die unfer Gemüth 
in Lieblingsanfichten fand, ift ftetS, wenn dieſe dem Fort- 
fchritte der Wiffenfchaft geopfert werden mußten, in ande 
ren neuen Formen wieder möglich geworden. Wie dem Ein- 
zelnen im Verlaufe feiner Lebensalter, jo verwandeln fich auch 
unvermeiblih in ber Gefchichte des menjchlichen Gefchlechtes 
die beſtimmten Umriffe des Bildes, in dem es ben Inhalt 
feiner böchften und unverlierbaren Ahnungen ausprägt. Nutz⸗ 
los ift jede Anftrengung, der Haren Erfenntniß der Wiffen- 
fchaft zu widerftreben und ein Bild fefthalten zu wollen, von 
dem uns doch das heimliche Bewußtſein verfolgt, Daß e8 ein 
gebrechlicher Traum fer; gleich übel beratben aber ift die Ver- 
zweiflung, bie das aufgibt, was bei allem Wechjel feiner For⸗ 
men doch der unerfchütterliche Zielpunkt menfchlicher Bildung 
fein muß. Geſtehen wir vielmehr zu, daß jene höhere Auf- 
faffung der Dinge, deren wir uns bald rühmen, bald gänzlich 
unfähig fühlen, in ihrem dunklen Drange fich des rechten We- 
ges wohl bewußt ift, und daß jede beachtete Einrede der Wiffen- 
Schaft nur eine ber täufchenden Beleuchtungen zerftreut, welche 
die mechfelnden Standpunkte unjerer veränderlichen Erfahrung 
auf das beftändig gleiche Ziel unferer Sehnjucht werfen. 

Jene Entgötterung des gefammten Weltbaues, welche Die 
tosmographifchen Entdeckungen der Vorzeit unwiderruflich voll- 


XIV 


zogen haben, den Umſturz ver Mythologie, dürfen wir als 
verichmerzt anfehen, und der legten Klage, die in Schillers 
Göttern Griechenlands ſich ergoß, wird nie ein Verſuch fol 
gen, im Widerftreit mit den Lehren ver Wiſſenſchaft den Glau⸗ 
ben an biefes Vergangene wiederberzuftellen. Große Umwäl⸗ 
zungen ber veligiöfen Anfichten haben über dieſen PVerluft 
binausgeführt und längft den überreichen Erſatz dargeboten. 
Aber wie die wachjende Fernſicht ver Aftronomie den großen 
Schauplat des menſchlichen Lebens aus feiner unmittelbaren 
Verſchmelzung mit dem Göttlichen löſte, jo beginnt das wei⸗ 
tere Bordringen der mechanischen Wiſſenſchaft auch bie Kleinere 
Welt, den Milrolosmus des menſchlichen Weſens, 
mit gleicher Zerjegung zu bedrohen. Ich denke nur flüchtig 
hierbei an die überhandnehmende Verbreitung materialiftifcher 
Auffaffungen, die alles geiftige Leben auf das blinde Wirken 
eines Törperliden Mechanismus zurüdführen möchten. So 
breit und zuverfichtlich der Strom diefer Anfichten fließt, bat 
er feine Quelle doch keineswegs in unabweisbaren Annahmen, 
die mit dem Geifte der mechanischen Naturforfchung unzer- 
trennlich zufammenhingen. Aber auch innerhalb der Grenzen, 
in denen fie fich mit befferem echte bewegt, ift die zerſetzende 
und zerftörende Thätigkeit Diefer Forſchung fichtbar genug und 
beginnt alle jene durchdringende Einheit des Körpers und ber 
Seele zu beftreiten, auf der jeve Schönheit und Lebendigkeit 
der Geftalten, jeve Bedeutſamkeit und jeder Werth ihres Wech⸗ 
ſelverkehrs mit der äußeren Welt zu beruhen ſchien. Gegen 
die Wahrheit der finnlichen Erfenntniß, gegen die freie Will- 
fürlichfeit der Bewegungen, gegen bie ſchöpferiſche, aus fich 
ſelbſt quellende Entwicklung des körperlichen Dafeins überhaupt 
find die Angriffe der phyſiologiſchen Wiſſenſchaft gerichtet ge- 
weſen und haben fo alle jene Züge in Trage geftellt, in de— 
nen das unbefangene Gefühl den Kern aller Poeſie des leben⸗ 
digen Dafeind zu befigen glaubt. Befremblich kann daher die 
Standhaftigkeit nicht fein, mit welcher die Weltanficht des Ge⸗ 





XV 


müthes als höhere Auffafjung der Dinge den überzeugenben 
Daritellungen der mechanischen Naturbetrachtung bier zu wis 
berftreben fucht; um fo nöthiger dagegen der Verfuch, bie 
Harmlofigkeit diefer Anficht nachzuweifen, die, wo fie ung 
zwingt, Anfichten zu opfern, mit denen wir einen Theil un⸗ 
jere8 Selbit hinzugeben glauben, doch durch das, was fie uns 
zurüdgibt, die verlorene Befriedigung wieder möglich macht. 

Und je mehr ich felbft bemüht gewefen bin, ven Grund» 
fügen ber mechanischen Naturbetracftung Eingang in das Ges 
biet des organifchen Lebens zu bereiten, das fie zaghafter zu 
betreten ſchien, als das Wefen der Sache e8 gebot: um fo 
mehr fühle ich den Antrieb, nun auch jene andere Seite ber- 
vorzukehren, die während aller jener Beftrebungen mir gleich 
jehr am Herzen lag. Ich darf kaum hoffen, ein ſehr günftt- 
ge8 Vorurtheil für den Erfolg diefer Bemühung anzutreffen; 
denn was jene früheren Darjtellungen an Zuftimmung etwa 
gefunden haben mögen, das dürften fie am meiften der Leich- 
tigfeit verdanken, mit ber jede vermittelnde Anficht ſich dahin 
umdeuten läßt, daß fie Doch wieder einer der einjeitigen äufßer- 
ften Meinungen günftig erjcheint, welche fie vermeiden wollte, 
Gleichwohl Liegt in diefer Vermittlung allein der wahre Le- 
benspunft der Wiffenfchaft; nicht darin freilich, daR wir bald 
der einen bald der andern Anficht zerftüdelte Zugeſtändniſſe 
machen, fondern darin, bag wir nachweifen, wie aus nahm s⸗ 
los univerfell die Ausdehnung, und zugleich wie 
völlig untergeorpnet die Bedeutung der Sendung 
it, welde der Mechanismus indem Baue der Welt 
zu erfüllen bat. 

Es ift nicht der umfaflende Kosmos des Weltgangzen, 
deſſen Beichreibung wir nach dem Mufter, das unferem Volke 
gegeben ift, auch nur in dem beſchränkteren Sinne diefer aus- 
gejprochenen Aufgabe zu wiederholen wagen möchten. Je mehr 
die Züge jenes großen Weltbildes in das allgemeine Bewußt⸗ 
jein dringen, deſto lebhafter werden fie uns auf uns felbft zu- 


XVI 


rücklenken und die Fragen von neuem anregen, welche Be— 
deutung nun der Menſch und das menſchliche Leben mit fei- 
nen beftändigen Erjcheinungen und dem veränderlichen Laufe 
feiner Gejchichte in dem großen Ganzen der Natur bat, beren 
beftändigem Einfluffe wir und nach den Ergebniffen der neue⸗ 
ren Wiſſenſchaft mehr als je unterworfen fühlen. Indem wir 
hierüber die Reflexionen zu ſammeln fuchen, die nicht allein 
innerhalb der Grenzen der Schule, fondern überall im Leben 
fih dem nachdenklichen Gemüthe aufbrängen, wiederholen wir 
unter ben veränderten Anfcbauungen, welche Die Gegenwart 
gewonnen, das Unternehmen, das in Herders Ipeen zur 
Geſchichte der Menſchheit feinen glänzenden Beginn gefun- 
den bat. 





Inhalt. 


FSıfles Bud. 
Der Leib. 


Erftes Kapitel. 
Der Streit der Naturanfichten. 


Die Motbologte und bie gemeine Wirklichkeit. — Perfünlihde Naturgeiſter und 
bag Reich der Sachen. — Die MWeltfeele und bie befeelenden Triebe. — 
Die Kräfte und ihre allgemeinen Geſetze a ne A 


weite Kapitel. 
Die mechaniſche Natur. 


Allgemeinheit ber Geſetze. — Beitimmung bed Wirkfamen. — Die Atome und 
der Sinn ihrer Annahme. — Die phufifchen Kräfte — Geſetze ber Wirkun⸗ 
gen und ihrer ren — ee er je bie a ber 
Naturerfcheinungen a u 


Drittes Kapitel. 
Der Grund bes Lebens. 


Die chemiſche Vergänglichleit bed Körper. — Wechſel feiner Beſtandtheile. — 
Fortpflanzung und Erhaltung feiner Kraft. — Die Harmonie feiner Wirkun⸗ 
gen. — Die wirkfame Idee. — Zwedmäßige Re — ne — 
Die Maſchinen der menſchlichen Kunft . F i ee 


Bierted Kapitel, 
Der Mechanismus des Lebens. 


Beftändige und periodiſche Verrichtungen. — Fortſchreitende Entwicklung. — 
Geſetzloſe Störungen. — Die Anwendung der chemiſchen Kräfte und ihre 
Folgen für das Leben. — Geſtaltbildung aus formloſem Keime. — Stoff⸗ 
wechſel; feine Bedeutung, feine Form und feine Organe u 


Seite 


31 


67 


84 


XVII 


Bünftes Kapitel. 
Der Bau des thierifchen Körpers. 


Das Knochengerüſt. — Die Muskeln unb bie motorifhen Nerven, — Das 
Gefaͤßſyſtem und ber Kreislauf des Blutes. — une und N 
— Ausſcheidungen — a» rn ——— 


Sechſtes Kapitel. 
Die Erhaltung des Lebens. 


Phyfiſche, organiſche, pſychiſche Ausgleichung der Störungen. — Beiſpiele ber Her⸗ 
ſtellung des Gleichgewichtes. — Das ſympathiſche Nervenſyſtem. — ——— 
Unruhe alles Organiſchen. — Allgemeines Bild des Lebens 


Bweifes Bud). 
Die Seele, 


Erftes Kapitel. 
Das Dafein der Seele. 


Die Gründe für die Annahme ber Seele. — Freiheit des Willens. — Unvergleich⸗ 
barkeit der phyfiſchen und ber pfochifhen Vorgänge. — Nothwendigkeit zweier 
verfchiedenen Erflärungsgründe — Annahme ihrer Bereinigung in bemfelben 
Weſen. — Die Einheit des Bewußtfeind. — Was fie nicht iſt, und worin fie 
wirklich befteht. — Unmöglichkeit, fie aus der Zufammenfegung vieler Wirkungen 
zu erflären. — Das beziehenbe Wiffen im Gegenfab zu ——— — 
bildung. — Be Ratur ber Seele . 


Sweited Kapitel. 
Natur und Vermögen ber Seele. 


Die Mehrheit der Seelenvermögen. — Mängel ihrer Annahme. — Ihre Verein⸗ 
barkeit mit der Einheit der Seele. — Unmittelbare und erworbene Vermögen, 
Unmöglichkeit eine einzigen Urvermögend. — Borftellen, Zühlen und Wollen. 
— Beftändige Thätigkeit des ganzen Weſens der Seele. — Niebere unb höhere 
Rüdwirktungen. — Beränberlichleit der Seele und ihre Grenzen. — Das bekannte 
und da3 unbefannte Weſen ber Seele . a a 


Drittes Kapitel, 
Bon dem Verlaufe der Borftellungen. 


Das Beharren der Borftelungen unb ihr Vergefienwerden. — Ihr gegenfeitiger _ 


Drud und bie Enge bed Bewußtfeind. — Die verſchiedene Stärke ber Empfin⸗ 
dungen. — Klarheitögrabe ber Erinnerungsbilder. — Der Gegenfay ber Vor⸗ 
ftellungen. — Ber Innere Sin. — Leitung bed —— — die 
Geſetze der Aſſociation und Reproduction 


Seite 


112 


136 


-159 


138 


216 








XIX 


Biertes Kapitel. 
Die Formen des beziehenden Wiflens. 

Die Berhältniffe zwifchen ben einzelnen Borftellungen als Gegenflände neuer Bors 
ſtellungen. — Wechſel des Wiſſens und Wiffen vom Wechſel. — Angeborene 
Ideen. — Die räumlich zeitliche Weltauffaſſung ber Sinnlichkeit. — Die den⸗ 
kende Weltauffaſſung des Verſtandes. — Der Begriff, das N ber ve 
— Das zufammenfaflende Beftreben ber Bernunft 


Zünftes Kapitel. 
Bon den Gefühlen, dem Selbſtbewußtſein und dem Willen. 


Entfichung und Formen der Gefühle — Ihr Zuſammenhang mit ber Erfenntniß. 
— Die Werthbeftimmungen ber Vernunft. — Selbftbewußtfein; empirifches und 
reine IH. — Triebe unb er — De Wille und feine en — 
Schlußbemerkung. an ca — 


Drittes Bud. 
Das Leben. 


Erſtes Kapitel. 
Der Zuſammenhang zwiſchen Leib und Seele. 


Verſchledene Stufen der Weltauffaſſung; die wahren und die abgeleiteten Stand⸗ 
punkie. — Das allgemeine Band zwiſchen Geiſt und Körper. — Die Möglich⸗ 
keit und bie Unerflärlichkeit ber Wechſelwirkungen zwiſchen Gleichartigem und 
Ungleichartigen. — Die Entſtehung ber Empfindungen. — Die — der 
Bewegungen. — Der geſtaltbildende Einfluß der Seele 


Zweites Kapitel. 
Von dem Sitze der Seele. 


Bebentung ber Frage. — Beſchrankter Wirkungskreis ber Seele. — Gehirnbau. — 
Art der Eniftehung von Bewegungen. — Bebingungen der raͤumlichen An⸗ 
ſchauung. — Bedeutung ber unverzweigten Nervenfafern. — Allgegenwart ber 
Seele im Körper le a a ee ee ie Fe 


Drittes Kapitel. 
Formen der Wechfelwirkung zwifchen Leib und Seele. 


Organ ber Seele. — Organ ber Raumanſchauung. — Korperliche Begrünbung ber 
Sefüple. — Hoͤhere Intelligenz, fittlicheß und äſthetiſches Urtheil. — Organ des 
Gedaͤchtniſſes. — Schlaf und Bewußtlofigkeit. — Einfluß körperlicher Zuftänbe auf 
den Borfiellungslauf. — Eentralorgan der Bewegung. — Reflerbewegungen. — 
Angelidte Rücwirkungsformen. — Theilbarleit der Seel. — Phrenologie 
— Hemmung des Geiſtes durch die Verbindung mit bem Körper 


246 


269 


299 


354 


XX 


Seite 
Viertes Kapitel. 
Das Leben der Materie. 


Die beſtãndige Tauſchung der Sinnlichkeit. — Unmöglichkeit des Abbildes ber Dinge 
in unferer Wahrnehmung. — Eigner und höherer Werth der Sinnlichkeit. — 
Die innere Regſamkeit der Dinge. — Die Materie Erſcheinung eines Webers 
finnlihen. — Ueber bie Möglichkeit außgebehnter Weſen. — Die allgemeine Be 
feelung ber Welt. — Der Gegenjag zwiſchen Körper und Seele nicht — 
nommen. — Berechtigung ber Vielheit gegen bie Einheit . . 386 


Fünftes Kapitel. 
Bon den erften und ben leuten Dingen bes Seelenlebens. 
Beſchränktheit der Erkenntniß. — Fragen über bie Urgeſchichte. — Unſelbſtändigkeit 
alles Mechanismus. — Die Naturnothwendigkeit und bie unendliche Subftanz. 
— Möglichkeit des Wirkens überhaupt. — Urfprung beftimmter Geſetze des 
Wirkens. — Unfterblichleit. — Entftehung der Seelen . . . 416 


2270 BP BL 


Erfes ud. 


Der Reid, 


Lotze I. 4. Aufl. 





x EA 
or THE 





Erſtes Rapitel. 
Der Streit der Naturanfidten. 





Die Mythologie und bie gemeine Wirklichkeit. — Perfönliche Naturgeifter und das 
Reid der Sachen. — Die Weltfeele und bie befeelenden Triebe. — Die Kräfte 
und ihre allgemeinen Geſetze. 


Nach der früheſten Vorzeit unſeres Geſchlechtes wenden wir 
zuweilen, ein verlornes Gut beflagend, unfere Gedanken zurüd, 
Damals, in der ſchönen Jugend der Menfchheit, babe gegenfeitiges 
Berfiehen die Natur dem Geifte genähert und freiwillig habe fie 
bor ihm das verwandte Leben ihres Innern entfaltet, das fie 
jegt dem Angriffe unferer Unterfuchung verberge. Um die Außen- 
feite der Erſcheinungen irrend treffe der ermattete Blick ber 
Gegenwart nur auf den Umtrieb felbftlofer Stoffe, auf Das blinde 
Ringen bewußtlofer Kräfte, auf die freudlofe Nothwendigkeit 
unvermeidlicher Vorherbeftimmung; unmittelbar in die Tiefen 
dringend babe das hellere Auge des jugenblihen Menſchen⸗ 
geſchlechts Nichts von dieſen Schreden geſehen: mitwifjend habe 
damals ber Geift die ewigen Ideen erkannt, die ihrer jelbft be 
wußt das lebendige Weſen der Dinge find, mitgefüihlt bie ver— 
ftändlichen Negungen der Sehnfucht, welche die Beweggründe ihres 
Wirkens bilden; nicht als thatfächliche Gejeglichfeit von unbegreif- 
licher Herkunft fer der Zuſammenhang der Wirklichkeit ihm gegen⸗ 
übergeftanden, denn in fi jelbft habe er die ſchöpferiſche Abficht 

1* 





4 


nacherlebt, aus deren feliger Einheit heraus die Natur, unbeengt 
durch ihr vorangehende Schranken, die Fülle ihrer Erſcheinungen 
hewortreibt. 

Ich laſſe dahingeſtellt, ob jene Anklage der Gegenwart ge⸗ 
recht iſt; aber ich will zeigen, daß die Vorſtellung von einer ſo 
reſtloſen Beſeelung der Natur, wie dieſe leidenſchaftlichen Aus— 
drücke fie preiſen, zu feiner Zeit Die menſchliche Weltanſicht aus- 
ſchließlich hat beherrſchen können. Alle jene Regſamkeit freilich, 
die unſer eigenes Gemüth füllt, den vielgeftaltigen Lauf der Ge- 
banken, das heimliche Spiel der Gefühle, die lebendige Kraft des 
Strebens, in deren gefeglofer Freiheit und das jhönfte Gut unfers 
Dafeind gegeben ſcheint: Das alles glaubt die Kindheit des Ein- 
zelnen und glaubte die Jugend der, Erfenntnig auch unter den 
fremdartigften Formen der Außenwelt wiederzuerfennen. Doch 
nur dem Finde mag der geringe Umfang feiner Erfahrungen und 
der geringe Ernft ihrer Verknüpfung den Genuß diefer Täuſchung 
friften. Die Jugend des menfchlihen Gefchlechtes Dagegen umfaßt 
das Altern vieler Einzelnen; ſchon früh mußte fie deshalb Die 
volle Mannigfaltigfeit der Erfahrungen, die ein ganzes menfch- 
liches Xeben füllen, und mit ihr ein binlängliches Maß verftändiger 
Einficht befiten, um jenen Gedanken einer ſchrankenlos befeelten 
Natur nur wie einen Feſttagstraum zu hegen, der am Werktag 
unverftändlich wird. 

Denn nur ein tbatlos beſchauliches Träumen könnte fich 
ungeftört an der Borftellung einer Lebendigleit erfreuen, die mit 
freier willfürliher Regung alle Gebiete der Natur durchdränge. 
Das thätige Leben Dagegen muß für Die Befriedigung feiner Be- 
dürfniſſe und für alle Zwecke feines Handelns auf Beftänbigfeit 
und Berechenbarfeit. der Ereignifie und auf voraus erkennbare 
Nothwendigkeit ihres Zufammenhangs bauen dürfen. Die aU- 
täglichften Eriheinungen veihen bin, und von dem Borhanden- 
fein dieſer willenlofen Zuverläffigkeit in den Dingen zu über- 
zeugen, und fie mußten früh fchon das Gemüth gewöhnen, die 
Welt, in der die menſchliche Thätigfeit ſich bewegt, als ein Reich 





5 


benugbarer Sachen zu behandeln, in welchem alle Wechſelwirkungen 
an die lebloſe Negelmäßigfeit allgemeiner Geſetze gebunden find, 

Die gemöhnlichiten Vorkommniſſe des Lebens lehrten unver: 
meiblih Die Wirkungen der Schwere Tennen; der roheſte Verſuch 
zum Bau eines Obdachs erregte Borftellungen vom Gleichgewicht 
der Maſſen, von der Bertheilung des Drudes, von den Vor⸗ 
theilen des Hebel; Erfahrungen, die wir in der That ſchon bie 
mindeft gebilveten Völker zu dem mannigfachften Gebrauche an= 
wenden fehen. Pfeil und Bogen benugend mußte die frühefte 
Jagdkunſt auf die Schnellfraft der geipannten Saite rechnen; ja 
fie mußte ftillfchweigend auf die Regelmäßigfeit vertrauen, mit ber 
diefe Eigenihaft unter mechjelnden Bedingungen wähft und ab- 
nimmt, Selbft die noch einfachere Sertigfeit, Durch den geſchleu— 
derten Stein das Wild zur erlegen, wäre nie geübt worden, hätte 
nit wie eine unmittelbare Gewißheit gleichſam in Fleiſch und 
Blut des Armes die Vorausſicht gelebt, Richtung und Geſchwindig⸗ 
feit de8 geworfenen Körperd werde durch die fühlbaren Unter- 
ihiede in der Art und Größe unferer Anftrengung vollftändig 
beftimmt fein. 

Keine Mythologie bat dieſe Ericheinungen und das in ihnen 
fihtbare Band einer allgemeingefeglihen Verknüpfung abfichtlich 
in das Ganze ihres Weltbildes aufgenommen. Und doch lagen 
alle diefe Dinge, Schwere Gleichgewicht der Maflen Stoß und 
Mittbeilung der Bewegung, täglih vor .Aller Augen, doch find 
fie e8, duch deren abfichtliche Benugung der Menſch um ſich her 
jenen künſtlichen Verlauf der Dinge, jene technijche und wöhnliche 
Natur begründet, auf die mit. dem Anwachſen der Bildung fein 
Leben bald ungleich mehr als auf die urfprüngliche wilde Kraft 
und Schönheit der Schöpfung bezogen iſt. Aber wie viel zu 
nahe dieſe Thatjachen auch Tiegen mochten, um unbemerft zu 
bleiben, dennoch befremdet uns nicht, daß die mythologiſche Phan- 
tafie fich der Gedanken gänzlich entjchlug, welche fte erregen mußten. 
Denn nicht nur den Neger ſehen wir abwechſelnd feinen Fetiſch 
prügeln und anbeten; auch unfere Bildung wiederholt zuweilen, 


6 


obwohl mit mehr Geihmad, dieſe Wunderlichkeit. Nur allzu- 
leicht wohnen in derſelben menfchlichen Seele die verſchiedenſten 
Gedanken friedlich neben einander, ohne daß ihr Widerſpruch bis 
zur Nothmendigfeit einer Ausgleihung empfunden wird. Mit 
weitfihtigem Blick konnte daher Die Dichtende Phantafie über das 
hinmwegfehen, was ihr vor den Füßen lag, und das blendenbe 
Bild einer lebendig befeelten Natur entwerfen, währen das han⸗ 
delnde Leben unbefangen fortfuhr, für feine Abfichten die Leblofig- 
feit der gemeinen Natur vorauszufegen und auszubeuten. Mit 
ber Blindheit deſſen, der nicht fehen will, zog fidh Die mythologiſche 
Naturauffaffung frühzeitig von allen den Erſcheinungen zurid, 
bie wir entmweber ſelbſt Fünftlich erzeugen, oder deren Berhalten 
zu augenfcheinlich von Maßbeftimmungen äußerer Anläffe geregelt 
wird. Site beſchränkte ihre poetifche Deutung auf Vorgänge, die 
entweder in wandellofer Regelmäßigfeit, wie Die Bewegung ber 
Geſtirne, die Jahreszeiten und ber Kreislauf des Pflanzenlebeng, 
oder in unberechenbarer Unordnung, wie die launenhaften Ver— 
änderungen des Luftkreifes, allen umgeftaltenden Einflüffen unferer 
Willkür entzogen find. In biefen Auszug einer auserwählten 
Natur vertiefte fi Die Phantafie jener Gefchlechter und in feiner 
Berherrlihung wurde fie durch feine Erinnerung an bie gemeine 
Wirflichfeit geftört, Die Doch täglih vor ihren Augen als ein 
maſſenhaftes Zeugniß für Die blinde Nothwendigkeit im Zufanmten- 
hange der Dinge balag. 

Es ift anziehend, im Einzelnen hier vorübergehend zu be- 
merfen, was wir im Allgemeinen erwarten Tonnten: auch biefe 
Scheidung einer vornehmen und einer gemeinen Natur war völlig 
undurchführbar; aud auf dem engeren Gebiete, welches fie fich 
gemählt hatte, gelang e8 der Mythologie keineswegs, die äußere 
finnlihe Wirklichkeit gänzlich zu vergeiftigen; auch bier vermochte 
fie den dunflen und fpröden Kern der Sachlichkeit und des blinb- 
gefeglihen Zufammenhanges, ven fie floh, nur zurüdzudrängen 
und zu verhüllen, ohne ihn auflöfen oder auch nur entbehren zu 
Ünnen. 








7 


Denn zuerſt: in anderer Geſtalt als in der des menſch⸗ 
lichen und des verwandten thieriſchen Lebens hat geiſtige Reg⸗ 
ſamkeit nicht jene überredende Anſchaulichkeit für uns, Die ben 
vollen unbefangenen Glauben erzeugt. Mochten die Germanen 
die keimende Saatfpige, indem fie den Boden burchbohrt, als ein 
lebendiges Wefen feiern, jo hatte Doch der mythiſche Ausdruck 
dieſer zierliden Naturbeobachtung kaum einen andern Sinn als 
den eine® Bildes, das im Stillen doc wieder von dem Bezeich⸗ 
neten unterſchieden wird. Auch dem Griechen konnte Demeter 
nicht das fprofjende Grün, nicht die Seele der Feldfrucht ſelbſt 
fein; fie blieb die menſchlich geftaltete Göttin, die beſchützend und 
fördernd fi) um das Gebeihen eines Keimes bemüht, deſſen Ent- 
wicklungskraft zulegt doc nur in dem Dunkel feines eignen Innern 
log. Jeder Fortichritt des Feldbaus mußte die Kenntniß der 
Bedingungen erweitern, die diefe Entwidlung begünftigen, und ber 
gläubigen Verehrung blieb Nichts der Göttin zu danken übrig, 
als die erfte unbegreiflihe Schöpfung bes Keimes, während ben 
einmal entitandenen die Wechſelfälle des Naturlaufs entfalteten. 
Mag die dichteriſche Sprache den Flußgott jelbft dahinfließen Taffen, 
immer zieht ſich doch fühlber die Phantafie auf die Borftellung 
zurüd, ihm in menfchlicher Geftalt als die beherrichende Perfön- 
lichkeit zu faſſen, der das flitffige Element zwar als nächſtes 
Eigenthum, aber doc ftet$ als ein Fremdes und Anderes gegen- 
iiber bleibt. Nur ein Werkzeug in der Hand Juppiters find bie 
Blige; die Winde werden eingefangen und entlaffen von ihren 
göttlihen Gebietern: überall tritt die elementare Welt in den 
alten Gegenjat zu dem Reiche der Geifter zurück, ein geftaltbarer 
Stoff für ihre Herrſchaft, aber nie felbft zu eignem geiftigen Leben 
erwachend. &8 mag eine poetiihe Naturauffaffung gewefen fen, 
filr die nah den Worten bes Dichter8 aus dem Scilfe die Klage 
ber Syring tönte, oder die Tochter des Tantalus in dem Steine 
fchwieg; aber dieſe und wie viele ähnliche Sagen überzeugen un 
doch nur, daß der Mythologie die einvringende und eigenthüm⸗ 
liche Beſeelung der Natur mißlang. Denn nur dadurch wußte 


fie ja Etein und Schilf zu beieelen, daß fie beide als verwandel⸗ 
tes menſchlich es Leben fakte, und es nun der Anftrengung ber 
Phontafie überließ, die Erinnerung an dies veritänblidhe vor⸗ 
malige Dafein am die ſprẽde limverflänblichleit der verwanbelten 
Form zu Inüpfen. 

Die trũgeriſche Farbenpracht des Herbſtes, der jedes Blatt 
zur Blüthe zu veredeln ſcheint, vergleicht eim reizendes Gedicht 
Rüderts mit der gediegenen Lebenötraft des Frühlings, die unter 
allem Blühen niemals den vollen bunflen grünen Trieb ver- 
Veuguet. Dies herbſtliche Beginnen war das zweite, worin bie 
Wythologie fheiterte;, wie fie den Stoff micht zu vergeifligen 
vermocht Batte, jo mißlang ihr aud, bie Greigniffe in lauter 
blühende Zreiheit zu verflären: unũberwindlich trat ber dunkle 
Zrieb einer urfprünglidgen, unausvenfbaren Rothwendigfeit wieder 
zu Zoge. Es half ihr nicht, daß fie feinen Aublid floh und 
allein dem Slanze der Götterwelt und ihrer Herrſchaft iiber das 
Reich der Stoffe fih zumandte. Denn aud bier mußte fie, um 
nur diefe Herrihaft möglich zu finden, einen Kreis ewiger und 
allgemeiner Geſetze befennen, unter deren Zuftimmung allein jeg= 
liher Wille Macht gewinnt über die Zuſtände der Dinge Im 
der Berehrung eined unergründlidien Schidfals, das auch die 
Götter binde, ſprach fie dieſen Gebanten in feiner Beziehung zu 
dem Gange der fittliden Welt aus; minder ausdrücklich aber 
Doch erfennbar genug wiederholt ihn jede Schilderung des Wech⸗ 
felverfehr8 zwiſchen den göttlichen Weſen und den Elementen der 
Natur. Wo jet der jeelenlofe Feuerball fi) dreht, mochte da⸗ 
mals in ftiller Majeftät Helios den goldnen Wagen Ienten; aber 
das Rad diefes göttlihen Wagens vollendete feinen Umſchwung 
nicht nach anderen Gefegen, und nicht nach anderen übte und 
litt die Are Drud, als nad) welchen allegeit auf Erben ſich die 
Räder jegliches Wagens um ihre belaftete Are drehen werben. 
Nur der mühfeligen Anftrengung des eignen Handanlegens konnte 
die Poefie die Götter überheben, aber nie hat fie ganz die Bor- 
ftellung einer allgemeinen Ordnung der Dinge entbehren können, 





9 


nach deren Gefeten allein der lebendige Wille die Welt der Stoffe 
bewegt. Während Kronion den Blig noch Durch die Anftrengung 
feiner Hände fchleudert, bewegt allerdings das Zuden feiner Augen- 
brauen mühelos die Tiefen des Olymp; aber dies ergreifenbe 
zweite Bild der göttlihen Macht wiederholt doch nur verhüllter 
denſelben Hergang einer mittelbaren Wirkfamleit, den jenes erfte 
in anſchaulicher Ausführlichleit ausſpricht. Celbft die mofaifche 
Scöpfungsgeichichte, erhabener als andere, weil fie unmittelbar 
baftehen läßt, was der göttliche Wille befahl, ohne durch Schilde⸗ 
rung phyſiſcher Vermittlungen den Eindrud der Allmacht zu 
ſchwächen, auch fie hält Doch den ſchweigenden Gedanken noch nicht 
für den genügenden Anfang der Echöpfung. Sie läßt Gott wenig- 
ftens das Wort ausiprechen, Die zartefte allerdings, aber Doc 
immer eine deutliche Vorbedingung, die hergeftellt fein zu müſſen 
ſchien, damit durch fie angeregt Die ewige Nothwendigkeit der 
Dinge das gebotene Werden vollbrächte. 

So bleibt denn in Wahrheit die Mythologie meit hinter 
dem zurüd, mas fie zu veriprechen ſchien; den Zwieſpalt ber 
Weltanfänge, den fie ſchlichten wollte, hat fie kaum vervedt. Nicht 
die Welt der Sahen mußte fie zu befeelen: nur eine zweite 
Welt konnte fie zu ihr binzubichten, jene göttlichen Seelen, bie 
um den dunklen Kern der Dinge oder über ihm ſchwebend jeden 
Zufall des blinden Naturlaufs in ihrem eignen Innern zu Be- 
wußtfein und Genuß verflären; aber fie find das Reale nicht, 
das fie genießen. Sie konnte ebenfowenig das unvordenkliche 
Recht der Sahen, die gejegliche Nothwendigfeit in dem Zu⸗ 
ſammenhange der Dinge, verflüchtigen; nur binzugebichtet Hat fie 
bie felige Willfür eines himmliſchen Lebens, deſſen Freiheit fi 
farbig von dieſem dunflen Grunde abhebt; aber doch nur in 
biefem Grunde findet jeder Schritt dieſes Lebens den feften Boden 
für feinen Auftritt. 


30 


Gue: aubere Riheraı der Getexier kirb Tee Ernemerung 
be6 miilungenen Berizhs zberizien Summe es veraui an, deu 


Gessin dar — 
bis zm tie remdartigen Armen bei Daeint bein verfolgt zu 
haben: ven ibzen zca Rh Wüter erü Dee Fboniafte anf einen 
bei vernãandlib Kieb, als lim tee Erinmeresy au ıbre wripring- 
Inbe Bedeutung verleren war. Aber alö er nällıg abgetbaner 
Traum tritt dech tür un6 die ummtbelngiihe Seltarica in größere 
Terme zursf; jene andere Acttafluna Dagegen. Deren wir bier 
au zweiter Etelle gebeuten wellen, we ite vielleicht Die frũheſte 
Blüthe des icribenten Geiiteö wear, it zu alien Zeiten lebendig 
geblieben, unt gilt ver Gegemvart faum geringer als ber Boreit. 

Es ichien fein Berluft, daß die wachlende Griabrung ben 
Glauben an anichauliche Sẽttergeſtalten zeritert batte. indem fie 
ne eine Auſchauung derſelben gewäbrte. Denn eben dies ver⸗ 
langte der neme Gebanfe nicht mehr, tie belebenden Raturgeifter 
als geionderte Weſen neben den todten Ztciten zu erbliden; ver- 
einigen wollte er vielmehr, was die Mutbologie unter ihren 
Händen fietS wieder in zwei getrennte Welten zerfallen ſah; 
unmittelbar im ſich felbit lebendig follte der Särper ber natür- 
lichen Gebilde die icelenvolle Kraft ſeiner Entwicklung im eignen 
Innern tragen. Aber als man in dieſer Abſicht lebendige Reg- 
ſamleit iiber das Neich der organiſchen Geſchẽpfe hinaus bis in 
Die formlofeften Beſtandtheile der Außenwelt zu verfolgen firebte, 
ba mußte, wie der Umriß der menſchlichen Geftalt, fo noch weiter 
and das Bild des menſchlichen Seelenlebens unzureichend zur 
Bezeichnung der gefuchten Lebenbigfeit werden. Denn nur wenige 
Erzeugniffe der Natur ftellen ſich fo als abgefchloffene Ganze bar, 
daß es leicht ift, fie als Wohnftätten perfönlicher Geifter zu deuten. 
Man mag audy andern noch die Fähigkeit zuſchreiben, Eindrücke 








11 


in fi aufzunehmen und von ihnen zu leiden; aber vie Abweſen⸗ 
beit jener Gliederung, an welche nach unferer Erfahrung die 
Möglichleit, finnliher Anſchauungen, ihre Berknüpfung zu einer 
georbnieten Weltanfhauung und die Rückwirkung des Willens ge- 
bunden ift, verhindert uns, in ihnen eine Form des Seelenlebens 
zu vermutben, bie ihnen geftattet, fich auf gleichem Wege mit und 
zum Selbftbewußtfein zu entwideln. Se mehr wir endlich von 
zuſammengeſetzten Gebilden zu den einfachen Elementen zurüd- 
geben, um fo mehr verichwindbet der Schein einer unberechenbaren 
Freiheit des Handelns; um fo deutlicher zeigt fih jede Natur 
auf eine einförmige und unter ähnlichen Bedingungen ſtets ähnlich 
wiederkehrende Weiſe des Wirkens beichräntt, ohne Anzeichen einer 
inneren Fortbildung und ohne jene Auffammlung ımd Verarbeitung 
der Eindrüde, durch melde jede einzelne Seele im Laufe ihres 
Lebens zu einer unvergleichlichen Eigenthümlichkeit vertieft wird. 
Dur ſolche Beobachtungen geleitet ſpricht die neue Auffaffung, 
Die wir der mythologiſchen Weltanficht gegenüberftellen, nicht mehr 
von Seelen, welde die Dinge treiben, fondern von Trieben, 
welche fie befeelen. Aber mit der neuen Wendung des Ge- 
dankens, deren kurze Bezeichnung ich vorläufig durch Diefen Gegen- 
fat verſuchte, ſcheinen wir doch mehr einzubüßen, als wir zunächſt 
wiederzuerſetzen im Stande find. 

Denn vor allem: völlig verftändlich ift uns doch nur Das 
volle bewußte geiftige Leben, das wir in uns jelbit erfahren. 
Müffen wir auf feine Allgegenwart in der Natur verzichten, fo 
mag für verſtändlich auch der entgegengeſetzte Gedanke einer völlig 
blinden Nothmwendigfeit des Wirkens gelten, für verftännlich wenig⸗ 
ftend infofern, als wir den Anſpruch nicht mehr maden, und in 
dies volllommene Gegentheil unſers eignen Weſens hineinzuempfin⸗ 
den. Aber eben darum kann freilich dieſe Vorſtellung uns nur 
genügen, ſo lange wir uns beſcheiden, die Ereigniſſe der Natur 
nur berechnen und zur Befriedigung unferer Bedürfniſſe beherr⸗ 
hen zu können; ver fortbeftehenden Sehnfuht, uns in Das 
Innere der Dinge bineinzuverfegen, gewährt fie Nichts. Deshalb, 


12 


um diefer drohenden Selbftlofigfeit aller Dinge zu entgehen, ſchaffen 
wir ben Begriff des Triebes; denn nicht Died allein meinen 
wir in diefem Namen auszudrüden, daß fein fremder Zwang 
mit grundlofer Nothwendigleit die Dinge zu ihren Wirkungen 
dränge; auch in ihrer eignen Natur ſoll diefer Drang nit nur 
vorhanden fein, er foll von ihnen auch als ber ihrige gewußt, 
genoffen, von ihnen gewollt und von ihnen beftändig in fich ſelbſt 
wiedererzeugt werden, oder auf welche Weife man jonft das Ver⸗ 
langen ausbrüden will, ihn als die eigne, lebendige Natur 
ber Dinge, als ihre Selbftheit zu erfaflen. Anftatt der klaren 
Sonne des perfönlichen Bewußtſeins, die in den Geftalten der 
mythiſchen Welt glänzte, hat man daher ſtets wenigftend das 
Mondlicht einer unbewußten Vernunft in den Dingen wieber 
aufgehen Lafien, Damit das, was fie leiften, nicht nur von ihnen 
auszugehen heine, jondern in irgend einer Weife auch für fie 
felbft vorhanden ſei und won ihnen als ihr eignes Thun und 
Dafein erlebt werde. 

Die Menge der Umfchreibungen und Bilder, die ich beburfte, 
und die man wohl immer bebürfen wird, um empfindbar zu 
maden, was wir bier fuchen, macht von felbft Schon bemerklich, 

wie zwifchen jene beiden Extreme, den Glauben an perfönliche 
Naturgeiſter und den Gedanken einer blinden Nothmwendigfeit des 
Wirlens, diefe Borftelung von einer unbewußten Vernunft 
höchſt unklar in die Mitte tritt. Aber eine entfchiebene Vorliebe 
pflegt doch das menſchliche Gemüth in den mannigfachften Wen- 
dungen immer wieder zu dieſer Vorftellung zurüdzuführen, Die 
alfo doch wohl einem tieferen Bediirfniffe des Geiftes entſprechen 
muß. Und in der That, ſuchen wir und hieriiber Rechenſchaft 
zu geben, fo begegnen wir ſchon in unferem gewöhnlichen Em— 
pfinden mander Spur einer Neigung, dem vollen Licht bes 
geiftigen Lebens ein gedämpfteres Zwielicht vorzuziehen und bie 
Grenzen zwiſchen bemußtem Handeln und unbewußten Wirken zu 
verwiſchen. 

Wohl wiſſen wir als bie beiden weſentlichen Zuüge, durch 





13 


die der Geift fi von den Dingen ſcheidet, das befonnene Denten 
zu ſchätzen, das unjere innern Zuftände verknüpft und die Will- 
für, bie ihre Entichlüffe fich ſelbſt zurechnet; aber das Schönfte 
des geiftigen Lebens ſcheint und nicht immer in diejen beiden 
zu liegen. Nicht jedes Wort der Aeußerung fol als Ergebniß 
eined nachrechenbaren Gedanfenganges erfheinen; wir freuen uns 
vielmehr der Unmittelbarfeit, mit der aus unbewußten Tiefen 
der Seele der Ausdruck ihres Lebens unaufflärbar und Doch ver- 
ftändlich hervorbricht. Wir bewundern die durchſichtige Confequenz, 
mit der eine Tüdenlofe Kette von Folgerungen vom Anfangspunft 
einer Unterfuchung zu ihrem Ergebniß führt, aber viel höher gilt 
ung doch oft jene andere Folgerichtigfeit, welche in Werken ber 
Kunft Gedanken aus Gedanken keimen läßt, ohne daß Die ver- 
mittelnden Glieder nachweisbar würden, deren verfnüpfende Wirk⸗ 
ſamkeit wir empfinden. Ind ebenfo mögen wir uns als Gejchöpfe 
unſers eignen Willend nur da betradgten, wo wir in fittlicher 
Selbftbeurtheilung Werth oder Unwerth einer einzelnen Handlung 
anf uns zu nehmen haben; aber es gilt uns zugleich als Auf- 
gabe der Erziehung, daß nicht nur die geringfügigen Bewegungen, 
zu denen die Vorkommniſſe des täglichen Lebens anregen, ſondern 
daß auch unfere ganze fittlihe Haltung als unmillfürliche 
Aeußerung einer ſchönen Natur ericheine, ohne den fchwerfälligen 
Ernft der Abfichtlichfeit und darum auch ohne alle Erinnerung 
an die Möglichkeit ihres Andersſeins. Auch die Mythologie 
verftand dies nicht anders, wenn fie die Erſcheinungen der Natur 
aus geiftigen Beweggründen deutete. Nicht jedem Sonnenaufgang 
geht ein erneuerter Entſchluß des Gottes voraus; der urfprüng- 
Ihe Wille wirkt, wie in bämmernde Entfernung zurüdgetreten, 
mit der unbemußten Macht einer anmuthigen Gewohnheit fort. 
Dadurch eben gibt die Natur fih als Natur, daß fie unter dem 
Einfluß von Beweggründen ſich zu regen fcheint, deren Bewußt⸗ 
fein in ihr ſelbſt verflungen ift, und deren Macht nur noch traum: 
baft als ein zurückgebliebener unmwillfürliher Zug empfunden 
wird, Und in diefe Dämmerung lieben wir auch unfer eignes 





14 


Sein zu verfenfen, wie hoch wir auch Die Helligfeit des Denkens 
und die Freiheit unſeres Wollens ſchätzen mögen: Die Gegenwart 
einer unbewußt und unwillkürlich wirlenden Natur auch in uns 
jeldft leugnen wir nicht, fondern Heben mit Vorliebe ihre be- 
ftändige ftille Thätigkeit berbor. 
Kaum find wir uns über Die Gründe Mar, die uns in dieſer 
Neigung beftärken, und ich hoffe nicht, fie bier zu erſchöpfen. Aber 
e8 jcheint mir zuerft, als überwältigte uns zumeilen die Empfindung, 
wie fehr alle Unterfuhung und Beweisführung, alle Erwägung 
und Entſchließung zu dem mühjeligen Verfahren Desjenigen Lebens 
gehört, das noch auf dem arbeitvollen Wege nad einem entfern= 
ten höchſten Gute begriffen iſt. Dann fühlen wir Die Verlodung 
nach, Die in fo vielen ſchwärmeriſchen Seelen die Sehnſucht nad 
der Austilgung ihres perjönlichen Lebens in der umfafjenden Flut 
eines allgemeinen Geiſtes erzeugte: jene in ſich verfunfene Be- 
ſchaulichkeit, für welche alle ftraffen Bänder eines geordneten Ge- 
danfenzufammenbanges fi löſen und bie Grenzen zwifchen dem 
Ih und feinem Gegenftand in träumerifcher Identität verſchwim⸗ 
men, jenes pflanzenartige Leben, das jeden Willen und jedes 
Streben nad) Entferntem aufgegeben bat: diefe jcheinen ung in dem 
ungegliederten allgemeinen Gefühl, mit dem fie und ausfüllen, 
in wirflicher Gegenwart jenes höchſte wahrhafte Gut zu befiten, 
deſſen fernes Abbild der ruhelofen Arbeit unferer Gedanken und 
unfer® Willens vorſchwebt. Den Frieden dieſer endlichen Er- 
füllung ziehen wir der unendlichen Kaftlofigfeit der Sehnſucht 
vor. Aber vielleicht eben fo fehr reizt uns die Ausfiht in ein 
Unendlihes, die uns gleichzeitig durch jene Beobachtung einer 
bemußtlos in uns wirkenden Natur aufgeht. Ein gemtijchtes 
Glück des Selbſtgefühls und der Demuth ſcheint in der That 
für und von der Wahrnehmung auszugehen, daß unſer eigneß 
Innere eine Welt verbirgt, deren Geftalt wir nur unvollfonmen 
ergründen, und deren Wirken, mo es in einzelnen Zügen in unfere 
Beobachtung fällt, und mit Ahnungen unbelannter Tiefen unfers 
eignen Weſens überrafcht. Wer fich jelbft ganz durchſichtig wäre, 





15 


fhiene ung mit fich fertig zu fein; nur wer fi felbft allmählich 
findet, bat Grund für fein eignes Daſein Theilnahme zu empfinden. 
Darum möchten wir jenen bumnflen Kern unferd Innern nicht 
miffen; wir zählen ihn ebenfo fehr zu unferer eignen Perfönlich- 
feit, bie fi fo für uns bis zu der Größe einer Welt erweitert, 
m der uns felbft noch Entdedungen zu machen find, und eben- 
ſowohl erfennen wir ihn als Etwas, das in uns felbft doch nicht 
wir jelbft if. Damm treten wir befangen vor dieſem geheimniß- 
vollen Rückhalt unſeres Weſens zurück, und glauben in ihm nun 
jene Unenbliche zu jehen, das aller endlichen Erfcheinungen ewige 
Grundlage bilbet. 

Ich füge nur flüchtig noch das Tette Hinzu. Wie wir in 
unferem Innern die Grenzen des Bewußten und des Unbewußten 
zu verwiſchen Lieben, fo pflegen wir auch Dies Innere felbft nicht 
in ſcharfen Gegenfag zu feiner leiblichen Außengeftalt zu feten. 
Saft nur, wo die Vorftellung des Todes Gebanfen an eine fernere 
Zufunft rege macht, denken wir daran, den Körper nur als die 
wieder abzubrechende Hülle zu betrachten, in bie der Geift fich 
nur einmwohnt, ohne mit ihr zu verſchmelzen. Aber das unbefangne 
Leben Tennt diefe Auffaffung jehr wenig, und felbft wo unfer 
Nachdenken fie feitbält, gelingt e8 uns Doch nie, fie aus einer 
mittelbaren Ueberzeugung bis zur Klarheit eines unmittelbaren 
Lebensgefühls zu fteigern. Immer wird Hand und Fuß, immer 
die brudempfindende Oberfläche unſers Körpers und als ein Theil 
unfers eignen Selbft ericheinen, und keineswegs als ein benadh- 
bartes Gebiet der Außenwelt, über welches die Herrichaft ber 
Seele fih nur unbedingter al8 über entlegenere Theile derfelben 
erftredte. Weberall fträubt fi unfer Gemüth, jene innige Ein- 
beit zwifchen Leib und Seele aufzugeben, deren Gefühl aus der 
Berfettung unferer Organifation uns allen als eine freundliche 
Täufhung entipringt. Dann exit fcheint der Geift feine Be: 
fimmung zu erfüllen, wenn er nicht eine fremde Mafle von 
außen bewegt, ſondern in fie hinein thätig fich fortfegt; dann 
erft ſcheint auch der Stoff volle Berechtigung feines Dafeind zu 


16 


haben, wenn er nicht allein als verwendbare Sache dem Geifte 
gegenüberfteht, fondern von ber Wärme defjelben innerlich durch⸗ 
Drungen wird. Es ift der künſtleriſche Trieb, das äfthetiiche Be- 
bürfniß, das bier in ung mächtig wird. Wie wir in aller Schön- 
beit eine geheimnißvolle Berfchmelzung des idealen Innern mit 
feiner realen Erſcheinung fuchen, fo verlangen wir vor allem auch 
von der Wiffenfchaft die befeelte Geftalt in dem Zauber ihrer 
Ganzheit anerkannt zu fehen, mit dem ſie uns im Leben als bie 
fihtlihe Erfüllung unferer Sehnfuht nach jener Einheit vor- 
ſchwebt, und Tieber als unverftandene Wirklichkeit wollen wir fie 
bewundern, als zugeben, daß das Verſtändniß fie auflöfe. 

Aus folhen und ähnlichen Gründen entipringt wohl bie 
Anziehungstraft, welche ftet8 auf uns jene Borftellung einer 
unbewußten Die ganze Natur burchdringenden Vernunft ausübt; 
und nur diefe Gründe habe ich erwähnen wollen, die ber ge= 
ſchilderten Auffafjung ihren verlodenden Reiz für jedes menic- 
liche Gemüth geben; ich übergehe die Crörterungen, mit denen 
pbilofophifche Speculationen nur innerhalb der Grenzen ber Schule, 
aber nicht liberzeugend für das Iebendige Empfinden, ihre An⸗ 
nahme zu empfehlen fuchen. Und ich vermuthe zugleich, daß auch 
ſolche Empfehlungen den Vorwurſ der Unflarbeit nicht befeitigen 
würden, ben wir dem Grundbegriffe diefer Auffaffung machen. 
Denn indem wir und auf die Iebendige Erfahrung eines unbewuß- 
ten geiftigen Wirkens in und berufen, berufen wir und nicht nur 
auf das, was in unferem eignen Innern ber Aufflärung am 
meiften bedarf, fondern Die Unterjuchung würde nad wenigen 
Schritten zeigen, daß alle jene Zuftände, wenigftens fofern fte 
mit dem Genuß verknüpft fein ſollen, auf welden wir Werth 
legten, Grenzfälle find, denen nur ein perfönliches und inbivt: 
buelles Geiftesleben fih mit den Mitteln feiner Natur nähern 
kann; fie werden undenkbar anftatt erflärbarer zu werden, wenn 
wir Diefe Bedingung fallen Laffen. 

Doch nicht blos durch die Unflarheit ihres Princips fteht 
diefe Anficht im Nachtheil gegen den Glauben an perfönliche 





17 


Naturgeifter; auch den zweiten Tadel können wir ihr nicht er- 
fparen, daß fie jelbft durd die Anwendung dieſes Princips einen 
Gewinn nicht leicht wieder erzeugen wird, den bie mythologiſche 
Weltanficht allerdings gewährte. Denn die lebhafte Befriedigung, 
mit welcher wir diefer flet8 von neuem in ihre Deutungen ber 
Natur folgen, beruht großentheils darauf, daß fle die Erfcheinungen 
auf Beweggründe zurüdführt, deren Werth dem Gefühle unmit- 
telbar verftändlich if. Wenn Helios Tag für Tag den Sonnen- 
wagen über den Himmel führt, fo ift es nicht die dumpfe Natur- 
nothwendigkeit eines unbegreiflihen Inftinctes, bie ihn antreibt, 
fondern „damit er den Unfterblichen Leuchte‘ wiederholt er das 
einförmige Tagewerk als feinen Beitrag zu der feligen Ordnung 
der Göttermelt. Und wie häufig fonft erfcheinen in den Sagen 
ber verfchiedenften Völker die Bewegungen der Geftirne, ihr gegen- 
feitige8 Suchen und Tliehen, als Folgen von Thaten und Schid- 
falen, aus denen für die Fortdauer dieſes monotonen Spieles 
überall anmutbige Beweggründe der Liebe der Pflicht der Sehn- 
ſucht oder Erinnerung entfpringen! So geftaltet fih in Wahrheit 
die Natur zu dem Widerſchein einer geiftigen Welt; die äußer— 
lichen Wirkſamkeiten der Dinge haben nicht größeren Werth, als 
die Geberden des Lehendigen überall haben: nicht um ihrer felbft 
willen find fie vorhanden, fondern um auf ein Inneres zurüd- 
zubeuten, Das in ihnen ſich äußert, ohne ſich in ihnen zu er- 
ichöpfen. Geben wir den Glauben an perfönliche Naturgeifter 
auf, fo wird diefer Rückhalt, den eine geiftige Welt der Natur 
bietet, zunächft nur gemindert. Mag immerhin auch jet nod) 
das äußere Gebahren der Dinge aus einem traumhaften Triebe 
ihres Innern entipringen, fo leitet doch Feine Analogie uns an, 
uns eine Borftellung von dem weiteren Hintergrunde ihres Seelen- 
lebens zu bilden, aus dem diefer Traum und Die einzelne Wirk- 
ſamkeit, die er anregt, eben als einzelne Aeußerung neben anderen 
hervorgehen fünnte in einziger Trieb, unmittelbar auf eine 
einzige Art des Wirkens gerichtet, iſt das ganze Innere der Dinge, 


ihr Ein und Alles geworden und fie ericheinen gegivungen zur 
Loge I. 4. Aufl. 


8 


fie ja Stein und Schilf zu befeelen, daß fie beide als verwandel⸗ 
tes menſchliches Leben faßte, und es num der Anftrengung der 
Phantaſie überließ, die Erinnerung an Dies verftändliche vor⸗ 
malige Dafein an bie ſpröde Unverftänblichkeit der verwanbelten 
Form zu knüpfen. 

Die trügeriſche Farbenpracht des Herbſtes, der jedes Blatt 
zur Blüthe zu deredeln ſcheint, vergleicht ein reizendes Gedicht 
Rückerts mit der gebiegenen Lebenskraft des Frühlings, Die unter 
allem Blühen niemal® den vollen dunklen grünen Trieb ver- 
leugnet. Dies herbftliche Beginnen war das zweite, worin Die 
Mythologie fcheiterte, wie fie den Stoff nicht zu vergeiftigen 
vermocht hatte, jo mißlang ihr auch, die Ereigniffe in lauter 
blühende Freiheit zu verflären: unüberwindlich trat der dunkle 
Trieb einer urſprünglichen, unausdenkbaren Nothwendigfeit wieder 
zu Tage. Es half ihr nicht, daß fie feinen Anblick floh und 
allein dem Glanze der Götterwelt und ihrer Herrichaft über das 
Keih der Stoffe ſich zuwandte. Denn auch bier mußte fie, um 
nur diefe Herrihaft möglich zu finden, einen Kreis ewiger und 
allgemeiner Geſetze befennen, unter deren Zuſtimmung allein jeg- 
liher Wille Macht gewinnt über die Zuftände der Dinge In 
der Berehrung eines unergründligen Schidfals, das auch die 
Götter Binde, ſprach fie dieſen Gedanken in feiner Beziehung zu 
dem Gange der fittlihen Welt aus; minder ausbrüdlich aber 
doch erkennbar genug wiederholt ihn jede Schilderung des Wech⸗ 
felverfehrs zwiſchen den göttlichen Wefen und den Elementen der 
Natur. Wo jet der feelenlofe Feuerball fi dreht, mochte da— 
mals in ftiller Majeftät Helios den goldnen Wagen Ienfen; aber 
das Rad dieſes göttlichen Wagens vollendete feinen Umſchwung 
nicht nach anderen Gefegen, und nicht nad anderen übte und 
litt die Are Druck, als nad welchen allezeit auf Erden ſich die 
Räder jegliches Wagens um ihre belaftete Are drehen werben. 
Nur der mühjeligen Anftrengung des eignen Handanlegens konnte 
bie Poefle die Götter überheben, aber nie hat fie ganz die Vor- 
ftellung einer allgemeinen Ordnung ber Dinge entbehren können, 








9 


nach deren Gefegen allein ber lebendige Wille die Welt der Stoffe 
bewegt. Während Kronion den Blig noch durch Die Anftrengung 
feiner Hände ſchleudert, bewegt allerdings das Zuden feiner Augen- 
brauen mühelos die Tiefen des Olymp; aber dies ergreifende 
zweite Bild der göttlichen Macht wiederholt doch nur verhüllter 
denfelben Hergang einer mittelbaren Wirkfamfeit, den jenes erſte 
in anſchaulicher Ausführlichleit ausſpricht. Selbft die mofaifche 
Schöpfungsgefchichte, erhabener als andere, weil fie unmittelbar 
daſtehen läßt, was ber göttliche Wille befahl, ohne durch Schilves 
rung phyſiſcher Bermittlungen den Eindrud der Allmacht zu 
ſchwächen, auch fie hält doch den ſchweigenden Gedanken noch nicht 
für den genügenden Anfang der Schöpfung. Sie läßt Gott wenig- 
ſtens das Wort ausſprechen, die zartefte allerdings, aber doch 
immer eine deutliche Vorbedingung, die hergeftellt fein zu müſſen 
bien, damit durch fie angeregt die ewige Nothmwendigfeit der 
Dinge das gebotene Werden vollbrädte. 

So bleibt denn in Wahrheit die Mythologie weit hinter 
dem zurüd, was fie zu verfprechen fehlen; den Zwieſpalt der 
Weltanfänge, den fie ſchlichten wollte, hat fie kaum verdeckt. Nicht 
die Welt der Sachen wußte fie zu befeelen: nur eine zweite 
Welt konnte fie zu ihr binzudichten, jene göttlichen Eeelen, die 
um den bunflen Kern der Dinge oder über ihm ſchwebend jeden 
Zufall des blinden Naturlaufs in ihrem eignen Innern zu Be- 
mwußtfein und Genuß verflären; aber fie find das Reale nicht, 
das fie genießen. Sie konnte ebenfowenig das unvordenkliche 
Recht der Sachen, die geſetzliche Nothwendigfeit in dem Zu⸗ 
fammenbange der Dinge, verflüdtigen; nur hinzugedichtet hat fie 
die felige Willkür eines himmliſchen Lebens, deſſen Freiheit ſich 
farbig von diefem dunklen Grunde abhebt; aber doch nur in 
dieſem Grunde findet jeder Schritt dieſes Lebens den feiten Boden 
für feinen Auftritt. 





10 


Einer andern Richtung der Gebanten blieb die Erneuerung 
des mißlungenen Verſuchs überlaffen. Käme es darauf an, dem 
Hergang diefer Wandelungen der Anfichten geſchichtlich zu ſchildern, 
fo bürften wir allerdings fo nicht ſprechen. Denn mit grübeln- 
der Reflexion fcheint vielmehr weit früher die Menſchheit dem 
Gedanken eines allgemeinen Naturlebens nachgehangen und ihn 
bis in die frembartigften Formen des Dafeins hinein verfolgt zu 
haben; von ihnen zog fich fpäter erft die Phantafte auf eimen 
engern Kreis anfchaulicher Geftalten zurüd, deren ideale Schön- 
beit verftändlich blieb, als längft die Erinnerung an ihre urfprüng- 
liche Bedeutung verloren war. Aber als ein völlig abgethaner 
Traum tritt Doch für uns die mythologiſche Weltanficht. in größere 
Ferne zurüd; jene andere Auffaflung dagegen, deren wir bier 
an zweiter Stelle gedenfen wollen, wie fte vielleicht Die frühefte 
Blüthe des forjchenden Geiftes war, ift zu allen Zeiten lebendig 
geblieben, und gilt der Gegenwart kaum geringer als der Vorzeit. 

Es ſchien fein Berluft, daß die wachfende Erfahrung den 
Glauben an anfchauliche Göttergeftalten zerftört hatte, indem fie 
nie eine Anfchauung derjelben gewährte. Denn eben dies ver⸗ 
langte der neue Gedanke nicht mehr, die belebenden Naturgeifter 
als gefonderte Weſen neben den todten Stoffen zu erbliden; ver⸗ 
einigen wollte ex vielmehr, was bie Müthologie unter ihren 
Händen ftet8 wieder in zwei getrennte Welten zerfallen ſah; 
unmittelbar in fich felbft lebendig follte der Körper der natür- 
lichen Gebilde die jeelenuolle Kraft feiner Entwidlung im eignen 
Innern tragen. Aber als man in biefer Abficht Tebendige Reg⸗ 
ſamkeit über das Reich der organiſchen Geſchöpfe hinaus bis in 
die formlofeften Beftandtheile der Außenwelt zu verfolgen ftrebte, 
da mußte, wie der Umriß der menichlichen Geftalt, fo noch weiter 
auch das Bild des menſchlichen Seelenlebend unzureichend zur 
Dezeihnung der gejuchten Xebendigkeit werden. Denn nur wenige 
Erzeugnifje der Natur ftellen fi fo als abgeichloffene Ganze dar, 
daß es leicht ift, fie als Wohnftätten perfönlicher Geifter zu deuten. 
Man mag au andern noch die Fähigkeit zufchreiben, Eindrücke 





11 


in fih aufzunehmen und von ihnen zu leiden; aber die Abweſen⸗ 
heit jener Gliederung, an welche nad unferer Erfahrung Die 
Möglichkeit, finnliher Anſchauungen, ihre Verknüpfung zu einer 
georbneten Weltanichauung und die Rüdwirkung des Willens ge- 
bunden ift, verhindert uns, in ihnen eine Form des Seelenlebens 
zu vermutben, die ihnen geftattet, ſich auf gleichem Wege mit und 
zum Selbfibewußtfein zu entwideln. Ye mehr wir endlich von 
zufammengefegten Gebilden zu den einfachen Elementen zurüd- 
geben, um jo mehr verſchwindet der Schein einer unberechenbaren 
Freiheit des Handelns; um fo deutlicher zeigt fich jede Natur 
auf eine einförmige und unter ähnlichen Bebingungen ftet8 ähnlich 
wiederfehrende Weife Des Wirkens beſchränkt, ohne Anzeichen einer 
inneren Fortbildung und ohne jene Auffammlung und Verarbeitung 
der Eindrüde, durch welde jede einzelne Seele im Laufe ihres 
Lebens zu einer unvergleichlichen Eigenthümlichkeit vertieft wird. 
Dur ſolche Beobachtungen geleitet ſpricht die neue Auffaffung, 
die wir der mythologifchen Weltanficht gegenüberftellen, nicht mehr 
von Seelen, welde die Dinge treiben, fondern von Trieben, 
welche fie befeelen. Aber mit der neuen Wendung des Ge- 
danfens, deren kurze Bezeichnung ich vorläufig durch dieſen Gegen: 
fat verfuchte, fcheinen wir Doc mehr einzubüßen, als wir zunächſt 
wiederzuerſetzen im Stande find. 

Denn vor allem: völlig verſtändlich ıft und doch nur das 
volle bewußte geiftige Leben, das wir in uns felbft erfahren. 
Müflen wir auf feine Allgegenwart in ber Natur verzichten, fo 
mag für verftänblich auch der entgegengefeßte Gedanke einer völlig 
blinden Nothwendigkeit des Wirkens gelten, für veritändlich wenig- 
ſtens injofern, al8 wir den Anfpruch nicht mehr machen, und in 
dies vollkommene Gegentbeil unfers eignen Weſens hineinzuempfin- 
den. Aber eben darum Tann freilich dieſe Borftellung uns nur 
genügen, jo lange wir uns bejcheiden, die Ereigniffe der Natur 
nur berechnen und zur Befriedigung unferer Bedürfniſſe beherr⸗ 
Then zu Tönnen; der fortbeftehenden Sehnfuht, uns in das 
Innere der Dinge hineinzuverfegen, gewährt fie Nichts. Deshalb, 


12 


um biefer drohenden Selbftlofigkeit aller Dinge zu entgehen, ſchaffen 
wir den Begriff des Triebes; benn nicht dies allein meinen 
wir in diefem Namen auszudrücken, daß kein fremder Zwang 
mit grunblofer Notbwendigkeit die Dinge zu ihren Wirkungen 
dränge; auch in ihrer eignen Natur foll diefer Drang nicht nur 
vorhanden fein, er foll von ihnen auch als der ihrige gewußt, 
genoſſen, von ihnen gewollt und von ihnen beftändig in fich felbft 
wiebererzeugt werden, oder auf welche Weife man ſonſt Das Ver⸗ 
langen ausbrüden will, ihn als die eigne, lebendige Natur 
der Dinge, als ihre Selbftheit zu erfaffen. Anftatt der Haren 
Sonne des perfünlihen Bewußtſeins, die in den Geftalten ber 
mythiſchen Welt glänzte, bat man daher ſtets wenigftens das 
Mondlicht einer unbewußten Vernunft in den Dingen wieder 
aufgehen laſſen, damit das, was fie leiften, nicht nur von ihnen 
auszugeben jcheine, jondern in irgend einer Weife aud für fie 
jelbft vorhanden fei und von ihnen als ihr eignes Thun und 
Daſein erlebt werde. 

Die Menge der Umfchreibungen und Bilder, bie ich beburfte, 
und die man wohl immer bedürfen wird, um empfinbbar zu 
maden, was wir Hier fuchen, macht von felbft Schon bemerflich, 

wie zwifchen jene beiden Extreme, den Glauben an perfönliche 
Naturgeiſter und den Gedanken einer blinden Nothwendigkeit des 
Wirkens, dieſe Borftellung von einer unbewußten Vernunft 
höchſt unklar in Die Mitte tritt. Aber eine entſchiedene Vorliebe 
pflegt doch das menſchliche Gemüth in den mannigfachften Wen- 
dungen immer wieder zu dieſer Borftellung zurüdzuführen, die 
alfo doch wohl einem tieferen Beblirfniffe des Geiftes entiprechen 
muß. Und in der That, ſuchen wir uns hierüber Nechenfchaft 
zu geben, fo begegnen wir ſchon in unferem gewöhnlichen Em- 
pfinden mander Epur einer Neigung, dem vollen Licht des 
geiftigen Lebens ein gebämpfteres Zwielicht vorzuziehen und bie 
Grenzen zwiſchen bewußtem Handeln und unbewußtem Wirken zu 
verwiſchen. 

Wohl wiſſen wir als die beiden weſentlichen Züge, durch 





13 


die der Geift fich von den Dingen fcheivet, das befonnene Denken 
zu ſchätzen, das unſere innern Zuftände verfnüpft und bie Will- 
für, die ihre Entfchlüffe ſich jelbft zurechnet; aber das Schönſte 
des geiftigen Lebens jcheint uns nicht immer in dieſen beiben 
zu liegen. Nicht jedes Wort der Aeußerung foll als Ergebniß 
eines nachrechenbaren Gedankenganges ericheinen; wir freuen uns 
vielmehr der LUnmittelbarfeit, mit der aus unbewußten Tiefen 
ber Seele der Ausdruck ihres Lebens unaufflärbar und doch ver- 
ſtändlich hervorbricht. Wir bewundern die durchſichtige Confequenz, 
mit der eine Tüdenlofe Kette von Folgerungen vom Anfangspuntt 
einer Unterſuchung zu ihrem Ergebniß führt, aber viel höher gilt 
uns doch oft jene andere Tolgerichtigfeit, welde in Werfen bey 
Kunſt Gedanken aus Gedanken keimen läßt, ohne daß bie ver- 
mittelnden Glieder nachweisbar würden, deren verfnüpfende Wirf- 
famfeit wir empfinden. Und ebenfo mögen wir uns als Gefchöpfe 
unſers eignen Willens nur da betrachten, wo wir in fittlicher 
Gelbftbeurtheilung Werth ober Unmerth einer einzelnen Handlung 
auf uns zu nehmen haben; aber es gilt uns zugleich als Auf- 
gabe der Erziehung, daß nicht nur die geringfügigen Bewegungen, 
zu denen bie Vorkommniſſe des täglichen Lebens anregen, jondern 
daß auch umfere ganze fittlihe Haltung als unmillfürliche 
Aeußerung einer ſchönen Natur erſcheine, ohne den jchmerfälligen 
Ernft der Abfichtlichleit und darum auch ohne alle Erinnerung 
an die Möglichkeit ihres Andersſeins. Auch die Mythologie 
verftand Dies nicht anders, wenn fie die Erſcheinungen der Natur 
aus geiftigen Beweggründen deutete. Nicht jedem Sonnenaufgang 
geht ein ernenerter Entſchluß des Gottes voraus; dev urfprüng- 
Tihe Wille wirkt, wie in bämmernde Entfernung zurüdgetreten, 
mit der unbewußten Macht einer anmuthigen Gewohnheit fort. 
Dadurch eben gibt die Natur ſich als Natur, daß fle unter dem 
Einfluß von Beweggründen ſich zu regen ſcheint, deren Bewußt⸗ 
fein in ihr jelbft verflungen ift, und deren Macht nur noch traum: 
baft als ein zurüdgebliebener unmillfürliher Zug empfunden 
wird. Und in diefe Dämmerung Tieben wir auch unfer eignes 


14 


Sein zu verfenfen; wie hoch wir auch die Helligfeit des Denfens 
und die Freiheit unſeres Wollens jchägen mögen: Die Gegenwart 
einer unbewußt und unwilllürlic wirlenden Natur auch in uns 
ſelbſt leugnen wir nicht, fondern heben mit Vorliebe ihre be— 
ftändige ftille Thätigfeit hervor. 

Kaum find wir uns über Die Gründe klar, die ung in dieſer 
Neigung beftärken, und ich hoffe nicht, fie hier zu erfchäpfen. Aber 
e8 ſcheint mir zuerft, als überwältigte un zuweilen die Empfindung, 
wie fehr alle Unterfuhung und Beweisführung, alle Erwägung 
und Entſchließung zu dem mühfeligen Verfahren desjenigen Lebens 
gehört, das noch auf dem arbeitwollen Wege nad einem entfern- 
ten höchſten Gute begriffen iſt. Dann fühlen wir die VBerlodung 
nad, die in fo vielen ſchwärmeriſchen Seelen die Sehnſucht nach 
der Austilgung ihres perjünlichen Lebens in der umfafenden Flut 
eine allgemeinen Geiſtes erzeugte: jene in ſich verfunfene Be- 
ſchaulichkeit, für welche alle ftraffen Bänder eines georbneten Ge- 
banfenzufammenhanges ſich löſen und die Grenzen zwiſchen dem 
Ih und feinem Gegenjtand in träumerifcher Identität verſchwim⸗ 
men, jenes pflanzenartige Leben, das jeden Willen und jedes 
Streben nad) Entferntem aufgegeben bat: dieſe fcheinen ung in dem 
ungegliederten allgemeinen Gefühl, mit. dem fie uns ausfüllen, 
in wirklicher Gegenwart jenes höchſte wahrhafte Gut zu befigen, 
deſſen fernes Abbild der ruhelofen Arbeit unjerer Gedanken und 
unſers Willens vorſchwebt. Den Frieden diefer endlichen Er- 
füllung ziehen wir der unendlichen Raſtloſigkeit der Sehnſucht 
vor. Aber vielleicht eben fo ſehr reizt uns die Ausfiht in ein 
Unendliches, die uns gleichzeitig durch jene Beobachtung einer 
bemußtlo8 in uns wirkenden Natur aufgeht. Ein gemifchtes 
Glück des Selbftgefühls und der Demuth jcheint in der That 
für uns von der Wahrnehmung auszugehen, daß unfer eignes 
Innere eine Welt verbirgt, deren Geftalt wir nur unvollkommen 
ergründen, und deren Wirken, wo es in einzelnen Zügen in unfere 
Beobachtung fällt, ung mit Ahnungen unbelannter Tiefen unfers 
eignen Weſens überraſcht. Wer fich ſelbſt ganz durchſichtig wäre, 





15 


ſchiene und mit fich fertig zu fein; nur wer ſich jelbft allmählich 
findet, bat Grund für fein eignes Dafein Theilnahme zu empfinden. 
Darum möchten wir jenen dunklen Kern unfers Innern nicht 
miflen; wir zählen ihn ebenfo jehr zu unferer eignen Perfünlich- 
keit, die fih fo für uns bis zu der Größe einer Welt erweitert, 
im der uns felbjt noch Entdedungen zu machen find, und eben- 
ſowohl erfennen wir ihn als Etwas, das in uns felbit doch nicht 
wir felbft if. Dann treten wir befangen vor dieſem geheimniß- 
vollen Rückhalt unjeres Wejens zurüd, und glauben in ihm nun 
jenes Unendliche zu ſehen, das aller endlichen Exrfcheinungen ewige 
Grundlage bildet. 

Ih füge nur flüchtig noch das letzte hinzu. Wie wir in 
unferem Innern die Grenzen des Bewußten und des Unbewußten 
zu verwiſchen lieben, fo pflegen wir auch dies Innere felbft nicht 
in ſcharfen Gegenſatz zu feiner leiblichen Außengeftalt zu feten. 
Faft nur, wo die Vorftellung des Todes Gedanken an eine fernere 
Zukunft vege macht, denken wir daran, den Körper nur als die 
wieder abzubrechende Hille zu betrachten, in die der Geift fich 
nur einwohnt, ohne mit ihr zu verſchmelzen. Aber das unbefangne 
Leben kennt diefe Auffaffung ſehr wenig, und felbft wo unfer 
Nachdenken fie feithält, gelingt es und Dod nie, fie aus einer 
mittelbaren Weberzeugung bis zur Klarheit eines unmittelbaren 
Lebensgefühls zu fteigern. Immer wird Hand und Fuß, immer 
die brudempfindende Oberfläche unſers Körpers uns als ein Theil 
unſers eignen Selbft ericheinen, und Teinesmegs als ein benad- 
bartes Gebiet der Außenwelt, über welches die Herrihaft ber 
Seele fih nur unbedingter als über entlegenere Theile derſelben 
erftredte. Meberall fträubt fi unfer Gemüth, jene innige Ein- 
heit zwiſchen Leib und Seele aufzugeben, deren Gefühl aus ber 
Berfettung unferer Organifation uns allen als eine freundliche 
Täuſchung entipringt. Dann erſt fcheint der Geift feine Be— 
flimmung zu erfüllen, wenn er nicht eine fremde Maſſe von 
außen bemegt, jondern in fie bineim thätig fich fortfegt; dann 
erſt ſcheint auch der Stoff volle Berechtigung feines Daſeins zu 


16 


haben, wenn er nicht allein als verwendbare Sache dem Geifte 
gegenüberfteht, fondern von ber Wärme deſſelben innerlich durch⸗ 
Drungen wird. Es iſt ber fünftlerifche Trieb, das äfthetiiche Be- 
dürfniß, das bier in uns mädtig wird. Wie wir in aller Schön- 
beit eine geheimmißvolle Verſchmelzung des idealen Innern mit 
feiner realen Erſcheinung juchen, fo verlangen wir vor allem auch 
von der Wiflenfchaft Die bejeelte Geftalt in dem Zauber ihrer 
Ganzheit anerkannt zu jehen, mit dem fie uns im Leben als Die 
fihtlihe Erfüllung unferer Sehnfuht nah jener Einheit vor=- 
fhmwebt, und Lieber als unverftandene Wirklichkeit wollen wir fte 
bewundern, als zugeben, daß das Verſtändniß fie auflöfe. 

Aus folden und ähnlichen Gründen entfpringt wohl Die 
Anziehungskraft, welche ſtets auf uns jene Vorſtellung einer 
unbewußten die ganze Natur durchdringenden Vernunft ausübt; 
und nur biefe Gründe babe ich erwähnen wollen, die der ge- 
fchilderten Auffafiung ihren verlodenden Reiz fir jedes menjch- 
liche Gemüth geben; ich übergehe die Erörterungen, mit denen 
philofophifche Speculationen nur innerhalb der Grenzen der Schule, 
aber nicht überzeugend für das Iebendige Empfinden, ihre An- 
nahme zu empfehlen fuchen. Und ich vermuthe zugleich, daß auch 
ſolche Empfehlungen den Vorwurf der Unflarheit nicht befeitigen 
wiürben, den wir dem Grundbegriffe diefer Auffaffung machen. 
Denn indem wir uns auf die lebendige Erfahrung eines unbewuß- 
ten geiftigen Wirlens in uns berufen, berufen wir und nicht nur 
auf Das, was in unferem eignen Innern der Aufflärung am 
meiften bedarf, jondern die Unterfuhung würde nad wenigen 
Schritten zeigen, daß alle jene Zuſtände, wenigftens fofern fie 
mit dem Genuß verknüpft fein jollen, auf welchen wir Werth 
legten, Grenzfälle find, denen nur ein perjönliches und indivt- 
duelles Geiftesleben fi mit den Mitteln feiner Natur nähern 
fann; fie werden undenfbar anftatt erflärbarer zu werben, wenn 
wir diefe Bedingung fallen Laffen. 

Doch nicht blos durch die Unklarheit ihres Princips fteht 
dieſe Anfiht im Nachtheil gegen den Glauben an perjünliche 





17 


Naturgeifter; auch den zweiten Zabel können wir ihr nicht er- 
ſparen, daß fie felbft dur die Anwendung dieſes Princips einen 
Gewinn nicht leicht wieder erzeugen wird, den die muythologifche 
Weltanſicht allerdings gewährte. Denn die lebhafte Befriedigung, 
mit welcher wir Diefer ftet8 von neuem in thre Deutungen der 
Natur folgen, beruht großentheild darauf, daß fie Die Erfcheinungen 
auf Beweggründe zurücführt, deren Werth dem Gefühle unmit- 
telbar verftändlih if. Wenn Helios Tag für Tag den Sonnen- 
wagen über den Himmel führt, jo ift e8 nicht die Dumpfe Natur- 
nothmwendigfeit eines unbegreiflihen Inſtinctes, die ihn antreibt, 
jondern „damit er den Unfterblichen leuchte‘ wiederholt er das 
einförmige Tagewerk als feinen Beitrag zu der feligen Ordnung 
der Götterwelt. Und wie häufig fonft ericheinen in den Sagen 
der verichiedenften Völker die Bewegungen der Geftirne, ihr gegen: 
feitige8 Suchen und Fliehen, als Folgen von Thaten und Schid- 
jalen, aus denen für die Fortdauer dieſes monotonen Spieles 
überall anmutbige Beweggründe der Liebe der Bfliht der Sehn- 
ſucht oder Erinnerung entipringen! So geftaltet ſich in Wahrheit 
die Natur zu dem Widerſchein einer geiftigen Welt; die äufer- 
lichen Wirkſamkeiten der Dinge haben nicht größeren Werth, als 
die Geberden des Lebendigen überall haben: nicht um ihrer felbit 
willen find fie vorhanden, fondern um auf ein Inneres zurüd- 
zubeuten, das in ihnen ſich äußert, ohne ſich in ihnen zu er- 
Ihöpfen. Geben wir den Glauben an perſönliche Naturgeifter 
auf, To wird diefer Rückhalt, den eine geiftige Welt der Natur 
bietet, zunächſt nur gemindert. Mag immerhin auch jet noch 
da8 äußere Gebahren der Dinge aus einem traumhaften Triebe 
ihres Innern entfpringen, fo leitet doch Feine Analogie uns an, 
ung eine Borftellung von dem weiteren Hintergrunde ihres Seelen- 
lebens zu bilden, aus dem diefer Traum und die einzelne Wirf- 
jamfeit, Die er anregt, eben als einzelne Aeußerung neben anderen 
hervorgehen könnte. Ein einziger Trieb, unmittelbar auf eine 
einzige Art des Wirkens gerichtet, ift das ganze Innere der Dinge, 


ihr Ein und Alles geworden und fie erfcheinen gerwungen zur 
Loge J. 4. Aufl. 


18 


Ausübung einer Geberde, ohne das Größere in ſich zu erleben, 
als deſſen Ausdruck allein dieſe gerechtfertigt wäre. Die gegen- 
feitige Anziehung der Stoffe würde die Mythologie ebenfo wie fie 
die Wendung der Blume nad) der Sonne erklärt, auf eine ver⸗ 
ftändlihe Sehnfucht zurüdgeführt und diefe Sehnſucht ſelbſt aus 
der Geſchichte vergangener Schidfale begründet haben. Die räum- 
lihe Bewegung würde ihr fo als der augenblidlihe Ausdruck 
eined mannigfadhen und in feiner Mannigfaltigfeit uns noch 
empfindbaren geiftigen Lebens gegolten haben, das mit dem Reich- 
thum ſeines Inhalts weit über dieſe einzelne Weußerung hinaus- 
veiht und eben deshalb dieſe einzelne wahrhaft aus fich zu moti- 
viren vermag. Ein Trieb der Anziehung dagegen, den wir in 
der Natur der Stoffe zu finden meinen, wiederholt und eigent- 
lih nur die unverfiandene Thatſache der Bewegung und fügt 
anftatt des erflärenden Beweggrundes nur den Gebanten einer 
gleich unverftändlichen Nothwendigfeit Hinzu, welche die Dinge 
nöthige, fie auszuführen. In der That, fo erfcheinen uns die . 
Naturereigniffe nur noch wie die ſtummen Gefticulationen von 
©eftalten, deren Bilder fih gegen den Horizont abgrenzen, während 
ihre Worte die Entfernung verihlingt. 

Das war e8 nun doch nicht, mas dieſe ganze Weltanficht 
wollte; zu allen Zeiten finden wir fie daher bemüht, durch eine 
weitere Ausbildung ihrer Gedanken diefer Verkümmerung der 
Naturauffaffung wieder zu begegnen. Auf einen zufammenfaffen- 
den Weltgrund, auf Eine unendliche Vernunft führte fie vor 
allem die zeriplitterte BVielheit der Erfcheinungen zurüd; in das 
Innere dieſer träumenden und fhaffenden Weltfeele verlegte fie 
finnvolle Urtriebe, die in unerſchöpflicher Mannigfaltigkeit der 
Formen ſich ausgeftaltend diefe Wirklichkeit begründen. In ein- 
zelnen Geſchöpfen zu vollem Selbftbemußtfein hindurchdringend, 
wird dieſe ewige Kraft doch auch in jenen Gebilben, in denen fte 
nur träumend und unbewußt fi regt, von denfelben Bemeg- 
gründen ihres Handelns geleitet, und jedes einzelne Erzeugniß 
ber Natur brüdt in anſchaulicher Verlörperung einen jener Ge— 





19 


danken aus, in welche ber lebendige Inhalt des Höchſten ſich aus— 
einanderlegt. Diefe Gedanken, aus demſelben Urgrunde entfprungen 
und in ihm zu dem Ganzen einer unerſchöpflichen Idee zufam- 
menftimmend, ftiften zwifchen den Dingen, deren befeelende Triebe 
fie find, eine durchdringende Verknüpfung des Sinnes und der 
Weſensgemeinſchaft. Und an diefer Gemeinſchaft ihre Grundes 
und ihres Zieles, von welcher vielleicht eine dunkle Erinnerung 
ihnen geblieben ift, gewinnen die Dinge jenen tieferen Rückhalt 
ihres Weſens wieder, den mir vermißten. Die Aeußerungen, 
denen das Einzelne nad der Nothwendigkeit feines Triebes fich 
überläßt, geichehen nicht mehr um ihrer felbit willen; fie find 
Das, was jebem an feinem Orte als feinen Beitrag zu der Ver⸗ 
wirflihung des allgemeinen Sinnes der Welt zu leiften obliegt. 
Und wenn die Gefchöpfe in veränderlicher Entwidlung eine Reihe 
bon Zuſtänden durchlaufen, oder in wecfelnden Formen auf 
äußere Anläffe zurückwirken, fo find fie auch dazu nicht durch eine 
zufammenbanglofe Mehrheit vereinzelter Anftöße gezwungen. Aus 
der Einheit der Idee vielmehr, die ihr befeelender Trieb ift, ent- 
fpringen wie mit ber poetifchen Nothwendigfeit eines Gedichtes 
alle Die mannigfaltigen Formen des Daſeins und Benehmeng, 
die wir an ihnen beobachten. So ift jedes Einzelne eine Teben- 
dige gejchloffene Einheit, und bat Doch jedes zugleih an dem 
großen Ganzen den erflärenden ———— des befonderen Trau⸗ 
mes, von dem es bewegt wird. 

Um der Wahrheit willen, welde fie unftreitig einſchließt, 
wird dieſe Auffaffung ihren Eindrud auf das menſchliche Gemüth 
nie verfehlen; aber vielfache Schwierigfeiten treten ihr Doc ent- 
gegen, wenn fie ernftlih an die Deutung der Erfheinungen geht. 
Für jenen unendlich hohen Inhalt der Weltjeele, deſſen einzelne 
Ausftrahlungen die Gejhöpfe der Natur find, hat nod Niemand 
einen Ausdruck gefunden, der den angeregten Erwartungen ge: 
nügen, oder uns für die verftändliche Lebendigkeit entſchädigen 
Könnte, mit der die Mythologie Die Natur erfüllt hatte, ‘Denn 
alle jene Strebungen nah Entwidlung und Entfaltung, nad 

28 


20 


Bielheit in der Einheit und Einheit in der Bielheit, nad Gegen- 
fäglichteit und Berföhtung der Gegenfäge, fie alle, darch bie man 
das Innere der Weltſeele zu bezeichnen fuchte, lönnen Doch dem 
unbefangenen Gemũth nur als nictige, Hinmerliche Aufgaben 
erſcheinen, kaum der fpielenden Thatigleit des lindlichen Geiftes 
würdig, am wenigfien geeignet, bie ernſten Schöpfungstriebe bes 
Weltgrundes auszudrũcken Ginge in folden Beitrebungen bie 
Fülle feines Inhaltes auf, fo Könnten wir nicht Ieugnen, daß jeder 
zufällig berausgegriffene Augenblid aus dem Leben eines menſch⸗ 
lichen Herzens unendlich ſeelenwoller fei als die Tiefe der Weltſeele. 

Indefjen würde die Unvolllommenbeit unferer Berfudhe, dieſe 
Tiefe zu ermefien, nicht gegen bie Wahrheit der Anſicht jelbft 
beweijen; auch wenn jenes Höchfte uns beftändig nur in nnaus⸗ 
ſprechbarer Ahnung vorjchweben follte, Könnte es doc ein Gewinn 
fein, wenigſtens durch Zefthaltung diefer Ahnung Die Zebenbigfeit 
unferer Naturanſchauung zu fichern. Uber derſelbe Vorwurf, 
den wir der Mythologie zu machen hatten, erhebt ſich auch gegen 
die Leiſtungen dieſer Anſicht. Denn auch fie, jo ausdrücklich fie 
das Ganze der Natur zu umfaſſen verſpricht, bat doch im allen 
den Ausführungen, die fie fi) bisher gegeben, in Wahrheit nur 
jene auserwählten großen Umriſſe des Raturlaufs vor Augen ge- 
habt, auf weiche ſchon Die mythologiſche Phantafie ſich beſchränkie; 
fie vernadläffigt, wie dieſe, die Fülle der Heinen gemeinen Wirk- 
lichkeit, die, weniger poetiſch aber deſto unabweisbarer, ſich rings 
um uns her audbreitet. In der Regſamkeit des Thierlörpers, 
in dem Wachsthum der Pflanze, und no in der Kryſtallform 
des Feſten und in dem Umlauf der Geſtirne, kurz überall pa, wo 
die Einzelwirkungen der Elemente ſich zu einer befländigen ſich 
ſelbſt erhaltenden Geftalt des Dafeind umd der Bewegung be- 
reits zuſammengefunden haben, überall da mögen wir leicht den 
Widerſchein von Ideen finden, die wir im dem Innern der Welt- 
feele als Mufter ihres Schaffens voransfegen. Aber die Thaten 
des Hebeld und ber Schraube, die Geſetze des Gleichgewichts und 
des Stoßes, die Wirkungen des Drudes und der Spannung, dieſe 








21 


alle haben immer weitab von dem Entwidlungsgange ber Welt: 
feele zu Tiegen geſchienen und find meift völlig außer dem Ge— 
fihtöfreife der fo Philoſophirenden geblieben. Die freie land⸗ 
ſchaftliche Schönheit der Schöpfung mag die Neigung zu diefer 
bornehmen Naturbetrachtung nähren; die häusliche Geſchäftigkeit 
unferer Technik, die nicht das Fertige bewundern, fonbern bie 
Möglichfeit feines Zuſtandekommens beachten lehrt, muß noth= 
wendig zu andern Gedanken führen; unvermeiblich wird durch fie 
die Lehre von den ſchöpferiſchen befeelenden Naturtrieben gezwungen, 
einer dritten Anficht zu meichen, der letzten von denen, Die im 
Großen in der Geichichte der menſchlichen Gedanken einen Ab- 
ſchnitt bilven. 


In weit größerer Mannigfaltigfeit, als frühere Zeiten, um- 
gibt jest uns täglich eine Menge künſtlicher Vorrichtungen, deren 
lebloſe Beftandtheile mit zujammengreifenden Bewegungen die 
Regſamkeit des Lebendigen glüdlich nahahmen. Auf diefer merk⸗ 
würdigen Zwiſchenwelt felbftarbeitender Werkzeuge, die ihre Stoffe 
ber Natur, die Form ihrer Leiftung aber der menſchlichen Will- 
für verbanfen, Tann unfer Blick nicht wiederholt und dauernd 
ruben, ohne daß unfere ganze Weife der Naturauffaffung den 
Einfluß folder Beobachtungen erführe. Zur Bildung Ddiefer 
Machine, die ſich vor uns regt, Tag in den Stoffen, aus denen 
fie gebaut ift, Teinerlei innere Vorherbeftimmung; fein lebendiger 
Naturzwed hat fie in diefe Form der Vereinigung zufammenge- 
führt, kein befeelender Trieb ihnen den Rhythmus ihrer Be— 
wegungen eingehaudt. Wir wiffen e8 ja, daß nicht von innen 
heraus durch ein eignes Entwidlungsftreben, fondern durch frem- 
den Zwang von außen her dies bewunderungswerthe Spiel ein- 
ander ablöfender Zuftände an die verbundenen Maffen gelommten 
if. Biel einfachere Eigenfchaften und Wirkungsmeifen waren an 
fi den einzelnen Stoffen eigen, die wir verfnüpften, nad) all- 


22 


gemeinen Gefegen mit der Veränderung beftimmter Bedingungen 
veränberlih. Diefe unfcheinbaren Kräfte bat unjere Technik durch 
bie Tiftige Verbindung, in welche fie ihre Träger verftridte, unter 
Umftänden zu wirken genöthigt, unter denen ihre Folgſamkeit 
gegen jene allgemeinen Gefege ohne eigne Abſicht Die Zwecke 
unferer Abfihten verwirklichen mußte. Iſt dies num jo, laſſen 
fih unter unfern Händen die Elemente der Natur wie benuß- 
bare Sachen zu den merkwürdigſten Leiftungen verbinden, zu 
denen feine entwidlungSbegierige Neigung ihres eignen Innern 
fie trieb; warum follte e8 in der Natur felbft anders fein? 
Much in ihr vielleicht entftehen die bedeutungsvollen Geftalten 
der Gefchöpfe doch nur von außen her durch den Zwang bes 
MWeltlaufs, der die Elemente bald fo bald anders zufammenführt, 
und unvermeidlich in jeder diefer Gruppen das Syſtem von Be— 
wegungen und Leiftungen entftehen läßt, welches nach allgemeinen 
Geſetzen der jevesmaligen Weife ihrer Verknüpfung entipricht. 
So würden alle Gefchöpfe das fein, wozu fie durch den Zufammen- 
fluß vieler äußeren Bedingungen gemacht werben, und fie befäßen 
ebenfo wenig einen lebendigen Trieb in ihrem Innern, wie bie 
Erzeugniffe unferer Hände, von beren Selbftlofigfeit wir über- 
zeugt find. 

Je vielfeitiger und Träftiger ſich die praftifche Herrſchaft Der 
menschlichen Technik über die Natur ansbreitet, um fo zuberficht- 
licher fehen wir auch diefe Folgerung gezogen. Und auch ba, mo 
wir nicht mehr von Grund aus Neues aus benugbaren Elemen- 
ten aufbauen, fondern nur umzugeftalten fuchen, was die Natur 
freiwillig erzeugt, fcheinen die Erfolge dieſe Zuverſicht zu ftärken. 
Aus den Miſchungen der Stoffe, welche die Erde uns Darbietet, 
hat Die Hand des Chemiker zahlloſe andere hervorgebracht, Die 
niemal$ in der Natur beftanden, ehe die Kunft fie bargeftellt 
hatte, und viele von ihnen find durch Dauer und Feftigfeit ihres 
Daſeins, durch den Glanz ihrer finnlichen Eigenſchaften, durch 
die Vielfeitigleit ihrer Wirkſamkeiten den merkwürdigſten derer 
ebenbirtig, welde die Natur uns als ihre eignen- Erzeugniſſe 








23 


ſchenkt. Künftlichen Befruchtungen und langer forgfamer Pflege 
unterworfen, haben die Pflanzen Blüthe und Frucht zu erhöhter 
Schönheit entwideln müffen und unfere Gärten füllt eine Flora, 
die fo, wie fie und entzüct, nirgends eine natürliche Heimat hat. 
Selbſt die Geftalt der Thiere erfährt den umbildenden und ver- 
edelnden Einfluß der menfhlihen Zucht; wohin wir und aud 
wenden, wir begegnen kaum irgendwo den urfprünglichen Zügen 
ber Natur; in allen ihren Gebieten bat der berechnende Eingriff 
des Menſchen folgenreiche Veränderungen zu ftiften gemußt. Der 
Eindrud diefer Beobachtungen verftärft nothwendig die Ver— 
muthung, die Natur erzeuge ihre Gebilde nicht durch von innen 
befeelende Triebe, denen wir nichts Gleichartiges entgegenzufegen 
hätten, fondern durch Zuſammenſetzung berjelben Einzelträfte, 
durch deren Anwendung e8 uns gelingt, ihre Geſchöpfe umzu- 
geitalten. 

Eine andere Veberlegung aber fchien diefe Bermuthung zur 
Gewißheit zu mahen. Wenn jedes einzelne Gebilde der Natur 
völlig auf fich ſelbſt beruhte und aus fich ſelbſt fich entmidelte, 
ohne einer Äußeren Welt zu bedürfen oder für ihre Eingriffe zu— 
gänglich zu fein, Dann wäre es möglich, jedes dieſer einzelnen auf 
einer einzigen, ihm eigenthlimlichen, befeelenden Idee beruhend zu 
denfen, die jede Bejonderheit feiner Fünftigen Entfaltung mit 
porbedenfender finniger Confequenz aus ſich entließe. Und fo 
eben Hatte jene Anficht, welde an die befeelenven Triebe der 
Dinge glaubte, die Natur aufzufaffen geliebt; fie hatte die Wirf- 
lichkeit als ein großes ruhendes Bild vorgeftellt, und jede ein- 
zelne Geftalt dieſes Gemäldes auf feinen ihm eigenthlimlichen 
Sinn zu deuten geſucht. Worüber diefe Beſchaulichkeit hinmweg- 
gefehen hatte, das fiel um fo mehr der neuen Denfart ind Auge, 
die fi im praftiichen Verkehr mit den Dingen gewöhnt hatte, 
nah den Wegen zu fragen, auf denen jegliches Erzeugniß zu 
Stande kommen kann. Ihr war es Har, daß die Wirklich— 
feit ein jehr bewegtes Bild ift, defien einzelne Theile in beftän- 
Diger Wechſelwirkung einander erzeugen, unterhalten, verändern 


24 


und zerftören. Alles aber, was nicht einfam in einer Welt für 
fid wählt und lebt, fondern in dem Zufammenbang einer Wirk- 
lichfeit, von der es leiden kann, Alles alfo, was Bedürfniſſe hat 
und Bedingungen feiner Entwidlung, das wird in feinem Thun 
und Laſſen fi den allgemeinen Gefegen eines Welthaushaltes 
unterwerfen müſſen, ber, für alle Wirkliche gleihmäßig gültig, 
dem Einzelnen die Befriedigung feiner Bedürfniſſe allein gewähren 
ann. Jeder Berlehr verlangt biefe gegenfeitige Ergreifbarkeit 
ber Verkehrenden für einander und fest nothmwendig irgend en 
allgemeinverbindliches Recht voraus, welches die Größe und Form 
der wechfelfeitigen Leiftungen beftimmt, welche fie austauſchen. 
Nun ift e8 der bebeutfamften einzelnen Erſcheinung nicht mehr 
möglich, fi) als eine abgefchloffene und untheilbare, nur aus fich 
jelbft verftändliche Einheit zu geberden; wie fie fich entfaltet, was 
fie leiftet und was fie leidet, das ift nicht mehr die unberechen- 
bare Erfindung ihres eignen Genius, fondern außer ihr ift dar⸗ 
über von Ewigkeit her entichieden, und jede ihrer Wirkungen, jeder 
ihrer Zuftände wird ihr durch die allgemeinen Geſetze des Welt- 
verfehrs und durch Die befondern Umftände zugemefjen, unter denen 
fie von ihm erfaßt wird. 

Die unorganifhe Natur diefer Betrachtungsweife zu ent- 
ziehen hat man felten ernftlich verſucht; man hat Länger ſich ge— 
ſträubt ihr auch die lebendigen Gefchöpfe zu unterwerfen. Aber 
biefelben Gründe nöthigen uns auch bier fie zuzulaffen. Thiere 
und Pflanzen erzeugen weder aus fich ſelbſt noch aus Nichts Die 
Stoffe, durch deren Anlagerung ihre Geftalt wächſt; fie entlehnen 
fie aus dem allgemeinen Borrath der Natur. In beftändigem 
Kreislauf überliefert Die Erdrinde und das Luftmeer dem Pflan= 
zenreiche und dieſes der Thierwelt jene unzerftörbaren Elemente, 
die bald dieſer bald jener Form des Lebens dienen und zeitweis 
in das formlofe Dafein unorganifher Körper zurüdtreten, zu 
Allem benugbar, aber aus eignem Antriebe weder fir die eine noch 
für die andere Form ihrer Verwendung begeiftert. Diefe Noth- 
wendigfeit, aus dem allgemeinen Vorrath zu fchöpfen und die ge- 


25 


fuchten Elemente erft aus ſchon beftehenden Verbindungen zu löfen, um 
fie zu dem eignen Dienfte zu zwingen, fett dem freien Schwunge 
ber Lebenstraft in jedem Gefchöpfe enge Grenzen. Gern vielleicht 
würde diefe Kraft, den ganzen Lauf der künftigen Entwidlung vor- 
bedenfend, mit einem Griffe und aus der Einheit einer Abſicht 
heraus die Entfaltung des Lebens Ienfen, ihrerfeit8 geneigt, jene 
Geſetze zu überfpringen, welche der übrigen Welt gelten. Aber 
die unentbehrlichen Stoffe, deren fie bebarf, werden nicht die 
gleiche Neigung theilen; fie werben unerbittlid verlangen, nad) 
denfelben Gefegen auch hier gerichtet zu werden, denen ihre Natur 
in allen anderen Fällen unterworfen ift. Niemals wird Die Pflanze 
die Kohlenfäure des Luftkreiſes zerſetzen, ohne der chemiſchen Ver⸗ 
wanbtichaft, die deren Theile zufammenbält, eine andere in be- 
ftimmten Maße überwiegende Berwandtihaft entgegengefeßt zu 
haben, und nie wird die Kohlenfäure die trennende Kraft einer 
andern Anziehung anerkennen, als einer foldyen, Die an ein be- 
ftimmtes Maß einer körperlichen Maſſe gebunden if. Und wo 
das gewonnene Material im Innern des lebendigen Körpers in 
die Formen zu bringen ift, welde der Plan der Organifation 
verlangt, da wird e8 ebenfo wenig freiwillig fi dieſer Geftaltung 
fügen. Wie jede zu bewegende Laſt wird es vielmehr erwarten, 
durch beftimmte Größen bewegender Kräfte, von beftimmten Maffen 
ausgeübt, feine Theilchen in die verlangte Lage gefchoben zu fehen, 
nad) denfelben Geſetzen einer allgemeinen Mechanik, nad) denen 
auch außerhalb des Lebendigen alle Bewegungen der Stoffe erfolgen. 

Welcher lebendige Trieb daher auch das Innere der Ge— 
ſchöpfe befeelen mag: nicht ihm verdanken fie doch ihr Beſtehen 
gegen die Angriffe des Aeußern und die Verwirklichung ihrer bez 
abfichtigten Leiftungen; fie verbanfen beides in jedem Augenblide 
den urfprünglichen Kräften ihrer elementaren Theilden, die in 
Berührung mit der Außenwelt tretend Neize aufzunehmen und 
auf fie wirkſam zu antworten verftehen. Und welche finnreiche 
Aufeinanderfolge die Lebenserfheinungen eines Gejchöpfes zu dem 
Ganzen einer zufaommenhängenden Entwidlung verknüpfen mag: 


26 


auch fie wird ihm nur gewährt Durch die urfprünglich vorhandene 
Anorbnung feiner Theile, die dem Gefammterfolg der einzelnen 
Wirkungen beftimmte Geftalten gibt, fo wie durch die fortichrei- 
tende Veränderung, die diefe Theile ſelbſt fih im Laufe ihrer 
Thätigkeit bereiten. 

Sp lange die Naturforfhung von der Einheit jenes leben- 
Digen Triebes ausging und in ihm die hinreichende Erflärungs- 
quelle für die veränderlihe Entwidlung eines Gefchöpfes fuchte, 
ift fie wenig glüdlih in der Aufhellung der Erjcheinungen ge= 
weſen. Site nahm den lebhafteften Aufſchwung, feitdem fie Die 
Thätigleit der kleinſten Theile ins Auge faßte, und, von Punkt 
zu Punkt die einzelnen Wirkungen zufammenfegend, die Entftehung 
des Ganzen aus der vereinigten Anftrengung unzähliger Elemente 
verfolgte. Noch Tieß fie eine Zeit lang jenes Innere, die eine 
Lebenskraft jedes Gefchöpfes, mit hergebradhter Verehrung in der 
Meinung der Menſchen beftehen, und fie gab theoretifch zu, daß 
Die Idee des Ganzen ber Wirkſamkeit der Theile vorhergehe, 
während fie praftifh fi längſt darauf eingerichtet Hatte, alle 
wirflih fruchtbringende Erklärung nur in dem Zuſammenwirken 
der Theile zu ſuchen. Diefe lebte Scheu hat die Gegenwart 
überwunden, und müde, ein Inneres zu verehren, das doch nie 
werfthätig fich äußerte, hat fie die Mare und beftimmte Auf- 
faflungsweife der mehanifhen Naturwiſſenſchaft ebenfo 
zum Bortbeil der Forihung wie unleugbar zur Beunruhigung des 
Gemüths über alle Gegenftände unferer Naturfenntnig ausgevehnt. 

An die Stelle des lebendigen Triebes, der als Ein Hauch 
das Ganze zufannnengefegter Bildungen befeelte, fegte fie die ein- 
fachen und unzerftörbaren Kräfte, welche den Elementen beftändig 
anbaften. Mit veränderlicher Thätigkeit hatte der Trieb bald 
diefe bald jene Wirfungsweife entfaltet, hier zurüdbaltend mit 
feinem Vermögen, dort mit Anftrengung feine Aeußerung be- 
ſchleunigend; ausgleihend und ergänzend, wo es Noth that, war 
er nicht durch ein immer gleiches Gefeg feines Handelns ein- 
geengt, fondern nur dur die Rückſicht auf das Endziel beftimmt, 


27 


zu dem alle Einzelheiten der Entwidlung zufammenlaufen follten. 
Mit unveränderlicher ſtets gleicher Wirkungsweife haftet dagegen 
bie Kraft an den Elementen der Maffe, in jevem Augenblide 
Alles mit Nothwendigkeit Teiftend, was nach allgemeinen Gefeten 
die vorhandenen Umflände gebieten, und weder im Stande, von 
ihrer möglichen Wirkung etwas zurüdzuhalten, noch zu ergänzen, 
was bie Ungunft der Umftände ihr verfagt. Bon feinem Ziele 
geleitet, das vor ihr ſchwebte, fondern nur durch die Gewalt bes 
Naturlaufes, der hinter ihr fteht, vorwärts getrieben, ftrebt fie 
nicht von felbft der Verwirklichung eines Planes zu, fondern jede 
zufammenbängende Ordnung mannigfacher Wirkungen beruht auf 
den eigenthlimlichen Bedingungen, unter welchen zahlreiche Elemente 
durch die einmal vorhandene Form ihrer Verknüpfung zufammen- 
zuwirken gezwungen find. 

Indem fo die Naturwiffenihaft die Einheit der belebenden 
Macht in die BZeriplitterung unbeftimmt vieler Elementarfräfte 
auflöft und von der Verbindungsweiſe diefer die endliche Geftalt 
der Gefchöpfe begründet denkt, läßt fie Die Frage nad dem Ur- 
fprunge diefer Anoronungen übrig, die fo glüdlich gewählt fich 
finden, daß das Schönfte und Bebeutfamfte der Natur ſich als 
ihre nothwendige Folge entwideln muß. Nur darauf gerichtet, 
die Erhaltung der einmal beftehenden Welt zu erflären, darf fie 
in der That diefe Frage aus dem engeren Gebiete ihrer Unter- 
fuhungen ausfchliegen. Iſt fie zuweilen geneigt, den Urfprung 
Diefer Ordnung einem Zufall zuzurechnen, für ben befondere 
Gründe aufzufuhen unnöthig fer, fo ift e8 ihr doch eben fo mög- 
lid, die erfte Stiftung derfelben von der Weisheit eines gött- 
lichen Geiftes abzuleiten. Aber allerdings pflegt fie, aud Dies 
vielleicht mit Weberfchreitung ihrer Befugniß, zu behaupten, daß von 
der fchöpferiichen Freiheit dieſes Geiſtes fein Hauch in das Ge— 
fchaffene übergegangen fei, und daß die Natur, einmal vorhanden, 
fih wie jedes Kunſterzeugniß nach jenen unbeugfamen Gefegen 
forterhalte, deren Unveränderlichleit die Weisheit des Urhebers 
ebenfo jehr wie die völlige Selbftlofigfeit des Geſchöpfes bezeugt. 


20 


Bielheit in der Einheit und Einheit in der Bielbeit, nad Gegen- 
fäglichleit und Verſöhnung der Gegenfäge, fie alle, durch die man 
das Innere der Weltfeele zu bezeichnen fuchte, Können doch dem 
unbefangenen Gemüth nur als nichtige, kümmerliche Aufgaben 
ericheinen, kaum der fpielenden Thätigfeit des kindlichen Geiftes 
würdig, am wenigften geeignet, die ernſten Schöpfungstriebe des 
Weltgrundes auszudrüden. Ginge in folden Beftrebungen bie 
Fülle feines Inhaltes auf, jo Könnten wir nicht leugnen, daß jeder 
zufällig herausgegriffene Augenblid aus dem Leben eines menſch⸗ 
lichen Herzens unendlich feelenvoller fei als Die Tiefe der Weltſeele. 

Indefjen würde die Unvollkommenheit unferer Berfuche, dieſe 
Tiefe zu ermeflen, nicht gegen die Wahrheit der Anſicht jelbft 
beweifen; aud wenn jenes Höchſte uns beftändig nur in unaus- 
ſprechbarer Ahnung vorſchweben follte, Fönnte e8 Doch ein Gewinn 
fein, wenigſtens durch Fefthaltung diefer Ahnung die Lebendigkeit 
unferer Naturanſchauung zu fihern. Aber derſelbe Vorwurf, 
den wir der Mythologie zu macden hatten, erhebt fi) auch gegen 
die Leiftungen dieſer Anfiht. Denn auch fie, To ausdrücklich fie 
das Ganze der Natur zu umfaffen veripricht, bat doch in allen 
den Ausführungen, die fie ſich bisher gegeben, in Wahrheit nur 
jene auserwählten großen Umriffe des Naturlaufs vor Augen ge- 
habt, auf weldhe ſchon die mythologiſche Phantafte ſich befchränfte ; 
fie vernachläſſigt, wie dieſe, Die Fülle der Kleinen gemeinen Wirk- 
Tichfeit, Die, weniger poetifch aber deſto unabweisbarer, fi rings 
um uns her ausbreitet. In der Regſamkeit des Thierkörpers, 
in dem Wachsthum der Pflanze, und nod in der Kryſtallform 
des Selten und in dem Umlauf der Geftirne, kurz überall da, wo 
die Einzelwirkungen der Elemente fi zu einer beftändigen fich 
ſelbſt erhaltenden Geftalt des Dafeins und der Bewegung be- 
reits zufammengefunden haben, überall da mögen wir leicht ben 
Widerſchein von Ideen finden, die wir in dem Innern der Welt- 
jeele als Mufter ihres Schaffens vorausſetzen. Aber die Thaten 
des Hebels und der Schraube, Die Geſetze des Gleichgewichts und 
des Stoßes, die Wirkungen des Drudes und der Spannung, dieſe 








21 


alle haben immer weitab von dem Entwidlungsgange der Welt- 
feele zu Tiegen geſchienen und find meift völlig außer dem Ge⸗ 
fihtöfreife der fo Philofophirenden geblieben. Die freie land⸗ 
Ihaftlihe Schönheit der Schöpfung mag die Neigung zu diefer 
vornehmen Naturbetrachtung nähren; die häusliche Gefchäftigfeit 
unferer Technik, die nicht das Fertige bewundern, fondern bie 
Möglichleit feines Zuſtandekommens beachten lehrt, muß noth⸗ 
wendig zu andern Gedanken führen ; unvermeidlich wird durch fie 
die Lehre von den ſchöpferiſchen befeelenden Naturtrieben gezwungen, 
einer dritten Anficht zu weichen, der letzten von denen, die im 
Großen in der Gefchihte der menfchliden Gedanken einen Ab⸗ 
Ihnitt bilden. 


In weit größerer Mannigfaltigfeit, als frühere Zeiten, um— 
gibt jet uns täglich eine Menge künftliher Vorrichtungen, deren 
Veblofe Beftandtheile mit zufanımengreifenden Berwegungen Die 
Regſamkeit des Lebendigen glücklich nachahmen. Auf diefer mer!- 
würdigen Zwiſchenwelt jelbftarbeitender Werkzeuge, die ihre Stoffe 
der Natur, die Form ihrer Leiftung aber der menſchlichen Will- 
fir verdanken, kann unfer Blid nicht wiederholt und dauernd 
ruben, obne daß unfere ganze Weife der Naturauffaffung den 
Einfluß folder Beobachtungen erführe Zur Bildung Diefer 
Maſchine, die ſich vor uns regt, lag in den Stoffen, aus denen 
fie gebaut ift, Teinerlei innere Vorherbeſtimmung; fein Tebendiger 
Naturzwed hat fie in diefe Form der Vereinigung zuſammenge⸗ 
führt, kein befeelender Trieb ihnen den Rhythmus ihrer Be- 
wegungen eingehaucdt. Wir wiffen e8 ja, daß nicht von innen 
heraus durch ein eignes Entwidlungsftreben, fondern durch frem⸗ 
den Zwang von außen her dies bemunderungsmwerthe Spiel ein= 
ander ablöfenver Zuftände an die verbundenen Maſſen gelommen 
if. Viel einfachere Eigenfhaften und Wirkungsweiſen waren an 
fh den einzelnen Stoffen eigen, die wir verfnüpften, nad all 


22 


gemeinen Gefegen mit der Veränderung beftunmter Bedingungen 
veränderlih. Diefe unfcheinbaren Kräfte hat unfere Technik durch 
die liſtige Verbindung, in welche fie ihre Träger verftridte, unter 
Umftänden zu wirfen genöthigt, unter denen ihre Folgfamteit 
gegen jene allgemeinen Geſetze ohne eigne Abficht die Zwecke 
unferer Abfihten verwirklichen mußte. Iſt dies nun fo, laſſen 
fih unter unfern Händen die Elemente der Natur wie benuß- 
bare Sachen zu den merkwürdigſten Leiftungen verbinden, zu 
denen feine entwidlungsbegierige Neigung ihres eignen Innern 
fie trieb; warum follte e8 in ber Natur felbft anders fein? 
Auch in ihr vielleicht entftehen die bedeutungsvollen Geftalten 
der Gefchöpfe doch nur von außen her dur den Zwang bes 
Weltlaufs, der die Elemente bald fo bald anders zufammenführt, 
und unvermeidlich in jeder diefer Gruppen das Suiten von Be- 
wegungen und Leiftungen entftehen läßt, welches nad allgemeinen 
Geſetzen der jevesmaligen Weife ihrer Verknüpfung entfpricht. 
So würden alle Geſchöpfe das fein, wozu fie Dur) den Zuſammen⸗ 
fluß vieler äußeren Bedingungen gemacht werben, und fie befäßen 
ebenfo wenig einen lebendigen Trieb in ihrem Innern, wie Die 
Erzeugniffe unferer Hände, von deren Selbftlofigfeit wir über- 
zeugt find. 

Je vielfeitiger und Träftiger fi die praktiſche Herrſchaft der 
menſchlichen Technik über die Natur ausbreitet, um fo zuverficht- 
licher ſehen wir auch diefe Folgerung gezogen. Und aud da, wo 
wir nit mehr von Grund aus Neued aus benugbaren Elemen- 
ten aufbauen, fondern nur umzugeftalten fuchen, was bie Natur 
freiwillig erzeugt, ſcheinen die Erfolge dieſe Zuverficht zu ftärken. 
Aus den Mifhungen der Stoffe, welche die Erde uns darbietet, 
hat die Hand des Chemifers zahlloſe andere hervorgebracht, Die 
niemals in der Natur beftanden, ehe die Kunft fie bargeftellt 
hatte, und viele von ihnen find durch Dauer und Feftigkeit ihres 
Daſeins, durch den Glanz ihrer ſinnlichen Eigenfhaften, durch 
die Bielfeitigfeit ihrer Wirkſamkeiten den merkwürdigſten derer 
ebenbürtig, welde die Natur und als ihre eignen" Erzeugniffe 





23 


ſchenkt. Künftlihen Befruchtungen und langer forgfamer Pflege 
unterworfen, haben die Pflanzen Blüthe und Frucht zu erhöhter 
Schönheit entwideln müſſen und unfere Gärten füllt eine Flora, 
bie jo, wie fie und entzüct, nirgends eine natürliche Heimat hat. 
Selbſt die Geftalt der Thiere erfährt ben umbildenden und ver: 
edelnden Einfluß der menjhlichen Zucht; wohn wir uns aud 
wenden, wir begegnen faum irgendwo ben urfprünglidden Zügen 
ber Natur; in allen ihren Gebieten bat der berechnende Eingriff 
des Menſchen folgenreiche Beränderungen zu ftiften gemußt. Der 
Eindrud dieſer Beobachtungen verſtärkt nothwendig bie Ber- 
muthung, die Natur erzeuge ihre Gebilde nicht durch von innen 
beſeelende Triebe, denen wir nichts Gleichartiges entgegenzuſetzen 
hätten, ſondern durch Zuſammenſetzung derſelben Einzelkräfte, 
durch deren Anwendung es und gelingt, ihre Geſchöpfe umzu⸗ 
geftalten. 

Eine andere Meberlegung aber ſchien dieſe Bermuthung zur 
Gewißheit zu maden. Wenn jedes einzelne Gebilde der Natur 
völlig auf fich felbft beruhte und aus ſich felbft fi entwidelte, 
ohne einer Äußeren Welt zu bedürfen oder flir ihre Eingriffe zu- 
gänglih zu fein, dann wäre e8 möglich, jedes diefer einzelnen auf 
einer einzigen, ihm eigenthiimlichen, befeelenden Idee beruhend zu 
denfen, die jede Beſonderheit feiner künftigen Entfaltung mit 
vorbedenkender finniger Confequenz aus fi entliege. Und fo 
eben hatte jene Anfiht, welde an die befeelenden Triebe der 
Dinge glaubte, die Natur aufzufaffen geliebt; fie hatte die Wirf- 
lichkeit als ein großes ruhendes Bild vorgeftellt, und jede ein- 
zelne Geftalt dieſes Gemäldes auf feinen ihm eigenthümlichen 
Sinn zu deuten geſucht. Worüber dieſe Beichaulichkeit hinweg: 
gefehen hatte, das fiel um fo mehr der neuen Denfart ind Auge, 
bie fi im praftifchen Verkehr mit den Dingen gewöhnt hatte, 
nad den Wegen zu fragen, auf denen jegliches Erzeugniß zu 
Stande fommen kann. Ihr war e8 Har, daß die Wirflich- 
feit ein fehr bewegtes Bild ift, deſſen einzelne Theile in beftän- 
biger Wechſelwirkung einander erzeugen, unterhalten, verändern 


24 


und zerftören. Alles aber, was nicht einfam in einer Welt für 
fih wächſt und lebt, fondern in dem Zuſammenhang einer Wirk- 
Tichleit, von der es leiden kann, Alles aljo, was Bebürfniffe bat 
und Bedingungen feiner Entwidlung, das wird in feinem Thun 
und Laſſen fi) den allgemeinen Gefegen eines Welthaushaltes 
unterwerfen müſſen, der, für alles Wirfliche gleichmäßig gültig, 
dem Einzelnen die Befriedigung feiner Bebürfnifje allein gewähren 
ann. Jeder Verkehr verlangt dieſe gegenfeitige Ergreifbarfeit 
ber Berlehrenden fiir einander und fegt nothwendig irgend em 
allgemeinverbindliches Recht voraus, welches die Größe und Form 
der wechjelfeitigen Leiftungen beftinnnt, welche fie austaufchen. 
Nun ift e8 der bedeutſamſten einzelnen Erfcheinung nicht mehr 
möglich, fih als eine abgefchloffene und untheilbare, nur aus fich 
ſelbſt verftändliche Einheit zu geberden; wie fie fich entfaltet, was 
fie Teiftet und was fie leidet, das ift nicht mehr die unberechen- 
bare Erfindung ihres eignen Genius, fondern außer ihr ift dar⸗ 
über von Ewigfeit her entichieden, und jede ihrer Wirkungen, jeder 
ihrer Zuftände wird ihr durch die allgemeinen Geſetze des Welt- 
verfehr8 und durch die befondern Umftände zugemeffen, unter denen 
fie von ihm erfaßt wird. 

Die unorgantiche Natur diefer Betrachtungsweiſe zu ent= 
ziehen hat man felten ernftlich verſucht; man hat Länger fih ges 
firäubt ihr aud die lebendigen Gefhöpfe zu unterwerfen. Aber 
diefelben Gründe nöthigen und auch hier fie zuzulaſſen. Thiere 
und Pflanzen erzeugen weder aus fidh ſelbſt nod aus Nichts Die 
Stoffe, durch deren Anlagerung ihre Geftalt wächſt; fie entlehnen 
fie aus dem allgemeinen Vorrath der Natur. Im beftändigem 
Kreislauf überliefert die Erdrinde und das Luftmeer dem Pflan- 
zenveiche und diefe der Thierwelt jene unzerftörbaren Elemente, 
die bald diefer bald jener Form des Lebens dienen und zeitweiß 
in das formlofe Dafein unorganifher Körper zurüdtreten, zu 
Allen benutbar, aber aus eignem Antriebe weder für Die eine noch 
für die andere Form ihrer Verwendung begeiftert. Diefe Noth- 
wendigfeit, aus dem allgemeinen Borrath zu Ichöpfen und Die ge= 








25 


fuchten Elemente erft aus ſchon beftehenden Verbindungen zu löſen, um 
fie zu dem eignen Dienfte zu zwingen, fegt dem freien Schwunge 
ber Lebenskraft in jedem Geſchöpfe enge Grenzen. Gern vielleicht 
würde dieſe Kraft, den ganzen Lauf der künftigen Entwidlung vor: 
bedenkend, mit einem Griffe und aus ber Einheit einer Abficht 
heraus die Entfaltung des Lebens Ienfen, ihrerſeits geneigt, jene 
Geſetze zu überfpringen, welche der übrigen Welt gelten. Aber 
die unentbehrlihen Stoffe, deren fie bebarf, werben nicht die 
gleiche Neigung theilen; fie werden unerbittlich verlangen, nad 
benfelben Gefegen auch bier gerichtet zu werden, denen ihre Natur 
in allen anderen Fällen unterworfen ift. Niemals wird die Pflanze 
die Kohlenfäure des Luftkreiſes zerfegen, ohne ber hemilchen Ver⸗ 
wandtſchaft, Die deren Theile zuſammenhält, eine andere in be- 
ſtimmtem Maße überwiegende Verwandtſchaft entgegengefegt zu 
haben, und nie wird die Kohlenfäure Die trennende Kraft einer 
andern Anziehung anerfennen, als einer folden, die an ein be- 
ſtimmtes Maß einer körperlichen Maſſe gebunden if. Und wo 
das gewonnene Material im Innern des lebendigen Körpers in 
die Formen zu bringen ift, welde der Plan der Organifation 
verlangt, da wird es ebenſo wenig freimillig fi diefer Geftaltung 
fügen. Wie jede zu bewegende Laft wird es vielmehr erwarten, 
durch beftimmte Größen bewegender Kräfte, von beftimmten Mafjen 
ausgeübt, feine Theilden in die verlangte Lage gefchoben zu fehen, 
nad) denfelben Geſetzen einer allgemeinen Mechanik, nad denen 
auch außerhalb des Lebendigen alle Bewegungen der Stoffe erfolgen. 

Welcher Tebendige Trieb daher auch das Innere der Ge- 
ſchöpfe befeelen mag: nicht ihm verdanken fie doch ihr Beftehen 
gegen die Angriffe des Aeußern und die Verwirklichung ihrer be= 
abfichtigten Leiftungen; fie verdanken beides in jedem Augenblide 
den urfprünglichen Kräften ihrer elementaren Theildhen, die in 
Berührung mit der Außenwelt tretend Reize aufzunehmen und 
auf fie wirkſam zu antworten verftehen. Und welche finnveiche 
Aufeinanderfolge die Lebenserſcheinungen eines Gefchöpfes zu dem 
Ganzen einer zufammenbängenden Entwidlung verknüpfen mag: 





26 


auch fie wird ihm nur gewährt durch die urfprünglich vorhandene 
Anordnung feiner Theile, die dem Gefammterfolg der einzelnen 
Wirkungen beftimmte Geftalten gibt, jo mie durch die fortichrei= 
tende Veränderung, die diefe Theile ſelbſt fih im Laufe ihrer 
Thätigfeit bereiten. 

So lange die Naturforihung von der Einheit jenes Teben- 
digen Triebes ausging und in ibm die hinreichende Erflärungs- 
quelle für die veränderlihe Entwidlung eines Geſchöpfes fuchte, 
ift fie wenig glüdlih in der Aufbellung der Erſcheinungen ge= 
wejen. Ste nahm den lebhafteften Aufſchwung, feitden fie Die 
Thätigfeit der Tleinften Theile ind Auge faßte, und, von Punkt 
zu Punkt die einzelnen Wirkungen zufammenfegend, Die Entftehung 
des Ganzen aus der vereinigten Anftrengung unzähliger Elemente 
verfolgte. Noch Tieß fie eine Zeit lang jene Innere, die eine 
Lebenskraft jedes Gefchöpfes, mit hergebrachter Verehrung in ber 
Meinung der Menfchen beftehen, und fie gab theoretifch zu, Daß 
die Idee des Ganzen der Wirkſamkeit der Theile vorhergehe, 
während fie praftifch ſich längſt darauf eingerichtet hatte, alle 
wirklich fruchtbringende Erflärung nur in dem Zuſammenwirken 
der Theile zu ſuchen. Diefe legte Scheu hat die Gegenwart 
überwunden, und müde, ein Inneres zu verehren, das Doc nie 
werfthätig ſich äufßerte, hat fie die Mare und beftimmte Auf- 
fafjungsweife der mechan iſchen Natur wiſſenſchaft ebenfo 
zum Vortheil der Forſchung wie unleugbar zur Beunruhigung des 
Gemüths über alle Gegenſtände unferer Naturkenntniß ausgedehnt. 

An die Stelle des lebendigen Triebes, der als Ein Hauch 
das Ganze zuſammengeſetzter Bildungen beſeelte, ſetzte fie Die ein- 
fachen und ungerftörbaren Kräfte, welche den Elementen beftändig 
anbaften. Mit veränderlicer Thätigfeit hatte der Trieb bald 
dieſe bald jene Wirkungsweife entfaltet, bier zurüdbaltend mit 
feinem Vermögen, dort mit Anftrengung feine Aeußerung be- 
ſchleunigend; ausgleichend umd ergänzend, wo es Noth that, war 
er nicht durch ein immer gleiches Geſetz feines Handelns ein- 
geengt, fondern nur durch die Rückſicht auf das Endziel beftummt, 


27 


zu dem alle Einzelheiten der Entwidlung zufammenlaufen ſollten. 
Mit unveränderlicher ſtets gleicher Wirkungsweife haftet Dagegen 
die Kraft an den Elementen der Waffe, in jedem Augenblide 
Alles mit Nothwendigfeit leiftend, was nad allgemeinen Gefegen 
die vorhandenen Umflände gebieten, und weder im Stande, von 
ihrer möglichen Wirkung etwas zurüdzubalten, noch zu ergänzen, 
was die Ungunft der Umftände ihr verfagt. Von feinem Ziele 
geleitet, das vor ihr ſchwebte, fondern nur durd die Gewalt bes 
Naturlaufes, der hinter ihr fteht, vorwärts getrieben, ftrebt fie 
nicht von ſelbſt der Verwirklichung eines Planes zu, fondern jede 
zufammenhängende Ordnung mannigfacher Wirkungen beruht auf 
den eigenthümlichen Bedingungen, unter welchen zahlreiche Elemente 
dur Die einmal vorhandene Form ihrer Verknüpfung zufammen- 
zuwirfen gezwungen find. 

Indem jo die Naturwiſſenſchaft die Einheit der belebenven 
Macht in die Zerfplitterung unbeftimmt vieler Elementarfräfte 
auflöft und von der Verbindungsmeife diefer die endliche Geftalt 
der Geſchöpfe begründet denkt, läßt fie die Frage nach dem Ur— 
fprunge diefer Anoronungen übrig, die fo glüdlih gewählt fich 
finden, daß das Schönfte und Bedeutfamfte der Natur fi als 
ihre nothwendige Folge entwideln muß. Nur darauf gerichtet, 
die Erhaltung der einmal beftehenden Welt zu erflären, darf fie 
in der That diefe Frage aus dem engeren Gebiete ihrer Unter: 
fuhungen ausſchließen. Iſt fie zumeilen geneigt, den Urfprung 
biefer Ordnung einem Zufall zuzurechnen, fir ben bejondere 
Gründe aufzuſuchen unnöthig fei, fo ift e8 ihr doch eben fo mög- 
lich, die erfte Stiftung derfelben von der Weisheit eines gött- 
lichen Geiftes abzuleiten. Aber allerdings pflegt fie, auch dies 
pielleicht mit Ueberſchreitung ihrer Befugniß, zu behaupten, daß von 
der ſchöpferiſchen Freiheit dieſes Geiftes kein Hauch in Das Ge- 
Tchaffene übergegangen fei, und Daß die Natur, einmal vorhanden, 
fih wie jedes Kunfterzeugniß nad jenen unbeugfamen Gefegen 
forterhalte, deren Unveränderlichleit die Weisheit bes Urhebers 
ebenfo ſehr wie die völlige Selbftlofigleit des Geſchöpfes bezeugt. 


28 


Und in diefem wunderbaren Automat der Natur, deſſen 
. zaftlofer Gang uns überall umgibt, welche Stellung nehmen wir 
ſelbſt ein? Wir, die wir einft verwandte Göttergeftalten hinter 
der Hülle der Erſcheinungen zu erkennen glaubten; wir, in denen 
die allgemeine Vernunft der Weltfeele mwenigftens traumhaft ſich 
großer Zwecke und eines ewigen Triebes bewußt wurde, ber uns 
mit der Natur zu einem gemeinfamen großen Weltbau zufammen- 
ſchließt? Mit den Ahnungen unferes Gemüthes, mit den or: 
derungen unferes fittlihen Weſens, mit der ganzen Wärme unjeres 
inneren Lebens fühlen wir und fremd in diefem Neiche der Sachen, 
das kein Inneres kennt. Doch vielleicht iſt auch dieſes Gefühl 
des Zwieſpalts nur der Reſt eines Irrthums, den wir abthun 
müffen. 

Denn nit allein die Anfihten der Natur haben im Laufe 
der Beit die geſchilderten Wandelungen erfahren; mit ihnen hat 
zugleih unfere Eelbfterfenntnig neue Geftalten angenommen. 
Arglos konnte das Bewußtſein der jugendlichen Menfchheit fich 
jeiner Lebendigkeit erfreuen, die, gleich der Pflanze Alles aus 
eignem Keime hervortreibend und von feinem Gefühle fremden 
Zwanges bebrüdt, auch das Bedürfniß einer Anerfermung ihrer 
Vreiheit nicht empfand. Die fortfchreitende Erfahrung und die 
allmählich fich erweiternden Ueberſichten des menschlichen Daſeins 
zeigten auch die Entwidlung des geiftigen Lebens an allgemeine 
fir Alle giltige Gefege gebunden und dem eignen Verdienſte bes 
Einzelnen mehr und mehr entzogen. Mit Beruhigung unterwarf 
fih da8 Gemüth diefer Nothwendigfeit, fo Tange es in ihr die 
ftill zwingende Gewalt der einen ewigen Idee ſah, in der wir 
leben und find; es fühlte den Drud, als an die Stelle diefer 
auch hier Die zerftreute Vielheit der bedingenden und geftaltenden 
Kräfte trat. Wie Vieles von dem, was wir zu der unantaſt⸗ 
barſten Eigenheit unſers perſönlichen Weſens zählten, zeigte ſich 
als das Erzeugniß von Einflüſſen, die ſich an uns kreuzen, unter⸗ 
ſtützen und bekämpfen! Immer mehr ſchmolz die Fülle deſſen zu- 
ſammen, was wir an uns ſelbſt unſer wahres Eigenthum nennen 


29 


durften; einen Theil nahmen die körperlichen Werkzeuge als Ge- 
ſchenk ihrer Organifation in Anſpruch, ein anderer fiel den all- 
gemeinen Kräften des Seelenlebens zu, die verbienftlos in allen 
Einzelnen nad gleichen Gefegen thätig find; ein Kleines Gebiet 
allein, das, welches die Freiheit unſers fittlihen Handelns be- 
herrſcht und geftaltet, ſchien den Zufluchtsort deſſen zu bilben, 
was wir felbft find. Auch dieſem Yegten Punkte wahrhafter 
Innerlichkeit Tieß die Wiffenfhaft, als einem möglichen Gegen- 
ftande des Glaubens, ein zweifelhaftes Beſtehen; aud ihm ſcheint 
fie im Begriff völlig aufzugeben. Seitdem man und wieber- 
holt, daß der allgemeine Haushalt der Welt eine gewifle jähr- 
lihe Summe der Berbrechen ebenjo erfordere, wie eine gewiſſe 
Größe der Temperatur: feitdem Tiegt e8 nahe, auch in dem geiftigen 
Leben den ununterbrodenen Zuſammenhang eines blinden Mecha- 
nismus zu fehen. Gleich dem beftändigen Wechjel des Aeußern 
wird aud unfere innere Regſamkeit nur noch ein Wirbel von 
Bewegungen fein, den die ungezählten Atome unſeres Nerven- 
gebäubes durch unabläffige Wechfelmirfung unterhalten. Weit 
über die unbefangene Kindlichleit mythologiſcher Weltauffaffung 
find wir hinausgelommen; wir haben nicht allein bie perfönlichen 
Naturgeifter aufgegeben, fondern die Möglichkeit eines perfönlichen 
Dafeins überhaupt zu dem dunkelſten Räthſel gemacht. Cinge- 
Ichloffen in das große Automat der Natur fteht das Heinere des 
menjchlichen Geiftes; künſtlicher als jedes andere, ba es feine 
eignen Regungen fühlt und bie des andern Spielzeug8 bewun- 
dert; aber zulegt zerführen feine Beftandbtheile doch auch, und 
der Ernſt und der Scherz, die Liebe und ber Haß, die dieſes 
feltfame Weſen bewegten, wären dabın. 

Auch dieſe legten Confequenzen find gezogen worden, bier 
mit Jubel, dort mit verzweifelndem Gemüth. Aber auch fie find 
nicht allgemein gezogen worden; an den verſchiedenſten Punkten 
des Weges zu ihnen haben Unzählige angehalten und nad, ver- 
ſchiedenen Richtungen hin dem unerwünjchten Ziele zu entgehen 
verſucht. Und durch alle Ummandelungen der Anfichten hindurch 


30 


bat doch auch ein einfadher Glaube fi ungeftört erhalten, ber 
Glaube an einen ewigen Urheber, der dem Reiche der Geifter 
lebendige Freiheit zum Streben nad einem heiligen Ziele verlieh 
und fie dem Reiche der Sachen verfagte, Damit es in blinder 
Nothwendigkeit Schauplag und Mittel fir die Thätigkeit bes 
Strebenden fei. Mit diefer Maren Theilung gewann das Gemüth 
die Möglichkeit, in dem Kreife der Dinge fih einzurichten, bauend 
auf ihre unmandelbare Gejetlichfeit und feine eigne Freiheit. 
Aber zu erringen würde ihm noch die andere Möglichkeit bleiben, 
die zahlreichen Fragen über die gegenfeitige Begrenzung der beiden 
Gebiete des Freien und des Nothwendigen zu beantworten, zu 
benen die aufmerkſame Beobachtung der Einzelheiten des Natur⸗ 
laufs anregt. 

Bon folden Näthfeln fühlen wir und umftridt; nicht als 
ob fie nicht zu jeder Zeit vorhanden gewelen und empfunden 
worden wären; aber mehr als je hat fie jet die wachſende Ver⸗ 
breitung der Naturfenntniß in den Vordergrund unferer Betrach⸗ 
tungen gerüdt. Zu lange hat ohne Zweifel der menſchliche Geift 
in der Ausbildung feiner Weltanficht jenes dunkle, ftarre Element 
der Nothwendigkeit, das Reich der Sachen, überſehen; mit fteigen- 
der Macht ift e8 im Fortichritte der Erfahrung bervorgetreten, 
und vergeblich würden wir uns zu verbergen ftreben, daß feine 
Herrihaft über die finnliche Welt feſt ſteht. Wollen wir dennoch 
‚von neuem verjuchen, ihm das zu entziehen, was wir ihm nicht 
ohne Aufgeben unferes eignen Weſens überlaffen zu Können 
glauben, fo birfen wir nicht damit beginnen, das zu beftreiten, 
was der vereinigte Eindrud der gefammten Erfahrung immer 
wiederholt uns beftätigt. Auch für unfer eignes körperliches 
Dafein müfjen wir vielmehr die volllommene Giltigfeit jener 
Grundſätze zugeftehen, nach denen die mechanifche Naturforfhung 
die Sinnenwelt erflärt. Indeſſen unterfcheidet ſich wielleicht das, 
was in der Leidenjhaft des Streites von manchen Seiten ber 
als unverbrücdlihe Grundlage der Naturwiſſenſchaft gelten ge— 
macht wird, merflid von dem, was die Wiſſenſchaft felbft, hierin 





31 


buldfamer als einzelne ihrer Jünger, gewiß zu wiffen und überall 
unerbittlich verlangen zu dürfen glaubt. . Vielleicht auch zeigt es 
fi) endlich, daß die Geſammtheit alles Mechanismus, weit ent- 
fernt, den wahren Aufgaben des geiftigen Lebens entgegenzuftehen, 
vielmehr felbft als ein nothmenbiges dienendes Glied in den Zu- 
ſammenhang jenes großen Ganzen aufgenommen ift, von dem die 
veränderliche Richtung des Zeitgeiſtes bald die eine, bald die 
. andere Seite dem menſchlichen Geifte allein entgegenkehrt. 


. Zweites Kapitel. 
Die mehanifde Natur. 





Allgemeinheit der Geſetze. — Beitimmung bed Wirkfamen. — Die Atome und ber 

Sinn ihrer Annahme. — Die phyſiſchen Kräfte — Geſetze ber Wirkungen und 

ihrer Zufammenfegung. — Allgemeine Folgen Pk die Erflärung der Naturers 
ſcheinungen. 


Nothwendige Verknüpfung hat in irgend einem Sinne ice 
Zeit und jede Anſicht in den Dingen gefucht; nicht dies ift es, 
was die mechanifche Wiflenjchaft der Gegenwart auszeichnet, fon= ' 
bern der andere Gedanke, den fie iiber Bedeutung und Urfprung ' 
diefer Notwendigkeit hinzufügt. Auch der finfterfte Aberglaube, . 
indem er durch nichtigen Zauber das Schickſal des räumlich Ent- 
fernten zu beftimmen dachte, berief ſich auf eine "unbegreifliche 
Berknüpfung, nad. der auf feine Beſchwörungen die verlangte 
Wirkung folgen werde. In doppeltem Sinne meint die Wiffen- 
haft e8 anders. Nicht durch diefe unbegreifliche Nothmendigfeit - 
follen den Dingen ihre einzelnen Yuftände nur nad einander zu- 
getheilt werden, fondern aus einander jollen fie begreifbar "her- 
vorgehen und jeder frühere in fich ſelbſt den Grund enthalten, 
aus dem er nad) einem allgemeinen nnd verſtändlichen echte 
den fpäteren als feine Folge verlangen darf. Und eben fo wenig 


32 


fol jede einzelne Wirklichkeit nach einem ibr allein verliehenen 
Rechte Zuftand aus Zuftand entwideln; die Nothwendigkeit viel- 
mehr, die in dem einen Gefchöpfe waltet, verdankt ihre nöthigende 
Kraft denfelben allgemeinen Geſetzen, die auch in allen andern 
wirkſam Gleiches dem Gleichen und dem Verſchiedenen Ber- 
ſchiedenes zumefjen. Nicht vereinzelt auf befondern und unver- 
gleihbaren VBorherbeftimmungen beruben alfo die verſchiedenartigen 
Erſcheinungskreiſe, deren Contraft die Welt füllt; fie alle find 
nur mannigfaltige Beifpiele deſſen, was alles die Kraft der all- 
gemeinen Geſetze je nad den verjchiedenen Umftänden begrimbet, 
die veränderlich nad Zeit und Ort fich ihrer Entfcheidung unter- 
ordnen. Auf diefen Gedanken eines gemeinfamen, alle Natur 
beberrichenden Rechtes, aus dem allein alle Berbindlichkeiten und 
Tähigleiten des Wirfens für Die Dinge fließen, hat die mechanifche 
Naturauffaffung das ausgedehnte Gebäude ihrer Lehren gegründet. 

Aber zu der Kenntniß dieſes allgemeinen Rechtes können 
wir bon den Erfcheinungen aus, die uns allein umgeben, nur 
durch Schlüffe gelangen, die da8 Gebiet des Wahrnehmbaren 
überfteigen. Nicht jeder der Schritte, die hier gethan worden 
find, iſt gleich zweifellos. Nicht überall reichen die an ſich ge— 
wiffen Grundfäge unſers Erkennens zur Gewinnung nütlicher 
Ergebniffe hin; in Mandem bat ein glüdlicher Blick die frucht> 
baren Gefihtspunkte errathen müſſen. Und allerdings nicht über- 
al Hat ſchon die bisherige Gefchichte der Wiſſenſchaft die Richtig- 
feit folder Blicke beftätigt, die, als fie gethan wurden, durch die 
Eröffnung großer Ausfichten überraſchten; auch nicht überall ift 
es gelungen, Bermutbungen, deren tbatfächliche Richtigkeit die 
Erfahrung glänzend bewährte, auf ihre eigne innerlihe Noth- 
wenbigfeit zurückzuführen. Mancherlei Anftände mögen fich daher 
bem Zweifelnden ergeben, und die Hoffnung, fich einzelnen Folge⸗ 
rungen der mechanischen Naturanficht zu entziehen, wird im Stillen 
an dieſe nicht in allen Stüden vollendete Grundlegung derjelben 
anknüpfen. Aber man würde wenig gewinnen, wenn man mit 
ben zufammengerafften Einwänden, welche der augenblidTiche 





33 





Eindrud mancher Süße erweden mag, den gro 
Anfiht zu erfhüttern dächte. Auf einer unermeßlichen Fülle zu⸗ 
ſammenſtimmender Thatjachen ruhend, verdient er e8, ſelbſt gleich 
einer Naturerfheinuhg mit dem Zutrauen betrachtet zu werben, 
daß eine jpätere Einfiht in den Zuſammenhang aller Theile 
die früheren Zweifel an den einzelnen zerftrenen werde. Und in 
der That, gleich einem Naturgebilde ift auch dieſe Anficht der 
Natur noch einer reihen umgeftaltenden Entwidlung fähig. Nur 
eine ehr unvollftändige Kenntniß ihres Geiftes Könnte Die Grund- 
fäte, denen fie bisher Anwendung gegeben hat, als ben ab» 
gefchlofjenen und nicht vermehrbaren Zeftand möglicher Geſichts⸗ 
punkte anjehen. Im Vergleih mit der unendlihen Mannigfaltig- 
feit der Ereigniffe, mit denen und Die Natur täglich umgibt, weiß 
vielmehr die Phyſik fehr wohl, daß fie ihren Unterfuchungen 
bisher nur wenige Gebiete vollftändig hat unterwerfen Fünnen. 
Sie weiß, daß die allgemeinen Grundfäge, deren fie ſich bedient, 
zum Theil aus den befonderen Geftalten abgeleitet find, in denen 
fi) die wirkende Natur auf diefen wenigen beftbefannten Ge- 
bieten darftellt, und fie fühlt, daß mit jedem neuen Exfahrungs- 
freife, der im Laufe der Zeit vollftändiger befannt in die Reihe 
der Unterfuchungsgegenftände eintritt, auch eine Aufforderung ent- 
ftebt, den früheren Grundlagen ihrer Betrachtungen allgemeinere 
und umfaffendere Ausdrüde zu geben. Sie wird in diefer Selbft- 
entwidlung jelten in den Fall kommen, zurüdzunehmen, was fte 
früher feftgefegt hatte; aber fie wird häufiger finden, daß Gelege, 
deren Öiltigfeit fie in diefem Fortſchritte unangetaftet läßt, doch 
nur befondere Fälle allgemeinerer Beftimmungen find, welche fte 
nun aufgefunden bat. Und fo wird die wahre Naturwiſſenſchaft 
nicht jene kümmerliche Haft zeigen, mit der man fo oft alle Er⸗ 
fheinungen ausichlieglich nach dem Modelle derjenigen zu erflären 
jucht, welche der Zufall oder der augenblidliche Ausbildungsgrad 
der Beobachtung am meiften für uns ind Licht gerüdt hat. Im 
diefer Bildſamkeit der Wiſſenſchaft haben wir die wenigen Punkte 
hervorzuheben, die fie in der That für nothwendig ar allgemein 
Loge I. 4. Aufl. 


34 


giltig ausgibt, von den übrigen aber den Grad der Wahrfchein- 
lichkeit kennen zu lernen, welchen allein fte für dDiefelben in An⸗ 
ſpruch nimmt. 


Ein Zug ift es nun, welder neben jener Weberzeugung von 
einem allgemeinen gefetlichen Verbande den Geift der mechanischen 
Naturanſicht auf das Wejentlichfte bezeichnet: die unabläffige 
Sorgfalt, mit der fie für jeve Wirkung, deren fie gedenkt, genau 
die Elemente zu beftimmen fucht, von denen diefe Wirkung aus- 
geübt oder erlitten wird. Nicht immer bat die frühere Zeit dieſe 
Borfiht beobachtet. Man fpra von Wirkungen, die da liber- 
haupt gefhähen, ohne zu jagen, wer fie hervorbrächte; man ſprach 
von Thätigleiten, ohne namhaft zu machen, von wen fie aus— 
gingen und wen fie träfen; an zufammengefegte Gebilde, die eine 
Menge von Theilen unterfcheiden Tiefen, Inüpfte man im Ganzen 
und Großen Kräfte, Entwidlungen und Leiftungen, die fo nur 
auf unbeftimmte Weife in dem Innern biefer Gebilde ſich zu er- 
eignen fchienen, wie eleftrifche Entladungen in Wolfen, deren 
Schimmer man fieht, ohne Umriffe deſſen, von dem er ausgeht. 
Der Strenge, mit der fie diefen Fehler vermieb, verbanft die 
neuere Wifjenfchaft Alles, was fie geleiftet. Indem fie jorgfältig 
jedes Element, von dem eine Wirkung entiprang, nach feiner 
Loge zu andern und nah allen den Umftänden zu beftimmen 
ſuchte, in denen es ſich im Augenblide feiner Thätigfeit befand, 
gelangte fie dahin, die Wirkungen der Dinge nicht nur nad) ihren 
allgemeinen Formumriſſen und nad der Art, wie fie fih aus— 
nehmen, Tennen zu lemen, fondern ihre Größe Richtung und 
Dauer, jo wie ben Einfluß, den fie nad irgend einer Seite hin 
ausüben, an beftimmte Gefete des Maßes zu Fnüpfen. 

Sie hat hierdurch einen Standpunkt überwunden, auf dem 
wir die Beurtheilung geiftiger Entwicklungen zu großem Theile 
noch verweilen jehen. Nach den platten Berfuchen, ven Lauf der 


35 


Geſchichte und Alles, was in ihren Ereigniffen von Werth ift, 
aus nüchterner Willfür der Einzelnen zu erklären, finden wir 
nun wieber mit Vorliebe von einem allgemeinen Geifte und 
feinem unbewußt organifchen Wirken gefellige Zuftände der Men 
ſchen religiöfe Stimmungen und die veränderlichen Richtungen 
ber Kunſt abgeleitet. Die fchönen Erfolge, die wir diefen Be⸗ 
mühungen verdanken, werben durch das Geſtändniß nicht ges 
ſchmälert, daß doch die Gejchichte fich nicht ohne Die perſönlichen 
Geifter mache, und daß eine genauere Beobadtung in jenem all⸗ 
gemeinen Geifte doch nur die gleihförmige Endrichtung erkennen 
werde, welde die Einzelnen unter dem Eindrucke allgemeingiltiger 
Bedingungen und durch die Wechſelwirkungen ihres Verkehrs an⸗ 
nehmen. Nicht als wären darum alle ſchönen und bedeutiamen 
Formen des Dafeind in Natur und Gefhichte nur nachgeborene 
Folgen non Umftänden, die thatfächlich nun einmal vorangingen; 
wohl mag vielmehr das, was wir als idenlen Gehalt in ber 
verwirklichten Welt finden, auch der erfte treibende Grund zu einer 
beftimmten Orbnung der Dinge gewefen fein, als deren noth- 
wendiges Ergebniß wir e8 beſtändig wiedergeboren werden fehen. 
Aber überall da, wo wir nicht nach dem Werthe des Geruorbenen, 
fondern nach der Möglichkeit feines Werdens und dem Hergange 
feiner Berwirflihung fragen, da wird unfer Blick fih doch noth- 
wendig auf die einzelnen realen Elemente richten, in deren ge= 
jeglicher Wechſelwirkung die Vermittlung alles Werdens allein 
Tiegt. Und fo wird Geſchichte und Naturwiſſenſchaft jede Ent- 
ſtehung eines neuen, jede Erhaltung eines früheren Zuſtandes 
aus dem gegenfeitigen Verkehr vieler einzelner individueller Punkte 
herleiten, in denen allein die Idee fih zu thatkräftigen Wirklich- 
fetten verdichtet hat. 

In diefe Bahn der Unterfuchung nothwendig geleitet, mußte 
die Wiffenjchaft verfuchen, jene eriten Ausgangspunfte aller Wir⸗ 
kungen aufzufinden, welche völlig einfach und unveränderlih durch 
ſtets gleiche und darum berehenbare Beiträge den vielgejtaltigen 
Raturlauf zuſammenſetzen. Was fich zuerft der unmittelbaren Be= 

3* 


36 


obachtung als abgefchlofiene Einheit parftellt, Die bewegliche Geftalt 
des Thieres oder die ſcharf gezeichnete Form der Pflanze, das zeigte 
doch durch den Verlauf feines Lebens, mie fein Dafein und feine 
Leiftungsfähigfeit auf einer beftinmten Verbindung von Theilen 
beruht und mit ihrer Auflöfung wieder verfchwindet. Noch mehr 
erichtenen die unlebendigen Körper durch ihre Trennbarkeit in gleich- 
artige ober das fichtbare Hervortreten ungleichartiger Beſtandtheile 
als Zufammenfegungen, deren Eigenfchaften von der Natur der 
Menge und den Kräften der zu ihnen verbundenen Elemente ab⸗ 
hängen. Aber der Verſuch, dieje felbft aufzufinden, überzeugte 
bald, daß die einfachen und unveränderlichen Beftandtheile der Dinge 
fih der ſinnlichen Wahrnehmung überhaupt entziehen. Denn was 
im Hleinften Raume fi den Sinnen als gleichartiges und beftän- 
diges Element darſtellt, das zeigt fi) im Fortfchritt der Erfahrung 
doch noch als weränderlich oder Löft fich wor dem bemaffneten Auge 
aufs Neue in eine Welt des Mannigfaltigen auf, und wieder flieht 
man unbeftimmte Anzablen von Theilchen beihäftigt, durch ihre 
Wechſelwirkungen diefe Heinen Geftalten aufzubauen, die uns mit 
dem Scheine einer gleichförmigen und innerlich unbewegten Eriftenz 
täufchen. So mußte man, was die Wahrnehmung nicht darbot, in 
einem ihr entgehenden Gebiete vorausfegen und fuchte die Teßten 
Beftandtheile der Törperlihen Welt in unzählbaren Atomen von 
unfihtbarer Kleinheit unwandelbarer Dauer und unveränderlicher 
Beitändigfeit ihrer Eigenfchaften. In den vielfachften Weifen bald 
zufammentretend, bald unverändert aus diefen wechſelnden Gefel- 
lungen ſich trennend, bringen fie durch die Mannigfaltigfeit ihrer 
Stellungen und Bewegungen die verfchiedenen Formen der Natur- 
erzeugniffe und deren wandelbare Entwidlung hervor. 

Die mikroſkopiſche Forſchung, die uns jo oft das ſcheinbar 
Sleichartige in eine wohlgefügte Gliederung mannigfaltiger Theile 
auflöft, ſcheint am natürlichſten Die Neigung zu begünftigen, bie wirk⸗ 
famen Elemente des Körperlien an einzelne Punfte des Raumes 
vertheilt und die Eigenfchaften der größeren wahrnehmbaren Ge- 
bilde von der Berbindungäweife diefer Theile abhängig zu denken. 


37 


Aber Iange vorher hat fhon das Alterthum biefen Gedanken 
ausgebildet, geleitet durch Heberlegungen, deren Werth zum Theil 
noch in unverminderter Geltung befteht. Der Mangel zufammen- 
hängenber ausbrüdlich zu dieſem Zwecke angeftellter Beobachtungen 
hinderte jedoch die Alten, dieſer Borfiellungsweife eine matheme- 
tifche Ausbildung zu geben, und fie blieb bei ihnen mehr ein all- 
gemeiner Gedanke über bie Art einer möglichen Naturerflärung, als 
daß irgend eine beftimmte Gruppe von Erfcheinungen durch fte eine 
erhebliche Erläuterung gefunden hätte. Während jedoch die Alten 
die Ergiebigkeit ihres Princips wenig zu nutzen wußten, gingen fie 
in anderm Sinne weit über das hinaus, was die Atomiftif der 
heutigen Phyſik zu fein beabfichtigt. In den Atomen glaubten fie 
die legten und unvordenklichen Elemente aller Wirklichkeit gefunden 
zu haben, und was und jest nur als das Beftändige in dem Laufe 
der geichaffenen Welt gilt, das galt ihnen als das Unbedingte und 
wahrhaft Seiende, dem Nichts vorangehe, während es felbft Allem 
borangebend die an fi nothwendige und unabhängige Grundlage 
jeder möglichen Schöpfung fei. Daß nun eine ungählbare Vielheit 
felbftändiger und zufammenhanglojer Punkte den Uranfang der 
Welt bilde, und dag nur ihren planlofen Begegnungen das in- 
einandergreifende Ganze der Erfcheinungen entipringe: dieſer Ge- 
danke wird ftet8 Die lebhafte Sehnfucht des Geiftes gegen fich haben, 
der die Natur als Einheit aus Einem Duell und Plane zu ent- 
mwideln ftrebt. Aber dieſes Bedenken, das wir mit Recht gegen 
die Meinung des Alterthums gelten machen, würde man mit Un- 
recht gegen die atomiftiichen Grundlagen unferer Phyfif wenden, 
mit deren Geift und Bebärfniffen die Erneuerung jener Meinung 
nit nothwendig verbunden ift. Wenn wir bon unzerftörbaren 
Atomen fprechen, die an Geftalt und Größe verſchieden find, fo 
glauben wir damit nur die Reihe der Thatjachen, die wir wirklich 
beobachten, durch eine glüdliche Bermuthung um eine neue, vorzugs⸗ 
weis fruchtbare, aber der unmittelbaren Wahrnehmung entzogene 
Thatfache vermehrt zu haben. Daß alle Veränderungen im Natur- 
laufe nur bis an die Grenze diefer Heinften Theilchen reichen und bei 


38 


aller Umgeftaltung ihrer äußern Verhältnifie doch fie felbft als un⸗ 
veränderte Ausgangspuntte unabläffigen Fortwirkeus übrig lafſen: 
diefe Thatfache glauben wir, von unzähligen Andentungen der Er- 
fahrung geleitet, als einen darakteriftiihen Zug der Natur, wie 
fie uns num einmal vorliegt, glücklich errathen zu haben. Auch fie 
mag, wie andere Thatſachen, nod weiter zurüdgehende Fragen 
nah ihrem Sinn und Urfprung mit Recht veranlafien. Aber Die 
Naturwiſſenſchaft jelbft, nur auf Erklärung deſſen bedacht, was in⸗ 
nerhalb der einmal vorhandenen Schöpfung geſchieht, wird ihrer⸗ 
ſeits Recht haben, bei irgend einer letzten Thatſache anzuhalten, 
welche einen allgemeinen und unwiderruflichen Charakterzug dieſer 
Schöpfung auf eine für die Erklärung der Erſcheinungen fruchtbare 
Weiſe bezeichnet. Unverändert und ungetheilt alfo nicht um einer 
unbedingten Unzerſtörbarkeit ihres Wefens willen, fonbern weil der 
wirkliche Naturlauf die Beranlafjungen nicht erzeugt, denen ihre 
Auflöfung gelingen Könnte, bilden die Atome für den Aufbau ber 
Erſcheinungen die unwandelbar feften Punkte. An melden höheren 
Bedingungen auch ihre eigne Eriftenz hängen mag: für Die Exfl&- 
zung der einmal vorhandenen Natur dürfen wir diefe Bebingungen 
babingeftellt fein Iaffen, weil fie beftändig in ihr erfüllt find, nie 
verloren gehen und deshalb nie wieder von neuem bergeftellt zu 
werden brauchen. 

Welche weiteren VBorftellungen wir uns über die Natur ber 
Atome zu machen haben, kann nur nach den Andeutungen der Er- 
fahrungen, die ung überhaupt zu ihrer Annahme nöthigen, ent= 
ſchieden werben, und vieles hiervon bleibt der Zukunft vorbehal- 
ten. Der unbefangenen Weberlegung liegt e8 am nädhften, Die 
verſchiedenen Eigenfhaften des Sichtbaren auch von verſchiedenen 
Beſchaffenheiten der Heinften Elemente abzuleiten; die Wiſſenſchaft 
dagegen hat ein natürliches Interefje daran, die auseinandergehende 
Mannigfaltigfeit der Erfcheinungen auf die möglich Fleinfte Zahl 
uriprünglich verſchiedener PBrincipien zurüdzuführen. Und in ber 
That lehrt Die Unterfuhung ſehr bald erfennen, daß viele zunächſt 
weſentlich ſcheinende Unterjchiede der Dinge doch nur von Verſchie⸗ 





39 


benheiten ber Größe und Berbindungsweife an fich gleichartiger 
Beltandtheile abhängen. Dennod) dürfte die Feftigfeit, mit welcher 
manche Ratuverzeugniffe unter höchſt wechfelnden Bedingungen ihre 
harakteriftifchen Unterjchiede von andern aufrechterhalten, den Ver⸗ 
fu erſchweren, aus durchaus gleichen und gleichartigen Atomen nur 
durch die Mannigfaltigkeit ihrer Verfnüpfungsarten alle abweichen⸗ 
ben Formen der Körper und Verſchiedenheiten ihres Verhaltens zu 
erflären. Kein höherer Gefichtspunkt verlangt übrigens dieſe Gleiche 
beit der Atome; denn nicht Darin befteht Die Einheit des Weltgan- 
zen, daß alle feine urfprünglichen Beſtandtheile identiſch feien, 
fondern nur darin, daß die verichiedenen in den Sinn eine zu- 
fommenfaffenden Planes ftch fügen. 

Die Atomiftif der Alten war von dieſem Gedanken der Weſens⸗ 
gleihheit der Heinften Elemente beherrſcht; und da der Zwed der 
Raturerflärung dennoch Unterfchiebe derſelben verlangte, fo fuchten 
fie diefe ausſchließlich in der Mannigfaltigleit der Formen und 
Größen, melde den Atomen zufämen. Aber ein völlig gleicher 
Stoff ſchien vielmehr überall auch gleiche Form und Größe zu ver⸗ 
langen; fo fam man darauf, die Atome felbft aus noch Fleineren, 
gleihartigen und gleich großen Theilden zufammengefegt und 
ihre Formen von den Pagerungsverhältniffen dieſer abhängig zu 
benfen. Die Atome waren daher nicht eigentlich einfache Elemente, 
fondern ungzertrennlihe Syſteme mehrerer Theilchen. Dennod 
waren fie, und nicht dieſe Theilchen, Die Eleınente des Naturlaufes. 
Denn die Verknüpfungen jener Kleinften Urbeftandtheile zu den 
größeren und mannigfach geformten Geftalten der Atome jah man 
als ewige und umwiderrufliche Thatfachen an, deren Begründung 
vor aller Schöpfung der beftehenden Welt und damit außerhalb 
bes Kreifes naturwiſſenſchaftlicher Forſchung liegt. Jetzt, nachdem 
die geſchaffene Welt einmal beſteht, vermögen alle Wechſelwirkun⸗ 
gen des in ihr noch fortdauernden Naturlaufes nur noch ſo viel, 
die zuſammengeſetzten ſichtbaren Körper in ihre Atome, nicht aber 
auch dieſe noch in ihre gleichartigen Urbeſtandtheile zu zerfällen. 

Zu dieſer Annahme einer unerklärlichen erſten Zuſammen⸗ 


40 


fügung wird indefien diefe merkwürdige Borftellungsweife nur Durch 
ihre Borausfegung von der völligen Gleihartigfeit der Heinften 
Theilchen gedrängt. ‘Denn allerbings Tieß fi nun fein Grund 
mehr finden, warum es durchaus Feiner der im Naturlauf entſtehen⸗ 
den Kräfte gelingen follte, die Berbindungsweife jener Theilchen in 
enem Atome zu ftören und fie in die andere Form der Der- 
knüpfung überzuführen, in ber fie in einem zweiten von jenem 
verichiedenen Atom fich befinden, und die eben deshalb, weil fie 
fih bier verwirflict findet, der Natur jener Theilchen nicht an 
fih zuwider fein fannı. Anders würde es fein, wenn wir jene 
Borftellung der Alten fo erneuerten, daß wir nicht gleichartige, 
fondern vielmehr weſentlich verſchiedene Urbeftandtheile zu den 
Heinen Gebilden der Atome vereinigt dächten. Jedes von dieſen 
wirde dann unzertrennlich fein Fönnen, weil zwiſchen den Be⸗ 
ftandtheilen eines jeden eine Wahlverwandtſchaft Herrfchte, bie 
durch Feine andere üiberboten werden fünnte, und jedes würde zu- 
gleich eine beftimmte Größe und Geftalt befigen, weil nur bei 
begrenzter Anzahl der Theile und beftimmter Lagerung berfelben 
ihr gegenfeitiger Zufammenhang Feſtigkeit genug befäße, um jever 
Entreifung eines einzelnen zu wiberftehen. Auch dieje Gebilde, 
die durch ihre Ungerftörbarfeit den Namen der Atome verdienten, 
würden mithin nicht die legten und einfachften Elemente der 
Körperwelt, wohl aber die legten fein, bis auf melde die Ver⸗ 
änderungen in der Natur zurüdgeben, und welche in allen Zuſam⸗ 
menfegungen und Trennungen als bie unwandelbaren Baubeſtand⸗ 
theile erhalten werden. 

Aber man fteht leicht, daß diefe Vorftellungsweife und zu- 
gleich geftattet, von einer räumlichen Ausdehnung jener Urbeftand- 
theile gänzlich abzufehen und fie als überfinnliche Weſen zu be— 
trachten, die von beftimmten Punkten des Raumes aus durch ihre 
Kräfte ein beftimmtes Maß der Ausdehnung beherrſchen, ohne 
es doch im eigentlihen Sinne zu erfüllen. Dur ihre Wechfel- 
wirfungen würden diefe unausgedehnten Punkte fih ihre Ent- 
fernungen von einander und ihre gegenfeitige Lage vorzeichnen, 


41 


und fie würden hierdurch die Umriffe einer Raumfigur ebenfo 
beftimmt und fiher umſchreiben, als wenn fie das Innere der⸗ 
jelben durch ftetige Ausdehnung einnähmen. Und denfen wir an 
diefe einzelnen realen Punkte Kräfte der Anziehung und Ab- 
ftoßung nah außen genüpft, fo wirden größere Yufammen- 
bäufungen derjelben Durch ihren Widerftand gegen eindringenve 
Gewalt die Erſcheinung einer greifbaren Körperlichleit oder durch 
BZurüdwerfung der Lichtwellen den Anblid einer farbigen Ober: 
fläche ebenfo gut gewähren, al8 wenn die wirkſamen Wefen mit 
eigner ftetiger Ausdehnung den Raum erfüllten. Der Phyſik, 
welcher die kleinſten Theile nur als Mittelpuntte ausgehender 
Kräfte wichtig find, widerftrebt e8 nicht, diefen Schein einer aus- 
gebehnten Materie aus einfachen überfinnlicden Weſen abzuleiten; 
die philofophiiche Naturbetrachtung wird ſich zu dieſem Verſuche 
genöthigt jehen, denn er allein verbindet die VBorftellung von der 
Einfachheit der wirflih legten Elemente mit der gleich unent= 
bebrliden Yormenmannigfaltigleit der Atome, bie wir als die 
nächſten Baubeftandtheile des Körperlichen vorausiegen müſſen. 


— 


Welche Vorſtellung wir uns indeſſen von der Natur der 
Atome bilden mögen: das weſentlichſte Bedürfniß der Natur- 
erklärung wird dieſes fein, allgemeine Geſichtspunkte zu finden, 
nad) denen die Erfolge ihres Wirkens fi an beftimmte Geſetze 
knüpfen laſſen. Das deutliche Bemwußtfein über diefe Grundlagen 
ihrer Beurtheilung unterfcheidet die neuere Wiſſenſchaft völlig von 
der Atomiftil der Alten, die in ihren Verſuchen, die Erſcheinungen 
aus wechſelnden Verbindungen der Elemente zu erklären, zwar 
überall Die Gefege des Wirkens, an die uns der alltägliche An- 
bli® der Naturereigniffe gewöhnt bat, ſtillſchweigend vorausſetzte, 
ohne doch diefe Grundjäte abfichtlih hervorzuheben und bie 
Grenzen ihrer Giltigkeit zu unterfuchen. Uns aber wird es nüg- 
lich fein, zuzugeftehen, daß auch unfere Wiſſenſchaft bierin noch 


42 


nicht vollendet ift, und daß fle manche ihrer Grundfäte nur den 
Ausfagen der Erfahrung verdankt, mithin, Durch neue Erfahrungen 
vielleicht in Zukunft anders belehrt, ſich nicht jeder Umgeftaltung 
von vorm herein verjchließen darf. 

Unbekannt bleibt uns zunächft das Innere der Atome. 
Allein welche inneren Zuftände und Beftrebungen wir auch immer 
in ihnen vorausfegen möchten, nie wird fi doch um ihretwillen 
das Einzelne von felbft in Bewegung fegen, ohne durd feine 
Beziehungen zu andern dazu gendthigt zu fein. Denn der Raum 
an fih umgibt jedes Atom gleichförmig von allen Seiten, und 
fein Punkt diefer gleichgiltigen Ausdehnung befigt einen Vorzug 
bor den andern, um beöwillen das ruhende Atom fi nad ihm 
aufmachen, oder das bewegte aus feiner Richtung nach ihm ab⸗ 
lenken müßte; feiner entfpricht der Natur des Atoms beffer als 
ein anderer, fo daß es ihn fchneller auffuchte ober zügernder ver⸗ 
ließe. Jedes ruhende wird daher, fo lange nicht äußere Einflirffe 
binzutreten, in Ruhe, und jede® bemegte in der Richtung und 
Geſchwindigkeit feiner Bewegung verbarren, bis nen dazwiſchen 
wirkende Urfachen dieſe hemmen oder «ablenken. 

Diefes Geſetz der Beharrung, das aller unferer Beurtheilung 
der Bewegungen zu Grunde liegt, bezeichnet gleihwohl einen 
Sal, der nie in diefer Reinheit vorkommt. Denn eben jene 
äußeren Urfachen, welche Richtung und Geſchwindigkeit des Fort» 
gangs ändern, fehlen in Wirklichkeit dem Bewegten niemals. 
Das einzelne Atom umgibt der Raum nicht Teer, fondern am 
unzähligen Punkten durch andere, gleichartige oder verjchtebene 
Atome bejegt. Zwiſchen ihnen allen, als Beftandtheilen derfelben 
Welt, dürfen wir einen Zuſammenhang gegenfeitigen Fürein⸗ 
anderſeins vorausfegen, aus welchem eine unmittelbare Wechſel⸗ 
wirkung ihrer innern Zuſtände entfpringt. Aber diefe innern 
Erlebniſſe der Atome entgehen unjerer Beobachtung völlig; nicht 
fie macht daber die Naturwiſſenſchaft zu ihrem Gegenftand, fon= 
dern nur bie räumlichen Bewegungen, die ihr äußerer Aborud 
und ihre Folge find. Zwiſchen zwei unveränderlichen Atomen 





43 


im leeren Raume Tann diefer Ausdruck ihrer innern Wechfel- 
wirkung nur in Berfürzung oder Verlängerung ihres gegenfeitigen 
Abſtandes beftehen. Welcher von beiden Erfolgen in einem be- 
ſtimmten Falle eintreten, ob alfo die Erſcheinung einer Anziehung 
oder Abftoßung entftehen wird, dies hängt von den unbekannten 
inneren Beziehungen der wechſelwirkenden Atome ab und kann 
deshalb nur durch Erfahrung von uns gefunden werden. Nur 
auf den vereinigten Eindruck der Erfahrungen innen wir ferner, 
bi8 jetzt wenigftens, die Negel gründen, daß die Lebhaftigkeit 
jeder Wechſelwirkung mit der wachfenden Entfernung der wirken⸗ 
den Elemente von einander abnimmt, mit ihrer fteigenden gegen- 
feitigen Nöherung wächſt. Nach welchem befonderen Maßſtabe 
fie aber nad) der mwechfelnden Größe des Abſtandes ſich richtet, 
auch dies ift für jeden einzelnen Gall nur nad den Ausfagen ber 
Erfahrung zu entſcheiden; dieſe allein endlich belehrt uns über 
den Grad der Stärke, mit welchem überhaupt zwifchen zwei 
Atomen von beftimmter Natur Anziehung oder Abſtoßung fid 
entwideln wird. 

Die Fähigkeit oder die Nöthigung, eine beftimmte Wirkung 
bervorzubringen, Tiegt nach allem Erwähnten niemal® in ber 
Natur eines einzelnen Atoms oder eines einzelnen Körpers fertig 
enthalten. Wie vielmehr die Nothwenbigleit eines Wirkens über: 
haupt nur aus der gegemfeitigen Beziehung zweier Elemente her⸗ 
vorgeht, jo Tiegt auch die Entfcheivung darüber, ob das eine ſich 
anziehend oder abftoßend. verhalten werde, zugleich mit in Der 
Natur des andern, gegen welches es biefe Thätigfeit richtet; Die 
Größe des Einfluffes ferner, den jedes ausübt, wird ihm theils 
durch daſſelbe Verhältniß zu der eigenthümlichen Natur feines 
Gegners, theils durch feine Entfernung von ihm, alfo durch 
augenblidlih obwaltende Umftände zugemeffen. Allein obgleich 
auf diefe Weife die beftimmte Kraft des Wirlend jedem Atom 
eigentlich erft im Augenblide feines Wirkens zuwächſt, fo pflegt 
Doch die Naturwiſſenſchaft die Kraft als beftändig anhaftend dem 
Atom zu bezeichnen. Sie verſchuldet dadurch allerdings Miß- 


42 


nicht vollendet ift, und daß fie mande ihrer Grundfäte nur ben 
Ausfagen der Erfahrung verdankt, mithin, Durch neue Erfahrungen 
vielleicht in Zukunft anders belehrt, ſich nicht jeder Umgeftaltung 
von vorn berein verichließen darf. 

Unbelannt bleibt und zunächſt das Innere der Atome. 
Allein welche inneren Zuftände und Beftrebungen wir auch immer 
in ihnen vorausfegen möchten, nie wird ſich doch um ihretwillen 
das Einzelne von jelbft in Bewegung ſetzen, ohne durch feine 
Beziehungen zu andern dazu genötbigt zu fein. Denn der Raum 
an fih umgibt jedes Atom gleihförmig von allen Seiten, und 
fein Punkt diefer gleihgiltigen Ausdehnung befigt einen Borzug 
bor den andern, um beöwillen das ruhende Atom ſich nad ihm 
aufmachen, oder das bewegte aus feiner Richtung nach ihm ab- 
lenken müßte; feiner entipriht der Natur des Atoms beffer als 
ein anderer, fo daß es ihn ſchneller auffuchte ober zögernder ver⸗ 
ließe. Jedes ruhende wird daher, fo lange nicht äußere Einflüffe 
binzutreten, in Rube, und jedes bemegte in der Richtung und 
Geſchwindigkeit feiner Bewegung verharren, bis nen dazwiſchen 
wirkende Urfachen diefe hemmen oder ablenken. 

Dieſes Gefe der Beharrung, das aller unferer Beurtheilung 
der Bewegungen zu Grunde Tiegt, bezeichnet gleichwohl einen 
Fall, der nie in diefer Reinheit vorfommt. Denn eben jene 
äußeren Urfachen, welche Richtung und Gejhwindigfeit des Fort- 
gangs ändern, fehlen in Wirklichkeit dem Bewegten niemals. 
Das einzelne Atom umgibt der Raum nicht Teer, fondern am 
unzähligen Punkten durch andere, gleichartige oder verſchiedene 
Atome befegt. Zwiſchen ihnen allen, als Beftandtheilen derfelben 
Welt, dürfen wir einen Zufammenbang gegenfeitigen Yürein- 
anderſeins vorausſetzen, aus welchem eine unmittelbare Wechſel⸗ 
wirkung ihrer innern Zuſtände entſpringt. Aber dieſe innern 
Erlebniſſe der Atome entgehen unſerer Beobachtung völlig; nicht 
fie macht daher die Naturwiſſenſchaft zu ihrem Gegenſtand, ſon⸗ 
dern nur die räumlichen Bewegungen, die ihr äußerer Abdruck 
und ihre Folge ſind. Zwiſchen zwei unveränderlichen Atomen 








43 


im leeren Raume kann dieſer Ausdruck ihrer innern Wechfel- 
wirkung nur in Berfürzung oder Verlängerung ihres gegenfeitigen 
Abſtandes beftehen. Welcher von beiden Erfolgen in einem be- 
ſtimmten Falle eintreten, ob alfo Die Erſcheinung einer Anziehung 
oder Abſtoßung entftiehen wird, dies hängt von den unbelannten 
inneren Beziehungen der mechfelmirtenden Atome ab und Tann 
deshalb nur durch Erfahrung von uns gefunden werden. Nur 
auf den vereinigten Eindruck der Erfahrungen können wir ferner, 
bi8 jeßt wenigftens, die Regel gründen, daß die Lebhaftigkeit 
jeder Wechſelwirkung mit ber wachſenden Entfernung ber wirken⸗ 
ben Elemente von einander abnimmt, mit ihrer fteigenden gegen- 
feitigen Näherung wächſt. Nach welchem befonderen Maßftabe 
fle aber nach der mechfelnden Größe des Abſtandes ſich richtet, 
auch dies ift für jeden einzelnen Fall nur nach den Ausfagen der 
Erfahrung zu entjcheiden; dieſe allein endlich belehrt uns tiber 
den Grad der Stärke, mit welchem überhaupt zwifchen zei 
Atomen von beftimmter Natur Anziehung oder Abſtoßung fi 
entwideln wird. 

Die Fähigleit oder die Nöthigung, eine beftimmte Wirkung 
bervorzubringen, Tiegt nah allem Ermwähnten niemals in ber 
Ratur eines einzelnen Atoms oder eines einzelnen Körpers fertig 
enthalten. Wie vielmehr die Nothwendigkeit eines Wirkens liber- 
haupt nur aus der gegenfeitigen Beziehung zweier Elemente her- 
vorgeht, fo liegt auch die Enticheivung darüber, ob das eine ſich 
anziehend oder abftoßend. verhalten werde, zugleich mit in ber 
Natur des andern, gegen welches e8 diefe Thätigfeit richtet; Die 
Größe des Einflufjes ferner, den jedes ausübt, wird ihm theils 
durch daffelbe Verhältniß zu der eigenthümlihen Natur feines 
Gegners, theils durch feine Entfernung von ihm, alfo durch 
augenblidlih obwaltende Umftände zugemeſſen. Allein obgleid 
auf diefe Weile bie beſtimmte Kraft des Wirkens jedem Atom 
eigentlich erft im Augenblide feines Wirkens zuwächſt, fo pflegt 
doch die Naturwiſſenſchaft die Kraft als beftändig anbaftend dem 
Atom zu bezeichnen. Ste verjhuldet dadurch allerdings Miß- 


44 


verftändniffe bei denen, welche den Sinn diefer Ausdrucksweiſe 
nicht in ihren Anwendungen verfolgen. Denn die Verſuchung 
liegt nahe, die Kraft, die dem Stoffe beftändig anhaften foll, 
als einen neuen und doch ftofflofen Stoff, als eine Eigenichaft, 
die body verborgen bleibt, als eine Thätigfeit in Ruhe, oder als 
ein Streben aufzufafien, dem das Bewußtfein des Zieles ebenfo 
wie die Willkür ded Handelns und die Wirflichleit der Auge 
übung fehle. Niemand würde dieſelben Schwierigfeiten empfinden, 
Iprächen wir etwa von der Kraft unſeres Gemüthes, zu haffen 
oder zu Tieben. Wir wiflen, daß Liebe und Haß nicht von An= 
fang am fertig als foldhe in unferer Seele liegen, wartend auf 
die Gegenftände, gegen die fie fi) wenden könnten; beide ent= 
wideln fi in beftimmten Maße erft im Augenblide der Be— 
rührung unferes Weſens mit einem fremden. Dennoch dulden 
wir den Ausdruck, daß die Kraft des Haſſes und ber Liebe 
unferem Gemüthe eigen inwohne; wir wiflen, nichts damit jagen 
zu wollen, als daß die beftändige Natur unferer Seele, fo wie 
fie nun einmal ift, nothwendig unter dem Einfluffe beftimmter 
Bedingungen die eine oder die andere jener Aeußerungen ent⸗ 
wideln werde. Mit demfelben Rechte des Ausdruckes verlegt 
auch die Naturbetrachtung die Fähigkeit zu einer Leiftung, die ein 
Törperliches Clement nad Hinzutritt gewiffer Bedingungen er⸗ 
wirbt, als eine vorher fertige Kraft der Anziehung oder Ab- 
ſtoßung in deſſen eignes Innere. Sie darf nicht beforgen, durch 
diefe Abkürzung des Ausdrucks zu Irrthümern in der Anwendung 
geführt zu werden; denn feine Anwendung des Begriffes der 
Kraft ift möglich, ohne daß in jedem Falle die wahre Sachlage, 
auf die fein Gebraud fich gründet, in anderer Form doch wieder 
berüdfichtigt würde. Wir ſprechen von den Atomen nicht, fofern 
fie nicht wirken, fondern fofern fle wirken; aber wir können von 
feiner Wirkung des einen fprechen, ohne das zweite zu erwähnen, 
bon dem fie erlitten wird, und wir können zwifchen dieſen beiden 
feine Anziehung oder Abftoßung geichehen laſſen, ohne zugleich 
eine beſtimmte gegenfeitige Entfernung beider im Anfangsaugen- 











45 


bfid des Wirkens worzuftellen und von diefer die Größe ber ent- 
widelten Kraft nach einem erfahrungsmäßig belannten Gelege ab- 
zuleiten. So ift es daher für alle Anwendung gleichbedeutend, ob 
wir behaupten, daß aus den inneren Beziehungen der Elemente 
gegen einander jedem einzelnen die Nöthigung zu einer beftimmten 
Form und Größe der Wirkung erft im Augenblide unter dem 
Einfluß der vorhandenen Umftände entftehe, oder ob wir fagen, 
daß von manderlei Kräften, die fertig, aber unthätig in dem 
Atome ſchlummern, in jedem Augenblid diejenige zur Ausübung 
gelange, die in den eben vorhandenen Umftänden die Bedingungen 
ihrer Wedung und Neußerung finde. Doch hatte die Phyſik aller- 
dings Grund, die letztere Yorm des Ausdrucks als bequemer für 
die Anwendung vorzuziehen. 

Ließen die inneren Zuftände, die vielleicht jedes Atom tm 
Augenblide feines Wirkens erfährt, feine Natur jo verändert zurüd, 
daß es auf eine völlig gleiche fpätere Anregung anders zurückwirkte, 
als auf die frühere, fo würden wir von beftändig ihm anhaftenven 
Kräften nicht Tprecden Finnen. Die Erfahrung hat im Allgemeinen 
eine ſolche Veränderlichkeit nicht kennen gelehrt. Ein chemiſches 
Element, nachdem es bald mit diefem bald mit jenem andern zu 
einer innigen Verbindung zufammengetreten und aus berfelben 
wieder ausgeſchieden ift, fommt am Ende diefer Schickſale mit Tei- 
nen andern Eigenjchaften wieder hervor, als die waren, mit denen 
es in die erfte diefer Verbindungen eintrat. Und mo es fih etwa 
anders zu verhalten fcheint, Tiegt der Grund der augenblidlich ver- 
änderten Eigenjhaften in der noch anhaltenden Fortwirkung der 
Borgänge, die feine legte Ausſcheidung begleiteten. Wie viele und 
wie verſchiedene Zuftände alfo das Atom erfahren haben mag, 
immer gebt es aus biefen wechſelnden Lagen als völlig daſſelbe 
wieber hervor und erwirbt feine neuen Gemohnheiten, wie ſich deren 
in zufammengefeten Gebilden entmwideln, noch zeigt fih in ihm 
eine Spur von Gedächtniß, durch welches die vorübergegangenen 
Zuftände mit maßgebend für das Verhalten der Zukunft würden. 
Seine Wirkungsweife läßt fih Daher voraus beftimmen, wenn wir 


46 


feine urfprüngliche Natur und die Summe aller augenblidTich noch 
fortwirkenden Bedingungen Tennen, ohne daß es nöthig ift, den 
Berlauf der Geſchichte zu berüdfichtigen, welche es zwiſchen zwei 
Zeitpunkten erlebt bat. Dieſe beftändige Rückkehr zu gleichem Ver: 
halten unter gleihen Bedingungen ift e8 eigentlich, worein wir 
die Unveränderlichkeit der materiellen Atome fegen. Denn nicht 
dies bürfen wir behaupten, daß ihre Natur iiberhaupt niemals 
Beränderungen ihrer inneren Zuftände erfahre; aber dieſe Berän- 
derungen erlöfchen, wenigftend was ihren Einfluß auf das Ber- 
halten nach außen betrifft, mit dem Aufhören ihrer äußeren Be— 
dingungen, und liberal! wo bie legten genau zu einer frliheren Con⸗ 
ftellation zurückgekehrt find, Tehrt auch das Atom zu demjenigen 
feiner Zuftände, der dieſer entiprach, mit volltommener Elafticität 
zurüd und tritt nun wieder als diefelbe Kraft oder diefelbe Laft, 
wie damals, in das Spiel der weiteren Wechfelwirkungen ein. 
Unfere Kenntniß der Erfcheinungen ift nicht fo umfaffend, daß 
wir wagen dürften, dieſe Unveränderlichkeit als eine durchaus all- 
gemeine Eigenſchaft aller Naturelemente auszufprechen. Es ift wohl 
möglich, daß in Gebieten, in denen wir noch am Anfange der 
Unterfuhung fteben, Andeutungen einer fortfchreitenden inneren 
Entwidlung der Atome fich ergeben. Allein wie bie bisherige 
Erfahrung eine Nothwendigkeit dieſer Annahme nicht fühlbar ge= 
macht bat, fo läßt fih auch im Allgemeinen leicht überfehen, daß 
wenigftens in beſchränkter Ausdehnung die Unveränberlichfeit der 
Elemente immer ihre Geltung wird behaupten müflen. ‘Denn ein 
Bau der Natur, in welchem die Gattungen der Gefchöpfe ftet$ 
biefelben Geftalten und biefelbe Gliederung ihrer gegenfeitigen 
Berhältniffe, ver Lauf der Ereigniffe im Großen ftet8 diefelben 
Umriſſe forterbalten fol, ift nicht denkbar, wenn die Elemente felbft, 
aus denen diefe Mannigfaltigfeit fi ftet8 von neuem erzeugen 
ſoll, auch ihrerſeits einer beftändigen Veränderung unterliegen. 
Bielleicht durchläuft num in der That die ganze Natur eine fort- 
ſchreitende Entwidlung; aber fo groß ift nad dem Zeugniß der 
Erfahrung ihre Beſtändigkeit doch immer, daß wir alle Zeiträume 








47 


ihres Dafeins, die wir gejchichtlich tiberbliden Können, nur unter 
ver Borausfegung unveränderlicher Elemente verftehen, die nad 
jevem abgeſchloſſenen Umlauf der äußeren Bedingungen ebenfalls 
auf den anfänglichen Zuftand ihres Weſens zurückkommen und fo 
der Erneuerung befielben Spiele die alten Anknüpfungspunfte 
wieder verichaffen. 


Bietet nun diefe Annahme die allgemeinjte Grundlage für 
bie Borherbeftimmung eintretenber Wirkungen, jo hat die Exfab- 
rung ebenfo die ausgedehnte Gültigkeit einer andern Borausfegung 
beftätigt, nach der wir die Erfolge beurtbeilen, die aus dem Zu⸗ 
ſammenwirken mehrerer Bedingungen an bemfelben einfachen Ele- 
ment entftehen. Die Bewegung, in der ein Atom fich bereits be= 
findet, hindert nicht die Annahme einer zweiten; nicht widerſtre⸗ 
bend oder nur zum Theil, fondern fo vollfommen genügt das be- 
wegte Atomı auch dem andern Antriebe, als wäre die frühere Be- 
wegung in ihm nicht vorhanden gewefen, und die Geſchwindigkeit, 
die e8 im Ganzen erlangt, ift die vollftändige Summe der ein= 
zelnen Gejhwindigfeiten, die ihm durch dieſe verſchiedenen Kräfte 
nach gleicher Richtung mitgetheilt werben. Denken wir nun dieſe 
mehreren Kräfte als völlig gleich unter einander und verbinden fie 
in beliebigen Mengen zu der Borftellung von Geſammtkräften, 
deren Größe wir dann nad der Anzahl der einfachen und glei- 
hen Anftöhe fchäten, die jede von ihnen in ſich vereinigt, fo läßt 
ih dem Vorigen leicht der Sat entnehmen, daß die Geſchwindig⸗ 
fetten, die durch verſchiedene Kräfte demfelben Element mitgetheilt 
werden, fich wie die Größen diefer erzeugenden Kräfte ſelbſt ver- 
halten. Erneuert ferner eine Kraft, ftetig wirkend, in jedem 
Augenblicke denfelben Anftoß, den fie im vorigen gab, fo wird Die 
erzeugte Geſchwindigkeit im Verlauf der Zeit durch die beftänbige 
Summirung der fpäteren Eindrüde mit den nach dem Geſetze ber 
Trägheit fortdauernden früheren wachen und die Bewegung wird 


46 


feine urfprüngliche Natur und die Summe aller augenblicklich noch 
fortwirtenden Bedingungen kennen, ohne daß es nöthig ift, den 
Berlauf ver Geſchichte zu berücfichtigen, welche es zwiſchen zwei 
Zeitpunkten erlebt Hat. Diefe beftändige Rückkehr zu gleichen Ber: 
halten unter gleichen Bedingungen tft e8 eigentlih, worein wir 
die Unveränderlichleit der materiellen Atome ſetzen. Denn nicht 
dies dürfen wir behaupten, daß ihre Natur überhaupt niemals 
Beränderungen ihrer inneren Zuſtände erfahre; aber dieſe Berän- 
derungen erlöfchen, menigftens was ihren Einfluß auf das Ber- 
halten nach außen betrifft, mit dem Aufbören ihrer äußeren Be- 
dingungen, und liberal wo die legten genau zur einer frliheren Con⸗ 
ftellation zurücdgelehrt find, kehrt auch Das Atom zu demjenigen 
feiner Zuftände, der diefer entſprach, mit vollkommener Elafticität 
zurüd und tritt nun wieder als diefelbe Kraft oder diejelbe Laft, 
wie damals, in das Spiel der weiteren Wechfelwirfungen ein. 
Unfere Kenntniß der Erfcheinungen ift nicht jo umfaſſend, daß 
wir wagen bürften, dieſe Unveränderlichkeit als eine durchaus all- 
gemeine Eigenſchaft aller Naturelemente auszufprechen. Es iſt wohl 
möglich, daß in Gebieten, in denen wir noch am Anfange der 
Unterfuhung fliehen, Andeutungen einer fortfchreitenden inneren 
Entwicklung der Atome fich ergeben. Allein wie bie bisherige 
Erfahrung eine Nothwendigkeit diefer Annahme nicht fühlbar ge- 
madt bat, fo läßt fih auch im Allgemeinen leicht überſehen, daß 
wenigftens in befchränfter Ausdehnung die Unveränderlichleit der 
Elemente immer ihre Geltung wird behaupten müffen. ‘Denn ein 
Bau der Natur, in welchem die Gattungen der Geichöpfe ftet$ 
biefelben Geftalten und biefelbe Gliederung ihrer gegenfeitigen 
Verhältniſſe, der Lauf der Ereigniffe im Großen ſtets biefelben 
Umriſſe forterhalten fol, ift nicht denkbar, wenn die Elemente jelbft, 
aus denen diefe Mannigfaltigfeit fich ftet8 von neuem erzeugen 
ſoll, auch ihrerſeits einer beftändigen Veränderung unterliegen. 
Bielleicht durchläuft nun in der That die ganze Natur eine fort= 
ſchreitende Entwidlung; aber fo groß ift nach dem BZeugniß der 
Erfahrung ihre Beſtändigkeit Doch immter, daß wir alle Zeiträume 





47 


ihres Dafeins, die wir gefchichtlich überbliden innen, nur unter 
der Borausfegung unveränderlicher Elemente verfiehen, die nad 
jedem abgeſchloſſenen Umlauf der äußeren Bedingungen ebenfalls 
anf den anfänglichen Zuftend ihres Wejens zurückkommen und fo 
der Erneuerung defielben Spiele8 die alten Anknüpfungspunkte 
wieder verichaffen. 


Bietet nun diefe Annahme die allgemeinfte Grundlage für 
bie Borherbeftimmung eintretender Wirkungen, jo hat die Erfah⸗ 
rung ebenfo die ausgedehnte Gültigkeit einer andern Borausfeßung 
beftätigt, nach der wir die Erfolge beurtbeilen, die aus dem Zu⸗ 
ſammenwirken mehrerer Bedingungen an demfelben einfachen Ele- 
ment entitehben. ‘Die Bewegung, in ber ein Atom fich bereits be= 
findet, hindert nicht die Annahme einer zweiten; nicht wiberftre= 
bend oder nur zum Theil, fondern fo volffommen genügt das be— 
wegte Atom auch dem andern Antriebe, al8 wäre die frühere Be- 
wegung in ihm nicht vorhanden gewefen, und die Gefchwindigfeit, 
die es im Ganzen erlangt, ift die vollftändige Summe der ein= 
zelnen Gefchwindigfeiten, die ihm durch dieſe verjchiedenen Kräfte 
nach gleicher Richtung mitgetheilt werben. Denken wir nun diefe 
mehreren Kräfte als völlig gleich unter einander und verbinden fie 
in beliebigen Mengen zu ber Borftellung von Gefammtkräften, 
deren Größe wir dann nad der Anzahl der einfachen und glei- 
hen Anſtöße ſchätzen, die jede von ihnen in ſich vereinigt, fo läßt 
fih dem Vorigen leicht der Sat entnehmen, daß die Geſchwindig⸗ 
feiten, Die Durch verſchiedene Kräfte demſelben Element mitgetheilt 
werben, fich wie die Größen dieſer erzeugenden Kräfte jelbft ver- 
halten. Erneuert ferner eine Kraft, ftetig wirfend, in jedem 
Augenblide denſelben Anftoß, den fie im vorigen gab, fo wird Die 
erzeugte Geſchwindigkeit im Verlauf der Zeit durch die beftändige 
Summirung der päteren Eindrüde mit den nad dem Geſetze der 
Trägbeit fortdauernden früheren wachen und Die Bewegung wird 


48 


in jene befchleunigte übergeben, die wir unter Anderem in dem 
Falle der Körper durch die ftetige Anziehung der Erde entftehen 
fehen. Berfuchen endlich verſchiedene Kräfte mit verſchiedenen Ge- 
ſchwindigkeiten und Richtungen daſſelbe Element gleichzeitig zu be= 
wegen, jo wird e8 auch hier keineswegs, der einen allein gehorchend, 
fih den andern entziehen, fondern den Antrieben aller zugleich ge= 
nügen. An dem Ende eines beſtimmten Zeitraumes befindet fich 
daher das Element dur das Zuſammenwirken zweier Kräfte an 
demfelben Orte, den e8 erreicht haben wiirde, wenn e8 beiden nad 
einander gehorchend fi zuerſt in der Richtung der einen, und 
während eines zweiten gleichen Zeitrammes von dem nun erreiche 
ten Orte aus in der Richtung der andern Kraft bewegt hätte. 
Sucht man nad derfelben Borausfegung die Orte auf, an denen 
ſich das Bewegte am Ende bes erften, des zweiten und jedes fol- 
genden unendlich Heinen Abfchnittes jenes Zeitraumes befindet, fo 
bezeichnet die Linie, welche dieſe Punkte unter einander verbindet, 
die gerade oder Frummlinige Bahn, die das Element unter dem 
Zuſammenwirken beider Kräfte wirklich durchläuft. Sie zieht fich 
in einen Punkt zufammen und das Element ruht, wenn die Sum- 
men der Kräfte gleich find, Die e8 nach entgegengefegten Richtungen 
treiben. 

Findet endlich zwiſchen zwei Elementen die Nothwendigteit 
einer Wechſelwirkung einmal ftatt, jo findet fie ganz ebenfo ftatt, 
wenn dem einen nicht mehr eines, jondern eine Mehrheit gleich- 
artiger, einzeln oder zu einer Maſſe vereinigt, gegenüberfteht. Die 
Empfänglichfeit für Wechfelwirkung iſt auch hier nicht fo erichöpf- 
bar, daß das eine Element feinen Einfluß nur auf eine beftimmte 
Anzahl anderer erfireden oder die Größe deſſelben zwiſchen dieſe 
vertheilen müßte. Welches vielmehr auch die Anzahl diejer feiner 
Gegner fein mag, zwifchen ihm und jedem einzelnen berfelben ent- 
Ipinnt ſich Die Wechſelwirkung ganz ebenfo, wie fie ausfallen würde, 
wenn alle übrigen nicht vorhanden wären. Jedem berfelben ertheilt 
Daher das eine Element, und von jebem derfelben empfängt es ein- 
mal die Geſchwindigkeit, die iiberhaupt der Wechſelwirkung zwiſchen 








49 


Atomen folder Gattung entipriht. Es ſammelt alfo ebenfo viel- 
mal in fich ſelbſt dieſe Geſchwindigkeit, als Die Maſſe feines Geg- 
ners ihm felbft gleiche Elemente vereinigt, beren jedem es einmal 
dieſelbe Gejhwindigfeit mittheilt. Nennen wir daher Größe ber 
Bewegung das Product aus der Gefchwindigleit in die Anzahl 
der gleichartigen bewegten Theile oder in ihre Mafle, jo erhält 
jedes der beiden Glieber eines wechſelwirkenden Paares dieſelbe 
Bewegungsgröße, jedes mithin eine Geſchwindigkeit, welche wächſt, 
je größer fein Gegner und je Heiner feine eigne Maſſe ift. Dies 
ſes Geſetz der Gleichheit der Wirkung und Gegenwirkung geftattet 
in Berbindung mit dem Borigen eine Beftimmung der Bahnen, 
welche ungleich große Maſſen, fie mögen urfprünglih in Ruhe 
oder in Bewegung gewefen fein, durch ihre gegenfeitigen Kräfte 
einander borichreiben. 

In allen diefen Regeln der Beurtheilung zufammengefegter 
Ereigniſſe Liegt die allgemeine Borausfegung, daß die Wechſelwir⸗ 
fung, in welder ſich ein Element mit einem zweiten befindet, Tei- 
nen Einfluß auf das Geſetz ausübe, nach welchem es gleichzeitig 
in Wechſelwirkung mit einem dritten treten fol. Nicht die Wir- 
kungsweiſe der einzelnen Kraft jondern nur ihr Erfolg wird durch 
das Zufammentreffen mit andern gleichzeitig einwirfenden verändert; 
denn in dem Erfolge allerdings müfjen die entgegengefegten An- 
triebe verfchiedener Kräfte, denen daſſelbe Element nicht gleichzeitig 
folgen kann, ſich aufheben, die übrigen aber zu einer mittleren 
GSefammtleiftung fih zufammenfegen. Diefe VBorausfegung nun 
ift Die einfachfte und günſtigſte für die Beſtimmung der Effecte, 
Die das Zuſammenwirken mehrerer Bedingungen berborbringt; denn 
ſie geitattet, die Leiftung jeder einzelnen Kraft zunäcft für fid 
und ohne Rückficht auf die übrigen zu berechnen, und dann bie 
gefundenen einzelnen Erfolge zu einem Enbergebniß zu verbinden. 
Und demfelben Grundgedanken würde man ferner zu folgen geneigt 
fein, wenn man angenommen hätte, daß nicht allein der Größe 
fondern auch der Art nach verfchiedene Kräfte ſich gleichzeitig an 
demfelben Atome begegneten. Auch bier wiirde m vorausſetzen, 

Zope I. 4. Aufl. 


50 


daß ihre Kreuzung nicht die einzelnen Gefeße ändere, nach denen 
das Element gegen jede berjelben einzeln zurückwirkt oder von ihr 
leidet; nur im Erfolge würden auch hier ſich die entgegengefegten 
Leiftungen aufheben, die von den verfchtevenen Kräften ihrem ge= 
meinſchaftlichen Objecte zugleich zugemuthet werben. Aber wir 
würden doch in der That nicht angeben fünnen, wie weit Die 
Giltigfeit dieſer Borftellungsweife reihe. Denn jene Gleichgiltig- 
feit, mit welcher verſchiedene Kräfte in demjelben Element neben 
einander wirken, ohne fich gegenfeitig zur Veränderung ihres Stre= 
bens zu veranlaffen, ift Feine an fich nothwendige Annahme; fie 
kann im Gegentheil unter mehreren möglichen als Die unmahr- 
Icheinlichere gelten. 

Berbindet zwei Perſonen gegenfeitige Yuneigung, und fteht 
jede für fih in gleich freundlichem Berhältnig zu einer dritten, 
jo läßt doch nicht immer der Hinzutritt der legten Die Gefinnungen 
zwifchen den beiden erften unverändert; er wandelt eben jo oft 
ihre frühere Freundſchaft in Zwiefpalt um, oder die früher ent- 
‚zweiten vereinigen ſich zu gemeinfamer Abftoßung des Dritten. 
Diefes Beifpiel, aus einem ganz frembartigen Gebiete entlehnt, 
hat vielleicht Teine tiefer liegende Aehnlichkeit mit dem einfachen 
Valle, der uns beichäftigt, aber es erläutert anſchaulich, was wir 
nun ohne Gleichniß allgemein ausdrüden können. Denken wir Die 
Wechſelwirkungen der Dinge nicht äußerlich an fie gefnüpft, ſon— 
dern, wie wir müflen, von Veränderungen ihrer inneren Zuſtände 
entweder abhängig oder Doch begleitet, fo ift jedes Element im Augen=- 
blide feines Wirkens im Grunde ein anderes, als e8 vorher war, 
oder nachher fein wird. Wohl kann es nun fein, Daß das Gefeg, 
nad dem e8 aus feinem unthätigen Zuftande heraus mit einem 
zweiten in Wechfelwirfung getreten fein würde, auch jet noch für 
das ſchon thätige Element giltig bleibt; denn die Veränderung 
des inneren Zuftandes, die mit feinem Wirken verbunden ift, 
braucht nicht nothwendig jene Züge feiner Natur anzutaften, auf 
denen feine Unterordnung unter dieſes Gefeg beruhte. Und dann 
wird der ermähnten Annahme gemäß jede neue Wechſelwirkung 








51 


ebenjo beginnen, als wäre die frühere nicht vorhanden. Aber 
gewiß tft e8 im Allgemeinen ebenfo denkbar, Daß eine ſchon vor 
fich gehende Thätigkeit Den innern Zuſtand des wirkenden Elementes 
zu weſentlich abändert, als daß es nun gegen ein anderes fich 
nad dem früheren Gejeße feiner Wirkſamkeit noch ferner äußern 
fönnte. Denn die Kräfte, wie wir gefeben haben, find nicht une 
zerftörbare Eigenthümlichkeiten, die ohne Rüdficht auf alle Verhält- 
niffe an der Natur eines Elementes beftändig haften; fle und 
ihre Gefege find nur Ausdrücke jener Nöthigungen zur MWechfel- 
wirkung, die fir die Dinge allemal erft aus ihren gegenfeitigen 
Beziehungen entfpringen. Aendern ſich die inneren Zuftände ber 
Dinge, fo Finnen mit ihnen dieſe Beziehungen ſich ändern, und 
fo fih Antriebe zu neuen anders geftalteten Wirkungen, alfo neue 
Kräfte oder neue Geſetze derfelben entwideln. Ohne Zweifel dürfen 
wir e8 daher als einen möglichen Gedanken bezeichnen, daß auf 
eine freilich felbft geſetzliche Weiſe fih auch das Wirkungsgefet 
einer einfachen Kraft mit den wechjelnden inneren Zuftänden ihres 
Trägers ändere. 

Die Erfahrung bat allerdings in ben Gebieten, die einer ge- 
nauen Theorie bisher zugänglich geweſen find, kaum noch Spuren 
gezeigt, welche auf eine praftiiche Wichtigfeit dieſer allgemeinen 
Betrachtung hindeuten; dennoch müſſen wir Die Unveränderlichkeit 
der Wirkungsgeſetze, jo weit fie vorfommt, als eine jener Erfah: 
rungsthatfachen betrachten, welche uns über Die Grundzlige des 
wirklichen Weltbaues aufllären, aber wir dürfen ſie nicht für eine 
on ſich nothwendige Einrichtung anfeben, die in jeder Natur, 
oder auch nur in diefer Natur uneingefchräntt vorkommen müßte, 
Und nocd weniger würden wir uns erlauben Dürfen, fte ſtillſchwei⸗ 
gend auch auf das Gebiet des geiftigen Lebens üiberzutragen, als 
babe fie ein Recht, ohne befondere Betätigung der Erfahrung 
für die allgemeine Regel in allen Ereigniffen überhaupt zu gelten. 
Kaum ift e8 endlich nöthig hinzuzufügen, daß überhaupt von ihr 
nur in Bezug auf jene einfachen Kräfte die Rede fein Tann, Die 
wir der Natur eines einzelnen Elementes in feinem Verhälfniß 

4* 


52 


zu einem zweiten beftändig zuſchreiben. Die Gejammtleiftungen 
größerer Verbindungen von Elementen find Dagegen natürlich von 
der Verbindungsweiſe biefer Beftanbtheile abhängig, und feine 
allgemeine Regel würde fi) über die Veränderungen aufftellen 
laſſen, die ſolche Kräfte durch die mannigfachen möglichen Ber- 
ſchiebungen der verbundenen Elemente erleiden innen. Manches 
kann in einem fo zufammengefetten Syſtem durch äußere Eindrücke 
unheilbar zerrüttet werben, und die Rückkehr derfelben äußeren Be- 
dingungen würde ihm nicht die Fähigkeit zu derſelben Rückwir⸗ 
fung wiedergeben, die e8 unter gleichen Bedingungen früher ent- 
faltete. Bon den einfachen Elementen dagegen wilrden wir eine 
ſolche Abnugung ausſchließen, und felbft wenn die erwähnte 
Beränderlichleit ihrer Wirkungsweiſe ſtattfände, würden wir boch 
immer vorausfegen, daß jeder Wiederholung einer völlig gleichen 
Conftellation der äußern Bedingungen auch eine Wiederkehr Der 
nämlichen Wirkungsgeſetze entipreche. 

Bon folhen Grundlagen ausgehend bat die Wiſſenſchaft Er- 
klärungsgründe für die Naturereigniffe entwidelt, indem fie dieſen 
allgemeinen Sägen beftimmte, den erfahrungsmäßig vorkommenden 
Verhältniſſen möglichft angenäherte Combinationen von Umftänden 
unterordnete und die Erfolge berechnete, welche die vorhandenen 
Kräfte unter diefen Umftänden hervorbringen müſſen. Sie ift 
hierdurch theil® zur vollftändigen Aufhellung einzelner Kreiſe von 
Erſcheinungen, theil® wo die zu große Anzahl mitwirkender Be- 
dingungen ihre unmittelbare Berechnung erfchwert, wenigftens zu 
allgemeinen Gefihtspunften gekommen, durch welche die zu erwar⸗ 
-tenden Erfolge in gewifle Grenzen eingefchloffen werden. So 
würde fi) aus der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung 
leicht Die Folge entwideln laſſen, daß die inneren Wechſelwirkungen 
eined verbundenen Maſſenſyſtems zwar feine Form, aber nicht 
feinen Ort im Raume ändern Tönnen, oder daß bei allen inneren 
Beränderungen eined Syſtems doch fein Schwerpunft in Ruhe 
‚bleibt, wenn er in Ruhe war, ober ohne Veränderung feiner 
Richtung und Geſchwindiglkeit eine ihm früher eigne Bewegung 








53 


fortfeßt. Jeder Ortswechſel, der durch die eignen Kräfte eines 
Körpers eingeleitet wird, ſetzt daher Die Wechſelwirkung mit irgend 
einem Aeußeren voraus, das als Stützpunkt ober richtungbe- 
ſtimmender Wiberftand dient. Die Betrachtung des Lebens, 
der wir zueilen wollen, nötbigt uns nicht, in dieſe Einzelheiten 
der phyſikaliſchen Dynamit einzugehen; fie veranlaßt uns dagegen, 
nod einige andere Bemerkungen über die Auffaffungsmweilen der⸗ 
felben Hinzuzufügen. 

In unferem geiftigen Leben finden wir die Größe vieler 
Thätigleiten von der Zeit abhängig; das Intereſſe des Gefühle 
an den Gegenftänden, die Klarheit der BVorftellungen, die Kraft 
bes Willens: fie alle jcheinen ohne neue Anregungen im Laufe 
ber Zeit abzunehmen. Der gemöhnliden Meinung muß es daher 
am wahriceinlichften vorkommen, daß jede Wirkung überhaupt, 
mithin aud Die Aeußerung jeder Naturkraft einer folden allmäh- 
fihen Ermüdung und Erihöpfung unterliege. Daß eine mitge- 
tbeilte Bewegung am Ende von ſelbſt aufhöre, ift deshalb lange 
die gewöhnliche Borausjegung geweſen und das Geſetz der Behar- 
rung erſchien ihr gegenüber als eine fonderbare Entdedlung der 
Wiſſenſchaft. Auch in dem Geifte ift es natürlich nicht Die Zeit 
jelbft, welche die Kraft der Thätigfeit verzehrt, ſondern die vielfachen 
Ereigniſſe, die fi in ihm beftändig Freuzen, hemmen durch ihre 
wechfelfeitigen Einflüffe die ungefchmälerte Fortdauer jedes einzel- 
nen. In den einfachen Elementen ber Natur findet entweder 
diefe Vielheit innerer Zuftände nicht ftatt, oder fie äußert fernen 
Einfluß ähnlicher Art; denn jo weit wir die Geſchichte der Er⸗ 
fcheinungen überbliden können, find die Kräfte gleicher Maſſen 
zu allen Zeiten diefelben gemejen. Keine von ihnen nimmt nur 
um deöwillen ab oder zu, weil fie bereit8 eine Seit hindurch ge= 
wirft bat, und wie fie feine Erſchöpfung erfährt, jo erwirbt auch 
feine durch Wiederholung ihrer Ausübung eine Gewohnheit des 
vollfomnmeren Wirkend. Für jede Fähigkeit zu einer Lerftung, die 
wir irgendiwo neu entftehen ſehen, werden wir baber den Grund 
in einer neuen Geftaltung ber veränderlihen Umftände ſuchen 


54 


müffen, durch melche den ſtets gleichen Kräften Hinderniffe ihres 
Erfolges hinweggeräumt oder früher fehlende Bebingungen ihrer 
Aenferung gewährt worden find; für jedes fcheinbare Erlöſchen 
einer Kraft werden wir ebenfo den Grund in Veränderungen der 
gegenfeitigen Beziehungen der wirkenden Maſſen fuchen, die ent- 
weder die fernere Aeußerung dur Widerftand aufheben, oder fte 
durch Bertheilung auf einen wachjenden Kreis von Objecten für 
unfere Beobachtung unmerklich machen. Für jede Erflärung eines 
Ipäteren Zuftandes muß daher dag Fortwirken des früheren mit 
dem Werthe, den er augenblidlih noch bat, als die eine, und 
die Summe aller neu eingetretenen Umftände als Die andere 
Mitbedingung des neuen Erfolges in Anſchlag gebracht werben. 

Man fieht, wie wir durch Diefe Betrachtungen mit Nothwen- 
digkeit dahin geführt werben, jede Veränderlichleit der Wirkungs⸗ 
weife, jeve Mannigfaltigfeit der Entwicklung und alle Bielfeitigfeit 
der Aeußerungen, die wir in irgend einem Naturgebilde antreffen, 
theils auf innere Bewegungen, durch welche die Beziehungen feiner 
eignen Theile raſtlos umgeftaltet werden, theil® auf wechſelnde 
Berhältniffe zurücdzuführen, die e8 mit der Außenwelt verknüpfen. 
Faſt Alles aber, was in der Natur unfere lebhaftefte Theil- 
nahme fefjelt, gehört zu dieſem Gebiete der veränderlihen Er- 
ſcheinungen, und unter allen zieht am meiften das organifche Leben 
und Die in einander greifende Ordnung der Ereigniffe im Großen 
unfere Aufmerffamfeit an. Unvermeidlid muß die Wiſſenſchaft 
auch über dieſe Erfcheinungen jene Grundjäge ihrer Unterfuhung 
ausdehnen, und ebenfo unvermeidlich wird fie vorübergehend we⸗ 
nigftend den böfen Schein auf ſich nehmen müſſen, als gewährte 
fie der fuchenden Bhantafle nirgends ein Inneres, nirgends wahre 
Lebendigkeit. Denn wenn unfer unbefangnes Gemüth eben da— 
rum das Bild des Lebens verehrt, weil es in aller feiner Man- 
nigfaltigfeit Doch nur die zufammenhängende Fülle Eines Wefens, 
in aller bemeglichen Bielfeitigfeit feiner Entwidlung nur die all- 
mähliche Entfaltung eines und deſſelben unverlierbaren Charakters 
fieht: fo Können wir nicht leugnen, daß die Wiffenfchaft allerdings 





55 


den Werth dieſes ſchönen Bildes vernichtet, indem fie feine ein- 
zelnen Züge aus vielerlei zerftreuten Bedingungen, die nicht von 
einander wiſſen, zufammenfegt. Die Dinge leben nicht mehr 
aus fi) heraus, fondern durd die wechfelnden Umftände wird an 
ihnen ein veränderliches Geſchehen hervorgebracht, das wir zwar 
ihr Leben noch nennen, ohne doch das angeben zu können, was 
als Einheit diefen Wirbel neben einander ablaufender Ereigniffe 
zu einem Ganzen innerlih verſchmölze. Diefer Vorwurf einer 
änßerlihen, muſiviſchen Zuſammenſetzung deffen, was nur aus 
einem Guſſe hervorgehend für uns Werth zu haben foheint, ift 
den Erflärungsverfuchen der Naturwiffenfhaft nie erfpart worden 
und wir find weit Davon entfernt zu verlangen, daß er nicht ge= 
macht werde. Denn diefe Stimmen find ed immer gewefen, deren 
Zuruf die Unterfuhung, wenn fie mühevoll durch die Verwicklungen 
der einzelnen Erſcheinungen fih hindurch kämpfte, an Die großen 
Ziele erinnerte, um deren willen allein ihre ganze Bemühung 
menschliches Intereſſe bat; fie haben überall die Ausficht auf 
einen unermeßlichen Geſichtskreis von neuem eröffnet, wo die Be- 
friedigung, die wir aus der theilweis gelungenen Hinmwegräumung 
der nächſten Schwierigkeiten jchöpfen, uns zu vorzeitigem Abſchluß 
unferer Anfihten verleiten wollte. Aber indem wir auf das Aus- 
drüdlichfte die volle Berechtigung diefer Einwürfe anerkennen, 
müſſen wir doch hinzufügen, daß es feiner der Auffaffungsmweifen, 
von denen fie am lebhafteften gemacht zu werden pflegen, bisher 
gelungen ift, mit Umgebung der Grundſätze der mechanifchen Na- 
turwiſſenſchaft glei” unbeftreitbare und eben fo fruchtbare Erfolge 
zu erringen, wie fie mit diefen Grundfägen auf allen Gebieten 
der Naturerflärung bereit8 gewonnen worden find. Nicht durch 
eine Ablenkung von dem Wege, den wir bisher genommen, fondern 
durch feine Verfolgung bi8 zum Ende dürfen wir deshalb hoffen, 
auch diefer Sehnſucht des Geiftes gerecht zu werden, welche zu= 
rückzuweiſen Teineswegs in dem Sinne der mechaniſchen Natur- 
auffaflung Tiegt. 

Denn mit Unrecht fügt man zu jenem Vorwurf, daß fie Die 


56 


‚Einheit des Lebendigen ftöre, den andern Hinzu, daß fie auch Die 
einfachen Elemente, aus deren Verbindung fie Alles herleite, notb- 
wendig als lebloſe und innerlich weſenloſe Punkte betrachte, an 
die nur äußerlich Kräfte mannigfacher Art geknüpft feien. Sie 
enthält fih vielmehr nur der Behauptungen, die für Die Erreihung 
ihrer nächften Zwecke unnötbig find; und für ihre Zwecke allerdings 
reicht fie mit jener Annahme aus, welche die Atome Lediglich als 
Anfnüpfungs- und Mittelpunfte aus⸗ und eingehender Wirkungen 
betrachtet. Denn nachdem uns die Erfahrung gelehrt bat, daß 
die inneren Zuftände dev Atome, wenn fie deren erfahren, doch 
fernen umgeftaltenden Einfluß auf die Gejeglichleit ihres Wirkens 
äußern, dürfen wir biefelben aus der Berechnung der Erſcheinungen 
weglafien, ohne fie deshalb aus dem Ganzen unferer Weltanſicht 
überhaupt verbannen zu müfjen. Im Gegentheil würde eine 
weiterfortgebende Weberlegung uns bald zu dem Gedanken zurüd- 
führen, den wir ber bisherigen Darftellung überall fogleich zu 
Grunde gelegt haben, zu dem nämlich, daß Kräfte ſich nicht an⸗ 
knüpfen laſſen an ein lebloſes Innere der Dinge, fondern daR 
fie aus ihnen entipringen müffen, und daß Nichts fich zwiſchen 
ben einzelnen Wejen ereignen kann, bevor fih Etwas in ihnen 
ereignet bat. Alle jene äußerlichen Begebenheiten der Verknüpfung 
und Trennung werden daher auf einem innerlichen Leben ber 
Dinge beruhen oder in einem ſolchen ihren Widerhall finden, 
und wenn die Naturmwifienichaft die Einheit zufammengejetter Ge⸗ 
bilde auflöft, jo wird Doch jedes einzelne Element des Moſaiks, 
das fie an ihre Stelle ſetzt, ein lebendiger und innerlich erregter 
Bunft fein. Ich bezweifle nicht, daß diefer Erſatz, der einzige, 
den wir zunächſt bieten zu Können fcheinen, nicht blos für einen 
kärglichen, fondern Vielen jelbft für einen unmöglichen gelten 
wird. Weberlafien wir e8 den fpäteren Betrachtungen, ſowohl feine 
Möglichkeit nachzumeiien, als zu zeigen, daß feine Bedeutung doch 
weit größer ift, als fie fcheint. Vielleicht finden wir aud, daß 
noch in einem andern Sinne aud für ung jene zufammenfafjende 
Einheit der auseinanderfallenden Ereigniffe möglich ift, ohne daß 





67 


wir genöthigt werben, die Geltung der mechanifchen Naturwiſſen⸗ 
[haft zu leugnen, zu deren Anerkennung wir willig oder wider: 
willig doch immer wieder durch den Gefammteindrud unferer 
. Beobachtungen zurüdgezwungen werben. 


Drittes Kapitel, 
Der Grund des Lebens. 





Die chemiſche Vergängligleit des Körpers. — Wechſel feiner Beſtandtheile. — Fort: 
pflanzung und Erhaltung feiner Kraft. — Die Harmonie feiner Wirkungen. — 

Die wirkſame Idee. — Zwedmäßige Selbſterhaltung. — Retzbarkeit. — Die Mas 

fhinen der menſchlichen Kunf. — 

Kur langſam haben aud) in unferer Zeit die Grundſätze, 
welche wir fchilderten, Eingang in die Betrachtung des Lebendigen 
gewonnen. Die planvoll auffteigende Geftalt der Pflanze und 
die unberechenbare Regſamkeit des Thieres fchieb eine zu große 
Kluft von der Starrheit und Regellofigfeit ihres unorganiichen 
Wohnplatzes, als daß die unmittelbare Anſchauung nod ein Gefithl 
wefentlicher Gemeinfchaft zwifchen beiden Gebieten der Wirklichkeit 
erweckt hätte. Mit der Mannigfaltigleit ihrer innern Gliederung, 
die eine Fülle der verfchtedenartigften Zuſtände in fefter Ordnung 
aus fich entwidelte, übermwältigte die Erjcheinung des Lebens bie 
Einbildungskraft; fein Zweifel ſchien übrig, daß ein Kreis von 
Borgängen, defien Sinn und Bedeutung jo unvergleichlich Alles 
überragt, was Natur und Kunft außer ihm geihaffen, unvergleich- 
lich auch in feiner Entitehung fein müſſe. So bildete fich jene 
Borftellung von einer eigenthlimlichen Lebenskraft, deren mejent- 
lichen Sinn wir früher ſchon gejchildert, und deren einzelne Be- 
hauptungen wir jeßt fo ermähnen wollen, wie fie den vordringenden 
Anſprüchen der mechaniſchen Naturauffaffung, fruchtlos wie uns 
ſcheint, entgegengeftellt werden. Wie groß auch der Unterfchied 


58 


des Lebens von dem Unlebendigen in Bezug auf die Gedanken 
fein wird, zu deren Darftellung in der Welt der Erfcheinungen 
beide berufen fein mögen, fo wenig darf dod die Wiffenfchaft ben 
urſächlichen Zuſammenhang der Berwirflihung und Erhaltung des 
Lebens auf andere Geſetze und Kräfte zurückführen, als in der iibrigen 
Natur gelten, aus der auch das Lebendige ſich entwidelt und in 
bie e8 vergehend zurüdfehrtt. So lange jener Zufammenhang 
obwaltet, den wir fchon früher als den entfcheidenden Punkt für 
unfere Anſichten hervorhoben, folange da8 Leben alle feine Mittel 
aus dem allgemeinen Borrath der Natur fchöpfen muß und nur 
an den Stoffen, die dieſe darbietet, fich entwideln Tann, fo lange 
wird es alle Eigentbümlichfeiten feiner Entfaltung nur der voll- 
ftändigen Fügſamkeit verdanken, mit der e8 ſich den Geſetzen des 
allgemeinen Naturlaufs unterwirft. Nicht durch eine höhere, 
eigenthihmliche Kraft, Die fi fremd dem übrigen Gefchehen über— 
ordnete, nicht durch unvergleichlich andere Geſetze des Wirkens 
wird das Lebendige fi) von dem Unlebendigen unterfcheiden, fon- 
dern nur burch Die befondere Form ber Zufammenordnung, in 
die e8 mannigfaltige Beſtandtheile jo verflicht, Daß ihre natürlichen 
Kräfte unter dem Einfluffe der äußern Bedingungen eine zufam- 
menhängende Reihe von Erfcheinungen nach denfelben allgemeinen 
Geſetzen entwideln müffen, nac denen auch fonft überall Zuftand 
aus Zuftand zu folgen pflegt. So wenig wir nun bereit$ im 
Stande find, die ganze verwidelte Fülle der Lebensvorgänge in 
dem Geifte diefer Auffaffung vollftändig zu erflären, fo leicht wird 
ſich doch zeigen laffen, daß die großen Umriſſe derfelben und bie 
eigenthiimlichen Gewohnheiten des Wirkens, durch welche das 
Lebendige ſich zuerſt unbedingt von dem übrigen Daſein zu un- 
terſcheiden ſchien, ihr nicht unbegreiflich ſind, und daß die An— 
fichten, die noch immer ſich ihr entgegenſtellen, manche der Vor⸗ 
theile entbehren, die wir in der That bereits in der ſchärferen 
Beurtheilung des Einzelnen aus jenen Grundſätzen einer mechani— 
ſtiſchen Betrachtungsweiſe ziehen können. 
» 











59 


Kaum irgend eine andere Erfcheinung ſcheidet fiir den Augen- 
fhein jo bedeutſam das Leben von dem Unlebendigen, wie ber 
Anblid der Verweſung, die den todten Körper verzehrt. Auf 
das Eindringlichfte fcheint fie und zu lehren, daß nur das über- 
mächtige Gebot einer höheren Kraft während des Lebens die 
Beitandtheile in ihrer Mifhung erhalte und den gegenfeitigen 
Bermandtichaften wehre, durch welche fie nach dem Tode in weit 
andere und einfachere Formen der Zufammenfegung übergeben. 
Und dod zeigt eine leichte Weberlegung die Grundloſigkeit biefer 
Tolgerung. Denn warum follten wir berjelben Erſcheinung nicht 
vielmehr den andern Schluß entnehmen, daß das Spiel des Lebens 
eben nur jo lange dauern könne, als die hemifche Zuſammen⸗ 
fegung des Körpers ihm feine nöthigen Bedingungen barbietet, 
und daß die Verweſung des Todten nichts Anderes fer als bie 
nun offenkundig hervortretende Störung dieſer Mifhung, die 
vielleiht ſchon lange weniger bemerkbar die Bedingungen bes 
Lebens erſchüttert bat? Ueberredend wird dieſe Folgerung in den 
Fällen fein, in Denen eine deutliche Krankheit, im Innern bes 
Körpers entftanden, fein Leben vernichtet hat; aber die Verweſung 
ergreift, obgleich etwas langſamer, auch den Leib, ben ein ge- 
waltſamer Tod in der Fülle gefunden Lebens traf; und fo fcheint 
e8 Doch wieder, als wenn die Mifchung der Beftandtheile, während 
des Lebens durd eine befondere Kraft aufrecht erhalten, mit dem 
Erlöſchen diefer Kraft nun erft den allgemeinen Gefegen ber che⸗ 
milden Thätigfeiten anheimfiele. 

Aber die nähere Beobachtung enldedt doch in dem lebendigen 
Körper einen kaum geringeren Wechſel feiner Beſtandtheile. Beſtän⸗ 
dig ſehen wir durch mannigfaltige Formen der Abſonderung 
Maſſentheile aus ihm ausgeſchieden werben, Deren chemiſche 
Zuſammenſetzung zwar nicht den Erzeugniffen der Verweſung 
gleich ift, aber ihnen weit näher fteht, als die Form, in welcher 
der lebenskräftige Körper feine Elemente verbindet. Zahlreiche 
Beobachtungen lehren aber, daß ein großer Theil der Gewebe, 
aus denen ber Yebendige*Xeib befteht, einer ununterbrochenen 

. ' , & 


60 


Wiederzerfegung und Neubildung unterliegt, und daß die Stoffe, 
Die wir in den verfchiebenften Formen aus dem Körper austreten 
jeben, zum Theil die Trümmer find, in welde dieſe Zerfegung 
das vormals Lebensfähige umgewandelt bat. Kein Grund nöthigt 
zu der Annahme, daß der Vorgang diefer Zerfegung während 
des Lebens anderen Gejegen folge, als denen, die aud nach dem 
Tode das Zerfallen des Körpers beherrfchen. Denn zu fehr ver- 
fchieden find die bebingenden Nebenumftände, welde beide Vor⸗ 
gänge begleiten, al8 daß wir nicht leicht auf diefe die große Ber- 
ſchiedenheit in den Erfcheinungen ihrer Erfolge zurüdführen Könnten. 
Die beftändige Bewegung der Säfte gibt im lebenden Körper 
den zerjetsten Beftanbtbeilen Gelegenbeit, in feinen und unmerk⸗ 
lichen Mengen den Abfonderungsorganen zuzuftrömen, durch welche 
fie der umgebenden Welt zurückgegeben und die nachtheilige Wir- 
fung verhütet wird, Die ihr längeres Verweilen im Körper für 
die Miſchung der übrigen Beftandtheile haben könnte. Zahlreiche 
geregelte Functionen führen ferner im lebendigen Körper zu ein- 
ander, was durch feine Wechfelwirkung den Beftand feines Baues 
fihern und feinen Wiedererfat befchleunigen kann; aber fie ent- 
fernen von einander das, deſſen Zuſammentreffen chemiſche Proceſſe 
weitergreifender Zerſtörung anregen könnte. So entfteht aus Zer⸗ 
fegung und Neubildung jener langſame Wedhfel der Beftandtheile, 
der, auf lange Zeiten unmerflidh vertheilt, uns ben lebendigen 
Leib als ein beharrliches Bild erfcheinen läßt. Alle diefe günftigen 
Umftände fehlen dem erftorbenen Körper. Mit dem Aufhören 
aller Functionen find die Wege gefchloffen, auf denen das Zerſtörte 
entfernt, neuer Erſatz gewonnen merden Könnte; bewegungslos 
ih anfammelnd wirken die ſchon in Zerfegung begriffenen Stoffe 
länger aufeinander und zernagen die Scheivemände, die früher 
ihre wechſelſeitigen Berührungen binderten; um fich greifend und . 
durch Feine Ordnung mehr geregelt, laufen die chemifchen Vor . 

gänge in das wüſte Bild der Fäulniß zufammen. Wie groß das 
Gewicht ift, das dieſe fo abmeichende Geftaltung der bedingenden 
Nebenumftände für den Verlauf des, lebendigen Chemismus hat, 





facher Krankheiten, in denen der Aufhebung oder Schmälefüng ein- 
zelner von jenen bemegenden und vegelnden Berrichtungen fo 
häufig Erſcheinungen einer theilweis beginnenden Verweſung des 
Körpers folgen. So nöthigt und dieſer Thatbeftand keineswegs, 
in dem lebendigen Körper eine eigne befondere Kraft zu fuchen, 
Die gegen das allgemein giltige chemifche Recht feine Beſtandtheile 
in einer Miſchung erbielte, welche ihren natürlichen Neigungen 
wiberftrebte.e Er erlangt dieſes Ergebniß vielmehr, indem er, 
jenem Recht fi völlig unterwerfend, die Zerfegung beffen gemäh- 
ren läßt, was unter den vorhandenen Bedingungen feine Zuſam⸗ 
menfegung nicht aufrecht erhalten Tann. Aber durch eine mohl- 
geordnete Reihe ineinandergreifender Bewegungen verhindert er 
den Nachtheil von Vorgängen, Die er zu verbieten feine Macht 
bat, und erfeßt wieder, was durch diefe zerſtört ſich feinem 
Dienfte entzogen hat. Dieſelben Gefete der chemifchen Ber- 
wandtſchaft beherrichen daher ohne Zweifel den Zerfall des tod- 
ten wie die Fortdauer des lebenden Körpers, aber der trüben 
Fäulniß des erften gegenüber ift das Leben eine organifirte Zer- 
fegung, abhängig von der Ordnung, in welder unabläffig fort- 
gehende Verrihtungen die Wechſelwirkungen der Stoffe allein 
veritatten. 

Und endlich: wielleicht hätten wir gleich mit dem Hinweis 
auf. die Mebertreibung beginnen müſſen, mit welcher die Hinfällig- 
feit organiſcher Körper gefhildert wird. Das Holz der Bäume, 
aus dem wir unfere Gebäude unfere Geräthe unjere Schiffe 
zunmern, bie Federn des Vogelflügel8, mit denen wir dieſe wun- 
derlichen Behauptungen fehreiben, die tbieriichen Häute, Die unfere 
Körper gegen die Unbill des Wetters vertbeidigen: find fie wirf- 
lich unter unfern Händen in eiliger Zerfegung begriffen? Sie ge- 
hören im Gegentheil zu den bauerhafteften Gebilben, die nur lang- 
fam den Angriffen der äußeren Bedingungen unterliegen, während 
zahlreiche Erzeugniffe des unorganiſchen Chemismus nicht Davor 
beſchützt werden innen, durch geringfügige Veränderungen der Tem- 


62 


peratur, durch Zutritt von Luft und Waſſer plöglich in ihre Be— 
jtandtheile zeriprengt zu werden. Jene große Zerſetzlichkeit gehört 
daher nur denjenigen organifchen Stoffen, auf deren Leichte Ver— 
änderlichleit der Plan des Lebens rechnen mußte; und felbft 
von ihnen bleibt e8 zweifelhaft, wie weit unter gewöhnlichen 
Umftänden ihre Zerfallbarkeit reicht und ob nit erft die Ein- 
wirfung anderer lebendiger Organismen, die auf ihre Koften 
ſich zu entwideln ftreben, die Kraft bildet, weldhe ihren Zuſam⸗ 
menhang zernagt. 

Das eigenthlimliche Spiel des Stoffwechfel8, das wir vorhin 
nur als eine Thatfache zur Erflärung einer auffallenden Erfchei- 
nung benußgten, werben wir fpäter in feinem Werthe für Die Be- 
gründung des Lebens kennen lernen; zunächſt finden wir e8 von 
der gegnerifhen Anfiht als einen neuen Beweis für die eigen- 
thümliche Natur der Lebensfraft benutt. Denn während in dem 
Gebiete des Unorganifchen jede Kraft an einer beftimmten Maffe 
hafte und mit dem Wachen und Abnehmen derfelben gleiche Ver⸗ 
änderungen erfahre, überbaure bie Lebenskraft den Wechſel Der 
Körperbeftandtheile und erſcheine über ihrer Vergänglichfeit als 
eine höhere und nicht an den Stoff gebundene beftändige Macht. 
Kaum wiirde jedoch dieſe Meinung eine eigne Widerlegung 
erfordern, wenn eine folche nicht Gelegenheit gäbe, zugleich Die 
wirkliche Eigenthümlichkeit bes Lebens deutlicher zu machen! 
Denn fie behauptet offenbar zu viel, wenn fle die Lebenskraft 
bie Vergänglichkeit der Beftandtheile überhaupt überdauern läßt. 
Nur wenige Theile des Körpers können vielmehr in jevem Augen- 
blid der Zerjegung hingegeben werden, ohne daß der Ablauf 
des Lebens geftört würde, für deſſen Fortdauer die unverhält- 
nißmäßig größere Menge jener Beftandtheile, die während Diefer 
Zeit in Mifhung und Verbindung unerſchüttert fortbefteben, 
eine hinreichend feſte Grundlage darbietet. Die gemöhnlichften 
Erfahrungen zeigen, daß dieſes Verhalten zu einfach ift, um 
als wefentliches Kennzeichen das Leben von dem unorganifchen 
Geſchehen zu unterfcheiden. Der Zufammenbalt der Theile in 





63 


jedem Bauwerk pflegt groß genug zu fein, um bie einftmeilige 
Hinwegnahme eines fhabhaften Steines zu geftatten, ohne daß 
bi8 zu feinem Erfak durch einen andern die Form des Baues 
in ihrem Fortbeftande bedroht wäre. Aber diefelben Beobachtungen 
lehren zugleich, daß die Theile des Gebäudes während der Dauer 
diefer Erneuerung nicht diefelbe Laſt zu tragen im Stande find, 
die fie in ihrer früheren Vollftändigfeit aushielten. Wo daher die 
Hinwegnahme eines Beftandtheild zwar die äußere Yorm eines 
zufanmmengehörigen Shftems von Maffen nicht ändert und vielleicht 
felbft den Ablauf feiner inneren Bewegungen nicht ſichtbar umge- 
ftaltet, da kann fie doch die Widerftandstraft des Syſtems gegen 
äußere Störung und die Größe der Leiftungen, die e8 ausführen 
kann, auf das Wefentlichite beeinträchtigen. Wir haben feinen 
Grund zu glauben, daß in diefer Beziehung das Xeben ſich anders 
verhalte. Denn was wir unmittelbar beobachten, beſteht doch 
nur darin daß die gewöhnliche Geſchwindigkeit, mit welcher ber 
Stoffmechjel des gefunden Körpers vor ſich geht, die Form feiner 
Lebensverrihtungen und bie natürliche Reihenfolge derfelben nicht 
auffallend ändert; aber wir haben in den Erfcheinungen feinen 
Grund zu der Behauptung, daß auch Die Größe der Widerftands- 
fraft gegen äußere Einflüffe und die Fähigkeit zu lebendigen 
Leiftungen von den Schwankungen in dem Maffenbeftande des 
Körpers nicht berührt werde. So lange allerdings Zerfegung 
und Wiebererfag in gleichförmigem Strome fortlaufend einander 
entſprechen, wird aud die Kraft des Körpers auf gleihmäßiger 
Höhe bleiben; wo dagegen der Stoffmechjel in beftimmten Zeit- 
räumen anwächſt oder abnimmt, da feben wir aud Perioden 
geringerer oder größerer Widerftandsfähigfeit gegen Störungen 
eintreten. Und zulett lehrt die allgemeine Sterblichkeit der leben- 
digen Wefen, daß der beitändige Wechfel der Beſtandtheile Doc 
nicht immer von ber Lebenskraft überdauert wird, fondern daß er 
unvermeidlich auch ohne die Einwirkung äußerer Schäblichfeiten 
zu neuen Beziehungen zwiſchen den Beftandtheilen führt, mit denen 
die Fortdauer des früheren Spiele8 der Bewegungen unvereinbar 


64 


wird. Nicht als ein Geift, der über den Waſſern ſchwebte, wird 
daher bie Lebenskraft fi in dem Wechfel der Maſſen erhalten, 
fondern die beftimmte Verbindungsweile der Theile, die nicht mit 
gleicher Geſchwindigkeit vergehen, fondern von denen ein langjamer 
fi verändernder Stamm ftet8 den gefeßgebenben Kern für die An- 
lagerung des kommenden Erfages gewährt, wird bie Fortfegung 
der Lebenserfheinungen eine Zeit lang möglich maden, obne 
doch ihr Ende zulett verhüten zu Können. 


Aber das neue Leben, das aus dem vergehenden fi) uner⸗ 
ſchöpflich wieder entwidelt, erregt neue Zweifel; ohne eine Schwächung 
ihrer Stärke zu erleiden, vertheilt fih in der Fortpflanzung Die 
Lebenskraft über die neu erzeugten Organismen, während unorga- 
nifche Kräfte, über eine wachſende Menge von Stoffen verbreitet, 
jedem einzelnen nur mit dem Bruchtheil ihrer Stärke zu Theil 
werden, der ihrer Anzahl entſpricht. In der That nicht nur Feine 
Schwächung, ſondern eine offenbare Vermehrung der Lebenskraft 
erbliden wir in den Kindern, neben denen das Leben ver Eltern 
fortblübt. Aber nur der erfte Eindruck, nicht die nähere Betrach- 
tung läßt uns bier Räthfelhafteres fehen, als in der unbelebten 
Natur vorgeht. Auch der Magnet theilt feine Kraft, ohne daß fie 
in ihm ſelbſt ſchwächer wirb, vielen Eifenftäben mit; auch ber 
flammende Körper fegt eine unbefchränfte Anzahl anderer in ben 
gleihen Brand ohne durch dieſe Mittheilung zu erkalten. Nicht 
Kräfte überhaupt werben irgendwo, wie eintheilbare Flüffigfeiten, 
die ihren Ort wechjeln Könnten, von einem Stoffe auf den andern 
übertragen; in jedem Falle der Wechſelwirkung verfegt vielmehr 
ber eine ben andern in veränderte innere und äußere Zuſtände, 
unter denen feiner Natur neue Fähigfeiten des Wirkens zumachen, 
oder früher vorhandene von den Hinderungen ihrer Aeußerung 
befreit werden. Ein Stoß, auf eine flarre Mafle ausgeübt, deren 
inneren Zuſammenhang er nicht ändern Kann, wird biefer nur 
eine Ortsbewegung mittheilen, deren Gefhwinbigteit um fo Heiner 





65 


ausfallen wird, je größer wir uns die Maſſe denfen, auf welche 
der Einfluß des Stoßes ſich vertheilen muß. Die Wirkung wird 
fi anders geftalten, wenn derfelbe Stoß auf eine geringe Menge 
von Knallſilber ausgeübt wird, deſſen gewaltſame Erploſion eine 
ungleich größere Zerſtörung in der Umgebung hervorbringen wird, 
als jener Stoß ſelber es vermocht hätte, wenn er unmittelbar auf 
dieſelbe Umgebung getroffen hätte. Unleugbar iſt hier durch die 
Dazwiſchenkunft der explodirenden Subſtanz eine große Vermeb- 
rung der Kraft eingetreten. Sie entjtand, indem ber urfprüngliche 
Stoß auch hier den Theilen jener Subftanz unmittelbar nur Die 
geringfügige Gefchwinbigfeit mittheilte, die er auch jedem andern 
Körper von gleicher Mafje gegeben haben würde; aber diefe un- 
ſcheinbare Erſtwirkung traf hier auf Theilchen, denen nur eine 
ſchnelle gegenfeitige Annäherung nöthig war, damit die chemiſchen 
Berwandbtihaften, die zwilchen ihnen Yängft beſtanden, die Tebte 
nöthige Bedingung ihres Ausbrechens in eine geräufchvolle Wirk⸗ 
famteit erhielten. So reicht bier ein Feiner Anftoß bin um eine 
große Wirkung plöglich zu erzeugen; er wird auch hinreichen, um 
eine lange dauernde Reihe fi) aus einander entwidelnder und zu 
großen Erfolgen anwachſender Vorgänge berborzubringen, ſobald 
die Kräfte, die er aus ihrem Gleichgewicht löſte, durch die natür⸗ 
lihen Beziehungen der Theilden, an denen fie haften, nur zu 
einer allmählichen Abwidlung ihrer Erfolge befähigt find. 

So ſehr daher die Fortpflanzung des Lebendigen durch die 
forgfältige Anordnung zufammenftimmender Thätigfeiten, welche fie 
vorausſetzt, ftet8 unjere Bewunderung erweden wird, fo ift fie doch 
nicht aus jenem Grunde räthfelhaft, den wir vorhin für die An- 
nahme einer eigenthümlichen Lebensfraft gelten gemacht fanden. 
Denn ihr wirklicher Hergang befteht doch nur darin, daß ein fehr 
unbebeutender Maſſentheil des mütterlichen Organismus fi von 
diefem, mit defien Lebensverrichtungen er in feinem wichtigen Zu⸗ 
fammenhange ftand, als Keim eines neuen Geſchöpfes abIäft. 
Wollten wir felbft annehmen, daß auf ihn ſich ein Theil ber Les 
benskraft feiner Erzeuger übertrüge, fo würde ae Diefer 

Loge I. 4. Aufl. 


66 


Antbeil verſchwindend Hein fein; denn die Lebenskraft des Keimes 
finden wir urfprünglich eben fo Klein und fie erwächſt zur Größe 
einer erheblichen Leiftungsfähigkeit immer erft durch eine lange 
Entwicklung, in der fie ſich durch Herbeiziehung der Stoffe aus 
der Außenwelt verftärlt. Nur wenige winde alſo auch in 
diefem Falle der erzeugende Organismus verlieren und gewiß find 
unfere Beobachtungen völlig unzureichend zu der Behauptung, daß 
diefer Heine Verluft nicht mit einer entiprechend Meinen Schwächung 
der elterlichen Lebenskraft verbunden fei. Aber e8 hat wenig 
Werth, einen Gedanken zu verfolgen, deffen allgemeine Unmöglid- 
feit wir fchon kennen gelernt haben; nicht Kräfte werden von einem 
zum andern mitgetbeilt, ſondern nur Bewegungen können übertragen 
“ oder Stoffe von einer größeren Verbindung zu felbftändiger Sort- 
eriftenz abgelöft werden. Darauf wird daher alle Fortpflanzung 
beruben, daß dem Erzeugenden die Herftellung eines Keimes möglich 
wird, der unbebeutend an Maffe fi) nur durd die forgfältig an= 
geordnete Berbindungsweife und Miſchung feiner Beftanbtbeile 
auszeichnet und nur durch fie befähigt wird, unter dem Einfluffe 
äußerer begünftigenden Bedingungen ſich mit zunehmender Kraft 
in ein lebendiges Gebilde zu entwideln. So ift die erfte Erzeugung 
eines neuen Weſens feine Aufgabe, von der eine Verminderung 
ber Lebenskraft für die Erzeuger zu erwarten wäre; mohl aber 
mögen die zahlreichen Anftrengungen, die in vielen Gefchöpfen ber 
mlütterliche Organismus zur früheften Kräftigung und Entwidlung 
des Keimes zu machen bat, feine Lebensfähigfeit ernftlicher be= 
drohen. 

Aber erneuert ſich nicht daſſelbe Räthfel, das wir aus dem 
Geheimniß ber Fortpflanzung zu entfernen fuchten, fogleich wieder 
in dem Geheimniß des Wahsthums, in welchem der neu erzeugte 
Organismus feine Kraft und Maſſe beftändig vermehrt? Mit 
der Zunahme der Laſt, die ſie zu beherrichen hat, ſehen wir Die 
Lebenskraft wachſen, während ſonſt jede Fähigkeit an ihren zu— 
nehmenden Aufgaben zu erlahmen pflegt. Doch auch dieſe Schwie— 
rigfeit Täßt bie nähere Betrachtung des wirklichen Hergangs ver- 





67 


ſchwinden, und fle verdient Erwähnung nur um eines allgemeinen 
Borurtheild willen, das fih an fie knüpft. Wenn ber wachſende 
Körper die Stoffe der Außenwelt in ſich hineinzieht und zu feinem 
Dienfte zwingt, jo ftellen wir ung zu oft dieſes errungene Material 
zu gleichgiltig und fo entblößt von gegenfeitigen Wechſelwirkungen 
vor, daß es überall einer befondern zufammenhaltenden Kraft zu 
bebürfen fchiene, die das einmal Zufanmengeführte in den Formen 
feiner Verbindung feffelte. Unſere Anfchauungen über bie BVer- 
fnüpfung der organischen Theile find zu ſehr nad) dem Bilde eines 
Bündels von Gegenjtänden entworfen, die gleichgiltig gegen einan- 
der und ohne alle eigne Kraft wechjelfeitigen Anhaftens eines 
ihnen allen äußerlihen Bandes bedürfen, das fie zufammen- 
fhnürt. Denn das iſt ja die gewöhnliche Sehnfucht, das Band 
fennen zu lernen, das Leib und Eeele oder Das bie Beftandtheile 
des Leibes zufammenhält, oder am Ende das geiftige Band, welches, 
wabricheinlich von edlerer Natur als die finnlihen Bindemittel, doch 
nicht den mejentlihen Begriff eines Stranges überfteigt; denn es 
foll, da e8 als Eines gedacht wird, doch wohl in ähnlichen äußer- 
lihen Windungen, wie dieſer, eine Vielheit beziehungslofer 
Theile unter ſich verketten. Es ift anders in Wirklichleit. Die 
Herbeifhaffung der Stoffe, durch welche der organifche Körper 
wachſen fol, mag eigne Anftrengungen erfordern, deren wir an- 
derswo gedenken werden; ihre Erhaltung aber in den Formen der 
gegenfeitigen Lagerung, die ſie einmal angenommen haben, ift fein 
Act der Gewalt, gegen ben ſie widerfpänftig wären, fo daß eine 
befondere Lebenskraft, ftärfer als die Kräfte aller Theile, zu feiner 
Durchführung nöthig wäre; nicht einmal gleichgiltig find die Ele= 
mente gegen diefe Aufgabe, ſondern fie führen fie jelbit aus. Denn 
indem fie in den Bereich des Tebendigen Körpers eingetreten find, 
haben fie die Kräfte nicht abgeftreift, die ihrer Natur vorher eigen 
waren; fondern mit diefen Kräften eben haften fie aneinander und 
folgen nun in diefer Gemeinfhaft und den Bebitrfniffen des Or- 
ganismus entiprechend denjelben Geſetzen des Wirfens weiter, denen 
fie früher außerhalb befielben vereinzelt gehorchten. Anſtatt eines 
5% 


68 


Bandes, das mit oberflächlichen Windungen Die ganze Unzählbar- 
feit der Theile umfchlöffe, finden wir daher unzählige Bänder, 
bie je zwei einzelne Elemente des Körpers verfnüpfen, und biefe 
Bänder find Nichts als die eignen Kräfte der Elemente jelbft, 
die e8 weder bedürfen von irgend einem höheren Gebote zu ber 
Wirkung erwedt zu werden, die ihrer Natur eigenthümlich ıft, 
noch ed ertragen würden zu einer andern erregt zu werben, Die 
ihr wiberfpricht. Jedes einzelne Atom, das die Maffe des Körpers 
vermehrt, tritt in feinen Zufammenhang durch Die anziehende 
Kraft ein, die e8 von irgend einem Theile deſſelben erfährt; feft- 
gehalten durch biefelbe Kraft, deren Ausübung feine Anftrengung 
für den Körper ift, ftellt e8 biefem nun auch feine eigne Waffe 
mit allen ben Kräften mechaniſcher und chemiſcher Art zu Gebot, 
die an ihr haften, und durch Die nun dem Körper eine Möglichleit 
größerer Einwirkung auf die Außenwelt mithin ein Zuwachs 
feiner Kraft entſteht. Nur darin befteht die Leiſtung des Lebens, 
daß der fchon beftehende Stamm ber leiblichen Beftanbtheile ſtets 
fo geordnet ift und ftet8 in folder Form mit dem Material der 
äußeren Welt in Berührung tritt, daß die fich entipinnenden 
Wechſelwirkungen und als ihre Folge der neue Anfat von Theilchen 
den Bebiürfniffen des Lebens angemefjen geſchieht. 

Man Tann auch diefe Aufgabe benugen, um die alten 
Schwierigkeiten zu erneuem. Wie vorhin ein Band für die all- 
zurubigen, fo ſucht man jeßt vielleicht für die lebendig gewordene 
Anzabl der Theile einen Zügel, der ihre Wirkungen hier geftatte, 
fie Dort verbiete, fle jeßt befchleunige, dann verzögere. Eine kaum 
share Aufgabe gewiß, wenn fie in die Hand Einer Kraft gelegt 
werden müßte, Die den Plan der Organifation in jedem Augen- 
blide durch befondere Nachhülfen aufrecht zu erhalten hätte. Aber 
auch dieſe Leiftung vollzieht ſich von felbft, fo Lange nicht fremd- 
artige Störungen die VBerhältnifie unberehenbar verfhieben. Eine 
Zufammenftellung von Theilchen, die den Keim eines organiſchen 
Weſens bildet, kann leicht fo georbnet fein, daß fle im Laufe ihrer 
Entwidlung nur beftimmte Stellen für fpätere Wechſelwirkung 





69 


offen läßt; andere verfeftigt fie fo, Daß an ihnen die Stoffe ber 
Außenwelt wirkungslos vorübergehen, um auf den Wegen, bie 
ausichliegli für den Yortgang der Bildung organifirt find, fi 
in dem Körper zu verbreiten und einen feften Gang des Wachs⸗ 
thums einem ftet8 eingehaltenen Muſter gemäß möglich zu machen. 
Nicht überall fett fih ſchon an den Kruftall der neue Niederſchlag 
des gleichen Stoffes an, fondern die Kräfte des fchon Gebilveten 
zeichnen ben fpäteren Theilen Ort und Form ihrer Anlagerung 
vor und erhalten im Wachsthum die urjprüngliche Geftalt oder 
doch das urjprüngliche Gefeß ihrer Bildung. Was hier die un- 
organiſche Natur ausführt, das Teiftet in unvergleichlich größerer 
Teinheit und Verwicklung, aber Doch nicht nach anderen Principien 
des Wirkens, auch der Tebendige Körper, und die nähere Betrachtung 
feines Baues und feiner Berrichtungen wird uns zeigen, wie leicht 
fih hier vieles ſcheinbar Schwierige von jelbft vollzieht, weil ftu- 
feuweis in dem langen Laufe der Entwidlung jeder frühere Zu- 
ftand die Zahl der unbeftimmten Möglichkeiten des Weiterwirkens 
beſchränkt und die fpäteren Creigniffe in genauer bworgefchriebene 
Bahnen einengt. 


So würde alfo au die Innehaltung der Orbnung in ber 
veränderlihen Mannigfaltigfeit der Lebensproceffe nicht von dem 
beftändig ernenerten Eingriffe einer bejondern vegelnden Macht, 
ſondern von der einmal gegebenen Anordnung eines Syſtems bon 
Theilden abhängen und durch bie gewohnten Wirkungen dieſer 
Elemente im Einzelnen verwirklicht werden. Wir haben oben ſchon 
hinzugefügt, daß dieſes Ergebniß die Abhaltung äußerer Störungen 
borausfege. Aber gerade hierin findet man eine neue Eigenthüm—⸗ 
lichfeit des Lebens, daß es mit zwedmäßig zurückwirkender Heil- 
fraft au diefe Störungen überbaure und befeitige. Alle feine 
andern Erfcheinungen mögen fich anfehen laffen, wie die allmäh— 
lich und geſetzlich abrollenden Bewegungen einer Mafchine, deren 
einmal vorhandener und in Anftoß verfegter Bau eine Man 


70 


nigfaltigkeit von Wirkungen nad einander entfaltet; «aber die aus⸗ 
gleichende Thätigfeit, die den Umftänden fi anbequemt und mit 
Auswahl der beften Mittel den urfprüngliden Plan immer inne⸗ 
zubalten fucht, fcheint nur einer Lebenskraft möglich, die nicht wie 
Die übrigen phyſiſchen Kräfte durch ein monotones Geſetz ihrer 
Wirkungsweife, fondern durch die bewegliche Rückſicht auf den 
Zweck des Wirkens geleitet wird. Wber wie Vieles, Beobachtung 
und Ueberlegung, vereinigt fi, um dieſen blendenden Schluß zu 
beftreiten! Denn blendend ift er zunächſt, indem er die That- 
fachen in einem viel zu günftigen Lichte erfcheinen läßt und die 
tiefen Schatten verſchweigt. Der Tod, der fo vieles Leben vor 
dem natürlihen Abſchluß feiner Entwidlung dabinrafft, aus 
Störungen hervorgehend, die in ihrer Kleinheit unferer Beobachtung 
fih entziehen, überzeugt uns zuerft, daß jene zwedmäßige Heil- 
kraft des Körpers nicht unbedingt, und die Menge der Krankheiten, 
die, nur unvollkommen überwunden, fpätere Tage verkümmern, 
lehrt uns weiter, daß fie in hohem Grade beſchränkt if. Auch 
das gefunde Leben, da es nicht ein aus fich ſelbſt allein quellendes 
Spiel von Bewegungen ift, fondern in fteter Wechſelwirkung mit 
dem Aeußeren verläuft, jchließt eine große Menge von Verände- 
rungen des Körpers ein, die zunächſt al8 Störungen feines Be— 
ftande8 zu betrachten find, und zu deren Wiederbefeitigung ſchon 
in der erften Anlage des Leibes eine Mannigfaltigfeit beftändig 
fortgehender Berrichtungen begründet ift. Ein Syftem von Theilen 
nun, deffen Berbältniffe einmal jo zweckmäßig georbnet find, daß 
feine Wirkungen innerhalb einer gewiffen Grenze die vegellojen 
Einflüffe des Aeußeren überwinden Können, verliert nicht augen- 
blicklich dieſe Fähigkeit, fobald unter ungewohnten Umftänden biefe 
Grenze überjchritten wird. Mit der Mannigfaltigfeit der glüd- 
lichen Einrichtungen, die e8 einmal beſaß, gelingt es ihm häufig, 
aud Größen und Formen der Störung, auf die e8 nicht berechnet 
war, entweder völlig oder doch jo weit zu befiegen, daß die Bejchä- 
Digung, die es erleidet, nicht auffallend die Geftalt feiner Bewe- 
gungen ändert. Aber allerdings wird e8 unheilbar zerrüttet werben, 





71 


fobald in feinem Baue und feinen Berrichtungen fich fein glücklicher 
Umftand findet, der die Störung nöthigte, fich felbft durch die 
Rückwirkungen aufzureiben, die ihr Reiz in den Thätigfeiten des 
Syſtems hervorbringt. Zahlreiche Beifpiele zeigen und, wie weit 
jelbft die menſchliche Technik mit den immer unvollfommenen 
Mitteln, die ihr zu Gebote ftehen, dieſe Aufgabe zu löſen ver: 
mag. Auch fie weiß Maſchinen jo zu bauen, daß die ungleiche 
Ausdehnung, welche verfchiedene Metalle durch gleiche Wärme- 
grade erfahren, die ſchädliche Folge wieder aufhebt, welche bie 
Beränderlichfeit der Temperatur für Die Genauigfeit ihrer Reiftungen 
haben könnte; auch fie kann die bewegte Locomotive nöthigen, 
eine Vorrichtung jelbft in Gang zu ſetzen, Durch Die den Rädern 
das reibungvermindernde Del gerade in dem Maße zugeführt 
wird, in weldem es die jedesmal erlangte Geſchwindigkeit des 
Zuges erfordert. Wenn wir auf dieſe Leitungen mit einem ge- 
wiffen Stolze bliden, fo bezeichnet e8 eben die Geringfügigkeit 
menjchlichen Vermögens, daß ſchon ſolche Erfolge e8 find, auf die 
wir ſtolz fein können; gewiß find fie überaus unbedeutend im 
Bergleihe zu der unendlichen Feinheit und Vielfeitigfeit, mit 
welcher der lebende Körper unzähligen Fleinen Störungen gleich: 
zeitig widerſteht; aber dieſer Unterjchied des Werthes berechtigt 
doch nicht zu dem Schluffe auf ebenfo großen Unterfchien in den 
Principien der Wirkungsart. 

Auch in dem Organismus ift die heilende Rüdwirkung an 
die einmal beftehende Zweckmäßigkeit feiner inneren Einrichtung 
geknüpft, und fie reicht nur fo weit, als die äußeren Eingriffe 
dieſe Anordnung in ihrer wejentlihen Form unangetaftet Laffen. 
Sie wird aber vergeblich erwartet, fo oft die Gewalt der Störung 
diefe glüdlichen Umftände verfchoben bat, obgleih aud dann die 
Nachwirkung der urfprünglichen Trefflichfeit fo groß ift, daß nicht 
jofort Die völlige Auflöfung, fondern ein erträglicher einiger Dauer 
fähiger und die Umriſſe des Lebensplanes wenigſtens im Ganzen 
noch fefthaltender Zuftand an Die Stelle der unmöglich gewordenen 
Gefundheit tritt. Niemals fehen wir dagegen heilende Rück— 


72 


wirkungen eintreten von neuer und ganz ungemwohnter Art, foldhe, 
von denen nicht das gefunde Leben bereits einen befländigen Ge⸗ 
brauch machte. Nur in verftärkter Heftigfeit und in anderer Ber- 
knüpfung erregen zuweilen die äußeren Störungen diefe ftet8 ſchon 
vorhandenen Thätigfeiten, und eben dieſer Aufruhr, wie er zu: 
weilen ungewöhnlidie Erfolge bedingt, führt in eben fo zahlreichen 
Fällen die völlige Vernichtung herbei. Belebte eine eigenthümliche 
Heilkraft den Körper, mit irgend welder Freiheit der Wahl und 
irgendwie unabhängig mit den phyſiſchen und chemifchen Kräften 
der Maſſen fchaltend, fo würde. es ſchwer fein zu erflären, warum 
fie, die einmal der natürlichen Nothwendigkeit überhoben wäre, in 
der Ausführung ihrer Abfichten jemals fcheitern Könnte; wir be= 
greifen die Nothwendigfeit ihrer Beichränttheit, wenn wir fie als 
die Summe deſſen faſſen, was der lebendige Körper mit denjenigen 
zwedimäßigen XThätigfeiten, die auf die gewöhnlichen Umftände 
des Lebens berechnet find, unter ungewöhnlichen noch zu leiften 
vermag. 


So groß ift jedoch Die Bewunderung, welche ber ineinander- 
greifende Bau des Lebens auch der mecaniftifhen Auffaſſung 
deffelben abnöthigt, daß wir den Gegnern nicht verargen, wenn fie 
ihre Borftellung einer eigenthümlichen Lebenstraft unter immer 
neuen Formen und wieder and Herz legen. Nicht eine neue 
Kraft, werden fie fagen, nicht eine plöglich eingreifende Heil- 
thätigfeit verlangen wir, bie, in den beftändigen Einrichtungen 
des Lebens nicht begründet, erft im Falle feiner Störung hervor- 
träte; fondern den ganzen Ablauf der Lebenserfcheinung ver- 
mögen wir nur zu begreifen, wenn bie Iebendige Idee des 
Ganzen beftändig die Theile als das waltende Princip zufam- 
menfaßt; ihre Thätigfeit iſt es, die weniger auffallend in dem 
gejunden Zuſtande, an deſſen fortwährendes Wunder wir ge- 
wöhnt find, defto mehr in ihren gefleigerten Rückwirkungen gegen die 


AM . 


78 


Gewalt der Störungen offenbar wird. Nur in den unorganifchen 
Gebilden entftehe das Ganze aus der Zufammenfegung der Theile, 
im Lebendigen gehe e8 den Theilen voran. Es ift Elar, daß diefe 
letzte Behauptung nur den Sinn haben kann, daß die Form des 
Ganzen bereitS als belebende und gefeßgebende Gewalt dem fich 
bildenden Körper inwohne, nod ehe die vollgählige Summe ber 
Theile, Durch Die jeine Umriſſe einft ausgefüllt werben, vorhanden 
oder in die ihnen zufommenden Lagen gebracht if. In der 
That zeigen mehrere Borgänge in der erften Ausbildung des 
Keimes, daß an die Orte der Geftalt, an denen beftimmte Organe 
fih bilden follen, zunächſt formlos erſcheinende Mafjen abgelagert 
werden, die erſt fpäter in fi die Gliederung in Theile entwideln, 
welche das fertige Organ beibehält. Ereigniffe diejer Art mögen 
augenblidlich jene Vorftellungsweife begünftigen; aber Diefe gefeß- 
lihen Entwidlungen, die, zu einem gemeinfamen Plane des 
Ganzen übereinftiimmend, an verjchievenen Stellen des Keimes 
gleichzeitig vor fich gehen, verlieren dieſe Hebereinftimmung, wenn 
durch Erfchütterung oder Trennung der mechaniſche Zuſammen⸗ 
bang der Keimtheile geftört wird. Dieſe Thatjache zeigt ung, 
daß die zerftreuten Bildungsprocefje doch nicht allein Durch eine 
über ihnen ſchwebende Idee, fondern durch die beftimmte Anord⸗ 
nung der Wechſelwirkungen unterhalten werben, die zwiſchen 
allen einzelnen Theilen vermöge ihrer beftimmten Lagerung gegen 
einander obwalten. Durch fie wird am vorgezeichneten Orten 
das bildungsfähige Material abgelagert und durch ihre meiteren 
Leitungen, die durch diefen erften Erfolg felbit neue Bedingungen 
fpäterer gewonnen haben, entfpinnt ſich die allmähliche Gliederung 
ber kleinſten Beſtandtheile. Würde es weniger wunderbar fein, 
wenn die Bildung, von einem einzigen Mittelpunkt ausgehend, 
ftet8 Die zunächſt gelegenen Umgebungen ſogleich in ihrer endlichen 
Geſtalt erzeugte, und würden wir nicht dies nod mehr räthfelhaft 
finden? Gewiß hängt alſo die Bildung jedes organischen Theiles 
davon ab, daß er ſich in beftändiger Gemeinſchaft mit allen andern 
entwidelt, die mit ihm zum Ganzen gehören; aber diefe Gemein- 


74 


ſchaft befteht nicht in der Umfaffung aller durch eine thätige Idee, 
fondern darin, daß alle in ein Syſtem phufiicher Wechfelmwirkungen 
verflochten find, aus denen für jeden einzelnen Richtung Form 
und Gefchwindigfeit feiner Entwidlungsbewegung fließt. 

Die Thatfachen wenigſtens geftatten dieſe Anficht; eine all- 
gemeinere Weberlegung zeigt fie als nothwendig. Denn nur in 
zweifacher Weife lönnen wir von einer Idee des Ganzen ſprechen. 
Sie kann uns zuerft al8 das Mufter und der Plan gelten, den 
unfere Erfenntniß in dem ausgeführten organiichen Gebilde dar- 
geftellt, oder in feiner allmählichen Entwidlung beftändig befolgt 
findet. Aber fein Mufter, kein Blan, den wir vielleicht als den 
Zweck eines Naturprocefies faffen, vermwirflicht fi von jelbft; nur 
dann wird er ſich vollziehen, wenn die Stoffe, in deren Geftal- 
tung er erſcheinen foll, durch eine urfprüngliche Anordnung ihrer 
Berhältniffe von felbft genöthigt find, durch ihre Kräfte nad den 
allgemeinen Gefeten des Naturlaufes das hervorzubringen, was 
er gebietet. So übt er ftet8 nur eine ſcheinbare Macht aus, 
und jo wenig wir Die Idee der Unordnung als ein thätiges und 
treibendes Princip in einer vegellofen Reihe von Veränderungen 
anjehen, jo wenig Dürfen wir Die Idee irgend einer Ordnung als 
die bewirkende und erhaltende Urfache eines regelmäßigen Kreifes 
bon Ereignifien betrachten. In beiden Fällen gefchieht, was nach 
ber einmal gegebenen Lage der Sachen gefchehen mußte und ber 
Borzug des legteren befteht nicht in einer ftetig handelnden Zweck⸗ 
thätigfeit, ſondern in der beftändig nachwirkenden Zweckmäßigkeit 
der erften Anordnung. Aber dieſe erfte Anordnung ſelbſt, 
wird man uns einwerfen, woher rührt fie? Wir wiflen es 
nicht, und wir haben feinen Grund, bier jhon die Vermuthungen 
auszuſprechen, die wir über file hegen können. Nicht das ift un- 
fere Abfigt, in dem Xebendigen die Spuren einer Weisheit zu 
leugnen, bie uns über bie mechaniſche Verkettung bloßer Ereig- 
niffe auf eine unverftanvene [chöpferifche Kraft hinausweiſen; aber 
unfere Aufgabe ift e8 noch nicht, den erften Uriprung des Lebens 
zu ſuchen; wir fragen nur nach den Gefegen, nach denen das 





75 


wunderbar erichaffene fich innerhalb der Grenzen unferer Beobach⸗ 
tung erhält. Und wir finden, daß das Leben innerhalb diefer 
Grenzen nicht mehr neu entfteht, daß feine Erhaltung vielmehr 
an die ununterbrodhene Tradition beftimmter Stoffe mit beftimm- 
ter Lagerung ihrer Kleinften Theile gebunden ift, fo wie fie in 
ber Fortpflanzung beftändig von einem zum andern überliefert 
werden. Wir ſehen darin den Beweis, daß die Ideen nicht im 
Stande find, fi in Stoffen zu verwirklichen, deren innere Glie- 
derung nicht ſchon in forgfamfter Weiſe fo georbnet ift, daß aus 
ihr allein ohne den weiteren Beiftand der Ideen, ja felbft wenn 
diefe es nicht wollten, dennoch von felbft die von ihnen vorge⸗ 
zeichnete Geftalt entipringen müßte. Wohl mögen die Ideen am 
Anfange der Welt die beftimmenben Gründe für die erften Ver⸗ 
knüpfungen der Dinge geweſen fein; in ihrer Erhaltung dagegen 
find e8 die Wirffamfeiten der Theile, die den Inhalt der Ideen 
renlifiren. 

Doch wir wiffen, daß die Anficht, die wir befämpfen, die 
Idee des Ganzen nicht fo verfteht, als wäre fie ein unmirkliches 
Mufter, das machtlos der Wirklichkeit der Stoffe gegenüber 
ſchwebt. Aber indem ſie die Idee als eine felbft Iebendige und 
thatfräftige Macht auffaßt, wird fie gendthigt fein, zu der andern 
beftimmten Bedeutung überzugehen, die wir dem vielmißbrauchten 
Worte geben Finnen. Sol die Wirkſamkeit der einzelnen Theile 
nicht zur übereinftimmenden Ausbildung des Ganzen hinreichen, 
jo wird doch das höhere Band, das ergänzend Hinzutritt, überall 
bon ber Lage der Dinge, in die e8 eingreifen foll, einen Ein- 
drud erfahren müſſen, um im rechten Augenblide das der vor- 
bandenen Lage Angemefjene zu bewirken. Solche Eindrücke laſſen 
fh als Zuftandsänderungen des Bandes faffen, welche mit gefet- 
licher Nothwendigkeit eine beftimmte Rückwirkung deſſelben hervor- 
rufen. Es iſt offenbar, daß unter dieſer Vorausſetzung jenes 
Band keine höhere Rolle ſpielt, als jeder der Stoffe, die, von 
einander Eindrücke empfangend, durch das Ineinandergreifen ihrer 
Rückwirkungen auch nad unſerer Anſicht die Bildung des Or- 


76 


ganifchen hervorbringen. Nur darin würde eine Eigenthümlich⸗ 
feit diefer Vorftellung Liegen, daß fie nicht von allen Theilen 
einen gleich werthvollen Beitrag zur Begründung des Lebens er- 
wartet, fondern einen einzigen vorzugsweis als den Brennpunkt 
in die Mitte der übrigen ftellt, in weldyem die zufammenlaufen- 
den Wirkungen aller eine Bielbeit zufammenftimmender Thätig⸗ 
feiten hervorrufen. Ohne Zweifel nun ift es richtig, daß Die 
verichiedenen Theile ſehr verfchiedene Wichtigkeit für Die Begrün⸗ 
bung und Erhaltung einer beftimmten Lebensform befigen; Doch 
vergeblich jehen wir uns in der Erfahrung nad) einer Thatſache 
um, welche uns bereditigte, einen einzigen in fo ausſchließlicher 
Weile als den Vertreter der Idee des Ganzen zu betrachten. 
Aber gewiß wollte jene Anſicht in dem höheren Bande, das fie 
fucht, eben nicht jene Teblofe Nothwendigfeit des Wirkens wieber- 
finden, die fie ja aus dem Organismus überhaupt zu verbannen 
wünſchte. Sie wird verlangen, daR jenes Band auf die Ein- 
drüde, die ihm zulommen, Nachwirkungen folgen laſſe, die nad) 
phyſiſchen Gejegen allein nicht nothiwendig an diefe gefnüpft fein 
würden. Aber weil der Plan der Organifation fie verlangt, er- 
zeugt fie das Band und ergänzt auf dieſe Weife den nicht voll⸗ 
kommen gejhlofjenen Zufammenhang der Natururfacen. 

Wollen wir nun nicht völlig ins Unbeftimmte abfchmeifen 
und zum Erflärungsgrunde Etwas wählen, von deſſen Art und 
Weſen wir und nicht Die entferntefte Borftellung zu maden im 
Stande find, fo werben wir und wohl zugeftehen müfjen, Daß 
dieſe Art zwedmäßigen Wirkens nur einer Seele, nicht einer FD ee 
zulommen Tann, und in diefen deutlicheren Begriff müflen mir 
die ihrer jelbft ungewiffe VBorftellung der Idee verwandeln. Aus⸗ 
geftattet mit der Yähigfeit, Die Erinnerung vergangener Eindrüde 
wieder zu erzeugen, vermag allein die Seele, jene Lücke der na- 
türlichen Gaufalität zu ergänzen. Indem fie angeregt wird durch 
eine Mannigfaltigfeit von Reizen, die doch an fi noch nicht 
die vollftändigen Bedingungen eines wünſchenswerthen Erfolges 
einſchließt, erzeugt fie die Borftellung deſſen, was augenblid- 








77 


lich in der Wirklichkeit fehlt, hinzu, und von dieſem Gebanten, 
als Stellvertreter des wirklichen Eindruds, gelangt fie zu dem 
zwedmäßigen Entſchluſſe, der nun wieder thätig in die Äußere 
Wirklichkeit eingreift. So wird der Zuſammenhang, der auf phy⸗ 
ſiſchem Gebiete abgebrochen war, durch eine Reihe von Wirkungen 
hergeſtellt, die auf geiftigem Gebiete verlaufend, zwei Ereigniffe 
an einander Inlipfen, deren erfted allein den vollftändigen Grund 
des zweiten nicht enthielt. 

Auch diefe Hypotheſe nun bat der Gefchichte der Wiſſenſchaft 
nicht gefehlt, daß die Seele es ſei, deren Thätigfeit Die Ordnung 
und Zwedmäßigfeit der organifhen Entwidlung beberriche. Aber 
wenn diefe Anficht einen Theil von Wahrheit einfchließt, den wir 
fpäter hervorzuheben Gelegenheit finden, jo begünftigt doch unfere 
Erfahrung den Verſuch nicht, fie als eine genügendere Erklärung 
der mechaniſchen Auffaffung entgegenzuftellen. Mag es vielleicht 
in manchen Thierſeelen, in deren Inneres wir und nicht verlegen 
fönnen, ſich anders verhalten: in unferer Seele wenigftens finden 
wir fein Bewußtfein biefer bildenden Thätigfeit. Und doch hing 
ur von dem Bewußtſein und den eigenthümlichen Gefegen des 
Borftellungslaufes diefe Fähigleit der Seele ab, mehr zu leiften 
als der Naturlauf fir fih. Nur wo in Folge früherer Uebung 
fi eine Gewohnheit zwedmäßigen Wirkens als zweite Natur in 
der Seele befeftigt hat, mag der Borftellungslauf, der ihr zu 
Grunde Liegt, nicht in jedem einzelnen Falle mehr zum Bewußt⸗ 
fein fommen. Die Annahme dagegen, daß die Seele von Anfang 
an mit unbewußter Thätigleit den Körper organifire, würde nur 
dabin zurüdführen, fie ebenſo wie alle materiellen Theile des- 
felben als ein umfreies Element zu betrachten, das angeregt durch 
die Umftände, nad allgemeinen Gefegen nothmendige Wirkungen 
entfaltet. Vielleicht bat in diefer Deutung die erwähnte Anficht 
ihren Werth; unter den vielen Beftanbtheilen, die zum Bau des 
Lebens beitragen, ift vielleicht auch ein foldher, den feine übrige 
Natur durch einen größeren Unterfchieb von allen übrigen trennt; 
aber feine Gegenwart wiirde Doch die Thatſache nicht ändern, daß 


78 


alle zwedtmäßigen Wirkungen in dem Lebenbigen von der Berbin- 
dungsweiſe der Theile, unter denen nun auch er fidh befände, mit 
Nothwendigkeit abhängen. Zu verlangen dagegen, daß die Seele 
leifte, was auf dieſe Weife noch nicht vollftändig begründet ifl, 
und daß fie diefe Leiftung unbewußt vollziehe, das würde nur 
heißen, von ihr die Erfüllung einer Arbeit fordern und gleich— 
zeitig ihr bie einzige Bedingung verfagen, bie deren Gelingen mög- 
lich macht. 


Wir haben die Lehre von einer eigenthimlichen Lebenskraft 
in bie verfchievenen Borftellungsmeifen verfolgt, in denen fie nach 
und nad fich gelten gemacht bat; alle entiprangen kürzer oder 
auf längeren Ummegen aus der Beobachtung, daß die Rüdwir- 
kungen des Lebendigen auf die Eindrüde, denen es ausgeſetzt ift, 
niht in diefen Anregungen allein, oder daß die Formen, in 
denen es ſich ohne fihtbaren äußern Anſtoß entwidelt, in den 
vorbergegangenen Umftänden nicht vollftändig begründet fchienen. 
Diefe Neizbarkeit, die dem äußern Einfluß unerwartete, weder 
an Stärke noh an Dauer noch felbit in ihrer Form ihm ent— 
ſprechende Rückwirkungen folgen läßt, ſchien das Lebendige vom 
. Unlebendigen zu trennen; denn die Wirkungen des Leßteren meinte 
man vollftändig aus der Summe aller gegebenen Bebingungen 
als jelbfiverftändlich nothmendige Folgen entwideln zu können. 
Man täuſcht ſich etwas in Bezug auf beide Glieder dieſes Ge- 
genfated. Wo irgend ein äußerer Anftoß auf em zufammen- 
gehöriges Ganze vieler Theile trifft, da hängt Größe, Dauer 
und Form der Endwirkung, die er erzeugen wird, nie ‘von ihm 
allein, fondern zugleich und meift in viel höherem Grade von 
bem inneren Zuſammenhang jener von ihm getroffenen Theile 
ab. Die gegenfeitigen Berhältniffe diefer können auf die mannig- 
fachſte Weiſe die Größe des empfangenen Eindrudes mindern, 
erhöhen, auf eine beftimmte Anzahl von Punkten vertheilen, feiner 





79 


Vortpflanzung Wege anmeifen, auf denen er gebundene Thätig- 
feiten löſen, wirfende in Ruhe verjegen kann; am Ende biefer 
vielfältigen Bermittlungen wird ein Erfolg auftreten, ber bem 
urſprünglich erzeugenden Anftoß in keiner Weife ähnlich iſt. Diefe 
Reizbarkeit befigt jede Machine Während der Arbeiter ein äu- 
ßeres Rab mit beftändig gleicher Geſchwindigkeit nach berfelben 
Richtung bewegt, bewirkt das innere Getriebe, dem diefer Anftoß 
zu Theil wird, das abwechſelnde Auf» und Abfteigen eines Kol: 
bens, der jelbft, je nad der Art feiner Verbindung mit äußern 
Segenjtänden, auf die mannigfaltigfte Art die Kraft feiner Be— 
wegung weiter libertragen kann. Zwiſchen ben Einbrüden, bie 
wir von außen auf den lebendigen Körper treffen fehen, und 
der endlichen Rüdwirkung, die von ihm ausgeht, fteht auf völlig 
gleiche Weife Die unendliche Mannigfaltigleit feiner Theile mit 
ihren beftändigen inneren Bewegungen in der Mitte. Haben 
wir im Allgemeinen ein Recht, auf dieſes Zwiſchenglied die Er- 
fcheinungen der lebendigen Reizbarkeit zurüdzuführen, ohne gleich- 
wohl bei der großen Verwicklung der Lebensproceſſe Die Kette aller 
vermittelnden Glieder vollftändig verfolgen zu fünnen, fo können 
wir in ihr nicht eine eigenthüimliche wirkende Kraft des Lebens, 
jondern nur eine Form des Wirkens jehen, die dem Tebendigen 
Körper mit jedem zufammengefegten Gebilde gemein ift. 

Wir wirrden fie jedoch mit Unrecht auf zufammengefekte 
Syſteme beſchränken, obgleich auf diefe hauptjählih ihr Name 
bezogen zu werben pflegt. Sie ift dem einfachſten Subftrat nicht 
minder eigenthümlid. Oder müßten wir etwa nachzumeifen, wie . 
in der Erhöhung der Temperatur und der gegenfeitigen Annähe- 
rung zweier Elemente die Nothwendigkeit ihrer chemiſchen Ber- 
bindung ſchon völlig begründet Tiegt? Wir müffen im Gegentheil 
annehmen, daß eine qualitative Eigenthümlichkeit ihrer Natur 
durch diefe äußern Umftände nur gereizt wird zu einer Wirkung, 
welche diefelben Umftände nicht hervorbringen würden, wenn fte 
auf andere Stoffe wirkten. Weberall hängt der entftehende Er- 
folg außer den äußern Bedingungen, an die er gefnäpft ift, zu= 


80 


gleih von der Natur defien ab, auf welches diefe wirkten. Nur 
darın geftaltet fidh die Rückwirkung des Unorganifchen einfacher, 
daß fie auf gleiche Reize in gleicher Form und Größe zu erfol- 
gen pflegt, weil fie von einer beftändigen und in ihrem Beftande 
unveränderlichen Erregbarkeit ausgeht. Das Lebendige dagegen, 
innerlich in fortwährender Bewegung begriffen, bietet den gleichen 
Heizen in verſchiedenen Augenbliden verfchiedene Erregbarfeit, 
und feine Rückwirkungen nehmen dadurch in größerem Maße 
den Schein der Unberechenbarkeit an, als die mehr gleichfärmigen 
des Unbelebten, mit denen fie doch in Bezug auf die legten Ge- 
fee ihrer Entftehung völlig übereinftimmen. 

Sp kehren wir auch nach diefer Betrachtung zu jener mecha⸗ 
niftifchen Auffaffungsweife zurlid, die in dem Leben, wie überall, 
die Möglichfeit Form und Verknüpfung zuſammengeſetzter Erfolge 
bon ber zufammenftimmenven Wirkſamkeit der Theile abhängig 
macht und die Vorftellung einer einzigen Kraft aufgibt, welde 
mit veränderlider Thätigleit nur durch die Rückſicht auf die Er⸗ 
veihung eines Zieles geleitet wilrde. Aber den ungünftigen Schein, 
der im Gegenfag zu den befämpften Anfichten auf Die unfrige 
fällt, wollen wir noch durch einige Bemerkungen zu mildern 
ſuchen. Dies zwar können wir nicht verfprechen, jenen Vortheil 
ebenfall8 zu gewähren, der eben nur mit dem Grundgebanten 
der von uns abgelehnten Anſchauung vereinbar ift: wir Können 
jene jhöne Einheit und Innerlichkeit des Lebens, an der unfere 
Bewunderung zu bängen pflegt, nicht aus der Wechfelwirkung von 
Theilen entftehen laſſen, die in ihren innigften Beziehungen zu 
‚einander doch immer verſchiedene bleiben, und verſchiedene bleiben 
müffen, wenn fie diefe Bielheit wirkender und leidender Punkte 
bilden follen, auf deren mannigfacher Berfnüpfung eben die Vor⸗ 
theile unferer eignen Anficht beruhen. Dennoch wäre es faum 
gerecht, uns den Vorwurf zu maden, daß wir den lebendigen 
Körper völlig als Maſchine betrachten. Denn wie bereitwillig 
wir auch zugeben, daß wir in ber That in beiden dieſelben all- 
gemeinen Gefege des Wirkens annehmen, fo Liegt bod in ber 





81 


Art, in welcher die Erzeugniffe unferer Technik diefe Gefeße ver- 
wenden, eine gewifle Kümmerlichkeit, die wir ungern auf die frei- 
willigen Gebilde der Natur übergetragen fehen möchten. 

Unfere Mafchinen arbeiten mit Kräften zweiter Hand; fie 
beruhen auf der eftigfeit, der Cohäſion, der Elafticität gewiſſer 
Stoffe; aber fle erzeugen Feine diefer Eigenihaften neu, fondern 
fegen voraus, daß fie in dem Material, welches die äußere Natur 
liefert, durch die Kräfte der Elemente bereit gebildet find, 
Ein beftimmter unveränderliher Grad diefer Eigenſchaften ift es, 
was für den Gang der Mafchine erfordert wird; jeve Verände- 
rung dieſes Grades wirkt al8 Störung oder als Abnutzung der 
richtigen BVerhältniffe. Auf eine fcharffinnige Verflechtung ein- 
zelner Theile ift ferner der Rhythmus gegründet, nad welchem 
die mitgetheilte antreibende Bewegung ſich fortpflanzt; aber Diefe 
Berbindungsmweife wird nicht durch die thätige lebendige Anzieh- 
ung der Beftandtbeile felbft hervorgebracht; durch Nägel Bolzen 
Reifen und Schrauben ſehen wir hier die fete Verknüpfung, durch 
Drehung um fefte Aren die Beweglichleit auf einander ſich be= 
ziehender Theile erzwungen; nicht die unmittelbaren Anziehungen 
und Abftoßungen der Elemente, dieſe Kräfte erfter Hand, fon- 
dern ihre zur Ruhe gefommenen Producte, Starcheit und Un- 
durchdringlichkeit, find benugt, um durch äußerliche Zuſammenſtel⸗ 
lung die Zwecke der Maſchine zu erfüllen. Und ebenſo iſt das 
Thätige in ihr kaum irgendwo eine neu ſich erzeugende Kraft 
oder Bewegung, ſondern alle ihre Verrichtungen beruhen auf der 
Mittheilung oder Fortpflanzung eines empfangenen Anſtoßes. 
Nur dieſen Anſtoß ſelbſt erzeugt unſere Zeit am häufigſten durch 
Die Benutzung elementarer Kräfte, indem fie die lebendige Span⸗ 
nung der Dämpfe durch erhöhte Temperatur entwidelt. Aber 
auch dieſe lebendige Kraft dient und nur als der Erreger über: 
baupt einer an fi formlojen Bewegung; feine beftimmte Ge- 
ftaltung und dadurd feinen Nuten für die Zmede der Mafchine 
erhält auch dieſer Antrieb doch nur durch die Stellung ber ftarren 
Räder oder Getriebe, auf die er fällt. 

Loge I. 4. Aufl. 6 





82 


Es ift anders in ben freiwilligen Gebilden der Natur. 
Kein materielle Band knüpft den Planeten an die Eonne, aber 
die unmittelbare Wirkfamfeit einer Elementarfraft, der allgemeinen 
Anziehung, hält beide unfihtbar mit einer Elafticität ihres Wir- 
kens zufammen, die feine künftliche Vorrichtung wird nachahmen 
fönnen. Seine feſtſtehende Are, fein Schraubengang, fein fi um⸗ 
und abmwidelndes Seil nöthigt den Planeten, aus feiner grab- 
Iinigen Bewegung in gefrümmte Bahnen überzugeben, aber der 
beftändig vorhandene und beftändig neu ſich geftaltende Streit 
zwiſchen feiner urfprünglichen Geſchwindigkeit und der Anziehung, 
bie ihn zur Sonne treibt, führt ihn mit unfichtbarer und ficherer 
Hand in gejchloffenen Bahnen bin und her, und feine Abnugung 
der Bewegungsmittel ftört die Fortdauer dieſes ſchönen Spieles. 
Und doch Tiegt diefem Tein anderes allgemeines Wirkungsgeſetz zu 
Grunde, als jene, die auch unjern Mafchinen gelten. Mit unend- 
lich größerer Mannigfaltigfeit wiederholt dieſelbe Weiſe der Thätig- 
feit auch der lebendige Körper. Auch er wirkt nicht mit äußerlichen 
Berbindungen von Mitteln, die gegen einander gleichgiltig wären; 
überall taucht auch in ihm das Gefchehen in den Strom ber 
unmittelbaren Wirkungen unter; jedes feiner Elemente entfaltet, 
fi bildend fi zurückbildend ſich verändernd, gegen feine Nach— 
barn die ganze Fülle jener urfprünglichen Kräfte, die ihm eigen 
find, und dieſe Wirkungen find bier niht Störungen für den 
Verlauf des Ganzen, fondern fie find die Bedingungen, Die 
deffen Wirklichfeit fo wie jede zarte Teinheit feiner Form immer 
aufs Neue begründen. Und felbft da, wo der Tebendige Körper 
wirklich zur Erfüllung einzelner feiner Aufgaben die Wirkungs- 
weile der Mafchine benußt, wie in der Bewegung dev Glieder, 
deren fefte Knochen er nach den Geſetzen des Hebels durch die Ceile 
ber Muskeln zieht, felbft da bildet und erhält er Hebel und Eeile 
durch eine nie ablafjende Thätigkeit, Die in einer vielverflochtenen 
Kette unmittelbarer Wirkungen von Atom zu Atom befteht. 

Diefelbe Beſchränkung auf ftarre fertige Mittel und auf 
eine äußerliche Verbindung zwifchen ihnen gibt den Majchinen- 














83 


wirkungen jenes unheimliche Anjehen, um deswillen wir am meiften 
bie Vergleichung des Lebens mit ihnen zu fliehen pflegen. Lange 
Zeit binburch fehen wir häufig zmei Theile eines Getriebes be- 
ziehungslos neben einander, regungslos vielleicht das eine, das 
andere in einer Bewegung begriffen, die Alles umber gleichgiltig 
läßt; plöglich bei einer beſonderen Stellung, die endlich erreicht 
ift, erfolgt ein Stoß, und die einzelnen Theile ſehen fi haftig 
in eine Wechſelwirkung geriffen, zu der Teine allmählich reifende 
Borbereitung in ihnen zu entdeden war, und aus der fie im 
nächſten Augenblide in ihre gleichgiltige Ruhe zurlidfallen. ‘Durch 
den ununterbrochenen Fluß der Wirkungen, der von Atom zu 
Atom beftändig durch ihre unmittelbaren Kräfte überquillt und 
einen durchdringenden Zufammenhang des Ganzen in jedem Augen 
blicke vermittelt, vermeidet das Leben biefe Unftetigfeit der Ent- 
wicklung. In jedem Fleinften Theile fcheint ein Verſtändniß deffen 
vorhanden, was in einem andern ſich vorbereitet, und die unab- 
läffige nicht auf einzelne Momente ſtoßweis vertheilte Wechfel- 
wirkung aller bringt jenen fchönen Schein der Weichheit und an⸗ 
muthiger Milde der Entwidlung hervor, mit dem alles Lebendige 
dem gefpenftiichen Unzufammenhang in den Bewegungen künſt⸗ 
licher Automaten gegenüber fteht. 

So ift alfo doch wohl aud nach unferer Anfiht noch in dem 
Lebendigen ein wirkliches Leben, das der ſcheinbaren Regſamkeit der 
Mafchine ſcharf genug gegenüber fteht, um feine göttliche Abkunft 
von der Aermlichfeit menſchlicher Kunft zu unterjcheiden. Dennoch 
wollen wir noch einmal auf den Grund der Hartnädigfeit zurück— 
fommen, mit welcher wir dieſe Anficht in ſcheinbarem Streit gegen 
manches Bedürfniß des Gemüthes fefthalten, deſſen Recht wir Doch 
völlig anerkennen. Es ift nicht die Neigung, Das Leben als das 
Ergebniß einer zufälligen Berfammlung von Theilen zu faffen; im 
Gegentheil laſſen wir feinen erften Urfprung als ein Geheimniß 
vorläufig babingeftellt; nur feine Erhaltung glauben wir dem Zu— 
fammenhange des Naturlaufes ohne das Eingreifen neuer Kräfte 
übertragen. Und eben fo, wie die Geſetze, nad denen der Umlauf 

6 " 


84 


unferes Planetenſyſtems erfolgt, in einer bisher unmiderlegten 
Wiſſenſchaft erkannt wurden, noch ehe eine glaubbafte Bermuthung 
über die Entftehung feiner gegenwärtigen Anorbnung aufgetreten 
war, eben fo wird eine Lehre von der Erhaltung des Lebens 
felbftändig einer andern von feiner erften Entftehung vorangeben 
dürfen; ja fie felbft wird es fein, deren völlige Ausbildung uns 
zeigen wirb, in welcher Richtung wir Aufklärung über biefen Ur— 
fprung hoffen Können. Was uns bewegt, ift die eine Ueberzeu⸗ 
gung, daß die Natur nicht blos ihrem Sinne nad, fondern aud 
in den Gefegen ihres Haushaltes nothwendig ein Ganzes bildet, 
defjen verfchiedene Erzeugniffe nicht nach verſchiedenem Recht fon- 
dern nur nad der verfchievenen Benutzungsweiſe defjelben Gefeg- 
kreiſes von einander abweichen. Auf diefer Vorausſetzung beruhen 
alle Hoffnungen, die wir fir den Fortſchritt der Wiſſenſchaft 
hegen, und alle Gewohnheiten unferes praftifchen Lebens. Wer 
vor der ungeheuren Aufgabe zurüdichredt, die unendliche Mannig- 
faltigfeit des Lebens auf diefe Grundlagen wirklich zurüdzubringen, 
empfindet ein Gefühl, das wir völlig theilen. Aber die Größe 
ber geforderten Leiftung darf uns nicht bewegen, zu ihrer be- 
quemeren, aber nur fheinbaren Erfüllung Principien zu wählen, 
deren Möglichkeit wir eben fo wenig einfehen. Die Borftellung 
einer einzigen wirkenden Lebenskraft gehört zu diefen Principien. 
An wen fle haften folle, ift unklar, wenn nicht eben an der 
Totalität der Tebendigen Theile und ihren planmäßigen Berbin- 
dungen; wie fie Dazu fommen folle, ihre Wirkungsweife zu ändern 
und das Nöthige in jedem Augenblid zu thun, ift unklar, fo 
lange wir nicht annehmen, daß fie mit geſetzlicher Nothwendigkeit 
unter veränderten Umftänden eine andere wird und anders wirkt, 
gleih jeder Kraft, melde das Ergebnif einer Mannigfaltigkeit 
veränderlicher Theile if. Daß fle an diefen Theilen haftet, von 
ihrer Berbindungsweife abhängig ift, daß fie nur in beftändiger 
Wechſelwirkung mit dem Unorganifchen etwas Teiftet, ruft uns 
bie Erfahrung überall zu; e8 ift nicht gerechtfertigt, diefe Zurufe zu 
vernadhläffigen und das, mas fih nur als ein Geſchöpf beftimmter 








85 


Bedingungen zeigt, als eine Macht zu faflen, die mit einer nie 
genau abzugrenzenden Unabhängigfeit und Freiheit über biefen 
Bedingungen ſchwebe. Wie wenig die Züge, die man als bie 
unterfcheidenden Eigenfchaften der Lebenskraft hervorgehoben Hat, 
Die Annahme berfelben notbwendig machen, haben wir umfaflen- 
der nachgewieſen; melde anderen Gründe uns zu ihr zurüdführen 
follten, müßten wir ebenfo wenig anzugeben als den Nuten, den 
diejelbe bisher der Wiffenfchaft gebracht hätte. 


Biertes Kapitel. 
Der Mehanismus bes Lebens. 





Befländige und periobifhe Verrichtungen. — Fortſchreitende Entwicklung. — Ge⸗ 
ſetzloſe Störungen. — Die Anwendung der chemiſchen Kräfte und ihre Folgen 
für das Leben. — Geſtaltbildung aus formloſem Keime. — Stoffwechſel; feine 
Bedeutung, feine Form und feine Organe. 


ALS wir die Wandelungen überblidten, welde die Natur: 
auffaffung im Ganzen während des Laufes der menfchlichen Ge- 
ſchichte erfahren hat, haben wir bemerkt, wie vergeblich wir bie 
ſchöne Vorſtellung der befeelenden Triebe da zu benugen fuchen 
würden, wo es fi) handelt, die Verwirflihung und Erhaltung 
der einzelnen Erſcheinungen in dem zufammenhängenden Haushalt 
der Natur zu erflären. Wir haben ferner gejehen, wie durch ihre 
Aufgaben die phyſikaliſche Forſchung mit Nothwendigfeit dahin 
getrieben wird, jedes zufammengefegte und in veränderlicher Ent- 
widlung ſich entfaltende Geſchöpf als das Erzeugniß vieler Kräfte 
anzufeben, deren Geſammtwirkung ihre beftimmte Form von der 
Verknüpfungsweiſe ihrer Träger erhält. Die Weberlegung der 
Erſcheinungen endlich, die als die großen Hauptzlige des Lebens 
Jedem bekannt find, hat uns zur Befeftigung der Ueberzeugung 
gedient, daß aud das Lebendige, wie unermeßlich fein Werth 


86 


und feine Bedeutung alles übrige Dafein überragen mag, dennoch 
zur Erklärung feines Zuſammenhanges und feiner Leiftungen 
die Rüdfebr zu der Annahme einer befonderd gearteten Lebens- 
Fraft nicht erfordert. Um fo mehr wird man von und die Angabe 
jener eigenthüimlichen Anorbnungen verlangen, Durch welche Die 
. Beftandtheile des Tebendigen Körpers in den Stand gefegt werben 
follen, ohne die erneuerte Nachhilfe einer höheren Kraft Dies reich- 
haltige Spiel der Entwidlung durchzuführen. Je genauer wir je- 
doch die Mannigfaltigfeit der vorliegenden Lebenserfcheinungen mit 
unferer bisherigen Kenntniß ihrer Bedingungen vergleichen, deſto 
weniger werben wir Die vermefjene Hoffnung hegen, Diefe Aufgabe 
je vollftändig gelöft zu fehen. Die zuverfihtlihen Berfuche, mit 
den äußerſt unzureichenden Mitteln, die wir jegt befißen, jede 
Frage endgiltig entjcheiden zu wollen, Einnen nur die entgegen- 
geſetzte Anficht ermuthigen, aus den Schwierigfeiten, welche fie 
befjer zu würdigen weiß, auf die Unmöglichkeit des Zieles zu 
ſchließen, das ungeachtet feiner Unerreihbarfeit unferen Unter- 
fuchungen doch ihre Richtung geben muß. Dennoch ift unfere Un- 
fenntniß nicht fo groß, daß wir nicht in der Bejchreibung der ein- 
zelnen Lebensverrichtungen auf lange Streden bin den mechanifchen 
Zuſammenhang der Wirkungen verfolgen, und nicht jo beſchränkt 
unfere Meberficht iiber das Ganze, daß wir nicht einige der Grund- 
züge hervorheben könnten, durch welche fi) Die Verwendung ber 
allgemeinen Mittel der Natur für die Zwecke des Lebens von 
den übrigen vorkommenden Benutungsweifen derſelben abtrennt. 

Berichievene Ablaufsformen der Ereigniffe fehen wir in dem 
Lebendigen einander durchkreuzen. Mit gleichförmiger Stärke 
dauern einige Verrichtungen lange Zeiten hindurch unverändert 
fort; andere vollenden in verfchievenen Perioden abgefchloffene 
Kreisläufe und kehren nahezu wieder zu den Zuftänden zurüd, 
bon denen fie für eine Weile fih entfernt batten. Aber diefe 
ftetigen oder in fich felbft zurüdlaufenden Bewegungen werden 
überall von einer andern fortfchreitenden Entwidlung begleitet, 
durch die der Tebendige Leib nach einem inwohnenden Geſetze allmäh- 


87 


licher Entfaltung feine äußere Geftalt und den inneren Zufammen- 
bang feiner Verrihtungen ummandelt, um mit ber Auflöfung 
zu endigen, die nit nur den unvermeidlichen fondern den natür- 
lich worausbeftimmten Abſchluß feiner Erſcheinung bildet. Aber 
auch diefen Entwillungsgang und die gejeßliche Aufeinanderfolge 
feiner Stufen unterbrigt in jedem Wugenblide des Lebens die 
Mannigfaltigfeit der äußeren Eindrüde und die nicht geringere der 
Rückwirkungen, in denen das Lebendige bald mit borübergehen- 
der Erregung bald mit bauernder Anftrengung fich felbft und 
- die Gegenftände der Außenwelt bewegt. Weder jene Einbrüde 
noch diefe Bewegungen find an ein feſtes Gefet ihrer zeitlichen 
Wiederkehr oder ihrer Reihenfolge gebunden; in unberechenbarer 
Zufälligfeit einwirfend und angeregt, können fie zunächſt nur 
als Störungen ded Körper und derjenigen feiner Einrichtungen 
gelten, auf weldye der ftetig zufammenhängende Gang feiner be- 
ftimmt geftalteten Entwidlung begründet iſt. Aber dennoch Liegt 
nicht in der ftillen und unverrüdten Entfaltung, fondern eben 
in dieſer Leiftungsfähigkeit, die in jedem Augenblide einen Weber: 
Ichuß lebendiger Kraft gegen regelloſe Eindrüde zu verwenden ver⸗ 
mag, der weſentliche Charakter alles thieriſchen Lebens. Deshalb 
muß zu diefen Rüdwirkungen, die im Einzelnen nicht vorgeſehen 
und vorberechnet fein fonnten, wenigftens Die allgemeine Möglichkeit 
in einem weſentlichen Zuge bes thierifhen Haushalts gefichert fein. 

Bon der beftändigen Fortdauer eines und vefjelben Ereig- 
niffes, fo wie von dem abgefchloffenen Kreislauf in ſich zurüd- 
gehender Entwidlung bietet und die unorganifhe Welt Beifpiele 
von fehr einfacher Begründung. In der That würde ber Sort: 
beftand jeder einfachen Bewegung eines Körpers feine andere Hilfe 
als die Abhaltung ftörender Urfachen erfordern; und wiederum, 
der Hinzutritt einer einzigen Störung, jener Anziehung etwa, 
die den bewegten Körper an einen andern feflelt, reichte bin, 
feinen Weg zu krümmen, und nur wenige nähere Bedingungen 
würden nöthig fein, um dieſen in Die gejchloflene Bahn zu ver⸗ 
wandeln, in welder der Planet um feinen Hauptlörper kreiſt. 


88 


Und endlos würde dies regelmäßige Spiel von Bewegungen zwi—⸗ 
ſchen beiden Körpern fi fortfegen und wiederholen, fo lange fte 
jeder inneren Veränderung ihrer Maffen und Kräfte, jo wie jedem 
Eindrucke der übrigen Welt um fie her entzogen blieben. Aber 
e8 wilrde eine Täufchung fein, wenn wir dieſe Beifpiele beftändig 
gleichförmiger oder in fi) zurlidgehender Entwicklungen al8 Belege 
für die Leichtigkeit anführen wollten, mit welcher aud dem Leben 
die Verwirklichung feiner ähnlich geformten Berrihtungen gelingen 
müßte. Denn obgleih auch feine Wirkfamfeit zulegt auf der 
Benutzung jener einfachen Gefege der Bebarrung und der Zus 
fammenfetung der Kräfte beruhen wird, fo finden wir bei nähe- 
rem Einfehen doch die Verrichtungen, die innerhalb des leben⸗ 
digen Körpers in einem gleihförmigen Etrome fortgehen, wie 
die beftändige Aneignung und Erhaltung in den Fleinften Theilen, 
durch weit zufammengefettere Vorgänge vermittelt, als die ein- 
fache Geſtalt des herauskommenden Erfolges vermuthen ließ. 
Sie gleichen dem ruhigen Lichte der Kerze, deſſen gleichför- 
miger Schimmer nicht8 von der Reihenfolge ineinandergreifender 
Wirkungen erzählt, durch die er fi nährt. ALS der erfte ent⸗ 
zündete Theil des Dochtes fich mit dem Sauerftoff der atmoſphä⸗ 
rifhen Luft verband, erzeugte er verbrennend mehr als die nöthige 
Wärme, um aud ben benachbarten Theil jo weit zu erhitzen, 
daß ex derſelben Verwandtſchaft zum Sauerftoff folgen konnte. 
So ſchlug vom zweiten zum Dritten und über das Ganze die 
Slamme auf, indem jeder Punkt durch einen Theil feiner ent- 
bundenen Wärme die gebundenen Kräfte des andern zum Aus- 
bruch in gleiche Entzündung Vöfte. Aber die Flamme würde 
zu ſchnell das zarte Gewebe der Fäden verzehrt haben, wenn 
nicht ein anderer Theil der befreiten Wärme das Wachs in 
Fluß gefegt hätte, das beftimmt ift, den Brand zu nähren. 
Durch die auffaugende Anziehung des Dochtes fteigt die flüffige 
Maſſe auf und indem fie fein Gewebe vor zu fchneller Ber- 
ſtörung tränfend ſchützt, gelangt fie bis zu einem Punkte, durch 
befien gefteigerte Temperatur fie felbft entflammt wird, während 





89 


dem auffteigenden Strome ber erbigten Luft, die fi von ber 
Flamme erhebt, an diefem Punkte von unten ein friiher Nach⸗ 
zug, die eingeleitete Verbrennung unterhaltend, nachfolgt. So 
entlaftet die gefhmolzene Flüffigkeit, nun felbft durch den Brand 
verfllichtigt, die gefüllten Faͤden des Dochtes wieder und gewährt 
dem neuen Material, zu deſſen Schmelzung. fte felbft beitrug, 
freien Raum, um nad) oben nachrückend diefelbe Folge von Bor- 
gängen fortzufegen. 

Auf ähnlichen Beranftaltungen beruhen die fcheinbar ein- 
fachen und gleichförmig fortgehenden Berrichtungen des Lebendigen. 
Nur daß die Flamme erlifht, wenn das einmal vorhandene Ma⸗ 
terial verzehrt ift; den lebendigen Thätigfeiten führt der Zuſam⸗ 
menhang ded Ganzen die Möglichfeit ihrer Fortſetzung wieder 
von Neuem herbei. So eriheinen fie nicht ſowohl als die ele- 
mentaren Borgänge, deren gleichfürmige Beftändigfeit ten halten- 
den Boden für die Beränderlichfeit der übrigen darbietet, ſondern 
mebr als Leiftungen, die der Zuſammenhang eines größeren und 
verwidelteren Planes zwar mit einfadher Form ihres Berlaufes 
aber mit feiner und vielfeitig verichlungener Begründung ver- 
mittelt. Nicht weniger unzureihend würden die Analogien des 
Plametenlaufes zur Erflärung der periodiſchen Kreisläufe fein, 
welche wir andere Verrihtungen des lebendigen Körpers vollenden 
ſehen. Die Pulfationen des Herzens, die rhythmiſchen Zuſammen⸗ 
ziehungen der Eingeweide, der Wechſel des Athmens, das alles 
find Borgänge, die feine Aehnlichkeit mit den einfachen Be— 
wegungen freifcäwebender Körper haben. Große Anzahlen unter 
einander feitverbundener Theile jehen wir bier zu gemeinfamen 
Bewegungen zufammenwirken, deren Ausführung nit ohne eine 
Aenderung in der Berfnüpfungsmeife der Theile, nicht ohne Auf: 
opferung einiger der Bedingungen möglich ift, an denen eben ihre 
Wirkſamkeit hängt. Auch dieſe Leiftungen find deshalb einem 
allgemeineren und umfaffenderen Plane untergeordnet, der ihnen 
den Wiebererfag ber verbrauchten Berhältnifie und die regelmäßige 
Wiederkehr der Anregungen fidhert, deren fie bedürfen. 


90 


Vergeblich würden wir die dritte ber Ablaufsformen zuſam— 
mengefeßter Ereigniffe, die wir oben erwähnten, die fortichreitende 
Entwillung dur eine Stufenreihe voransbeftimmter Zuftände, 
in der unorganifchen Welt aufſuchen. Sie gehört dem Leben allein 
und tritt in der vollen Schönheit und Reinheit ihrer Bedeutung 
in der Entfaltung der Pflanzen hervor. Dennoch ift e8 nicht ganz 
ohne Werth, den unvolllommmneren Borandeutungen zu folgen, 
Die wir von ihr in dem unlebendigen Geſchehen finden Tönnen. 
Nur zwifchen jenen beiden Körpern, die wir früher anführten, 
könnte das Spiel einer kreiſenden planetariihen Bewegung in 
enblojer Regelmäßigfeit fortdauern; der Hinzutritt jedes dritten 
würde die Wechſelwirkung der beiden erften verändern und fie 
nöthigen, in Bahnen fich zu bewegen, welche den Einfluß einer 
äußern Störung verrietben. Nur in längeren Perioden, wenn 
überhaupt, würde e8 diefem Syſtem von Körpern gelingen, völlig 
wieder in feine urſprüngliche Anordnung zurüdzufehren und von 
ihr aus die vollendete Bewegung genau in gleicher Weife zu 
wiederholen. Mit der Anzahl der gegen einander wirkenden Glie⸗ 
der wird die Schwierigkeit eines rhythmiſch in fi zurüdfehren- 
den Verlaufs der Veränderungen machen, und e8 wird bejonders 
günftige Bebingungen bedürfen, wenn die gegenfeitigen Störungen 
auf ein Maß der Kleinheit bejchräntt bleiben follen, bei welchem 
fie im Ganzen die Geftalt des Syſtems und feiner Bewegungen 
nicht weſentlich beeinträchtigen. Solche Bedingungen finden fich 
für das Planetenfyftem unferer Sonne verwirklicht, und zu ihnen 
gehört ver Allem diefe, daß ed mit aller innern Mannigfaltig- 
feit feiner Bewegungen doch ein abgefchloffenes und ifolirte8 Ganze 
bildet, bis zu welchem fi Die Einwirkungen der noch außer ihm 
gelegenen Welt, der entfernteren Firfterne, nicht mehr in merf- 
Iihen Spuren erftreden. Anders würde es ſich verhalten, wenn 
dieſes Syſtem, ebenfo wie der Körper der Pflanze, den Einflüffen 
von außen geöffnet wäre und, wie fie, es erleiden müßte, Daß 
alle die Bewegungen, in die e& nad der Anlage feiner eignen 
Natur geriethe, durch eine regelmäßige oder unregelmäßige Wieder- 





91 


fehr äußerer Eindrlide getroffen und verwandelt würden. Neb- 
men wir an, daß ein Syſtem von Himmelsförpern durch einen 
Raum fi fortbewegte, in welchem es Maffen, auf welche feine 
Anziehungskraft wirken Tönnte, nach irgend welchem Geſetze ver- 
theilt worfände, jo würde e8 nicht nur wachen, indem es dieſe 
in Die Kreife feiner eignen Bewegungen bineinzöge und für Die 
Zukunft an fih feflelte, ſondern durch den Zutritt diefer neuen 
Beftandtheile würden aud die gegenfeitigen Beziehungen der 
früheren verändert werben umb die Bewegung des Ganzen fid 
beftändig in neuen Formen entwideln, deren jeve aus der eben 
vorangegangenen und aus der Einwirkung der netten Bedingungen 
des Augenblides fih mit_Nothmendigfeit ergäbe. So entftände 
eine geordnete Stufenfolge von Zuftänden, den einzelnen einander 
ablöjenden Entwidlungsphafen des Lebendigen vergleichbar. ‘Denn 
eben der Tebendige Körper ift ein ſolches offenes Shitem von 
Theilen, gegen die Einwirkungen des Aeußern nicht abgeichloffen, 
fondern ihrer zu feiner Entwidlung bebürfti.. Yu dem, wozu 
er fich entfaltet, liegt nicht der vollftändige Grund in ihm felbit; 
nicht allein des Zuſtromes der Maffen ift er benöthigt, aus denen 
feine wachjende Geftalt erbaut werben joll, fondern auch erregen- 
der Eindrüde, die feinen eignen Kräften Richtung und Aufeinan- 
verfolge ihrer Aeußerungen beftimmen; fcheinbar abgefchloffen in 
ſich jelbft, ift er do nur die eine Hälfte von dem Grunde des 
Lebens, während die andere ergänzende noch geftaltlos in dem all 
gemeinen Strome des Naturlaufs liegt, der an ihn heranbringt. 


Die Entwidlung des Lebendigen beruht jedoch nicht allein 
hierauf; eine andere Eigenthümlichkeit müſſen wir hinzufügen, 
durch die ed fi völlig von jenem Bilde eines ſich entwidelnden 
Sternenſyſtems unterfcheiden würde. Es ift die ausgedehnte Be- 
nußung der chemiſchen Verwandtihaften und der Anziehungen 
auf unmerfliche Entfernungen, welche bier an bie Stelle der ben 


90 


Vergeblich würden wir die britte ber Ablaufsformen zufant- 
mengeſetzter Ereigniffe, die wir oben erwähnten, die fortſchreitende 
Entwillung durch eine Stufenreihe vorausbeftimmter Zuftände, 
in der unorganifchen Welt aufſuchen. Sie gehört dem Leben allein 
und tritt in ber vollen Schönheit und Reinheit ihrer Bedeutung 
in der Entfaltung der Pflanzen hervor. Dennoch ift es nicht ganz 
ohne Werth, den unvolltommneren Borandeutungen zu folgen, 
Die wir bon ihr in dem unlebendigen Geſchehen finden Tünnen. 
Nur zwiſchen jenen beiden Körpern, die wir früher anführten, 
könnte das Spiel einer Freifenden planetarifchen Bewegung in 
endloſer Regelmäßigfeit fortvauern; der Hinzutritt jedes dritten 
würde die Wechſelwirkung der beiden erften verändern und fie 
nötbigen, in Bahnen ſich zu bewegen, welche den Einfluß einer 
äußern Störung verrieihen. Nur in längeren Perioden, wenn 
überhaupt, würde e8 diefem Syſtem von Körpern gelingen, völlig 
wieder in feine urjprüngliche Anordnung zurüdzufehren und von 
ihr aus die vollendete Bewegung genau in gleicher Weile zu 
wiederholen. Mit der Anzahl der gegen einander wirkenden Glie- 
ber wird die Schwierigkeit eines rhythmiſch in ſich zurüdfehren- 
den Verlaufd der Veränderungen wachſen, und e8 wird bejonders 
günſtige Bedingungen bedürfen, wenn die gegenfeitigen Störungen 
auf ein Maß der Kleinheit beichräntt bleiben follen, bei welchem 
fie im Ganzen die Geftalt des Syſtems und feiner Bewegungen 
nicht wefentlich beeinträchtigen. Solche Bedingungen finden fich 
für das Planetenfnftem unferer Sonne verwirklicht, und zu ihnen 
gehört ver Allem diefe, daß es mit aller innern Mannigfaltig- 
feit feiner Bewegungen doch ein abgeſchloſſenes und iſolirtes Ganze 
bildet, bis zu welchem fi) die Einwirkungen der no außer ihm 
gelegenen Welt, der entfernteren Firſterne, nicht mehr in merf- 
lichen Spuren erftreden. Anders würde es fich verhalten, wenn 
dieſes Syſtem, ebenjo wie der Körper der Pflanze, den Einflüffen 
von außen geöffnet wäre und, wie fle, es erleiden müßte, daß 
alle die Bewegungen, in die e& nad der Anlage feiner eignen 
Natur geriethe, Durch eine regelmäßige oder unregelmäßige Wieder- 








91 


fehr äußerer Eindrüde getroffen und verwandelt würden. Neb- 
men wir an, daß ein Syſtem von Himmelskörpern durch einen 
Raum fich fortbewegte, in welchem e8 Maflen, auf welche ferne 
Anziehungskraft wirken fönnte, nach irgend welchem Geſetze ver- 
theilt vorfände, fo würde e8 nicht nur machlen, indem es Diefe 
in die reife feiner eignen Bewegungen bineinzöge und für die 
Zukunft an fich feffelte, fondern durch den Zutritt diefer neuen 
Beftandtbeile würden aud die gegenfeitigen Beziehungen ber 
früheren verändert werben und die Bewegung des Ganzen ſich 
beftändig in neuen Formen entwideln, deren jede aus der eben 
vorangegangenen und aus der Einwirkung der neuen Bedingungen 
des Augenblides ſich mit Nothwendigkeit ergäbe. So entjtände 
eine geordnete Stufenfolge von Zuftänden, den einzelnen einander 
ablöfenden Entwidlungsphafen des Lebendigen vergleihbar. Denn 
eben der Tebendige Körper ift ein ſolches offenes Syſtem von 
Theilen, gegen die Einwirkungen des Aeußern nicht abgeſchloſſen, 
fondern ihrer zu feiner Entwidlung bebürftig. Yu dem, wozu 
er fih entfaltet, Liegt nicht der vollftändige Grund in ihm felbft; 
nicht allein des Zuſtromes der Maſſen ift er benöthigt, aus denen 
feine wachfende Geftalt erbaut werden foll, fondern auch erregen- 
der Eindrüde, die feinen eignen Kräften Richtung und Aufeinan- 
verfolge ihrer Aeußerungen beftimmen; ſcheinbar abgejchlofjen in 
fich felbft, ift er doch nur die eine Hälfte von dem Grunde des 
Lebens, während die andere ergänzende noch geftaltlo8 in dem all- 
gemeinen Strome des Naturlaufs Tiegt, der an ibn herandringt. 


Die Entwicklung des Lebendigen beruht jedoch nicht allein 
hierauf; eine andere Eigenthümlichleit müſſen wir hinzufügen, 
durch die es ſich völlig von jenem Bilde eines fi} entwickelnden 
Sternenſyſtems unterf&heiden würde. Es ift die ausgedehnte Be- 
nutung der chemiſchen Verwandtſchaften und der Anziehungen 
auf unmerfliche Entfernungen, welche hier an die Stelle der den 


92 


Weltraum burchdringenden und das Entferntefte verknüpfenden 
Gravitation getreten find. Die gewöhnliche Anfhauung, wenn 
fie nur den Körper ber Pflanze und des Thieres als ein lebendig 
zufammengehöriges Ganze, das Planetenfyften als eine Gefel- 
lung jelbftändiger Wefen anfieht, macht dieſen Unterſchied nicht 
ohne Grund; er hängt mit diefer Verſchiedenartigkeit der Kräfte 
zufammen, denen in beiven Fällen der weſentlichſte Antheil an 
der Verwirklichung der veränderligen Entwidlung zufällt. Auch 
der Körper der Planeten wird durch jene Anziehungen gebildet 
und zufammengehalten, die nur in größter Nähe wirkſam, im 
merklichen Entfernungen verjchwinden, und unaufhörliche chemiſche 
Beränderungen geftalten wenigftens feine Oberfläche unabläffig 
um; aber dieſe inneren Schwankungen haben Teine Bedeutung 
für die Anziehung, duch die er als Ganzes in dem Kreiſe der 
Himmelskörper ferne Stelle bat. Auch in dem lebendigen Körper 
umgefehrt wirft die Schwere überall, fo viel ihr nach allgemeinen 
Gefegen möglich ift; aber wie wichtig und bedeutſam biefe Wir- 
tungen für einzelne Fälle fein mögen, ein burchgreifender Einfluß 
zur Geftaltung der Lebenserſcheinungen ift ihnen nicht eingeräumt. 
Mit feiner Anziehung in die Ferne, welde ungemeffene Welt- 
räume noch wirkfam durchdringt, vermag das Planetenſyſtem jene 
für den Anblid fo Iofe und doch in der That fo feite Verbindung 
von Theilen zu bewirken, deren Größe gegen die Ausdehnung 
der Entfernung zwifchen ihnen verſchwindet; der lebendige Körper 
dagegen gewinnt Durch jene Kräfte, die fchon in geringer Entfer- 
nung von ihrem Ausgangspunkt nichts mehr leiſten, aber in un— 
mittelbarer Berührung der wechſelwirkenden Theile große Wider⸗ 
ftände bezwingen, jenes feſte zuſammenhängende Geflige, durch 
das er überall als eine gefchloffene Einheit fih von feiner Um— 
gebung abhebt. Und diefer Unterſchied befteht nicht allein für 
den Anblid. Sich felbft überlaffen, mag der Zuſammenhang 
eines Sternenſyſtems feft fein; aber wie er nur bergeftellt wird 
durch Kräfte, deren Wirkfamkeit in die Berne dringt, fo ift er 
auch ftörbar durch folde, Die aus der Ferne kommen, und er 











93 


wird durch entiprehende Schwankungen den Einfluß der leiſeſten 
Beränderungen in der Anoronung der ibm äußeren Welt ver- 
rathen, gegen die er auf feine wirkſame Weife ſich abichließen 
kann. Dem lebendigen Körper Dagegen, der zu beftändiger Wedhfel- 
wirkung mit der äußern Welt beftimmt ift, dient dieſe eigen- 
thümliche Natur feiner Kräfte zur Schugwehr; die geringe Ent- 
fernung, in melder die chemiſche Verwandtſchaft und die Cohäſion 
ihre Wirkfamtleit verlieren, umgibt ihn mit einer Bone von 
Gleichgiltigkeit, während dieſelben Kräfte feine eignen fi be- 
rüßtenden Theile mächtig genug zuſammenhalten, um felbft ber 
wirklich andringenden Gewalt Widerſtand zu leiſten. Während 
baher das lockere Gefüge eines Sternenſyſtems mit einer be- 
wundernswürdigen Empfindlichkeit die Veränderungen des übrigen 
Weltalls in feinen eignen Veränderungen abfpiegeln würde, 
kehrt der Tebendige Körper, hierin won berberer Natur, aud nad 
großen Schwanfungen in die frühere Lage feiner Theile zurüd, 
und bietet und dadurch den Anblid einer fi gleichbleibenden 
und Doch nicht ftarren fondern beweglichen Geftalt. | 

Noch einen andern Vortheil möchten wir bier erwähnen, 
den das Lebendige aus demfelben Umſtande zieht, und der im 
erften Augenblide vielleicht als ein Nachtheil ericheinen mag. Man 
bat fi) fo fehr daran gewöhnt, einen der wefentlichften und wun⸗ 
derbarſten Vorzüge des Lebens in der überaus feinen wechſelſeitigen 
Berknüpfung der Theile zu ſehen, daß es auffallen kann, wenn 
wir gerade den Mangel einer folden in gewiſſem Sinne als 
feine wirkliche Eigenſchaft hervorheben. Dennoch findet ſich dieſer 
Mangel und man kann fidh leicht Überzeugen, daß in ihm, der 
nur für beftimmte Zwecke durch eigenthlimliche Veranftaltungen 
wieder auögeglichen ift, eine größere Sicherheit für ben Fortbeſtand 
des Lebens, als in jenem nicht vorhandenen Uebermaß durchdrin⸗ 
gender Verknüpfung Tiegt. Wären alle Theile des Tebendigen 
Körpers unmittelbar jo durch Wechlelmirkungen verbunden, daß 
jede Feine Veränderung des einen ihren Widerhall über die Ge- 
fammtheit der übrigen verbreiten müßte, fo würde hierin eine 


94 


veihe Quelle unendliger Störungen für das Ganze liegen, Die 
eben fo umfängliche Beranftaltungen zu ihrer Ausgleichung er= 
forderten. Denn nicht überall würde es wohl möglich fein, die 
Störung fih an ihren eigenen Erfolgen brechen zu laffen, und ge= 
ſchähe felbft dies, jo würde Doch die Unruhe überhaupt, die dadurch 
in das Ganze käme, ein Uebel fein, fobald fie nicht nebenher 
zur Erreihung anderer Zwecke nugbar gemacht würde. In dem 
Syſtem der Himmelskörper fehen wir den Erfolg diefer durchdrin⸗ 
genden Wechfelwirfung, indem fein einzelner Planet feine Bahn 
fo beſchreiben kann, wie er fie ohne die Störungen durch die An- 
ziehung ber übrigen befchreiben würde. Der lebendige Körper ftellt 
durch den befonderen Bau feines Nervenſyſtems den engeren Zu⸗ 
fammenhang da und in dem Sinne in größter Feinheit her, mo 
und wie er zwedmäßig für die Aufgaben des Lebens ift; an fich 
aber hängt bei dem geringen Wirkungskreiſe der Kräfte, die hier in 
vorderfter Reihe thätig find, jeder einzelne Theil nur mit wenigen 
feiner nädften Nachbarn jo unmittelbar zuſammen, daß jeder 
Zuſtand des einen mit bemerflicer Wirkung fi auf den andern 
verbreiten müßte. Daraus entfteht für einzelne Gruppen von 
Theilen die Freiheit, ihre Geftalt ihr Gewebe und ihre Miſchung 
mit einer gewiflen beharrlichen Selbftändigfeit auszubilden und 
ungeftört durch worlibergehende Schwankungen des Uebrigen Ber: 
richtungen zu vollziehen, auf deren gleichmäßigen Verlauf der 
Zuſammenhang des Ganzen rechnet. 

Kaum ift ed nun nöthig, die eigenthiimlichen Erfolge be- 
ſonders hervorzuheben, welde für das Leben aus der Benngung 
der chemiſchen Borgänge entpringen. Die himmliſchen Bewegungen 
geihehen an gleichbleibenden Maſſen; die maſchinenbauende Technik 
verwendet zwar chemifche Kräfte zur Herftellung des bewegenden 
Antriebes, aber die Form ber Leiftung gründet fie ebenfall8 auf 
einen ftarren Bau unveränderlicher Theile; das Lebendige allein 
zeigt ung eine Entwidlung, deren Träger niht nur an Maſſe 
wachfen, fonbern während ihrer Thätigfeit eine voraus beftimmte 
Yenderung ihrer Natur erfahren. In viel weſentlicherem Sinne als 








95 


dort ift daher hier jeder zukünftige Erfolg Durch den unmittelbar 
vorhergehenden Zuftand bedingt. Auch in der Maſchine gelingt 
die Yeiftung des fpäteren Augenblids nur dur das Verdienſt 
des früheren, ber bie ‘Theile des Getriebes in die erforderliche 
Stellung gerüdt hat; aber e8 bleiben doch in dem einen wie in 
dem andern diefelben wirkſamen Maſſen und dieſelben Kräfte; 
bie Leiftung des Ganzen ift deshalb auf eine vielleicht mannig- 
faltig zufammengejegte, aber Doch immer wiederkehrende und fich 
nicht fteigernde Reihe von Erfolgen beſchränkt. In dem Ieben- 
digen Körper fett jede gefchehene chemiſche Aenderung Kräfte in 
Wirkſamkeit, die früher nicht vorhanden waren, und bringt an= 
dere zur Ruhe; fo wird in jedem Augenblide für die fpätere 
Entwidlung eine neue Grundlage geichaffen, die bald eine Fort- 
Dauer ber früheren Zuftände, bald eine Entfaltung in neue, 
bald beides mit einander verbindend, überhaupt die Ausbrei- 
tung in ein viel veichhaltigered Epiel der Geftaltung und der 
Peiftung geftattet. 

Man muß diefe ſtufenweis erfolgende Wiedergeburt der 
Grundlagen felbft im Auge behalten, wenn man die Entftehung 
des Organismus aus feinem Keime verftehen will, obne den be= 
ftändigen Eingriff einer oronenden Macht nöthig zu finden. Die 
Erfahrung macht es uns freilich bis zu faft völliger Gemwißheit 
wahrſcheinlich, daß in dem gegenwärtigen Naturlauf fein Orga⸗ 
nismus fi mehr unmittelbar aus einer Verbindung elementarer 
Stoffe erzeugt; nur in der Fortpflanzung durch Gleichartiges 
läuft noch die Tradition des Lebens fort und erhält beitändig 
in dem Samen und dem Ei die beftinnnt angeordnete Summe 
von Theilen beifammen, aus deren Anregung durch äußere Reize 
die Reihe der Lebenserfheinungen ſich wieder entwideln Tann. 
Selbft dieſe Ueberlieferung jedoch erſcheint und Häufig zu gering, 
diefer Anfangöpunft zu einfah, als daß wir in ihn allein Die 
Bedingungen der Tünftigen Wiederentwidlung niedergelegt denken 
Könnten. Wir vergeffen dann, daß es in der That ein langer 
Bildungsgang ift, der durch unzählige Vermittlungen von ber 


96 


Unfcheinbarfeit des Keimes bis zu der Vollendung der Blüthe 
und Frucht führt, und daß auf jeder Stufe dieſes Weges Mög- 
lichfeiten entftehen, die auf der vorhergehenden noch fehlten. Wir 
find meit entfernt davon, eine Gefchichte dieſer Umwandlungen 
und der Geſetze fchreiben zu können, nad denen fie wirklich in 
beftimmter Reihe in der Entwidlung des Lebendigen auf ein- 
ander folgen; aber wir find nicht ganz außer Stand, im All- 
gemeinen bie Hilfsmittel zu fchäßen, welche die Natur bier auf- 
geboten haben Tann, und deren Bermittlung die große Kluft 
zwilchen dem Anfangs- und dem Endpunfte der Bildung durch 
Theilung in viele Zwiſchenſtufen verringert. 

Selbft wenn und nichts am Anfange vorläge, als eine 
Flüffigkeit von genau beftimmter Mifhung ihrer Beftandtheile, 
ohne daß noch irgend ein fefter Kern als Grundlage des werdenden 
Organismus fi auszeichnete, fo würden doch Die erften chemifchen 
Einwirfungen der Umgebung binreihen Können, dieſen Kern zu 
erzeugen. Durch Gerinnung würde ein Beftandtbeil fih aus- 
ſcheiden, und ba der Natur jedes Stoffes nicht nur eine beftimmte 
Form entfpricht, die er fich ſelbſt überlaſſen annimmt, da vielmehr 
unter Umftänden auch die Größe der Geftalt beftimmt fein Tann, 
die er durch feine Kräfte zufammenhaltend abichließen kann, fo 
würde Diefe feſtwerdende Subftanz in eine beftimmte Anzahl von 
Theilen zerfallen, die nun die gegenfeitige Stellung einnehmen, in 
welcher fie mit allen vorhandenen Bedingungen im Gleichgewicht 
find. Mag indeffen hierdurch oder durch den ſchon beftehenden 
Bau des Samens der erfte fefte Kern der weiteren Bildung 
gegeben fein, wir bedürfen nichts als eine geringe Ungleichartigfeit 
feiner Anordnung nad) verfchiedenen Richtungen, um zu begreifen, 
wie die Entwidlung des nähften Augenblids, indem fie gleiche 
äußere Reize auf dieſe abweichend gebauten Theile einwirken 
läßt, ihre Ungleichartigkeit fteigert und jo das Hervortreten 
verjhtedener und weit auseinander gehender Formen aus dem 
ſcheinbar gleihartigen Urſprunge vorbereitet. Jede gefchehene che⸗ 
miſche Umwandlung wird zunächſt die räumliche Anordnung nach 





97 


fi ziehen, die dem veränderten Stoffe entſpricht; aber jede fo 
berbeigeführte neue Geftaltung wird die fpätere Einwirkung der 
Reize mitbedingen, indem fie diefelben von jet unzugänglich ge= 
mordenen Theilen abhält und auf andere zugänglich gebliebene 
zufemmendrängt und jo wiederum der fpäteren Entwidlung näher 
beftinunte Wege vorzeichnet. 

Wie jedoch jede chemiſche Miſchung eine beftimmte Geftalt, 
jo führt auch die gewonnene Geftalt neue Gewohnheiten des 
hemifchen Wirken herbei. In den Werkftätten unferer Kunft 
vermeiden wir es, das Gefäß an den chemiichen Wechſelwirkungen 
feines Inhalts tbeilnehmen zu laſſen; in dem lebendigen Körper 
bilden die Gewebe nicht nur den theilnahmlojen Schauplag, der 
andere Stoffe zu gegenjeitiger Einwirkung zufammendrängt, jondern 
üben durch ihre Dichtigfeit, ihre Form, und durd die anziehenden 
oder abftoßenden Kräfte, welde fie auf ihren Inhalt äußern, auf 
den Gang der Stoffumwandlung einen mitbeftimmenden Einfluß 
aus. Durch diefe flufenmweis fortichreitende Ausbildung des Ge- 
fäßes, in dem fie enthalten find, werden die ernährenden Flüffig- 
feiten zur Erzeugung feinerer Miſchungen ausgearbeitet und den 
äußeren Lebensreizen ein immer beftimmter angeorbneter Zutritt 
verftattet. Keins diefer zuſammenwirkenden Elemente bürfen wir 
gering ſchätzen, und wie vollkommen wir aud) überzeugt find, daß 
feiner von allen Diefen Vorgängen der lebendigen Entmwidlung fi 
den allgemeinen Gejegen des phyſiſchen und chemiſchen Wirkens ent- 
ziehen könne, fo wenig können wir hoffen, mit dem bisher befannten 
Theile dieſer Gelege die unüberſehbare Verwicklung zu erflären, 
mit welcher die beftänbigen Veränderungen der Form, ber 
Miſchung und des Zutritts der äußeren Reize bier in einander 
greifen. Am wenigiten bürfen wir hoffen, daß es der menjd- 
lichen Kunſt je gelingen werde, einen irgend wie weſentlichen Be- 
ftandtheil eines lebendigen Körpers nachahmend zu erzeugen. ‘Denn 
fo gewiß jedes Tebendige Erzeugniß durch feine andern Kräfte 
entftehen fonnte, als durch Die des allgemeinen Naturlaufes, fo 


gehörte doch zu feiner Entftehung ebenfo ns Die ganz be⸗ 
j Lege I. 4. Aufl. 


98 


ftimmte Anordnung dieſer Kräfte und ihrer Träger, die allein 
erft dem Tünftigen Erfolg feine Yorm vorzeihnen konnte. Und 
dieſe Anoronung fehen wir nie fich von felbft wiebererzeugen; ihre 
Bewahrung hat die Natur der beftändigen Ueberlieferung durch 
Fortpflanzung vorbehalten. Jede Hoffnung, künftlih das Leben 
von Neuem zu fhaffen, mwirbe Die anmaßende Zuverſicht ent- 
halten, daß wir mit wenigeren und unzureihenden Mitteln und 
auf Fürzerem Wege das hervorzubringen vermöchten, was die Natur 
jelbft nur durch einen langen Entwidlungslauf und nur durch 
das Einſetzen bereit8 organiſch georbneter Kräfte zu verwirklichen 
vermag. 

Zu verfchiedenen Zeiten nun hört die Bildungsfähigfeit der 
verſchiedenen Theile eines fo ſich entwickelnden Syſtems auf; einige 
haben die Reihe der Umwandlungen durchlaufen, zu denen fie unter 
den vorhandenen Umftänden fähig waren, während andere nod in 
der Mitte ihres Bildungslaufes find. So zieht der verholzende 
Stengel der Pflanze fih allmählih von der Theilnahme an ber 
weiteren Entwidlung zurüd, aber er fährt fort mit jeinen phufiichen 
Eigenſchaften der Feftigfeit und Starrheit dem Ganzen zu dienen, 
indem er ben beweglich gebliebenen Theilen den Schauplag ihrer 
Thätigfeit vorzeichnet. Auf die mannigfaltigfte Weile ſchafft fi 
jo Die Entwidlung in ihrem Fortſchritt neue Unterlagen, von denen 
aus fie weiter wirkt, aber fie erzeugt ſich dadurch auch zugleich 
Schranken, welde die Möglichkeit des Wirkens auf beftimmte 
Formen zurüdbringen, und jo entweder die Feſthaltung eines 
durchgehenden Bildungstypus oder zugleich den endlichen Abſchluß 
des Lebens und die völlige Erſchöpfung aller Gelegenheiten des 
Weiterwirkens herbeiführen. Alle dieſe Züge, melde fiir ung das 
Bild einer in ſich abgefchloffenen Entwidlung zufammenfegen, wird 
man an die Benugung der chemiſchen Berwandtichaften und an die 
Anwendung jener molecularen nur in der Berührung wirkenden 
Kräfte geknüpft finden. 





99 


J 

Die Pflanze, das deutlichſte Beiſpiel dieſer Entwicklung, hat 
feine andere Aufgabe ihres Lebens, als die Ausbilbung ihrer eig- 
nen Geftalt. Böte ihr die Außenwelt Die Stoffe fertig dar, welche 
fie zu dieſem Bau benugen könnte, fo würde fie nur aufnehmen 
ſich verhalten, aber e8 läge feine Nothwendigfeit vor, um deren 
willen fte vor ihrer gänzlichen Zeritörung der Außenwelt Stoffe 
zurüdgeben müßte; die einmal aufgenommenen würden ihre bleiben- 
ben Beftanbtheile fein. Aber fie findet dies fertige Material nicht, 
ſondern ift genöthigt, e8 aus den Elementen zu erzeugen. Bei 
diefer Arbeit kann ein Theil des verwendeten Stoffes als un- 
benutzbares Nebenproduct abfallen und der Außenwelt zurüdge- 
geben werben; andere Stoffe, wie Die großen Mengen bes auf- 
genommenen Waflers, durchkreiſen den Pflanzenlörper, nit um 
ibm als Beftandtheile anzugehören, fondern um als Wſungsmittel 
bie Beweglichkeit der wirkſameren Theile zu fihern; auch fie gehen 
nach Leiftung ihres Dienftes in die Außenwelt zurüd; mandes 
endlih, was für gewiſſe Perioden des Wadstbums von Werth 
wer, löſt fih nah Erfüllung feiner Aufgabe vertrodnend oder 
verwelfend vom Ganzen ab. ber keinen Grund haben wir an⸗ 
zunehmen, daß diejenigen Stoffe, welde einmal in den feften 
Bau der Pflanze eingegangen find, einer wieberholten Erneuerung 
unterliegen. Der thieriſche Körper verhält ſich bekanntlich in 
diefer Beziehung anders, und obgleich nicht alle Zweifel über die 
Ausdehnung feines Stoffwechjel$ befeitigt find, fo ift doch gewiß, 
daß ein großer Theil feiner Maſſe in beftändiger Zerſetzung 
und Wiedererneuerung durch friſchen Anſatz begriffen iſt. Dieſe 
Thatſache, deren Umfang wir ſpäter in's Auge faſſen werden, 
wollen wir zunächſt in ihrer Bedeutung für denjenigen Zug des 
thieriſchen Lebens überlegen, mit dem ſie unſtreitig in nächſtem 
Zuſammenhang ſteht, nämlich mit den Leiſtungen, die der thie— 
riſche Körper, ohne ein beſtimmtes Geſetz ihrer Wiederkehr und 
Reihenfolge, noch außer der Ausbildung und Erhaltung ſeiner 
eignen Geſtalt ausführt. 


Keiner der unzähligen Eindrücke, mit denen die Außenwelt 
7 x 


102 


Durch dieſes Verhalten vermeidet die Natur die Nothmwendigfeit, 
jeder einzelnen Störung eine ihrer Art und ihrer Größe ange- 
mefiene heilende Rückwirkung entgegenzufegen, und fie entgeht 
dadurch zahlreichen Nachtheilen, Die von einem anderen Verfahren 
faum abtrennbar feinen. Sie Könnte ohnehin Rüchvirkungen 
folder Art nur entfalten, wenn die Störung felber mit mechani⸗ 
ſcher Nothwendigkeit diefelben auslöfte und fo an einem Theile 
ihrer eignen Folgen, der ſich gegen fie wendete, fi bräce. Aber 
eine ſolche Thätigfeit, die erft im Augenblide des Bedarfs hervor⸗ 
bräde, würde in fo vegellofer Wiederfehr eintreten, wie die Stö- 
rung, von ber fie erregt wird; fie felbft würde daher eine neue 
Erjhütterung fein, die nicht ohne beſonders günſtige Verhältnifie 
unfhädlih an dem Zufammenhange des Ganzen vorlberginge. 
Es würde der gleiche Fall fein, wenn die Beftandtheile des Kör⸗ 
pers an ſich unveränderlih wären und nur duch die Eindrüde 
der äußern Reize und deren Nachwirkungen erſchüttert ſich zer- 
fegten, dann plöglic einen Wiedererfag verlangend, während bie 
Zwiſchenzeit ohne einen folden verlief. Iſt Dagegen das Ganze 
der wirffamen Theile ein beftändig in Ab- und Zufluß bemegtes, 
fo nimmt diefer Strom ftetig die Nefte der Zerftörung mit fid 
hinweg und beftändig die Grundlagen des Weiterwirkens erneu- 
ernd bewahrt er das Ganze des Lebens vor den plöglichen und 
ſtoßweis erfolgenden Erjhütterungen, die jede nur im Augenblid 
des Bedürfniſſes erwachende Abwehr mit fich führen würde. Und 
auch die Nothwendigkeit fällt hinweg, für jede Störung das ihrer 
Art und Größe entfprechende Heilmittel zu erzeugen; anftatt des 
offenen Kampfes gegen die vielfach verjchiedenen Folgen der Ein- 
drüde befolgt das Neben die Lift des beftändigen Ausmeichens, 
indem es, von Anfang an mit wechlelnden Mitteln wirkend, ver: 
loren gibt, was durch äußere Angriffe erfchüttert nur fchnelfer 
ber Zerftörung entgegengeht, für Die e8 ohnehin beftimmt war. 
Allerdings finden wir nun in dem lebendigen Körper doch auch 
ausdrückliche VBeranftaltungen, um auf gewiſſe Eindrücke Rückwir⸗ 
fungen in einzelnen Augenbliden folgen zu Iafien, die ſich auf 





103 


Dauer Form und Größe jener Anreize berechnet zeigen; aber 
jelhft die Wirkſamkeit diefer Mittel, deren wir noch fpäter zu ge: 
benfen haben werben, findet ſich doch zulegt nur durch diefe be- 
fändig fortgehende allgemeine Strömung des Stoffwechſels mög- 
lid gemacht. 

Jedoch diefe Strömung ganz allgemein zu nennen, haben 
wir bei genauerer Meberlegung fein ermweisliches Recht, und man 
übertreibt die Vergänglichkeit des thierifchen Körpers, wenn man 
Perioden angeben zu Können glaubt, binnen deren er feinen gan- 
zen Mafienbeftand durch Stoffwechſel umgetaufcht habe. Nicht 
alle durch den organiſchen Chemismus erzeugten Stoffe find von 
fo leicht zu ſtörender Aufammenjeßung, wie wir, durch den auf: 
fallenden Anblid der Fäulniß einiger irregeleitet, häufig und vor- 
ftellen; wir fennen die Dauerhaftigfeit des Holzes, der Knochen, 
der Sehnen und Häute und machen von ihr den mannigfachſten 
Gebrauch; wir kennen im Gegenfat dazu die oft raſch fortichrei- 
tende PVerwitterung der Steine, beren Dauerbarkeit viel größer 
ſchien. Ob diefe Beſtandtheile von fefter Zufammenjegung wäh— 
rend des Lebens eine erhebliche Neubilbung erfahren und bedür⸗ 
fen, iſt nicht völlig entſchieden, und zweifelhaft felbft, ob manche 
andere, die wir nad dem Tode ſchnell fich zerjegen ſehen, nicht 
während des Lebens dennoch durch günſtigere Umftände, unter 
benen fie fih bier befinden, Tänger erhalten werden. Unbekannt 
ift endlich für viele die Form ihrer Erneuerung, und wir wiffen 
nicht, ob einzelne vollftändige Formelemente, wie die Faſern ber 
Nerven und Musleln, ald Ganzes erhalten und nur in ihren 
Heinften Theilen ftet8 neu nachgebilvet werden, oder ob unter 
Umftänden auch fie zerfallen und neue vollftändige Stellvertreter 
für fie entfiehen. Am wenigften endlich vermögen wir fir bie 
einzelnen Gebilde die Größe und Geſchwindigkeit der Abnutzung 
und der Erneuerung zu beftimmen, die fie unter den gewöhnlichen 
Umftänden des gefunden Lebens erfahren. Ungeachtet diefer Man- 
gelhaftigfeit unferer Kenntniffe Einnen wir jedoch das Bild des 
Stoffwechſels durch die gewiß richtige Annahme ergänzen, daß 


104 


der Zerfall und Umtauſch der Beftandtheile, falls er allgemein 
ftattfindet,, jedenfall mit ehr verfchieener Geſchwindigkeit vor 
fi geht, und dag in jedem Wugenblide ein bebeutender Stamm 
von Beitandtheilen fih mit fefter oder nur langſam wechfelnder 
Mafle in dauerhaften und feiten Berbindungsformen erhält und 
beftändig einen gejeßgebenden Kern für die Neubildung der übri- 
gen darbietet, die ihn mit größerer Zerfeglichkeit und in ſchnelle⸗ 
vem Wechſel beweglicher umkreiſen. 

Der Zukunft bleibt es, zu enticheiden, ob in diefem Strome 
ein völlig rubender Grund, und von welder Ausdehnung, fich 
finden mag. Unſere gemöhnliche Borftellung betrachtet allerdings 
bie Theile des Körpers wie die Steine eined Baues, die burd 
ihre beftändigen Kräfte und ihre einmal gegebene Fügnng ihre 
Leiftung ruhend vollziehen und der Bewegung nur bedürfen, um 
die Störungen, die dem Ganzen droben, mit elaftifher Rückkehr 
in ihre früheren Berhältniffe zu überwinden. Aber es ift wohl 
möglich, daß der Stoffwechſel nicht nur als eine beftändige Her- 
ftellung des alten Beſtandes dem Leben dient, fo daß er felbft 
binmwegfallen Könnte, wenn es ein Mittel gäbe, ohne ihn die or 
ganiiche Form zu erhalten, fo vielmehr, wie bie verbrennende 
Kohle nicht dur das, was fie war, noch durch das, was fle 
wird, jondern durch die Bewegung dieſes Werdens felbft, durch 
bie Verbrennung, die Wärme erzeugt, welche den erften treiben- 
den Grund für die Wirkungen der Mafchine gibt, jo Können die 
Borgänge des beftändigen Bildens und Rückbildens felbft jene 
bewegenden Anftöße erzeugen, deren das Leben zur Durchführung 
jeiner Entwidlung bedarf. Aber wir find weit davon entfernt, 
dieſem Gedanken eine meitere Folge geben zu Finnen. So ehr 
find wir daran gemöhnt, bei den Borgängen ber Ernährung 
und Abjonderung nur an Die Gewinnung oder Abftoßung einer 
nützlichen oder ſchädlichen Stoffmenge zu denfen, daß die Frage 
wenig no aufgeworfen worden ift, ob nicht hier ber Borgang 
ſelbſt und die Aufregung der Kräfte, die durch ihn erzeugt wird, 
zuweilen von größerem Werthe ift, als jener Umſatz der Stoffe 








105 


felbft, Die hie und da vielleicht nur das gleichgiltigere Material 
bilden, in deſſen Berarbeitungen jene Erregungen entflehen und 
erhalten werden können. Nur in einem Falle bat auch unfere 
bisherige Wiffenfchaft dieſe Vorftellungsweife aufgenommen; ſie 
bat die vorübergehende Aneignung einer großen Menge von 
Stoffen durch den Organismus als Mittel zur Erzeugung ber 
Wärme gedeutet, die in ihrer chemifchen Veränderung entfteht, 
und buch deren Mittheilung an die Gewebe bes Körpers bie 
weientliche Aufgabe jener aufgenommenen Mafjen erfüllt ift. 


Nachdem wir jo den Sinn zu deuten unternommen haben, 
ben diefe beſtändige Veränderlichkeit des Leibes für die allgemei- 
nen Zwede des Lebens hat, möchten wir gern dies Bild durch 
eine Schilderung der beftimmten chemiſchen Vorgänge ergänzen, 
aus deren planmäßigem meinandergreifen der georbnete Stoff- 
wechſel hervorgeht. Mit der fcharffinnigften Arbeitiamfeit bat 
ber Unterfuhungsgeift der neueften Zeit fi) diefen Fragen zuge- 
wenbet; aber die Verwicklung der Erfcheinungen und die Schmwierig- 
feit ihrer Unterfuchung ift fo groß, daß aus ber Fülle werthvoller 
einzelner Entdedungen, von denen unfere allgemeine Weberficht 
ſchweigen muß, faum noch einige wenige umfaffendere Ergebniffe 
bervorgetreten find, die nicht die Befürchtung ihrer wiederholten 
Umgeftaltung durch den weiteren Fortſchritt der Unterfuhung 
erwedten. | 

So meit wir organifches Leben kennen, finden wir die ge= 
ftaltbildenden Maſſen itberall aus mannigfachen chemiſchen Ver- 
bindungen von Kohlenftoff, Waſſerſtoff, Sauerftoff und Stidftoff 
zulammengefeßt. Keine diefer eigenthümlichen Verbindungen er- 
zengt auf nachweisbare Weife fih von felbft, ohne daß ein orga- 
nifcher Keim oder irgend ein Reſt in Zerjegung begriffener orga= 
nifher Subftanz ben erften Kern darftellte, Durch deſſen aneignende 
Kraft jene überall in der Atmofphäre vorhandenen Stoffe zu einem 


106 


nen anwachſenden Gebilde verdichtet wilrden. ‘Die Pflanze ver- 
mag es, mit den Mitteln, welche ihre Organifation ihr barbietet, 
Sauerftoff und Wafferftoff in dem Verhältniß ihrer Mengen, in 
weldem fie Wafler bilden, mit verfchiedenen Mengen des Koblen- 
ftoffe8 zu verbinden und dadurch eine Reihe von Stoffen, die 
Kohlenhydrate, zu erzeugen, aus deren einem, der Cellulofe, fie 
bie zarten Wandungen ihrer Zellen und das ganze Gerippe ihres 
Baues zufammenfegt, während andere, wie Zucker und Stärke⸗ 
mehl, aufgelöft oder abgelagert in ihr als Mittel der Weiter- 
bildung enthalten find. Die Unwandlungen diefer Stoffe und 
das Wachsthum, dem fie dienen, ſcheint jedoch nur unter Der 
Mitwirkung einer anderen Gruppe von chemiſchen Berbindungen 
möglich zu fein, die zu den Beſtandtheilen jener noch Stidftoff 
hinzufügen und wegen der Aehnlichleit ihres Verhaltens mit dem 
thierifchen Eiweiß unter dem Namen der eimweißartigen Körper 
oder des Proteins zufanmengefaßt werben. Sie, fo wie die fetten 
Stoffe der Dele, kommen weit verbreitet im Pflanzenreich vor, 
und durch die vegetabilifche Nahrung, auf welche mittelbar oder 
unmittelbar alle thierifche Organifation beſchränkt ift, gehen fie 
in den Thierlörper über, deſſen Iebendige Thätigfeiten umfähig 
find, die einfahen Elemente, welche die äußere Natur darbietet, 
zu organiſch benugbaren Verbindungen zu verdichten. So lber- 
Viefert das Pflanzenreih, auch hierin eine vorarbeitende Vorſtufe 
der Thierwelt, ber letzteren ſchon im Weſentlichen gebildet die 
Beftanbtheile, deren feinere Ausarbeitung nad den Bedürfniffen 
jever Gattung den eigenthümlichen Thätigfeiten der legtern über: 
laſſen bleibt. 

Aus dem Eiweiß und den eiweißartigen und öligen Be— 
ftandtheilen des Dotters muß der ausfchlüpfende Vogel alle Ge- 
webe erzeugt haben, die fein Körper bis dahin enthält; aus ber 
Mil, die neben eimeißartigen und fettigen Stoffen noch durch 
eine größere Menge von Zuder fi auszeichnet, muß das junge 
Säugethier, lange Zeit einzig auf diefe Nahrungsquelle befchränft, 
die mannigfachen Gebilde hervorbringen können, welche der Plan 











107 


feiner Gattung verlangt; aus dem Blute enblih, in weldem 
diefelben Stoffe wiederfehren, muß der beftändige Wiedererſatz aller 
buch den Verbrauch zerftörten Gemebtheile beftritten werben 
innen. Unzweifelhaft müfjen deshalb die eiweißartigen Stoffe 
als die Grundlage aller jener ftidftoffhaltigen Maſſen angefehen 
werden, Die wir, in den quantitativen Berhältnifien ihrer Yu- 
fammenfegung ziemlih einander ähnlih, in dem Fleiſche dem 
Zellgewebe dem Knorpel den Haaren Federn umb Hörnern 
wiederfinden, auf das Mannigfadhfte nach Anjehen Härte Dich: 
tigfeit und Dehnbarfeit von einander verſchieden. Aber vergeblich 
würde e8 fein, bei dem gegenwärtigen Stande der Unterſuchung 
die chemiſchen Vorgänge verfolgen zu wollen, durch weldye jenes 
gemeinfame Bildungsmaterial in jede dieſer eigenthümlichen 
Umbilvungen übergeht. Am meiften unverändert erhalten den 
urfprüngliden Charakter des Eiweißes die Theile, Die Den 
Zwecken des Organismus am Vebhafteften durch eigne Thätigfeit 
dienen, das Mark der Nerven und die Subftanz des Gehirns; . 
den Faferftoff der Muskeln finden wir der Zuſammenſetzung 
nad ähnlich, aber feine Beitimmung zu Tebendiger Berfürzungs- 
fähigfeit fcheint eine andere Anordnung der kleinſten Theilchen 
oder eine für und noch unangebbare Veränderung der Miſchung 
bedingt zu haben; eine weitere Ummanblung bieten die Gewebe, 
bie durch anhaltendes Kochen in Leim übergehend, zur Herftellung 
der Tnorpeligen und häutigen Grundlagen Zwiſchenwandungen 
und Bindemittel verwandt find, welche die lebendig wirffamen 
Theile ftügen umſchließen und verbinden; als die legten und 
entfernteften Glieder dieſer Stoffreibe erfcheinen die fefteren trod- 
neren horn-und federartigen Gebilde, die namentlich in den äußeren 
Bededungen in den mannigfaltigiten Formverſchiedenheiten ſich 
entwideln. feines der Kohlenhydrate, welche die vegetabiliſche 
Nahrung dem Thierlörper zuführt, wird in den höheren Gattungen 
bes Thierreih® mit zur Bildung der Gewebe verwandt; ihre 
Aufgabe mag neben der Wärmeerzeugung, die ſie durch ihre lang⸗ 
fame Verbrennung mit Hilfe des eingeathmeten Sauerftoffes be- 


108. 


dingen, in manchen beibelfenden Verrichtungen beitehen, mit denen 
fie in die chemiſchen Umwandlungen ber übrigen Stoffe eingreifen. 
Größer fcheint die Bedeutung der Fette, die nicht nur durch ihre 
phyſiſchen Eigenſchaften, Wärme zufammenhaltend und Reibung 
vermindernd, nütlih, fondern als weſentliche lieder zu ber 
hemifhen Berbindung einiger Gebilde und zur Wechſelwirkung 
anderer nöthig find. Manche andere unorganiſche Stoffe, Me— 
tolle und Salze der Alkalien und Erben verwendet der Organis- 
mus in Gemeinfhaft mit ben eiweißartigen Körpern zur Her- 
ftellung befonberer phyſiſcher Eigenfchaften feiner Gewebe; andere 
ſcheinen ihn nur zu durchlreifen, um auf den Verlauf des Stoff- 
wechſels begünftigende Einflüffe verſchiedener Art auszuüben. 

Sp wenig wir die fortichreitende Bildung der Körperbeftand- 
theile Iennen, fo unflar ift die rückwärtsgehende Berwandlung, 
durch welche fie allmählich zur Ausſcheidung vorbereitet merben. 
Ein fehr großer Theil erlangt frühzeitig ein ſehr feſtes Gleich— 
gewicht der innern Zujammenfegung, und diefe Gebilde werden 
vertrodmend in größeren Maflen und ohne Zerfegung ihrer Form 
von dem Körper abgeftoßen, die Haare die Nägel die beftändig 
abichilfernde Bedeckung der Oberhaut. Andere erleiden durch die 
Thätigleit eigenthümlicher Organe eine noch wenig bekannte 
Umwandlung, nad welder fie als Körper von noch verwickelter 
Zufammenfegung, wie Schleim und Galle und die organifchen 
Beitandtbeile des Harnes, theils für ſich theils aufgelöft in 
wäflerigen Mitteln den Körper verlaffen; ein anderer jehr be- 
trächtlicher Reft diefer im Einzelnen unbekannten Zerfegung ift die 
Koblenfäure, die gasförmig mit Wafferdampf verbunden, durch 
die Ausathmung entfernt wird. Unter allen einzelnen Stoffen, 
die den Körper durchkreiſen, fällt vielleicht dem Sauerftoff am 
meiften die Aufgabe zu, den Verband der Elemente in den orga- 
niſchen Beftandtheilen durch feine überwiegende Verwandtſchaft 
allmählich zu lockern und die urfprümglich mannigfache Zuſammen⸗ 
jegung derfelben nah und nad auf einfachere dem Unorganifchen 
äbnlichere Formen zurüdzubringen, in melden die zerfallenden 


Sn 





109 


Stoffe, [licher geworden, die Grenzen des Körpers zulekt ver⸗ 
laſſen. Erſchien früheren Seiten der Sauerftoff als der eigent- 
liche Erreger und Bringer des Lebens, jo werden wir jet, ohne 
zu leugnen, daß fein mächtiges Eingreifen auch als eine erzeugende 
Kraft Bedingungen ber Lebensthätigkeiten bertellen kann, wenig⸗ 
ſtens einen andern und ebenfo bebeutfamen Theil feiner Leiftungen 
in der langſam zerftörenden Macht finden, mit welcher er bie 
Hindernifje des Lebens hinwegräumt, indem er die unbenugbar 
gewordenen Maffen durch völligere Zerfegung aus der Mitte der 
noch tbätigen entfernt. 

Eine eigenthümliche Wichtigfeit beſitzt endlich für die Ge- 
ſammtheit der Xebensverrichtungen das Wafler, das wir in außer- 
ordentlichen Mengen durch die Pflanzen und den thierifchen Körper 
binburchkreifen fehen. Als Loſungsmittel bedingt e8 die größte 
Anzahl der chemiſchen Wechfelmirkungen; auf feiner Flüſſigkeit 
berubt alle Möglichleit des Kreislaufes und der ununterbrodenen 
Bertheilung des Ernährungsmaterials, auf feiner Fähigkeit, Wärme 
aufzunehmen zu leiten und verbampfend zu binden, das Gleid- 
gewicht der Temperatur, befjen der lebendige Körper zu dem 
Fortgang feiner Verrichtungen bedarf. Und nicht minder weſent⸗ 
ih gebt es in die Miſchung der organiſchen Beftandtheile ein; 
feine Gegenwart und die eigenthümliche Verwandtſchaft, die es zu 
ihnen hegt, gibt den tbierifchen Geweben jenen Zuftand ber 
Feuchtigkeit, durch ben fie fi biegſam elaftifch und dehnbar von 
den unorganifchen Körpern und von der Brüchigkeit und Starr: 
heit unterſcheiden, der ſie felber nach ihrer Austrodnung ver- 
fallen. In Teinem unorganifchen Stoffe ift das Berhalten bes 
Waſſers zu der feſten Subftanz ganz von diefer eigenthümlichen 
Art, der wir bier begegnen, und die und wohl von Säften des 
lebendigen Körpers aber nie von ſolchen des unlebendigen ſprechen 
pt. Des Iryftallifirende Salz, nachdem es den größeren Theil 
feines Löfungsmitteld der Berdunftung überlaffen und einen Tlei- 
neren Mengentheil des Waſſers in feine hemifche Zufammenfegung 
aufgenommen Hat, erſcheint num troden und feine Theilchen haben 


110 


eine fefte gegenfeitige Lagerung angenommen. Wohl Tann es 
bugroffopiich einen Theil der umgebenden Luftfeuchtigfeit in fich 
verdichten, aber fein Gefüge wirb durch dieſe Wafleraufnahme 
nur zerftört, ohne daß bie zerfallenden Theile vorher jenen Zu- 
ftand der zähen Weichheit und elaftiihen Dehnbarkeit durchliefen, 
ben alle zu dem eigentlichen Bau des thieriſchen Körpers ver- 
wenbeten Stoffe durch ihre eigenthümliche Verwandtſchaft gegen 
das Waſſer erlangen. Hierauf beruhen ohne Zweifel die befon- 
dern Geftaltungstriebe des Organiſchen, die jo von ber Starr⸗ 
beit der Kruftallifation unterfchieden find, Daß nur wenige orga- 
niſche Stoffe überhaupt diefer Art der Formbildung fähig find, 
und Diejenigen, welde fie in der That anzunehmen vermögen, 
doch gerade durch ihre Annahme für die Bilbungsbebürfnifje des 
lebendigen Körpers unbenußbar werben. 


Wir Tennen feinen organiſchen bildungsfähigen Saft, Der 
eine durchaus gleichartige Flüſſigkeit darftellte, und in welchem 
nicht als erfte Anfänge der Geftaltung ſich mikroſtopiſch Heine punkt⸗ 
förmige Körnchen zeigten, deren Bildung und Zuſammenſetzung 
fih nicht mehr weiter verfolgen läßt. Sie Können nur durd) 
Gerinnung des flüffigen Stoffes entftanden fein und vergrößern 
fih durch fortgefeßte Anlagerung entweder von gleichartigen nach⸗ 
gerinnenden Maffen, oder dadurch, Daß durch chemiſche Wahlver⸗ 
wandtſchaft das früher ausgeſchiedene Körnchen nun andere von 
ibm verichiedene Stoffe aus der Zlüffigkeit um fich nieberichlägt. 
Das Wachsthum dieſer entweder gleichartigen oder aus differenten 
hemifhen Verbindungen beftehenden Kerne geht nie über ſehr 
Heine mikroſtopiſche Dimenfionen hinaus, fondern noch innerhalb 

iefer Grenzen tritt eine zweite Bildung auf, die der zarten 
durchſichtigen ſtrueturloſen Haut, welche fi um ben Kern ber- 
um erzengt und mit ihm nun die gejchloffene Geftalt einer Zelle 
beroorbringt, deren Inneres um den Kern herum mit Flüſſigkeit 


111 


gefüllt if. Auf melde Weiſe jene zarte Membran durch bie 
Kräfte des Kernes felbft gebildet wird, ift unflar; die Zelle ſelbſt 
aber, in den Pflanzen häufig der Schauplatz Iebhafter Bewe- 
gungen, in welden ihr Eörnigflüffiger Inhalt umbergeführt wird, 
bietet zwar in den Thieren nicht fo auffallende Erfcheinungen, 
bleibt aber ein lebendiger Mittelpunkt chemiſcher Wechfelwirkungen 
mit der umgebenden Flüſſigkeit, deren aufgelöfte Beftandtheile 
ihre Umgrenzungshaut durchdringen. Durch diefen Verkehr ändert 
fih allmählich die Miſchung, die innere Anordnung und mit ihr 
die Geftalt der Zelle, und fie geht aus ihrer anfänglicden Rundung 
in mancherlei länger geftredte zipfelige verzweigte Formen über, 
deren Entftehungsmeife noch eben jo dunkel als der Werth ift, 
den fie für die Lebensverrichtungen befigen. Der Pflanzenkörper 
bewahrt die urfprüngliche Zellenform in größerer Ausdehnung als 
der thierifhe Organismus; in den Drganen, die meift von drüfigem 
Bane der Ernährung und dem Stoffmechjel dienen, finden wir 
die Zellenform der Heinften Gemebtheilden noch deutlich, und 
eine beftändig fortgehende Zerfallung und Neuerzeugung derjelben 
theils ficher, theils wahrſcheinlich; aber die eigenthümlichen Be— 
dürfniſſe des Thierlebens führten eine neue Form mit ihren zahl- 
reihen Anwendungen herbei, die der Safer, die nicht überall erft 
fecundär aus einer Zellenreihe entfteht. Wir finden die Faſern 
theil8 unverzweigt neben einander georbnet, wie in dem Stamme 
der Nerven und in den Muskeln, und dann ihre Bündel durch 
Zwifchengewebe und Hüllen verbunden, theils verwebt unter ein- 
ander zu feften und haltbaren Geflechten, unter denen die Form 
des Hohlgefäßes von Freisförmigem Durchſchnitt als befonders 
wichtig hervortritt. 

Aus Berfnüpfungen diefer verhältnigmäßig einfachen Gemweb- 
formen geben endlich jene zufammengefegten Bildungen hervor, 
die wir unter dem Namen der Organe zu begreifen pflegen und 
welche die phyſikaliſchen und organifchen Leiftungen der einzelnen 
Gewebe zu dem Ganzen einer beftimmten Yunction verknüpfen. 
In den meiften Organen finden wir neben manderlei bäutigen 





112 


Umgrenzungen und Bindemitteln, welche den Zuſammenhang bes 
Ganzen und bie relative Lage der einzelnen Beſtandtheile fidhern, 
Gefäße und Nerven in freilich fehr verſchiedenen Mengenverbält- 
niffen eine aus Zellen gebildete Grundmaſſe durchſetzend. Der 
Name der Parenchyms, des Zwiſchengegoſſenen, den dieſe führt, 
muß uns nit darüber täufchen, daß fie eigentlich das wirkſame 
Element der ganzen Zuſammenſetzung ift, während alle Gefäßcanäle 
und Nerven ihr nur das zu bearbeitende Material und die An- 
triebe zur Arbeit zuführen oder das materielle Product ihrer 
Leiftungen und die aus ihrer Thätigfeit bervorgehenden nugbaren 
Erregungen nad dem übrigen Organismus hinmwegleiten. 


Fünftes Kapitel. & 
Der Bau des thierifhen Körpers. 





Das Kuodjengeräft. — Die Mußleln und bie motoriſchen Nerven. — Das Gefäß 
fofrem und ber Kreißlauf des Blutes. — Athmung Ib Emährung. — Aus 
ſcheldungen. 

Während wir die allgemeinen Geſichtspunkte auseinander⸗ 
feßten, welche wir für die Unterfuchung der Lebenserfcheinungen 
feftgehalten wünſchen, durften wir vorausjegen, daß die natürliche 
Bertrautheit mit diefen und mit dem Baue des Tebendigen Kör⸗ 
pers einftweilen den Mangel anfchaulicher Befchreibungen erjegen 
werde. Auch gegenwärtig, indem wir verſuchen eine Schilderung 
ber einzelnen Vorgänge und Leiftungen zu geben, mit denen bie 
verihiedenen Werkzeuge des Lebens in einander greifen, iſt es 
noch nicht unfere Abfiht, alle die Gebanfenreihen zu verfolgen, 
...gu benen bie Betrachtung des menſchlichen Körpers, des eigent- 
lichen Gegenſtandes unſerer Darſtellung, Veranlaſſung gibt. Weder 
in der Schönheit ſeiner Geſtalt werden wir ihn beobachten, noch 
in der eigenthümlichen Bedeutſamkeit ſeiner Formen, die einen 


113 


durch die Hälfte der Thierreihe feftgehaltenen Typus der Bildung 
zu abichließender Vollkommenheit fteigern. Späteren Gelegen- 
heiten dies Alles überlaffend, begnügen wir und in dem Zu— 
ſammenhange unferer jegigen Weberlegungen mit der einfeitigen 
Hervorhebung defien, wodurch der menſchliche Körper, hierin den 
höheren Thiergattungen vollkommen ähnlich, den Kreislauf feiner 
Lebensverrichtungen zu Stande bringt. 

Ueberall unter bebedenden Schichten von größerer oder ges 
tingerer Mächtigfeit verborgen, bildet das Knochengerüſt die feſte 
Vorzeihnung der körperlichen Geftalt. Aus einer Grundlage von 
durchſcheinendem elaftiihen Knorpel und der phosphorjauren 
Kalferde, die in deſſen Gewebe auf eigenthümliche Weife einge: 
lagert ift, hat die Natur diefe haltenden Stützen gebilvet, die in 
dem feuchten Zuftande, in welchem fte fi während bes Lebens 
befinden, die. Vortheile der Starrheit ohne zu große Spröpigfeit 
darbieten. Auf der äußern Oberfläche geglättet und hart, im 
Innern bald dichter, bald von zarterem und ſchwammigerem Ge: 
füge, je nad dem Zwecke, der zu erreichen war, bildet dieſes 
Knochengewebe in den verfchiedenften Formen bier ausgebehntere 
Hohlröhren, dort flache Platten, oder mannigfach gemölbte und 
verbogene Blätter, alle ſo paarweis vorhanden, daß eine Ebene, 
weldhe ben Körper durch die vordere und die hintere Mittellinie 
feiner Geftalt von oben nach unten durchſchneidet, auch das Knochen⸗ 
gerüft in zwei völlig ſymmetriſche Hälften zerlegt. Mit ihren 
zadigen Rändern in einander greifend, verbinden fich muſchel⸗ 
förmig gebogene Knochen zu dem feften Schäbelgemwölbe, der ficheren 
Umbüllung des Gehirns, unter einander unbemweglich vereinigt, oder 
do nur unmerkliche Ausweichungen geftattend, die höchſtens bie 
Gewalt heftiger Stöße einigermaßen zu mildern im Stande find. 
An fie ſchließen fih nach vorn und unten in fefter Verwachſung 
die Knochen des mittleren Geſichts, befien unterer Theil durch 
die bewegliche Kinnlade vervollſtändigt wird. Theils offen gelaflene 
Lüclen zwiſchen den Verbindungsrändern mehrerer Knochen theils 
Kanäle von größerer oder geringerer Weite, das es ber ein- 

Loge I. 4. Aufl. 


114 


zelnen durchbohrend, führen aus dem Innern des Schäbelgewölbes 
auf feine äußere Oberfläche, Gefäßen und Nerven freien Durd- 
gang verftattend. Durch eine größere Oeffnung an ihrer untern 
Fläche, das große Hinterhauptsloch, hängt Die Höhlung des Schädels 
mit dem langgeftredten breitern Kanale des Rückgrates zuſammen, 
den ber dide Markſtrang des Rückenmarkes als unmittelbare 
Fortfegung des Gehirns bis faft zu feinem untern Ende loſe 
ausfüllt. Eine größere Anzahl einzelner Knochen, im Allgemeinen 
von der Form eines kurzen Cylinders, find bier zu einer langen 
Säule übereinandergeftellt und durch flache elaſtiſche Bandſcheiben, 
die zwiſchen die Berührungsflächen je zweier eingefchaltet find, ſehr 
feft und haltbar verbunden. Nur eine ſehr geringe Bewegung 
iſt deshalb zwifchen zwei nächſtbenachbarten Gliedern diefer Kette 
möglich, aber die beträchtliche Anzahl derfelben geftattet doch dem 
Ganzen der Säule durch Summation diefer Heinen Beugungen 
anjehnliche Kriimmungen in weiten und großen Bogen. So findet 
ſich durch dieſen Aufbau des Ganzen aus einer Vielheit Fleinerer 
Theile Sicherheit des Zuſammenhangs mit ausreichender Beweg⸗ 
lichkeit verbunden und zugleich der Nachtheil vermieden, den ſcharfe 
Einfnidungen dieſes Knochengerüſtes für die zarten Gebilde haben 
würden, zu beren ſchützender Aufnahme es beftimmt if. Ans 
jedem dieſer gefchilderten Knochencylinder nämlich, oder aus jedem 
einzelnen Wirbellörper der Rückgrates, gehen ſeitwärts zmei Indcherne 
Bogen aus, die nach hinten ſich ringartig vereinigen, einen offenen 
Kaum von runblic herzförmiger Geftalt zwiſchen ſich Yaffend. 
Mit diefen Deffnungen eben fo tiber einander geftellt, wie bie 
Wirbellörper, von denen fie entipringen, umgrenzen biefe einzelnen 
Ringe mithin einen langgevehnten hohlen Kanal, ohne ihn jedoch 
völlig einzufchließen. Denn von geringerer Höhe, als die Wirbel- 
förper, berühren fi zwei nächſt auf einander folgende Ringe 
nicht überall, fondern laſſen Zwiſchenräume frei und ftehen nur 
an drei Punkten dur vorfpringende Gelenfflächen mit einander 
in beweglicher aber buch fefte Gelenfbänder nur auf geringe 
Bewegungen beichräntter Berbindung. Sp gewährt alfo die Wir- 





UNIYER- 
ÄdLIFO 


belfäule das Bild eines langen Hohlraumes, deſſen 
bidere Wand ungetheilt ift, während die blinneren Geiten= und 
Rückwände durch zahlreiche Deffnungen unterbrochen find. In 
dem Innern dieſes Raumes, den glatte Häute ausfleiden, iſt das 
Rückenmark auf eine Weife fchwebend befeftigt, welche am meiften 
die Nachtheile der häufigen Beugungen und Verſchiebungen feiner 
Knochenwandungen verhütet. 

Nach vorn fnüpft fih an die oberften Wirbel, die des Halſes, 
eine weitere knöcherne Bildung an; die zwölf folgenden, Die ber 
Bruft, tragen, den nach hinten gerichteten Wirbelbogen entiprechend, 
nad) vorn die ungleich weiter gefpannten Knochenbogen der Rip- 
pen, die mit ihrem bintern Ende beweglich in einigem Grade an 
die Wirbelkörper befeftigt, fih nad vorn in dem platten Bruft- 
bein vereinigen. Sie begrenzen jo feitlich den Bruftforb, defjen 
obere Deffnung ungeſchloſſen nur durch die geringere Weite der 
erften Rippenbogen verengt und deſſen untere weitere Ausmün- 
dung. gleihfall8 nur durch das musculdfe Zwerchfell und nicht 
durch Knochenbildung von der Höhle des Unterleibes getrennt 
wird. Die fünf nächften Wirbel, die Lendenwirbel, tragen wie 
die des Halfes Feine Rippen und beftunmen, von ftärferem und 
mafjenhafterem Bau als alle übrigen, nur von Hinten die Höhe 
der Unterleibshöhle, deren Seitenwandungen alle nur von Weich- 
theilen gebildet werben. Ihre untere Wand dagegen, beftimmt 
die Laft der Eingeweide zu ftüßen, ift aus dem großen Knochen⸗ 
ringe des Beckens gebaut, der, von den legten zu dem breiten 
Kreuzbein verwachlenen Wirbeln des Rückens ausgehend, zu beiden 
Seiten breite Flügel ausfhidt, die von oben und aufen nad 
unten und innen abgeſchrägt, und vorn durch niedrigere Knochen 
verbunden, einen ziemlich bedeutenden nur durch Weichtheile ver- 
ſchloſſenen Raum zwiſchen fich Laffen. 

An dieſes Körpergerüft, deffen Yorm bei der geringen Ver: 
Ihiebbarfeit feiner Theile geringen Veränderungen unterworfen 
ift, ſchließen ſich endlich die Knochenröhren der Gliedmaßen, Denen 
die Art ihrer Einlenfung Lagen und Geftaltveränderungen im 

8* 


115 


116 


weitelten Spielraum verftattet. Das Schulterblatt, nur durch 
Weichtheile am Rüden feitgehalten, nach vorm durch das Schlüffel- 
bein mit dem Bruſtknochen in beweglicher Verbindung, trägt an 
feiner obern äußeren Spige an einer flachen Gelenfgrube den 
Kopf des Oberarmes, die äußere Oberfläche des Beckens nad) 
unten in tiefer runder Gelenfhöhle den Kopf des Oberſchenkels. 
Beiden Knochen erlaubt die Natur ihres Gelente8 Bewegungen 
nach jeder Richtung, deren Weite nur durch Anftoß an die Um— 
gebungen begrenzt wird; beide ftehen dagegen mit den Knochen 
des Unterarmes und Unterfchenfeld in einer Verbindung, Die den 
legteren in Bezug auf fie nur die Bewegung in einer einzigen 
Ebene möglich macht. Aber dieſe VBerhältniffe ſowohl wie ben 
ferneren Bau der Hände und Füße, dur deren feine Organi— 
fation die menfchliche Geftalt fi von der ganzen Thierwelt unter- 
ſcheidet, verſparen wir einer fpätern Betrachtung. Fügen wir 
hinzu, daß zahlreiche jehnige Bänder alle bemeglih an einander 
eingelentten Knochen feft verbinden, daß beſondere häutige Kapſeln 
ihre einander zugewendeten Gelenflöpfe zu umgeben und die Ge- 
Ventflächen durch eine fehleimige Abſonderung fchlüpfrig zu erhal- 
ten pflegen, fo haben wir das Bild des ftarren Gerüſtes voll- 
endet, deſſen einzelne Theile nun durch die Xebensthätigfeit der 
Musteln bewegt werben. 


Die zahlreihen Lüden und Zwiſchenräume, melde Die ein- 
zelnen Knochen zwiſchen fich Tießen, werben durch das Fleiſch 
der Muskeln größtentheils ausgefüllt oder verbedt, und das Skelet, 
mit feinen Muskelſchichten befleivet, füllt daher faft vollſtändig 
Die äußeren erſcheinenden Umriſſe der Körperforn aus. Aeußerſt 
dünne und zarte Faſern, nur dem bemaffneten Auge fichtbar, 
verbinden fi in gleihlaufender Richtung neben einander gereiht 
zu den feinften Fäden, Die wieder in gleicher Weife zu bideren 
Bündeln zufammengebrängt uns als die Beſtandtheile des Fleifches 








117 


befannt find. Zufammengehörige Maſſen dieſer Fleiſchfaſern, zu 
einer und derjelben Berrichtung zufammenwirkend, von zahlreichen 
baarfeinen Blutgefüßen durchzogen und von gleichartigen ober 
ungleihartigen Umgebungen durch deutlichere Hüllen aus zelligem 
Gewebe abgegrenzt, bilden die einzelnen Muskeln, die ohne 
näheren Zuſammenhang umter einander nur durch ihre auf ge= 
meinjame Zwecke berechnete Tage ſich zu größeren Gruppen und 
Syſtemen ordnen. 

Unter dem Einfluffe verſchiedener Reize find die Musfeln 
fäbig, fih in der Längsrichtung ihrer Faſern zufammenzuziehen. 
Indem jede der letztern durch eine noch wenig gefannte An- 
näberung ihrer Hleinften Theilchen ſich um einen oft jehr beträcht- 
lichen Theil ihrer Länge verkürzt, wird in entfprechendem Maße 
der Querſchnitt des Muskels unter gleichzeitiger geringer Zunahme 
feiner Dichtigleit verbreitert. Denfen wir uns ein Faſerbündel 
mit feinen beiden Endpunften an zwei bewegliche Theile befeftigt, 
fo wird es durch feine lebendige Yufammenziehung beide in ge= 
rader Linie einander zu nähern fuchen, und es wird bie Kraft, 
mit welcher e8 dieje Leiſtung ausführt, von der Zahl der wirl- 
ſamen Fafern, alfo von der Dide des Bündels oder des Mus- 
fel8, die Weite der Annäherung aber oder der Umfang ber er- 
zeugten Bewegung von der Länge deſſelben abhängen. Wo 
daher die Glieder, ohne jehr große Bogen zu beſchreiben, Traft- 
volle Bewegungen ausführen oder Stellungen fefthalten follen, in 
denen fie einer beträdhtlihen Laſt Wiverftand zu leiften haben, 
finden wir am bäufigften Turze, aber aus vielen Fafern beftehende 
dide Muskeln angewandt; wo dagegen ohne Entwidlung be- 
dentender Kraft eine Bewegung duch größere Räume beabfichtigt 
ift, find um fo längere und dann Häufig dünnere Musfeln 
zwifchen den- beweglichen Punkten ausgeipannt. ‘Doc, leidet dieſe 
einfache Berwendungsregel Ausnahmen. Denn nur wenige Mus- 
keln breiten fi zwifchen Punkten aus, denen eine gegemfeitige 
Annäherung in gerader Linie möglich ift; die meiften haften mit 
ihren beiden Enden an Knochen, die unter einander durch ein 


118 | 


Selen? verbunden find und nur durch Drehung um diefes fich 
auf einander zu bewegen Finnen. Der Musfel, über dies Ge- 
len? hinlaufend und, fo mie e8 die Gefete des Hebels für die 
größte zu erzielende Wirkung verlangen, möglichſt entfernt von 
dem Drebpunft angefegt, würde daher bei feiner Verkürzung zwar 
den Winkel, den beide Knochen am Gelenk zufammen bilden, be= 
trächtlich verkleinern, aber zugleich die Deffnung veffelben durch 
feine verdickte Maſſe ausfüllen. Die Geftalt der Glieder würde 
fo eine Veränderung erleiden, die jchon an dem Arme, der davon 
das einfachfte Beiſpiel böte, aber weit mehr nod in anderen 
Fällen dem Zwede der eingetretenen Bewegung wenig förberlich 
wäre. Theils diefe Rüdfiht auf die Vermeidung zweckwidriger 
Seftaltveränderungen theil8 andere Umftände bringen in die Be . 
nugung dev Musfelthätigleit eine große Mannigfaltigkeit; aber 
die Verfolgung diefer Berhältniffe würde, ſelbſt wenn fie hier ındg= 
ih wäre, für unfere Betrachtung keinen Gewinn bringen, den 
wir nicht aus dem ſchon Erwähnten ziehen Fönnten. 

Wir finden in dem eben befchriebenen Bau des beweglichen 
Körpergerüftes und in der Beranftaltung feiner Bewegungen nit 
nur bier und da Analogien mit den Verfahrungsweiien, deren 
fih die Technif des Mafchinenbaues bedient; jondern das Ganze 
diefer Leiftungen ift durchaus und in der größten WMannigfaltig- 
feit und Feinheit ber Ausführung auf dieſelben Mittel und Ges 
jege begründet, Die wir in unfern täglichen Berfuhen, Werkzeuge 
zur Bewegung von Maſſen zu erfinden, nur in unvolllommenerer 
Weife ausbeuten. Diefelben unbiegſamen Stangen, diejelbe Ber- 
bindung und Befeftigung durch mannigfadhe Bänder, dieſelben 
Einlentungen der beweglichen Theile vermittelt abgepaßter und 
genau die möglichen Drehungsrichtungen beftimmender Gelenf- 
flächen, diefelben Zugfeile nebft ven Rollen und Haftbändern, welche 
die Richtung ihrer Wirkung nad) Bequemlichkeit und Bedürfniß 
ändern: alle dieſe Hilfsmittel finden wir gleichmäßig in den Ma— 
fhinen und in dem lebendigen Körper wieder: wir finden fie 
nirgends in der übrigen Natur. Raumdurchdringende Kräfte 





119 


führen an unfihtbaren Fäden die Geſtirne in ihren Bahnen; ge- 
genfeitiger Drud der Theilden, Spannung fich verflüchtigender 
oder durch Auffaugung anichwellender Maſſen, chemiſche Anziehun- 
gen endlich und die unmittelbaren Gegenwirkungen der Stoffe in 
räumlicher Berührung find die Kräfte, die in den meteorifchen 
Erfheinungen und in denen des Pflanzenlebend thätig find; dies 
geglieberte und zufammenftimmende Syſtem mechaniſcher Vorrich⸗ 
tungen nach den Geſetzen des Hebels tritt erſt im thierifchen Le⸗ 
ben und gerade ba auf, wo es fih um die Erfüllung feiner un⸗ 
terſcheidenden Aufgabe, der Veränderung der Geftalt und des Or⸗ 
te8 handelt. So wenig ſcheut ſich aljo das Lebendige vor jenen 
Mitteln, die wir mit einer gewifien Geringſchätzung als künſtliche 
mechanifche Beranftaltungen zu bezeichnen pflegen, daß feine Glie- 
derung zur Bewegung vielmehr als das vollfommenfte won der 
Ratur felbft gegebene und nur hier, in dieſem ihren vollkommenſten 
Erzeugniß gegebene Borbilb der Mafchine gelten darf. Nur darin 
freilich geht da8 Leben über alles hinaus, was wir nachahmend 
zu Stande bringen, daß die Triebfraft diefer ganzen Zufammen- 
ſtellung von Mitteln in der eignen innern Verkürzungsfähigkeit 
ber Muskeln liegt, während unfere Technik die Verkürzung der 
Zugfeile nur durch Aufrollung derfelben um Walzen und Räder 
erreicht, und zur Bewegung dieſer wieder neue Hilfsmittel be- 
nugen muß. 

Den Anftoß zur Verkürzung empfangen die Muskeln von 
ben Nerven, die zwijchen ihnen und dem Gehirn und Rüdenmarf 
ausgefpannt find. Die mikroſkropiſch feinen lang ausgefponnenen 
aus zarter durchſichtiger Scheide und zähflüſſigem Mark beſtehenden 
Nervenfafern finden fih auf diefem Wege von den Eentralorganen 
zu den beweglichen Glievern in gemeinfamer Umbüllung zu größe- 
ten Biindeln zufammengefaßt, ohne während dieſes Verlaufs ſich 
zu tbeilen oder zufammenzufließen. Aus diefen dideren Stämmen 
treten fo, wie ed die Bequemlichleit der Vertbeilung verlangt, in 
ber Näbe der Musfeln Kleinere Bündel heraus, deren einzelne 
Fäden zulegt zwiſchen die Fajern Des Musfels fi einjenten und 





120 


nun erft in feine Zweige auflöfen. In frifch getödteten Thieren 
erregen Drud und Zerrung, chemiſche Einwirkung und der Einfluß 
eleftrifher Ströme, auf irgend einen Punkt im Berlauf des Nerven 
ausgeübt, Zudung in dem Muskel, zu dem er fi) verbreitet; ein 
Beweis dafür, daß das Gleichgewicht der Hleinften Elemente ber 
Nervenfubftanz verlegbar genug ift, um durch manderlei Eingriffe 
geftört zu werden und feine Störungen von Punkt zu Punkt mit 
Leichtigfeit fortzupflanzen. Feine Unterfuchungen ber neueren Zeit 
haben glaublich gemacht, daß eine ſchnell obwohl nicht augenblicklich 
den Nerven burchlaufende Veränderung feiner elektriſchen Zuftände 
der Borgang ift, durch deflen Einwirkung auf die Muskeln bie 
Verkürzung der contractilen Safer angeregt wird. Wichtig für bie 
befonderen Unterfuchungen der Bhuftologie, wiirde body die Entſchei⸗ 
dung diefer Frage dem allgemeinen Bilde, weldhe8 wir hier ver- 
fuchen, nichts Wefentliches hinzufügen; genug, daß irgend eine in 
dem Nerven von Punkt zu Punkt fortfchreitende Aenderung jeiner 
phufiichen Zuftände entweder vorübergehende Zudung oder dauernde 
Spannung der von ihm abhängigen Muskeln veranlaft. 


Die Reizbarleit der Nerven und der Muskeln erhält ſich 
dauernd nur, fo lange beide in ihren natürlichen Lagenverhältnifſen 
die Einwirkung des umſpülenden Blutes erfahren. Um dieſen 
belebenven Reiz überallhin zu verbreiten, durchdringt alle Glieder 
des Körpers das Gefäßſyſtem wie ein reich verzweigted Wurzel- 
geflecht. Seine ſtarken Hauptiprofien, in den größeren Hohlräumen 
des Leibes verlaufend, zerglievern ſich Durch vielfach wiederholte 
Beräftelung in ein dichtverſchlungenes Netzwerk feinfter Röhrchen, 
das die Heinften Elemente der Gewebe hier mehr dort weniger 
gedrängt umfpinnt und an allen in beftändigem Strome die er- 
nährende Blutflüſſigkeit vorüberführt. Auch dieſe Bewegung 
haben ſchwärmeriſche Meinungen, in völligem Widerſpruch mit 
leicht zu beobachtenden Thatſachen, einer eignen geheimnißvollen 


121 


Triebkraft des Flüffigen zugefchrieben, das im Dienfte des Le⸗ 
bens feine Wege auswählend ſuche; aud fie werben wir viel- 
mehr, ganz ebenjo wie die Bewegung der Glieder, auf die feinfte 
Benugung von Mitteln gegründet finden, die jenen Anfichten nur 
als die gröbften und kümmerlichſten Behelfe menſchlicher Künſtelei 
zu ericheinen pflegen. 

Wäre an einem vingförmig gefäiloffenen mit Fluſſigleit er⸗ 
füllten Kanal von elaſtiſch ausdehnſamen Wänden eine einzelne 
Stelle mit zufammenziehungsfähigen Faſern umgeben, jo würde 
jede Contraction diefer Stelle, die wir fogleih mit dem Namen 
des Herzens bezeichnen wollen, die lüfjigleit nach beiden Seiten 
bindrängen, und zwei Wellen würden fi nad rechts und links 
durch die augenblidlich ausgedehnten und ſich elaftilch wieder zu: 
fammenziehenden Arme des Ringgefäßes verbreiten. Eine Klappe 
in dem Innern des Gefäße auf der einen Seite des Herzens 
angebradt, jo daß ein Strom von ber einen Seite fie fchließen, 
bon der andern Seite fie öffnen müßte, wiirde anftatt der dop⸗ 
pelten Welle nur einen einfeitigen Fluß des Blutes durch die ganze 
Krümmung des Gefäßes geftatten, und zu dem Herzen von ber 
andern Seite zurüdtehrenn wiirde e8 die Klappe öffnen, um auf’s 
Neue durch eine zweite Zufammenziehung in berfelben Richtung 
wie vorher fortgebrängt zu werden. Nehmen wir an, daß das 
ringförmige einfache Gefäß fich in einiger Entfernung vom Herzen 
in mehrere Aeſte fpaltet, Die durch neue Verzweigung fi in eine 
unabſehbare Vielheit feinfter Röhrchen theilen, daß ferner Diele 
feinften Kanäle fi nun wieder zu größeren Stämmchen fammeln, 
um zulegt in zwei Hauptitröme vereinigt wieder in das Herz ein- 
zumünden, fo haben wir an jener einfachen Borftellung die Ber- 
änderungen angebracht, die nöthig find, um aus ihr ein Bild des 
ernährenden Gefäßſyſtems zu machen. In der That bildet das Herz 
einen ſtarkwandigen musculdfen Schlaud, deſſen kräftige Zuſam⸗ 
menziehungen das in ihm enthaltene Blut in die große Körper: 
ſchlagader, die Aorta, den einen noch ungetheilten Arın des großen 
Gefäßringes, prefien. Eine häutige Klappe im Herzen, während 


122 


feiner Zuſammenziehung durch den Druck des auch gegen fie ge- 
drängten Blutes geſchloſſen, verhindert den Austritt deſſelben nach 
der entgegengejegten Seite der Bahn und zwingt es, einfeitig feinen 
Weg durch jenen ftarlen Stamm in bie weiteren Berzweigumgen 
des Arterienſyſtems zu nehmen. Immer findet dabei das Blut 
die Adern, in die es getrieben wird, bereitö gefüllt; indem es eben 
vom Herzen kommend, fih in den Anfang der Aorta einpreßt, 
drängt e8 die Wand derfelben nach Breite und Länge auseinander 
und findet in diefer größeren Weite des ausgedehnten Gefäßes für 
einen Augenblid Raum. Aber die elaftiihe aus ftarfen und zähen 
Nings- und Längsfafern gebildete Wand des Gefäßes ftrebt mit 
großer Kraft fi auf ihr voriges Maß zurüdguziehen und preßt 
dadurch den Ueberſchuß des fie ausdehnenden Blutes auf demſelben 
Wege weiter fort, indem die nächſte Stelle des Gefäßes jest eine 
ähnliche Erweiterung erfährt, um fogleich gegen dieſelbe ebenfalls 
elaftifch zurüdzumirfen. So entjteht, über die ganze Länge des 
Gefäßes hin ſchnell fortfchreitend, eine Welle der Ermeiterung, Die 
man leicht fih anſchaulich machen kann, wenn man den Darm eines 
Thieres bis zu genügender Spannung jener Wände mit Wafler 
füllt, an beiden Enden verſchließt und auf das eine derfelben einen 
plöglihen Drud ausübt. Wir kennen diefe Wellenbewegung der 
Schlagadern, die von ihr eben den Namen erhielten, unter dem 
Namen des Pulſes; fie wird weniger deutlih an den Kleineren 
Heften und verjchwindet völlig in dem weit ausgedehnten Nete 
der Haargefäße. Im ruhig gleihmäßigem Strome fließt durch 
diefe das Blut, um in den wiederzufammentretenden größeren 
Stämmen, den Benen, pul8los zu dem Herzen zurüdzufehren. 
Da in der Aorta nach dem Herzitoß Flüſſiges auf Flüffiges trifft, 
fo werden manderlei Vermiſchungen eintreten, und ein Theil des 
neu eintretenden Blutes kann auf größere oder geringere Länge 
dur das Thon vorhandene hindurchgepreßt werden, während ein 
anderer Theil des neuen einen Theil des alten vor fi berbrängt. 
Die Bahn, welche ein einzelnes Bluttheilchen befchreibt, kann da— 
ber ſehr verfchieden ausfallen; nur -in dem mittleren Theile des 





. 123 


Gefäßverlaufs wird fie ſtets eine gleichförmig fortfchreitende fern; 
am Anfang der Aorta können die angeführten Umftände fie ſehr 
unregelmäßig machen, in den Haargefäßen viele Kleine zufällige 
Drude der Umgebung und andere Umftände fie auf eine Zeit 
lang in ein ſchwankendes Bor- und Zurückgehen durch die vielfach, 
commumnicirenden Wege dieſes Neges verwandeln. Die Angaben, 
welche das Blut etwa in einer Minute, während das Herz 60—80 
Schläge macht, feinen Weg durch das ganze Gefäßſyſtem vollenden 
laſſen, können deshalb nur den durchſchnittlichen Erfolg der gan- 
zen Circulation, aber nicht die Bewegung jedes eingelnen Theilchens 
bezeichnen. 

Die größeren Gefäße, Arterien und Venen, durch dicke und 
undurchdringliche Häute von der Subftanz der Theile Igetrennt, 
durch welche fie verlaufen, find nur die Strombetten, in denen ber 
Zufluß und Abfluß des Blutes ftattfindet; die Haargefäße allein, 
mit ihren zarten und dünnen Wandungen und in überaus feiner 
und reicher Berzweigung die Kleinen Elemente der Gewebe durch⸗ 
jegend und umfpinnend, bilden den Schauplat des Stoffumfakes. 
Aus ihnen treten beftändig durchſchwitzend die flüffigen Beftanb- 
tbeile des Blutes in die Zwiſchenräume der Gewebtheile, und 
gegen dieſe ausgetauscht dringen die aufgelöiten Zerjegungsrefte der 
verbrauchten Körperfubftanz in fie ein, um mit dem Blntfirome 
an die verjchiebenen Abfonderungsftellen fortgeführt zu werben. 
Wir kennen faft gar nicht die Art der chemiſchen Umwandlung, 
welche die Gewebe im Laufe der Zeit und dur ihre Leiftungen 
erfahren und eben fo wenig die Reihenfolge der Formen, in welche 
fie ſich durch fortichreitende Zerſetzung verwandeln, bis fie voll- 
kommen löslich und in ihrer chemiſchen Zufammenfegung den ein- 
facheren unorganifchen Stoffen ähnlicher geworden zur Ausſcheidung 
aus dem Körper bereit find. Nur einen Erfolg dieſer beftändig 
in allen heilen des Leibes fortgehenden Thätigfeit beobachten 
wir beftimmter, die Bildung von Koblenfäure, duch deren Ein- 
tritt in die Haargefäße das Blut auf feinem Rückwege durch die 
Denen jene dunkelrothe Färbung annimmt, die e8 nım von dem 


126 


jeder eine Hälfte der Bruſthöhle durch eine baumförmige Berzwei- 
gung immer feinerer Kanäle ausfüllt. Auch biefe Haargefäße 
Sammeln fi wieber zu größeren Stämmen, ben Lungenvenen, in 
denen das Blut, unterdeffen durch die Athmung hellgeröthet, in 
das Yinfe Herz, zum Wiederanfange des großen Kreislaufes zurück⸗ 
fließt. Durch die Zwiſchenräume, welche das feine Netz jener 
Haargefäße übrig läßt, wächſt überall eine zweite Verbreitung von 
Kanälen, aber luftführenden, hindurch. Als ein weites offenes, 
durch knorpelige Ringe gegen Zuſammendrückung geſchütztes Gefaãß 
beginnt in dem Hintergrunde der Mundhsöhle, durch den Kehl- 
deckel nach oben verſchließbar, die anfangs einfache Luftröhre; un— 
ter der Haut des Halſes und dünner Muskelbededung herabitei- 
gend, theilt fie fi) unter dem Anfang des Bruftbeing in zwei 
Hauptſtämme, die nad) rechts und links ſich in immer kleinere dünn⸗ 
hautige Zweige auflöſend, jene zwei großen Bäume bilden, deren 
Aeſtchen ſich zwiſchen die feinen Netze der gleichfalls zu zwei vielfach 
verzweigten Geflechten entwickelten Blutgefäße einſenken. Eine all⸗ 
gemeine häutige Umhüllung, nur in wenige der größeren Abthei= 
Yungen diefes durcheinander verwachſenen Doppelgeflechtes eingehend, 
überzieht jede der beiden Verzweigumgen, bie beiden Lungen, beven 
größere rechte ihre Hälfte der Brufthöhle ansfüllt, während bie 
Heinere Iinfe das in der Mitte und nad links gelegene Herz, 
dem fie Raum läßt, von hinten, von oben und zum Theil mit 
berabgreifendem Rande von vorn ber umgibt. Der mittlere Theil 
der Bruſthöhle, die Spalte, welche beide Lungen trennt, ift der 
Raum, in welchem bogenfdrmig nad oben und dann nach hinten 
abfteigend fich Die Aorta ausbehnt, und von welchen aus die Blut- 
gefäße feitlich, die beiden Aeſte der Luftröhre von oben ber in Das 
Gewebe der Lungen eintreten. 

Die feinften einander innig umfchlingenden Veräftelimgen ber 
Luft und Blutgefäße find auch hier der eigentliche Ort der Wirk- 
ſamkeit. Die letzten Enden der zarten Luftröhren erweitern ſich zu 
Heinen Bläschen, an deren Wandungen die Haargefäße verlaufen, 
nur durch eine äuferft dünne Bedeckung von ber Luft gefchieden, 





127 


welche das Innere dieſer Heinen Lungenzellen füllt. Durch fo feine 
feuchte Membranen findet auch außerhalb des lebendigen Körpers 
eine Austaufhung von Gasarten ftatt, nach Geſetzen, die noch nicht 
völlig in ihren Einzelheiten aufgeflärt find. Die Kohlenfäure bes 
venöfen Blutes, das an diefen dünnen Scheidewänden der Luft 
vorübergeführt wird, tritt ausgehaucht aus den Gefäßen in die 
Höhlung der Lungenzellen; der Sauerftoff der dort befindlichen 
atmoſphäriſchen Luft dringt umgefehrt durch die Wände ber Haar⸗ 
gefäße ein und wird nun mit dem arteriell gewordenen Blute, 
das ihn aufgefaugt hat, dem Linken Herzen und durch diefed dem 
großen Kreislaufe zugeführt. Die beftändige Fortdauer dieſes Vor⸗ 
gangs wird endlich Durch die Bewegungen der Bruft, die Abwechs⸗ 
lung der Ein- und Ausathmung gefihert. Zum Einathmen heben 
die Muskeln die beweglichen Rippen in die Höhe und ftreben auf 
diefe Weile die Brufthöhle zu erweitern; aber überall geichloffen 
wie fie ift, kann fie diefem Beftreben nicht folgen, ohne daß die 
äußere Luft den leeren Raum, der dabei entftehen müßte, durch 
Kehlkopf und Luftröhre eindringend bis in die Lungenzellen erfüllte. 
Dieſe thätigen Bewegungen der Bruftmusfeln laſſen mit vollen- 
deter Einathmung nad, und die eigne Clafticität des Lungenge- 
webes, da8 durch die eingebrungene Luft ausgedehnt war, reicht 
bin, um duch ihr Zufommenziehungsbeftreben die Wiederaus- 
athmung derfelben, und damit die num von felbft folgende Sen- 
fung ber gehobenen Rippen zu vollbringen. Nur die Einathmung 
ift daher durch Lebendige Thätigfeit der Muskeln nothwendig be— 
dingt; die Ausathmung erfolgt im gewöhnlichen Laufe der Refpi- 
ration ohne die Mitwirkung derjelben, obwohl ſie zu möglichſt voll⸗ 
kommener Entleerung der Lungen von einer ſolchen — 
werden kann. 


Durch Herz Lungen und die großen Gefäßſtämme wird der 
Raum der Bruſthöhle ausgefüllt. Sie iſt nach unten durch das 
Zwerchfell von der Bauchhöhle, dem Sitze des Verdauungskanals 


128 


und feiner Anhänge geſchieden. Flache Muskelplatten, deren Fa— 
fern ſich nach verſchiedener Richtung Freuzen, entipringen vom Rück⸗ 
grat, von der unterften Rippe und dem untern Ende des Bruft- 
beins, und bilden, fi) unter einander vereinigend, diefe Scheide⸗ 
wand, die am Nüden tiefer binabreihend al8 vorn, nad oben 
gewölbt in die Brufthöhle emporragt. Auf ihr ruhen Herz und 
Lungen, und durch eine Spalte, die ihre Faſerbündel am Rück— 
grat zwiſchen ſich laſſen, tritt die Aorta dicht an der Wirbelfäule 
in die Bauchhöhle, um bald fi in die beiden großen Gefäß- 
flämme der Beine zu theilen. Die Zufammenziehung der Zmerd- 
fellsmuskeln plattet die nach oben gerichtete Wölbung befjelben ab 
und unterftiittt dadurch die Erweiterung der Brufthöhle zum Ein- 
athmen; die Zufammenziehung der musculdfen Wände der Unter- 
leibshöhle dagegen, indem fie die in diefer enthaltenen Eingemeide 
nah oben preßt, vermehrt jene Wölbung und befördert durch 
Berengerung der Bruft die tiefe Ausathmung. 

Aus dem Hintergrunde der Mundhöhle beginnt der MuS- 
kelſchlauch der Speiferöhre, zuerft zwifchen Wirbelfäule und Luft- 
röhre, dann in der Bruft an die vordere und linke Seite Der 
Aorta tretend, in die Bauchhöhle hinabzufteigen, in welche fie durch 
eine Deffnung des Zwerchfells einbringt. Zwiſchen Die Wände 
dieſes Kanals wird die durch Kauen zerfleinerte Nahrung jo wie 
das flüffige Getränk durch Muskeln der Mund- und Radenböhle 
hineingevrängt; indem binter ihm fich Die musculöfe Wand zu- 
fammenfchnürt, öffnet der Biffen Schritt fin Schritt fi) den Weg 
durch dieſe Röhre, deren Wandungen, nicht wie die der Luftwege 
durch elaftifche Knorpel auseinander gehalten, fih im gewöhnlichen 
Zuftand ohne Zwiſchenraum aufeinander legen. So nad) der Höhle 
des Unterleibes befördert, gelangt die Nahrung in die Abtheilung 
des Verdauungskanals, in welcher die chemiſche Thätigkeit der An- 
ähnlihung beginnt. Im vielfachen nur für einzelne Abſchnitte in 
ihrer Lage beftimmten Windungen zieht fi) der Darmkanal durch 
die Unterleibshöhle, iiberall aus einer äußern musculöfen Schicht 
und eimer innern jammtartig glänzenden Schleimhaut zuſammen⸗ 





129 


gefett, beide von zahlreichen Blutgefäßen durchſetzt, und beide bei 
allgemeiner Gleichheit ihres Baues doch in verfchievenen Abthei- 
lungen des Ganzen nad) den abweichenden Zwecken verſchieden ing 
Feine organifirt. Unmittelbar nach ihrem Eintritte in die Baud- 
höhle erweitert fi) die Speiferühre zu einem geräumigen beutel- 
fürmigen Organ, deſſen weiterer abgerundeter Sad ſich blind nad) 
links von ihrer Einmündung ausbehnt, während der andere längere 
Theil fich in den ferneren Verlauf des Darmkanals fortjegt. Die 
Muskelhaut dieſes Organs, des Magens, aus verſchiedenen flachen 
Bindeln von Faſern verwebt, vermag durch ihre wellenförmig hin 
und bergehenden wenig Traftvollen Zuſammenziehungen den ange- 
langten Speifebrei hin und berzuführen und ihn dadurch in man 
nigfaltige Berührung mit der inneren Schleimhaut zu bringen. 
Reich an Blutgefäßen, zu denen während der Verdauung vermehrter 
Zufluß ftattfindet, fondert diefe Haut aus eigenthlimlichen mi- 
kroſtopiſchen Drüschen, welche in fie eingebettet fi in der größeren 
noch unten gerichteten Krimmung des Magens binziehen, ein mit 
dem Namen des Pepfind belegtes in feiner Zuſammenſetzung 
wenig befanntes Product aus, das in Verbindung mit dem falz- 
und milchſäurehaltigen wäfjerigen Magenfaft den eriten Fräftig 
auflöfenden und chemiſch umgeftaltenden Einfluß auf die Nahrung 
ausübt. Schon hier verwandeln ſich Die ftärfemehlhaltigen Beftand- 
tbeile der legtern in Zuder, Eiweiß und Baferftoff der Fleiſch⸗ 
nahrung verlieren zerfallend einen Theil ihrer Eigenfchaften; die 
Fette jheinen unverändert hindurchzugehen. Bon den Getränken 
und von ben verflüifigten Theilen der Nahrung wird vieles fchon 
bier Durch Die Blutgefäße des Magens aufgefaugt; die nicht voll- 
fommen löslich gewordenen Stoffe treten nach und nach zu weiterer 
Verarbeitung durch Die Gegendffnung des Magens in den nächſten 
Abſchnitt des Verdauungsfanals, den Zwölffingerdarm. 

Sie unterliegen hier dem Einfluffe zweier Organe, der Xeber 
und bes Panereas, die wir beide als ausgeftülpte Anhänge des 
Darmlanald am lürzeſten für unſern Zweck beſchreiben können. 


Wir denken ung eine nad) außen gebildete hohle nn des Darm- 
Zope I. 4. Aufl. 


130 


rohrs allmählih zu einem Lang und dünn anögezogenen Kanal 
anwachſen, deſſen jehr enge Höhlung in offener Verbindung mit 
ber viel geräumigeren des Darmes bleibt. Diefer Kanal, den 
wir den Gallengang nennen, theilt fi dann in zwei Zweige, von 
denen der eine ſehr bald mit einer blafenförmigen Anſchwellung, 
ber Gallenblafe, fchließt, während der andere, der Luftröhre ähn- 
lich, fib in eine Baumkrone feiner Verzweigungen veräftelt. 
Zwiſchen dieſes Geflecht dringt ein doppeltes anderes in ähnlicher 
Weife wie in den Lungen ein. Nicht nur der große Kreislauf 
ſendet aus ber Aorta Arterien, die fih hier in ein Haargefäßnetz 
ausbreiten, jondern auch das vendfe Blut, das aus den Einge- 
weiden des Unterleibes zurüdfehrt, fammelt fih in einen großen 
Stamm, die Pfortader, und diefe, fih von neuem in ein venöfes 
Haargefäßnetz auflöfend, begleitet ebenfalls mit ihrer feinen Ver— 
zweigung die Veräftelung der Gallenkanäle. So bildet dieſes drei- 
fache Geflecht in Verbindung mit der zelligen Maffe die Subftanz 
ber Leber; von einer Umhüllungshaut zu einem derben maſſen⸗ 
haften Organ abgejchlofjen und von der rechten Seite des Unter- 
leibe8 bis über feine Mittellinie hinausreichend, hängt fie unter 
dem Zwerchfell in einer Falte eines häutigen überall gefchloffenen 
Sades, des Bauchfelles, befeftigt, deſſen vordere Flaͤche die innere 
Seite der musculöfen Unterleibswand überzieht, und deſſen hintere 
. in mehrfachen in das Innere des Sackes hineingefalteten Einftül- 
pungen die wichtigften Abtheilungen des Verdauungskanals auf: 
nimmt und fefthält. Aus den Zellen des Leberparenchyms, an 
welchen die Kleinften Berzweigungen der Gallenfanäle endigen, 
wird in diefe bie gelbe, bittere Galle ausgeſondert. Daß Diele 
Flüffigleit einen wefentlihen Einfluß auf die Berbauung ausübt, 
ſcheint die Beftänbigfeit zu beweifen, mit der in ben höheren 
Thierflaffen die Lage der Leber überall fo angeorbnet ift, Daß 
aus ihr und aus der Gallenblafe, in der das ſtets bereitete Product 
fih anhäuft, die Galle duch die erwähnten Ausführungsgänge 
in dem Maße dem Darmlanal zugeführt wird, in weldem bie 
Nahrung aus dem Magen in ihn eintritt. Aber ich vermeide 














131 


es billig, auf die fpecielleren Anftchten einzugehen, welche itber Die 
Art dieſes Nutens die Phyſiologie aufzuftellen verſucht. Ueberaus 
mühſame und verdienftlihe Unterſuchungen baben doch bisher 
unſere Kenntniß von dem Ineinandergreifen der vegetativen Ver⸗ 
richtungen nur fehr wenig feitzuftellen vermodt, und unfere Auf- 
faffungen der chemiſchen Vorgänge in der Verdauung und Anbil- 
dımg find noch in beftändiger Aenderung begriffen. Anſtatt biefer 
Einzelheiten führe ich einen Gedanken an, in welden chemiſche 
Forſcher ihre Anfiht von dem allgemeinen Sinn der bier bor- 
kommenden Wechſelwirkungen zuſammendrängten. “Der thierifche 
Körper nährt ſich allerdings durch von außen zugeführte Stoffe, 
die im Ganzen bereits die Zuſammenſetzung feiner eignen Be- 
ſtandtheile haben; die wöllige Anähnlichung des aufgenommenen 
Materials fcheint indeffen doch nur duch die Einwirkung von 
Stoffen möglih, die dem Organismus bereit8 angehörten und 
die von ihm num als corrigirende Fermente hinzugebracht werden, 
um die hemifchen Bewegungen des eingeführten fremden Materials 
in eine für Die Zivede der Anähnlichung günftige Richtung zu lenken. 
Eine große Menge folder Stoffe, Bepfin Galle und die Säfte 
des Pancreas und der zahlreichen verfchtevenen Drüfen des Darm⸗ 
kanals, wirft auf dieſe Weife beftändig der Organismus zwiſchen 
bie chemiſchen Wechfelmirkungen hinein, denen die Elemente des 
Nahrungsmaterials durd ihre eigne Natur unterworfen fein wür⸗ 
den; wir fennen die befondern Leiftungen nicht, die dieſen ein- 
zelnen Beiträgen obliegen, und jelbft die Krankheitserſcheinungen, 
die aus der Störung des einen ober des andern hervorgehen, 
erlauben nicht durch Rückſchlüſſe die Yunctionen der verſchiedenen 
zu fondern; fo müfjen wir uns mit dem Allgemeinen jenes Ge- 
banfens begnügen und der Zukunft feine Bewährung im Ein: 
zelnen itberlaffen. 


Sn die Aufgabe, den zubereiteten Speifefaft dem Blute 
und aus ihm den Beftandtheilen des Körpers zuzuführen, theilen 
9* 


132 


fih zwei Syſteme von Gefäßen. Die Blutgefäße, welde die 
ganze Ausdehnung des Darmrohrs mit feinen Negen durchziehen, 
Iheinen nur die aufgelöften unorganiſchen Beitandtheile, wie Die 
Salze, und von den organifchen diejenigen aufzufaugen, die völlig 
verflüffigt nicht zur Bildung der Gewebe fondern zu anderen 
Dienften in den Körper übergeben jollen. Diefe Auffaugung ift 
fo rafh, daß flüſſige Gifte ſchon wenige Minuten nad ihrer 
Aufnahme fid im Blut und in den Abfonderungen durch ihre 
Keactionen, in dem übrigen Körper durch ihre Wirkungen be- 
merflih machen. Die Aufnahme der gewebbildenden Nahrungs⸗ 
ftoffe, der eimweißartigen Körper und neben ihnen der Fette, fällt 
dem anderen Shiteme, dem ber Chylusgefäße zu. Das ſammt⸗ 
artige Anfehen, welches die innere. Oberfläche der Schleimhaut 
vom Magen an abwärts immer mehr annimmt, zeigt fich bei 
mikroſtopiſcher Betrachtung als Die Wirkung feiner in die Höble 
des Darmes hineinragender Zottenbildungen. Im obern Theile 
des Darmlanals Tegelförmige Erhöhungen mit breiter Bafis, 
gehen fie im untern in zungenförmige Organe über, zu 40 bis 
90 auf eine Duabdratlinie der Schleimhaut zufammengebrängt. 
Die blafje unbeftimmt faferige Grundmafje ihres Gewebes um- 
gibt außen ein Ueberzug cylindrifcher Zellen, unter dem an zwei 
Seiten feine Blutgefäße durch Zwiſchennetze verbunden auffteigen; 
ihre Mitte nimmt mit blindem Tolbigem oder ftumpfen Ende 
der Urfprung eines Chylusgefäßes ein. Mit diefen untereinan- 
der nah und nad zu größeren Stämmden zufammenfließenden 
Chylusgefäßen vereinigt ſich Tpäter die Verzweigung der Lymph⸗ 
gefäße, die aus den übrigen Theilen des Körpers die überſchüſſig 
ergoffene Blutflüffigfeit auffaugen, und beide in Bau und Ber- 
richtung ſehr ähnlichen Kanalſyſteme führen zulegt durch einen - 
gemeinfomen Ausmündungsgang ihren flüffigen Inhalt in einen 
der Hauptftämme des vendfen Gefäßgebietes, Die vom Kopf herab- 
fteigende Hoblvene über. 

An den Chnlusgefäßen fo wenig wie an den Blutgefäßen 
find offene Mündungen zur Aufnahme der von ihnen zu Teiten- 











133 


den Stoffe zu bemerken; auch in ihnen gefchieht daher die Auf: 
faugung durch die gejchloffenen Wandungen und muß auf Flüſſig⸗ 
keiten oder auf feſte Theile von folder Kleinheit beichränft fein, 
daß fie die umvahrnehmbaren Zwiſchenräume, die wir zwifchen 
den Heinften Theilen auch diefer Wandungen annehmen dürfen, 
zu durchdringen im Stande find. Auch jo bietet jedoch der Me- 
chanismus diefer Auffaugung eigenthümliche Schwierigkeiten, die 
fih kaum ohne die Annahme einer chemiſchen Anziehung des 
inneren Theiles der blinden Gefäßenden befeitigen Iaffen, welche 
den Eintritt der Flüſſigkeit bedingt und ihren Rücktritt durch Die 
Wandung verhindert. Unter diefer Borausfegung würde die be- 
trächtliche Elafticität der Gefäßwände hinreichen, um bie Fort⸗ 
preffung ihres fie ausbehnenden Inhalt in der offenen Richtung 
nach dem Blutkreislauf zu erklären und zahlreiche Klappen, die 
der Strom in diefer Richtung öffnet, beim Rüdfluß aber fchließen 
würde, unterjtügen die Wirkung diefer Triebkraft. 

Auf dem Wege, den fie bis zu ihrem Eintritt in das Blut 
zurüdlegen, unterliegen Chylus und Lymphe in vielen Drüſen, 
zu denen ihre Gefäße fich verichlingen, dem umgeftaltenden Einfluß 
des Blutes felbft, deſſen Zujammenfegung fi) die ihrige immer 
mehr nähert. Eigenthümliche Einige Körperchen treten in beiden 
auf, von mikroſkopiſcher Kleinheit, aus eimweißartigen Stoffen ge- 
bilvet. Sie jcheinen die erften Anfänge einer Bildung zu fein, 
durch welche das Blut fi von den übrigen Säften unterjcheibet, 
der rothen Blutlörperhen. Als jcheibenfürnige glatte Bellen 
Idwimmen dieſe in größter Anzahl im Blut, gebildet aus einer 
zähen Haren Flüſſigkeit ohne feften Kern, und von einer fehr 
elaftiichen durchſichtigen Umhüllungshaut umkleidet, welche aus 
einem eiweißartigen Körper, dem Globulin, und einem rothen eiſen⸗ 
führenden Farbftoff, dem ebenfalls eiweißartigen Hämatin gemifcht 
ift. Weber ihre Entftehungsmeife, noch Die Art, wie fie alternd wie- 
der zu Grunde gehen, noch die Dienfte, welche fie dem Leben leiften, 
und welche für ſehr wichtig zu halten wir vielfache Beranlaffung 
haben, find bis jegt zweifellos befannt. Ihre Beſtimmung wird 


134 


theil8 in einer Verwendung zur Ernährung und Gewebbilbung 
theils darin geſucht, daß fie durch abwechſelnde Abforption von 
Sauerſtoff und Kohlenſäure, unter deren Einfluß fie die Farben⸗ 
verichiedenheiten des arteriellen und vendfen Blutes bedingen, fiir 
die Austaufhung der Stoffe als Bewegungsmittel thätig find. 
Die Schwankungen ihrer Menge im Blut zeigen fih in Krank: 
heiten mit beveutendem Einfluß auf die Lebhaftigfeit der Nerven⸗ 
berrichtungen verbunden. 

Chylus und Lymphe find Die einzigen Quellen des Wieder- 
erfates für das Blut; weit mannigfaltiger find die Formen, in 
denen es feine Beftandtheile ausgibt. Wahrſcheinlich wird nur 
ein verhältnißmäßig geringer Antheil diefer Ausgabe auf die be— 
ftändige Wiederernährung der durch ihre Leiftungen abgenugten 
Gewebe verwandt; ein beträchtlicherer geht vielleicht zur Erzeugung 
vielfacher Gebilde auf, die, wie Haare Nägel Oberhaut, in be- 
ftändigem Wachsthum begriffen find und in fefter Geſtalt durch 
Abſtoßung und Abfchilferung fi von dem Körper trennen; noch 
bedeutender ſcheint die Maſſe der aus dem Blute geſchehenden Ab- 
fonderungen, welche, wie die zahlreichen Säfte des Verdauungs⸗ 
kanals und feiner ihm zugeordneten brüfigen Organe, vor ihrer 
Entfernung aus dem Körper noch einmal zu den Zwecken ber 
Alfimilation als beihelfende Mittel benugt werben. Die größte 
Gewichtsmenge aller Abicheivungen erfolgt jevoch durch die Aus- 
bünftung aus Haut und Lungen und durch die Abfonderung des 
Harnes; beide Vorgänge nur zur Entfernung unbrauchbarer Maffen 
beftimmt, obgleich der erfte vielleicht durd; die Nebenwirkungen, 
welche die Thätigfeit der Ausſcheidung begleiten oder ihr folgen, 
zur Ausgleihung mander Störungen des Körpers geſchickt. Die 
ſtickſtoffhaltigen Beftandtbeile des Harns, in einer großen vers 
anderlichen Wafjermenge bald aufgelöft, bald aus ihr fi in fefter 
Geftalt niederſchlagend, laſſen feinen Zweifel Daran, daß auf 
diefem Wege am meiften bie Reſte der in ihrer chemifchen Zu⸗ 
ſammenſetzung zertrümmerten eiweißartigen Stoffe entfernt werben. 
Man hat-einen von ihnen, den Harnftoff, bereits gebildet im 








135 


Blute vorgefunden, und in Bezug auf ihn wenigftend werben 
die Nieren ſich nicht als ein erzeugendes Organ, fondern nur 
als ein eigenthümlich gebildetes Filtrum verhalten, deſſen Ge⸗ 
webe feine wäflerige Auflöfung in den Höhlenraum ber Aus: 
führungsgänge hindurchtreten läßt, während es die übrigen auf: 
gelöften und noch benutzbaren Beſtandtheile des Blutes in dieſem 
zurüdzubleiben nötbigt. 

Die Kohlenſäureaushauchung der Lungen ift begleitet von 
einer reichlichen Entwidlung von Waflerdampf, der in kühlerer 
Temperatur den Athen ſichtbar macht und in weldem abjorbirt 
bie Kohlenfäure in die Außenwelt übergeht. Auch aus der feuchten 
diden Schleimfchicht, welche unter der Oberhaut mit Gefäßen 
reichlich durchzogen Liegt, dringt Wafler beftändig nach außen und 
entweidht dampfförmig durch die hornartige dünne Oberhautplatte, 
welche überall den Körper als Ießte Grenze überzieht. Der größere 
Theil der gefammten Hautausdünftung fcheint auf diefem Wege 
zu erfolgen, nur ein kleinerer das Erzeugniß eigentblimlicher Fleiner 
Drüschen zu fein, Die in das Schleimnek der Unterhaut eingebettet 
einen fpiralförmig gemundenen feinen Ausführungsgang nad) außen 
fenden, aus deſſen offener Mündung die ausgefonderte Flüſſigkeit 
verdampft, und nur bei zur veichlicher Erzeugung ober wo die 
äußere Luft fie nicht hinlänglich abforbirt, in der Form des 
Schweißes tropfbar hervortritt. Außer den gewöhnlichen Salzen 
des Blutes und fehr geringen Beimengungen organiſcher Beftand- 
tbeile enthält der Schweiß nur Wafler, Milchſäure, Ammoniak; 
feine Zuſammenſetzung ſchiene daher die Wichtigfeit nicht zu recht⸗ 
fertigen, welche man der Hautthätigfeit zufchreibt, noch Die zahl- 
veihen Nachtheile ihrer Unterbrüdung. Aber es ift wohl möglich, 
daß nicht Die Entfernung dieſer wenig erheblichen Stoffe, fondern 
die Arbeit der Entfernung das Wichtigere ift, oder daß der beftän- 
Dige Fortgang dieſes Verdampfungsprocefies für die an der Ober- 
fläche des Körpers in der Haut felbft gelegenen Nervenendigungen 
günſtige Zuftände herbeiführt, die zur genügenden Fortſetzung ihrer 
Berrihtungen unentbehrlih find. So wenig wir biefe Seite des 


136 


Nugens, den die. Hautabjonderung gewährt, weiter verfolgen kön- 
nen, jo klar ift Dagegen eine andere; fie dient als ein wirkfames 
Abkühlungsmittel fir die durch vielfache Urſachen vermehrbare 
Wärme des Körpers und des Blutes insbeſondere. In der reich- 
lihen Berdampfung, welde unfere Oberfläche beftändig fichtbar 
oder unfihtbar unterhält, wird eine große Wärmemenge gebun- 
den und dem Körper entzogen und Gleiches findet ununterbrochen 
dur die Aushauchung der Lungen ftatt. 

Nicht alle Beitandtheile des Körpers haben in diefem Um— 
riffe feines Baues und feiner Verrichtungen Erwähnung gefum- 
den. Wir haben manche von größter Wichtigkeit einer Tpätern 
Erörterung überlafien, da wir zunähft nur die große Ausdeh— 
nung veranfchaulichen wollten, in welcher das Leben zur Erfüllung 
feiner Aufgaben diefelben Mittel benugt, mit denen die menfchliche 
Technik ihre Werke zu Stande bringt. 


Sechſtes Kapitel. 


Die Erhaltung des Lebens. 





Phofifche, organiſche, pſychiſche Ausgleihung der Störungen. — Beifpide ber Her: 
ftellung bes Gleichgewichtes. — Bas ſympathiſche Nervenſyſtem. — Beftänbige 
Unruhe alles Organifhen. — Allgemeine Bild des Leben. 


Auf den unmittelbaven Wechſelwirkungen der Hleinften Theil- 
hen beruht die Erhaltung der Körpergeftalt und die Fähigkeit 
zu lebendigen Leiftungen. Bon ihnen allen verräth der Anblid 
des lebenden Leibes fo wie unfere innere Beobachtung Nichts; 
unbemerkt und im Stillen geichehen alle die chemiſchen Umwand⸗ 
lungen der Stoffe, alle Schritte ihrer Geftaltbilbung, der vegel- 
mäßige Anja einiger, die allmählidre Ablöfung der andern. 
Was unferer Beobachtung fi als Zeichen des Lebens aufdrängt, 





137 


ber beftänbige Wechfel des Athmens, die Unruhe des Herzichlages, 
bie Wärme, die alle Theile des Körpers durchdringt, das alles 
ift nur Die Erſcheinung vermittelnder Thätigkeiten, durch welche 
der Organismus in jedem Augenblid die nöthigen Beringungen 
für die Yortfegung jenes unfihtbaren Spieles herzuftellen ſucht. 
Aber auch jo find dieſe vorbereitenden Verrichtungen von großer 
Wichtigkeit; befteht doch eben darin die Eigenthümlichkeit des 
Lebens, daß es durch die beftimmten Berfnüpfungsformen, in 
denen e8 die elementaren Stoffe zu gegenfeitiger Wechſelwirkung 
zufammenführt, Die eingebornen Kräfte derfelben zu ungewohnten 
Erfolgen anleitet und nöthigt. Wohl ift es daher ber Mühe 
werth, der Schilderung des Ineinandergreifens diefer Thätigfeiten 
no die Frage nad den Kräften und den Geſetzen nachfolgen zu 
laſſen, durch welche den wechjelnden Bebürfniffen gemäß Größe 
und Lebbaftigleit jeder einzelnen eben fo, wie die Art ihres nüg- 
lihen Zufammenwirkens mit den übrigen in jedem Augenblide be- 
ftimmt wird. Ein weites noch offenes Feld für Unterfuhungen 
der Zukunft, geftattet diefe Trage nah Plan und Ordnung bes 
thieriihen Haushaltes im Ganzen uns für unfere Zwede nur 
die Andeutung weniger Punkte, um die allgemeine Anficht, die 
und bisher geleitet hat, noch einmal zum Abichluffe unfers Bil- 
des vom Leben zu benuten. 

Wie die Befettigung jeder Störung nad unfern früheren Be— 
merfungen nur dadurch gelingen kann, Daß dieſe ſelbſt in irgend 
einer Weife die heilenden Thätigfeiten des Körpers zu ihrer eignen 
Aufhebung in Bewegung feßt, fo wird aud) die Befriedigung jedes 
Bedürfnifies Davon abhängen müffen, daß der änderungsbebürftige 
Zuftand felbft die zu feiner Umgeftaltung nöthigen Rücdwirkungen 
anregt. Diefer allgemeinen Bedingung Tann auf mehrfache Weife 
genügt werden. Der einmal angeorbnete Bau der einzelnen 
Theile felbft Tann, wie dies in jedem Beifpiel der Elafticität zu 
geſchehen pflegt, ein Beſtreben zur Rückkehr in die früheren Zu- 
ftände entwideln, das innerhalb gewifler Grenzen menigftens 
in demfelben Maße wählt, wie die gewaltſame Ablenkung von 


138 


ihnen. Hier wird die Störung auf das unmittelbarfte durch Die 
eignen Kräfte der Theilchen, deren Verhältniffe fie verſchoben 
hatte, befeitigt, fei e8, daß mit der wachfenden Störung ftetig auch 
die heilende Rückwirkung zunahm, ſei es, daß die erjte nur nad) 
der Erreichung einer beftimmten Höhe die inneren Verhältniſſe 
ber betroffenen Theile zu einer nun plöglih herbortretenden 
Reaction nöthigte. Beftände der Yebendige Körper aus Theilen, 
deren jeder nur für feine eigne Erhaltung zu forgen hätte, fo 
würden wir dieſe einfachfte Form ber Ausgleihung häufiger an= 
gewandt, ober vielmehr die Theile jo gebaut finden, daß ihre An⸗ 
wendung überall möglich wäre. Wber e8 liegt in den Zwecken 
des Lebens, Störungen und Bedürfniſſe des einen Theild als An= 
regungen zu Leiftungen anderer zu verwerthen und die Erſchüt— 
terungen bes einen nicht auf dem Fürzeften, fondern auf dem Wege 
fih ausgleichen zu laſſen, auf welchem ihnen die nöthigen und 
nüglihen Nebenwirkungen für den Vortheil des Ganzen abge- 
wonnen werden Finnen. Im großer Ausdehnung fehen wir baher 
eine zweite Form der Ausgleihung in Anwendung gezogen; Die 
Störung eined Theile verbreitet ihre Folgen über einen größeren 
Abichnitt des Organismus, und nicht zufrieden, die eignen Wider- 
ſtandskräfte der unmittelbar getroffenen Stelle zu weden, vegt 
fie vielmehr weit entlegene Theile duch ihren fortgepflanzten 
Anftoß zu einer größeren und mannigfaltigeren Rücdwirkung an. 
Ausgehend von Beftandtheilen, die dieſen Anftoß in regelmäßiger 
gegenfeitiger Verbindung und durch mancherlei Beziehungen ver- 
knüpft empfingen, wird auch dieſe Rückwirkung weit reicher und 
bielgeftaltiger ſein können, als die einfache Widerſtandskraft der 
urſprünglich geftörten Theile fie geleiftet hätte: fie wird nicht nur 
bieje einzelne Erjhütterung befeitigen, fondern zugleich nach ver— 
ſchiedenen Richtungen hin aus ihr nügliche Antriebe fir den wei— 
teren Berlauf der Tebendigen Leiftungen entwideln. So wie das 
tunftreihe Getriebe einer Mafchine den einfachen, faſt formlofen 
Anftoß, den es erhielt, in mannigfache fein aufeinander bezogene 
Bewegungen verwandelt ber Außenwelt wiedergibt, fo treten Die 











139 


nicht minder kunſtreich geordneten Zufammenbänge Tebendiger Theile 
zwiſchen Die einzelne Erfchlitterung und das Ganze des Organis- 
mus und befriedigen die beſchränkten Bedürfniſſe mit zweckmäßiger 
Rüdficht auf das Wohl des letztern. In dem Nervenfyften werden 
wir dieſe Beranftaltung erfennen, durch welche die Zuftände räum- 
lich getrennter Theilchen zu einer Wechſelwirkung verbunden wer⸗ 
den, die ihre Lage und ihr Bau ihnen an ſich nicht möglich machen 
würde, und durch welche zugleich die zerftreute und fragmentarifche 
Befriedigung der einzelnen Bebürfniffe in die zufammenhängende 
Führung eines allgemeinen Haushaltes verwandelt wird. Nennen 
wir biefe neue Form der Ausgleihung eine organiiche im Gegen= 
faß zu jener einfacheren phufifchen, jo meinen wir damit nicht 
eine Berjchiebenheit der wirkenden Kräfte, ſondern jenen Unter: 
ſchied ihrer Verwendung zu bezeichnen, Durch den unfere Auffaffung 
überall das planmäßig geordnete Leben von den wereinzelten oder 
zufällig zufammengerathenen Stoffen der unorganifchen Welt unter: 
ſchied. Aber auch diefe Form der Ausgleihung und Erhaltung 
ift nicht Die letzte und höchfte; über die Grenzen unferer gegen- 
wärtigen Betrachtung hinaus, aber doch einer Erwähnung hier be- 
dürftig, erhebt fich die Mitwirkung der Seele. Nicht immer ver- 
mag der geftörte Theil aus fich felbft die Heilung zu finden; er 
findet fie oft nicht einmal in den Hilfsmitteln des Nervenſyſtems, 
an das er ſich fuchend wendet; aber feine Erichlitterung wandelt 
ih nun in Gefühl und Empfindung der Seele um, und das un— 
zuveichende Körperliche Gebiet verlaffend bewegt fi) die Erregung 
auf geiftigem Boden fort, um alle Hilfsquellen der Einfiht auf- 
zubieten, zulegt mit dem gewonnenen helfenden Entichluffe wieder 
auf Die Organe des Leibes zurüdzumwirken und ihnen Wege ber Be- 
friebigung zu zeigen, die fie felbft nicht wirrden aufgefunden haben. 

Späteren Gelegenheiten überlafjen wir diefe Ergänzungen des 
körperlichen Lebens durch die Hilfe des geiftigen; von jener ein= 
fachen phyſiſchen und der organifch vorbereiteten Ausgleihung ver⸗ 
ſuchen wir in wenigen Beifpielen ein hinlängliches Bild zu geben. 


140 


So weit e8 möglich ıft, bat die Natur unmittelbare Com⸗ 
penfation der Störungen und die Befriedigung der Beblirfniffe 
durch die eignen Kräfte der Theile dem Aufgebot eigner organi⸗ 
her Mittel vorgezogen; fie wendet auf dieſe Weife häufig Eigen- 
ſchaften an, bie den Geweben entweder für immer oder doch un= 
geftört für Tängere Zeit zulommen, und fpart an jenen andern 
Thätigfeiten, deren Ausübung nicht ohne Verbrauch ihrer Träger 
möglich fcheint. Schon die Musfelbewegung ſehen wir in vielen 
Fällen durch phyſiſche Elafticität der Gewebe erſetzt. Das Herz 
vollzieht feine Berengerung allerdings durch Lebendige Verkürzung 
feiner Mustelfafern, aber es erweitert ſich nicht durch eine 
entgegengejette Lebensthätigleit, ſondern theils Durch die ge= 
ringe Elafticität feines Gewebes, theild durch Nachgiebigkeit vor 
dem andringenden vendfen Blutſtrom. Jeder Muskel überhaupt 
erreicht nad dem Momente der Zufammenziehung feine borige 
Länge von jelbft, ohne einer befonderen Ausdehnungskraft zu 
bebürfen. Die Erweiterung der Lungen wird durch Tebendige 
Thätigkeit der Athemmusteln bewirkt, die Ausatbmung durch die 
freiwillige elaftifhe Zufammenziehung des ausgedehnten Gewebes. 
Biele Arbeit ift durch günftige VBerhältniffe des Baues den Glie- 
bern bei ihren gemöhnlichften Berrichtungen abgenommen. Eine 
Pendelſchwingung, ohne lebendige Kraftäußerung durch die Schwere 
eingeleitet, führt das um Schritt zurückſtehende Bein an dem vor= 
gejeten vorüber bis zu dem Punkte des neuen Auftretend; ber 
Körper felbft erlangt durch den Gang eine Geſchwindigkeit nach 
vorwärts, die nur noch feine Stüßung und die fefte Stredung bes 
weiterfortichreitenden Beines der Tebendigen Muskelanſtrengung 
überläßt. Nicht durch beſondere Thätigleiten, fondern durch den 
Drud der Luft wird dabei der Kopf des Oberſchenkels beweglich 
in feiner tiefen Gelenkgrube feftgehalten, und ähnliche Beifpiele 
ber Vermeidung lebendigen Kraftaufwandes würde eine genauere 
Betrachtung der Bewegungen in Menge darbieten. Auch der 
Kreislauf des Blutes erhält in weiten Grenzen feine Regelmäßig- 
feit felbft und beftimmt zugleich die Größe der Abſcheidungen, 


141 


die aus ihm erfolgen follen. Bände das arterielle Gefäßſyſtem 
augenblicklich fi mit Blut überfüllt, fo würde die dadurch an⸗ 
wachſende Spannung feiner Wände mit größerer Kraft und Ge- 
ſchwindigkeit dieſes Uebermaß zu befeitigen fuchen, und der geringere 
Zufluß, den bis dahin das verhältnißmäßig weniger gefüllte Benen- 
gebiet dem Herzen zuführte, wiirde von felbit dieſem verbieten, 
jene Weberfüllung der Arterien zu unterhalten. 

Die verhältnigmäßig große Beftändigfeit, mit welcher unter 
den verſchiedenſten Einflüffen der Nahrung und der Lebensweife 
das Blut feine Zuſammenſetzung erhält ober wiederherftellt, macht 
die Bermuthung wahrfcheinlich, daß feine einzelnen Beftandtheile 
in den Mengenverbältnifien, in welchen fie feine normale Miſchung 
bilden, ähnlich den Elementen einer feiten chemiſchen Verbindung, 
inniger an einander haften, als in andern gegenfeitigen Propor- 
tionen, die ein vorübergehender Zufall herbeigeführt hätte. Dies 
würde nicht hindern, daß nicht dennoch das Blut noch immer neue 
Stoffe durch Anziehung aus den ‚Geweben auffaugte, fie in fich 
auflöfte und an feinem Kreislauf Theil nehmen ließe; dennoch 
wilrben dieſe überſchüſſigen Beimengungen außerhalb feines gejet- 
mäßigen Verbandes fteben und den Kräften, melche Umwandlung 
und Ausſcheidung der Stoffe leiten, raſch genug verfallen, um 
nach Ableiftung ihrer Dienfte das Blut bald wieder auf feine 
normale Zufammenfegung zurüdfehren zu laſſen. Das würde 
derjelbe Vorgang fein, der etwa eintritt, wenn aus einer mäffe- 
tigen Löſung ein waſſerhaltiger Kryſtall fich abſcheidet; das 
Waſſer, das zu feiner hemifchen Zuſammenſetzung gehört, wider⸗ 
fteht der Verdunſtung, die das übrige entfernt, dennoch bleibt 
der Kryſtall in Waffer löslich; obgleich alſo feine chemiſche Formel 
nur eime beftimmte Menge defjelben einfchließt, ift darum eine 
weitere Anziehung größerer Mengen ihm nicht unmöglich geworben, 
nur Daß er dieſe nicht eben fo kräftig wie jene gegen ungünſtige 
Umftände feitzubalten vermag. Unter einer ſolchen Vorausfegung 
würde es begreiflih fein, wie das Blut durch fernen eben vor- 
handenen Zuftend die Größe der Auffdugung und der Abjon- 


142 


derung felbft zu leiten vermag. Kommt es in einem Grabe ber 
Concentration, in weldem es nur die nothwendigen Beſtand⸗ 
theile feiner normalen Zufammenfegung enthält, mit dem dünn⸗ 
flüffigen verdauten Speifefaft oder der überall ergoffenen plaftifchen 
Lymphe in Berührung, jo wird e8 reihlihe Mengen von beiden 
in fih aufnehmen Können; aber diefe Auffaugung wird ſich min⸗ 
bern, je mehr das Blut bereits über jenen nothmendigen Bedarf 
an Stoffen in ſich angezogen bat. Die Ueberfüllung defjelben 
wird alfo durch eine erreichte Sättigung verhindert, melde die 
auffaugenden over anziehenden Kräfte erihöpft und von jelbft Den 
Wiedererfag in ein gewiſſes Berhältnif zu dem vorhandenen Be- 
dürfniß bringt. | 

Den Abfonderungsorganen wird nun das Blut nad den 
Beränderungen, die es während feines Laufes erlitten haben Tann, 
ftet8 unter einem gewifien Drude feiner Wandungen zugeführt. 
Kaum wird diefer Drud allein zur Hervorbringung irgend einer, 
gewiß nicht zu der einer jeden Abjonderung hinreichen; die Dr- 
gane, denen diefe Berrichtung übertragen ift, Finnen wir nicht als 
einfache Filtra anfeben, durch deren Poren der Drud des Blutes 
Flüſſigkeiten nur hindurchpreßt; ihre Dienfte find, wie wir früher 
faben, oft mannigfaltiger und verwidelter. Indeſſen werden doch 
wenigftens das Wafler und die in ihm gelöften Salze bei ber 
Abfonderung Feine weitere Verarbeitung erfahren; auf ihre Ab: 
fheidung können wir unjere allgemeinen Betrachtungen anwenden. 
Findet Das Blut fich jo verbüinnt, daß fein Waflergehalt denjenigen 
überfteigt, den feine normale Formel einjchloß, fo werden bie ab- 
fondernden Kräfte des Organs, worin fie nun auch beftehen mögen, 
dem Durchtritt dieſes Weberichuffes unter dem Drude des Blu- 
te8 günftiger fein, als der ferneren Ausſcheidung auch jenes 
Waflerantheild, den die Zuſammenſetzung des Blutes fordert. 
Denn der letztere wird nicht frei, jondern gebunden an das Ei- 
weiß, das in ihm gelöft ift, gebunden auch an die übrigen Beftand- 
theile des Blutes den abfondernden Kräften dargeboten und Tann 
auf dieſe zurückhaltenden Beziehungen geftütt ihnen widerſtehen, 


143 


nicht minder die Salze, die in beſtimmten Mengen der Zufam- 
menjegung des Blutes gehören, 

Aber auch auf jene organiihen Beſtandtheile, bie in der 
ernährenden fo wie in der ausführenden Abfonderung aus bem 
Blute auötreten, zuweilen nicht ohne einen chemiſch umgeftaltenden 
Einfluß der abſcheidenden Organe erfahren zu haben, können wir 
im Allgemeinen diefelben Gedanken anwenden. Ein völlig nor- 
mal gebilveter und eben deshalb eines Erjates ganz unbebikf- 
tiger Gewebtheil wird feine befondere Anziehung gegen das an 
ihm vorüberkreifende Ernährungsmaterial ausüben; ein in feiner 
Zufammenfetung veränderter, eben dadurch dieſem Material um- 
ähnlicher geworden, wird e8 lebhafter anziehen können und fo für 
den Austritt deſſelben aus den Gefäßen eine neue begünftigenbe 
Bedingung hinzufügen. Aud hier würde Daher Das Bebürfnif 
unmittelbar die zweckmäßige Größe des Erfates herbeiführen, 
Bietet ein ftoffreichere Blut den Abfonderungsorganen größere 
Mengen deſſen, was fie durch ihre irgendwie befchaffene Thätig- 
feit zu verarbeiten pflegen, fo kann ſchon die Gegenwart Diejes 
veichlicheren Materials binreichen, eine Steigerung biefer Thätig- 
feit zu veranlaffen, wenigftens da, wo diefe legte nicht auf in⸗ 
neren Veränderungen des Organs beruht, welche felbit einen nicht 
überfchreitbaren Höhepunkt der Intenfität und Geſchwindigkeit be= 
figen. Deutlicher ift, daß allemal die abfondernde Thätigkeit einen 
wachjenden Wiberftand finden wird, wenn ihr Material ihr nur 
noch im der Menge zugeführt wird, die zu der feften Zuſammen⸗ 
jegung des Blutes gehört und von diefem zurüdgehalten wird, 
Iſt ferner durch irgend eine Hemmung die abfondernde Thätig- 
feit Des einen Organs gehindert, fo werben die hier zurüdgehalte- 
nen Maflen an allen andern Orten den Ausgang fuchen, der 
unter dieſen veränderten Zuftänden für fle noch möglich oder unter 
den möglichen dev Teichteft benugbare if. Die Unterbrüdung der 
Hautausdünſtung wirft die Waffermaffe, die von der Oberfläche 
verbunften follte, in das Innere zurüd, und da fein Organ für 
fie undurchgänglich ift, jo jehen wir der Unthätigleit der Haut 


144 


vermehrte wäfjerige Abſcheidnngen von allen andern Abſonderungs⸗ 
flächen folgen, von der zunächft und am meiften, die unter ber 
Summe aller vorhandenen Umftände die geringften Austritts⸗ 
widerftände barbietet. Es ift eben fo bekannt, daß übermäßige 
Hautverbumftung die übrigen Secretionen an Menge berabjegt 
und ihre Concentration fleigert, ein Erfolg, der ohne befondern 
Aufwand ausgleihender Thätigfeit aus dem Mangel beglinftigen- 
der Löſungsmittel erflärbar iſt. Nicht fir alle Ausſcheidungsſtoffe 
findet jedoch eine foldhe Mehrheit der Austrittäwege ftatt; Die 
Unterbrüdung einer beftummten Abfonderung Tann entweder die 
Bildung des zu entfernenden Stoffes ganz verhindern, indem 
biefe vielleicht nur durch die eigenthümliche Thätigleit des jet 
ruhenden Organs möglich war, oder fie ann, wo jener im Blute 
bereit8 fertig erzeugt vorkommt, feinen Austritt in der Geftalt 
verhindern, bie er hier hat, und in welcher er nur durch daſſelbe 
jetzt geichlofjene Organ einen freien Durchtrittsweg gefunden hätte. 
In Diefem Falle werden ftellvertretende Vorgänge ſich entwideln ; 
entweder Das Miaterial, aus weldyem der auszuſcheidende Stoff 
gebildet werben follte, oder der fchon gebildete wird andere ober 
nod weitere Ummandlungen und Zerfällungen erleiden müſſen, 
um zulegt Formen anzunehmen, in denen feine Ausfonderung 
dur Die übrigen noch offenen Organe möglih wird. Da die 
Stoffe, die in ihrer Rückbildung begriffen find, im Blute ber 
immer fortgefegten Einwirkung des Sauerftoffs unterliegen, bie 
ihren Zerfall in einfachere und löslichere Verbindungen zu beglin- 
figen fcheint, fo ift e8 denkbar, daß auch dieſe Veränderung in 
der Richtung der abfondernden Thätigleit ſich von ſelbſt ohne den 
Eingriff einer befonderen vegulirenden Kraft geftalte. Die üblen 
Folgen jedoch, welche die Zurückhaltung wichtigerer Abſonderungen 
für Die Gefundheit des Ganzen zu haben pflegt, zeigt uns wohl, 
baß Diefe Erfegung einer Thätigkeit durch die andere mit Schwie- 
rigfeiten verbunden ift und kaum in größerer Ausdehnung fich 
als ein Ausgleichungsmittel ber Störungen bewähren möchte. 


145 


An den angeführten Beifpielen fuchten wir die Möglichkeit 
einer völlig phyſiſchen Compenſation der Störungen‘ anſchaulich 
zu machen; aber wir Können keineswegs verbürgen, daß nicht 
ion in ihnen ein Anfang organifcher Compenfation dur das 
Eingreifen eines ausdrüdlich zu diefem Zweck beftimmen Syſtemes 
von Organen oder Thätigleiten enthalten if. So Vieles ift uns 
in dem tieferen „Zufammenhange der Lebensericheinungen noch un= 
Har, daR uns oft eine Leiftung einfacher jcheint als fie in Wahr- 
heit ift, und daß wir häufig zu der Erflärung befien, was wir 
bon ihr willen, mit wenigen Mitteln ausreichen können, während 
wir aus dem fihtbaren Aufwand größerer, welchen wir von der 
Natur wirklich gemacht finden, auf uns unbelannte Schwierig- 
feiten der Sache zurüdichließen müſſen. Ich babe oben den all- 
gemeinen Grund ausgedrüdt, welcher die Unzulänglichleit der 
blos phyfiſchen Eompenfationen enthält. Sie alle würden zulegt 
immer Herftellung des vorigen Gleichgewichts bezwecken; aber es 
liegt der Natur nicht immer an diefem Gleichgewicht; fie will e8 
felbft zumeilen für die Zwecke der Entwidlung verändert haben. 
In diefer Abfiht muß fie auch ſolche Theile zu Tebendiger Wech⸗ 
ſelwirkung verbinden, welche unmittelbar ihre Zuftände nicht auf 
einander würden übertragen können. 

Das Nervenfyftem ift zur Erfüllung diefer Aufgabe beftimmt. 
Wir haben früher ſchon der motorifhen Nervenfäden gedacht, die 
von Gehirn und Rückenmark entipringen, die dort aus dem gei= 
fligen Leben entftandenen Bewegungsantriebe den Musfeln des 
Körpers zuführen und deren bald augenblidliche bald andauernde 
Zufammenziehungen veranlaffen. In ihrem äußern Anjeben diejen 
Faſern völlig ähnlih und nur durch die Erfolge ihres Wirkens 
abweichend, verbinden eben fo die jenfiblen Faſern alle empfin- 
dungsfähigen Punkte des Körpers, von denen fie entipringen, 
mit jenen Gentralorganen, bis zu denen alle Eindrücke fort- 
geleitet jein müfjen, um für das Bewußtfein vorhanden zu fein. 
Auf diefen beiden Fafergattungen und auf den Maſſen des Ge- 


bins und Rüdenmarks, in welden fie endigen en entjpringen, 
Zobe I. 4. Aufl. 


146 


beruhen alle die Dienfte, welche das Körperliche Leben den Zwecken 
des geiftigen zu leiften bat. Ihre genauere Darftellung dürfen 
wir einer fpäteren Gelegenheit auffparen. Neben diefen Organen 
aber, die wir unter dem Namen bes Gerebrofpinalfuftens be- 
greifen, ift die Erhaltung der inneren Orbnung ber Teiblichen 
Berrihtungen zum größten Theile dem anderen Syfteme ber ſym⸗ 
pathiſchen Nerven übertragen, das von ben vielen Inäuelfürmigen 
oder geflechtartigen Zufammenhäufungen, den Ganglien, in welche 
feine viel feineren Fafern fi) verfchlingen, den Namen des Gang- 
lienſyſtems erhalten bat. 

Ye weniger ein Theil des Körpers zu willkürlicher Bewe⸗ 
gung beftimmt ift, je geringer feine Fähigkeit, dem Bewußtſein 
Eindrüde feiner Zuftände zuzuführen, je lebhafter fein Stoffwechſel 
oder die bildende Thätigfeit in ihm: um jo häufiger finden ſich 
in den Nervenblindeln, die er erhält, die feinen Faſern des ſym⸗ 
pathiſchen Syſtems neben den dickeren des cerebrofpinalen. Beob- 
ahtungen und Berfuche vereinigen fih dahin, die Folgerung, 
die ſich aus dieſem Berhalten von felbft ergibt, zu unterftügen, 
daß dieſes zweite Nervenſyſtem die Geſammtheit der vegetativen 
Berrichtungen, die chemifchen Umwandlungen der Stoffe, ihre 
Ernährung und Wiebererzeugung, die Geftaltbildung der fleiniten 
Theile, endlich Die zwedmäßige Uebereinftimmung zwiſchen den 
Größen und Formen der einzelnen Wirkungen zu überwachen hat. 
Diefe gegenfeitige Anbequemung ber Leiftungen verfchievener Theile 
jeßt voraus, daß die Eindrüde, welche die einzelnen Fafern von 
den Zuftänden des Ortes aufnehmen, in dem fie verlaufen, in gegen- 
feitige Beziehung und Vergleihung gebracht werben, und daß es 
Mittelpunfte gibt, in welchen ihre verſchiedenen Erregungen zufam- 
menftoßen, um durch ihre Wechſelwirkung den Antrieb zu einer 
beftimmten der vorhandenen Lage angemeflenen Rückwirkung zu 
erzeugen. Es iſt nicht zweifelhaft, daß die Ganglien, die in 
großer Anzahl in den verfchiebenen vegetativen Organen gefunden 
werben, die Vermittlungspunkte dieſes gegenfeitigen Einflufles 
find; aber noch nicht Hinlänglich aufgeklärt find wir über Die Be- 








147 


dingungen, unter denen bier eine fonft nicht vorkommende Weber- 
tragung der Zuftände einer Yafer auf eine andere erfolgt. Denn 
ein unmittelbares Zuſammenfließen mehrerer Faſern zur einem 
gemeinfamen Stamme ift auch bier nicht beobachtet; «aber zmifchen 
den Fafern finden ſich eigenthümliche Elemente, vundliche Tern- 
baltige Bläschen, die fogenannten Ganglienzellen, eingeftreut, von 
denen man nicht nur einzelne Yafern entfpringen flieht, fondern 
deren mehrere zumeilen durch fajerförmige Fortſätze, die fie nach 
verſchiedenen Seiten ausſchicken, unter einander in ununterbrochener 
Berbindung ftehen. Der Zukunft bleibt e8 vorbehalten, über Die - 
Bedeutung dieſer Theile, denen ähnliche auch in Gehirn und 
Rückenmark zahlreich vorkommen, völlig zu entfcheiden, und den 
Nuten zu beftinmen, den fie für Die gegenfeitige Wechſelwirkung 
der einzelnen Faſern haben. Denken wir uns eine foldhe auf 
irgend eine Weile hergeftellt, fo wird jedes Ganglion zuerft ein 
Bermittlungsglied fein, durch welches dem von einem Körpertheil 
berfommenden Eindrude überhaupt ein Einfluß auf Zuftände 
eines andern möglich gemacht wird, mit bem jener nicht in un- 
mittelbarer Berührung fteht; aber e8 wird fi zugleich auch als 
ein Gentralorgan verhalten, indem es diefem Eindrude nicht ſofort 
die Größe und Form feines Weiterwirkens geftattet, bie feiner 
Art und Stärke an ſich entiprechen würden, ſondern feinen Er— 
folg nach den gleichzeitigen Bedürfniſſen der übrigen ‘Theile feft- 
ftellt, mit denen es ebenfall$ verbunden ift. Nichts hindert ans 
zunehmen, daß die Heinen Ganglien, welche zunächſt Die inneren 
Berhältniffe eines beſchränkten, zufammengehörigen Gebietes von 
Theilen beberrfhen, unter einander wiederum durch Berbin- 
dungsfäden verknüpft, oder mit größeren Ganglten, als Central- 
organen höherer Ordnung, in Beziehung gejett, Die Thätigfeiten 
umfaffender Organe und Organfnfteme in gegenfeitige Weberein- 
flimmung bringen, bis endlih ihr zufammenhängendes Geflecht 
alle vegetativen VBerrichtungen des Körpers zu der Einheit plan- 
mäßigen Ganges, allfeitiger Unterftügung und ausgleichenver 
Wechſelwirkung verkettet. Im der That finden biefe Verbindungen 


. 10* 


148 


dev verſchiedenen Gentralorgeme ftatt, und vom Halfe durch 
Bruft- und Bauchhöhle Läuft zu beiden Seiten des Rückgrates 
die Kette der Hauptganglien herab, die unter einander durch Ner- 
venfäden verbunden, andere Fäden zur Bildung ber zahlreichen 
Geflehte ausfenden, welde den einzelnen Abtheilungen der Ein- 
gemweide zugeorbnet find. 

Man hat in älterer Zeit die Mitleivenihaft, in welche Die 
Störungen des einen Organes fo häufig andere auch räumlich ent⸗ 
fernte hineinziehen, von der Wirkſamleit dieſes Syftemes abhängig 
gemacht, und nicht mit Unrecht trägt es von Diefen Sympatbien 
feinen Namen des ſympathiſchen Syftems, obgleich viele von ihnen 
nach den Ergebnifjen der neueren Unterfuhungen ohne feine Theil- 
nahme aus der Wechſelwirkung ber cerebroipinalen Nerven ent- 
ipringen. In welcher Form der Thätigleit e8 num feine Leiftungen 
ausführt, darüber find wir zum Theil duch Beobachtungen und 
Verſuche unterrichtet, ohne jedod den Umfang feiner Wirkungen 
erichöpfend bejtimmen zu können. Sicher geftellt ift zunächſt fein 
Einfluß auf die Bewegungen der Eingeweide, deren musculöfe 
Häute fih nad) Reizung der ihnen vorftehenden Ganglien zufam- 
menziehen. Nicht, wie die Muskeln der willfürlichen Bewegung, 
plöglich, fondern einige Zeit nach der Anwendung des Reizes, ver- 
engert fi) der Darmlanal durch die Verkürzung feiner ihn kreis⸗ 
förmig umgebenden bünnen Mustelihicht, und diefe Zuſammen⸗ 
ſchnürung, länger Dauernd, als der angewandte Reiz, jchreitet all⸗ 
mählich wellenförmig fort, indem, ohne neuen äußern Anlaß nad 
der Wiedererweiterung der einen Stelle die ihr zunächſt benachbarte 
fi) verengt. Man beobachtet ähnliche Erſcheinungen einer lang- 
fam erfolgenden Zuſammenziehung an den größeren Gefähftäm- 
men, in deren nicht blos aus elaftiichen jondern auch aus lebendig 
contractilen musfelartigen Faſern beftehbenden Wandungen fyın= 
patbifche Fäden verlaufen. Die periodiihen Schläge des Herzens 
hängen von einem Syſtem mikroſkopiſch Kleiner Ganglien ab, das 
in der eignen Muskelſubſtanz deffelben gelagert ifl. Die Bulfa- 
tionen des Herzens dauern bei Faltblütigen Thieren auch nach feiner 


nn) 





149 


Ausfchneidung aus dem Körper Tängere Zeit regelmäßig fort; 
felbft Die einzelnen Theile des zerftlidten Organs ziehen fich noch 
zuſammen, Doch nur die, welche noch jene Ganglien in ſich enthalten. 
Diefe Thatfachen beweifen, daß fowohl die Anregung zur Bewegung 
überhaupt, al8 der Grumd für die rhythmiſche Abwechſelung von 
Anfpannung und Erihlaffung in diefen nervöſen Gentralorganen 
liegt, aber wir wiffen weder, woraus fie felbft ihre anregende 
Kraft ziehen, noch in welcher beftimmten Weife die Pertodicität 
ihrer Tchätigkeit bewirkt wird. 

Zur Erregung von Empfindungen feinen die ſympathiſchen 
Nerven nicht befähigt. Bon den Zuſtänden der Theile, Die von 
ihnen hauptſächlich beherricht werben, von dem Stande der Ver⸗ 
danung, der Alfimilation, der Abfonderung, von der Spannung 
ber Gefäße, haben wir im gewöhnlichen Lauf der Dinge einen 
Eindruck; wir erfahren von ihnen erft Dann, wenn ihr Einfluß 
fih meiter auf andere Theile erftredt, deren fenfible Nerven uns 
diefe mittelbaren Erregungen zuführen, oder dann, wenn fehr 
bedeutende Veränderungen und regelwidrige Zuftände eintreten. 
Es iſt ungewiß, ob im letzteren Falle Die ſympathiſche Faſer felbit 
die Leitung der Eindrüde zum Bewußtfein übernimmt, zu welcher 
fie fonft unfähig ift, oder ob die cerebrofpinalen Fäden, die ob⸗ 
gleich in geringer Anzahl Doch nie ganz zu ihrer Begleitung feblen, 
bier wie fonft dieſe Leiftung vollziehen. Vielleicht auch mangelt 
überhaupt der ſympathiſchen Faſer die Fähigkeit zur Erzeugung 
bon Empfindungen nicht ganz, fondern nur den erzeugten Die 
nöthige Feinheit und Schärfe, um aus dem Gemeingefühl unferes 
Befindens ſich einzeln deutlich auszufondern. Gemiß dagegen 
vollziehen dieſe Faſern den Ganglien gegenüber zum Theil dieſelbe 
Aufgabe, welche die fenfiblen Fäden des Cerebrofpinaliyftens dem 
Gehirn gegenüber erfüllen; fie dienen als zuleitende Boten, welche 
bie Zuftände der Theile, von denen fie kommen, dem Ganglion 
als ihrem Gentralorgan zur Beſchlußfaſſung über die nöthige 
Rückwirkung kundgeben. 

Der bedeutende Einfluß, den das ſympathiſche Syſtem un⸗ 


150 


fteeitig auf die Mifchungsperänderungen der Körperfäfte ausübt, 
ift in der Art feines Zuſtandekommens am wenigften bekannt, 
Doch laſſen fich Teicht verichiedene Möglichleiten denken, zwiſchen 
denen bie Zukunft vielleicht entfcheiden wird. Die Zuſammen⸗ 
ziehungen, welche die Thätigleit der ſympathiſchen Faſern in ben 
Muskeln anregt, laſſen vermuthen, daß auch andere Gewebe unter 
berjelben Einwirkung Veränderungen in der Lage ihrer kleinſten 
Theilden erfahren Können. Da die chemiſche Zuſammenſetzung 
ber Säfte ohne Zweifel in hohem Grade von der Natur ber 
Wendungen abhängt, durch welche hindurch fie aufeinander wir: 
fen, auötreten oder aufgejogen werden, jo würde eine Wende: 
rung in dem phuflihen Zuftande der Membranen leicht die viel- 
fahen Abweichungen der Abfonderungen erklären, die man unter 
dem Einfluß heftiger Nervenreizungen eintreten fieht, und Die 
weniger auffallend und mit minder fchroffen Abwechſelungen ge- 
wiß regelmäßig während des ganzen Lebens fortgehen. Eine 
Membran, durch melde hindurch zwei Flüffigfeiten auf einander 
einzumwirten ftreben, wird in verjchiedenen Graben ihrer Span- 
nung und bei verfchtedener Lagerung ihrer Fleinften Theile auch 
die wirkungsbegierigen Stoffe nicht immer in gleicher Weife zu 
einander gelangen lafjen; fie wird jett Dem einen den Durch⸗ 
gang verweigern und ihn für den andern erleichtern Fönnen. In⸗ 
dem fie jo Das Zuſtandekommen eines einzigen ſonſt gewohnten 
hemifchen Proceffe8 hindert, Tann fie leicht dem Geſammtergeb⸗ 
niß ihrer Thätigfeit ganz neue und weit abmeichende Formen 
geben. Doch aud die andere Möglichkeit bleibt übrig, daß bie 
Nervenfafer im Augenblide ihrer Thätigfeit unmittelbar eine 
chemiſche Wechſelwirkung veranlaßt, indem fie gleich dem eleftri= 
Ihen Strome, der die ſchon vorhandenen aber noch zögernden 
Beftandtheile einer Fünftigen Verbindung diefe plöglich vollziehen 
heißt, oder andere Berknüpfungen eben fo plöglich trennt, irgend 
eine Bedingung in das Spiel ber Stoffe einführt, Die der die 
miſchen Verwandtſchaft zwifchen ihnen neue Richtungen gibt. Am 
wenigften würde uns eine unmittelbare geſtaltbildende Wirkung 


151 


der Nerven Mar fein, und wir dürfen annehmen, daß ihre Lei- 
ftung fih in ber Heritellung der chemiſchen Natur der Stoffe er: 
ſchöpfe, die Dann durch ihre eignen Kräfte und durch den vereinigten 
Eindrud der ſchon organifirten Umgebung geleitet, die ihnen zus 
gehörigen Formen annehmen. 

Durch Berengerung der Gefäße würde die Kraft der Nerven 
den Drud des Blutes auf feine Wände vermehren und dadurch 
allen Thätigkeiten der Auffaugung und Abfonderung veränderte 
Bedingungen gewähren, durch Zuſammenziehung einzelner Ge- 
webtheile würde fie Zufluß und Abflug des Blutes für dieſe 
Theile eigenthümlich beftimmen und Anbäufungen wirkſamer 
Maſſen mit geringerer Geſchwindigkeit ihres Vorüberfließens da 
bewirken können, wo lebhaftere Bildung und raſcherer Umſatz 
ſie nöthig machen; durch Beſchleunigung der Muskelbewegungen, 
welche im Großen die Ortsveränderung der Stoffe, Die Ausfüh- 
rung der abgefonderten, die Aufnahme der neu gewonnenen ein= 
leiten und durchführen, endlich durch die veränderte Spannung 
ber Membranen würde fie die Größe des Stoffwechſels im Gan- 
zen und die Schwankungen feiner Lebhaftigkeit in einzelnen Thei⸗ 
Ien beftimmen können. Und zu allen biefen Weußerungen feiner 
Thätigfeit würde das Nervenſyſtem theils durch den Eindrud der 
Störungen beftimmt, melde auszugleichen find, theils würden 
die normalen Borgänge im Körper beftändig ibm Erregungen 
zuführen, die fih anſammelnd, in einzelnen Augenbliden, in 
denen fie eine beftimmte Stärke erreicht haben, eine zweckmäßige 
Wirkung auslöfen. So würden bier ungleihförmige Schwan= 
kungen, dort regelmäßig und rhythmiſch wiederkehrende Perioden 
ber Thätigfeit und Ruhe eintreten, Es ift unnöthig, noch weiter 
dieſe Ereigniffe zu jchildern, deren äußere Formen Jeder, deren 
beftimmte Bedingungen Niemand kennt; fügen wir ihrer Erwäh- 
nung vielmehr die Bemerkung binzu, daß mit dieſem Neidj- 
thume von Berrihtungen dennoch das Syſtem der ſympathiſchen 
Nerven nicht ganz abgejchloffen auf feinen eignen Hilfsquellen 
ruht, fondern daß es mit dem Gerebrofpinaliyftem dur zahl- 








152 


reihe Täden zufammenhängt. Lange Zeit haben dieſe als die 
eigentlichen Wurzeln der Gangliennerven gegolten, deren Ge: 
fammtheit man nit als ein unabhängiges Syſtem, ſondern 
als die unjelbftändige Ausbreitung und Verflechtung vieler Ge- 
hirn⸗ und Rüdenmarknerven betrachtete. Vielfache Gründe haben 
gegenwärtig der Borftelung eines felbftändigen Gangliennerven- 
ſyſtems das Webergewicht gegeben; doch dürften jene zahlreichen 
Verbindungen deſſelben mit Gehirn und Rückenmark nicht allein 
den Zweck haben, auch in Diefen Organen den Wiedererfaß zu 
leiten, deſſen fie durch ihre Berrichtungen abgenugt bebürfen 
fönnten; fie ſcheinen wenigftend eben fo jehr umgekehrt dieſen 
Mittelpuntten des eigentlichen thierifchen Lebens einen mitbeftim- 
menden Einfluß auf den Berlauf der bildenden und erhaltenden 
Berrihtungen möglich zu machen. Nur die Pflanze erhält ihr 
Leben, fo lange fie es erhält, völlig durch die zufammenftim- 
mende Wirkung ihrer materiellen Beftandtbeile; der thierifche 
Organismus, obwohl in feiner Gliederung unendlich reihhaltiger, 
bildet dennoch in ſich felbft feinen abgefchlofjenen Kreislauf der 
Berrihtungen. Irgendwo und im irgend welder wenn auch 
noch fo untergeordneten Form fehen wir immer Clemente des 
geiftigen Lebens zwiſchen die Leiftungen der körperlichen Organe 
treten und Lüden ausfüllen, welde der Zuſammenhang der 
Lebensoorgänge zwiſchen feinen einzelnen Gliedern läßt. “Die 
Pflanze, in ihre Lebenselemente, Luft und Waſſer, eingetaucht, 
findet fi ungefuht in beftändiger Wechſelwirkung mit dem &r- 
fate, defien fie bedarf; das Thier bat feine Nahrung aufzu- 
ſuchen, und es vollzieht diefen Theil feines Lebenskreislaufes 
nicht ohne das Aufgebot mannigfaltiger Mittel der geiftigen 
Thätigfeit. Tilgten wir alle diefe Inſtinete aus, durch welche 
das Thier für feine empfundenen Zuftände Heilmittel ſucht, bie 
der Naturlauf ihm nicht alle von felbft entgegenbringt, fo 
würde fein Organismus nur zu geringer und kurzdauernder 
Selbfterhaltung fähig fein, und weit entfernt, jene fich felbft in 
Bewegung ſetzende Mafchine zu fein, für melde eine ungenaue 


153 


Analyfe der Thatfachen ihn jo häufig angefehen hat, ift er nichts 
als die eine Hälfte eines Ganzen, unfähig zu leben ohne die andere, 
die Außenwelt und bie Geele. 


Wie fehr hat iiberhaupt ber Verlauf unferer Betrachtung 
jene Borurtbeile umgeftaltet, die uns ber unmittelbare Anblid 
des Lebens erregt, jene Träume von Einheit Abgefchloffenheit 
und Beftändigfeit der lebendigen Geftalt! Raum wiſſen wir noch 
anzugeben, wo aud nur räumlich die Grenzen find, welche den 
Organismus abfcheiden von feiner Umgebung. Die Luft in un⸗ 
ferer Lunge, wann fängt fie an zu und zu gehören und wann 
hört fie auf, Beſtandtheil des Körpers zu fein? Iſt fie vom 
Blut abjorbirt num unfer geworden, und war es nit, als fie 
nod in den Lungenzellen fich befand ? Iſt diefer Speifefaft, nach⸗ 
dem er im die Chylusgefäße eingebrungen, fchon Theil unfers 
Körpers, oder ift nicht er und das Blut nur ein Stud in den 
Umfang des Leibes hineingezogener Außenwelt, oberflächlich durch 
die lebendigen Kräfte verändert, aber der Theilnahme am Leben 
doch nur noch entgegengehend? Und freifen nicht viele Stoffe, 
wie die Löslichen Salze der Erdrinde, durch unfern Körper, durch 
Blut und Organe hindurch, und bleiben ihm doch ftetS fremd ? 
In feinem Augenblide enthält er nur das, was zu feinem eigent- 
Iıhen Beftand gehört; ftetd treffen wir in ihm Stoffe an, die 
erft fein werben jollen, ſtets andere, Die fein gewefen find; Die 
Vorbereitung feiner Zukunft und die Trümmer der Vergangen- 
beit gejellen fich in ihm mit dem lebendigen Stamme der Ge- 
genwart und mit zufällig in ihn veriprengten Bruchftüden ber 
Außenwelt. 

Und eben jo wenig, wie im Raume, fließt fi im Laufe 
feiner zeitlihen Entwidlung der Körper zu firenger Einheit ab. 
Nicht aus eignen Mitteln ſich ergänzend wachſend und entfal- 
tend, ift er vielmehr überall auf die mithelfende Begünftigung 


154 


der äußern Welt angewiefen. Sein Leben gleicht einem Stru⸗ 
del, ben ein beſonders geftaltetes Hinderniß im Ylußbett eines 
Stromes erzeugt. Der allgemeine Naturlauf ift diefer Strom, 
der organifche Körper das Hinderniß, an dem er fi bricht, und 
deſſen eigenthilmliche Geftalt den gleichförmigen und geradlinigen 
Andrang der Gewäffer in die wunderbaren Windungen und Kreu- 
zungen bes Wirbel8 verwandelt. So lange die Form des Fluf- 
bette8 biefelbe fein und fo lange die Wellen zuſtrömen werben, 
wird unaufhörlih fi das Spiel der Bewegung erneuen, in 
immer gleicher Geftalt, ſcheinbar unverändert, obwohl es Doc 
von Augenblid zu Augenblid andere Fluten find, die kommend 
e8 erzeugen und gehend es verlafien. Aber die Form des Fluß⸗ 
bette8 wird nicht bleiben; die Gewalt der Strömungen wird fie 
ftetig ändern, und was dieſe nicht vermag, das wird bie eigne 
noch zerftörendere Kraft des angeregten Strudels felbit vollbrin- 
gen. Wie ein Meeresftrom durch feinen Wellenfhlag, zu dem 
er durch die eigenthümliche Geftalt des Bodens genöthigt wird, 
diefen felbft nivellirt und fo die Urfache feiner bejondern Bewe- 
gung ſich felbft Hinwegräumt, jo Tehren fi auch die ausgelibten 
Thätigfeiten des Lebens, alle Aeußerungen und Leiftungen feiner 
Organifation, mit langſamer aber fiherer Gewalt gegen bie 
Grundlage zerftörend zurüd, auf der fie beruhen. Der Strudel 
von heute ift nicht der von geftern; der beftändige Wiedererjat 
bringt wohl ähnliche, doch nie völlig gleiche Zuftände wieder. 
Wir verlaffen dieſes Bild nit, ohme ihm eine letzte zu- 
ſammenfaſſende Anfchauung der Lebensoorgänge zu entlehnen. Die 
höchſten und edelften Erſcheinungen der Natur wie des geiftigen 
Daſeins glaubt ein weitverbreiteter Wahn durch firenge Bedürf⸗ 
nißlofigfeit ausgezeichnet, durch unüberwindliche Starrheit ihres 
Kernes ftegreih gegen alle Angriffe der äußern Welt, durch 
Einfachheit ihres inneren Gefüges in der Stetigfeit ihrer Eut- 
willung gefihert. In Wahrheit aber hat alles Höhere mehr 
Borausfegungen als das minder Hochgeftellte, und die Kraft 
feiner Eriftenz befteht nur in ber geiftuollen Berechnung, mit 











155 


der e8 die gejteigerte Vielfältigkeit feiner Bedürfniſſe zu befrie- 
digen weiß. Nicht ein einfacher in ſich geſchloſſener und durch 
feine Intenfität mächtiger Geftaltungstrieb befeelt die lebendigen 
Körper, nit mit ungemöhnlicden unüberwindbaren Kräften 
Ihließen ihre Beftandtheile fih zu einer dichteren Einheit zu⸗ 
fammen, als fie dem Unbelebten möglih wäre; auf beftändigem 
Wechſel ihrer Maſſen berubend, find fie, verglichen mit dieſem, 
Iodere und gebrechliche Gebilde. Aber an den glüdlichen Ver: 
bältniffen, in denen fie ihre Theile untereinander verbunden dem 
Naturlauf entgegenftellen, bricht ſich dennoch ber eindringende 
Strom unzähliger phyſiſchen Ereigniffe und geftaltet fi zu einem 
feitftehenden Bilde, das die Stoffe der Außenwelt in ſich hinein⸗ 
zieht eine Zeit lang fefthält und fie dann dem forınloferen Tret- 
ben der unorganifhen Natur zurüdgibt. Nicht an ein feftes 
Subftrat ift dieſes reiche Spiel der Ereigniffe gebunden, fondern 
ihmebt, beweglich wie der farbige Glanz des Negenbogens, über 
einem raſtlos veränberlihen Untergrunde. Ja fo wenig finden 
wir in ben organiſchen Körpern jene einheimifche ſich ſelbſt ge- 
nügende Lebenskraft, daß wir fie vielmehr nur wie jene Derter 
im Raume anjehen können, an denen die Stoffe, die Kräfte und 
Die Bewegungen des allgemeinen Naturlaufes in fo glüdlichen 
Berhältniffen fi) kreuzen, daß veränderliche Maffen fich für eine 
Zeit lang zu einer doch immer bald vergehenden Geftalt verdich— 
ten und ihre Wechſelwirkungen eine melodiſch abgefchlofiene Reihe 
aufblühender und verwelkender Entwidlung durchlaufen können. 
Wie fehr das ſtill aufwachſende Bild der Pflanze und die be- 
weglich fortichreitende Geftalt des Thieres uns verleiten mögen, 
fie als fefte Einheiten und auf fih beruhende Ganze zu bewun- 
dern; mie dringend endlich fittlihe Motive uns auffordern mögen, 
ung als ſolche im Gegenfage zu der übrigen Welt zu fühlen, 
welche das geftaltbare Material unjerer Handlungen umſchließt: 
für die Wifjenfchaft dennoch, welche die leibliche Begründung un= 
ſers Dafeins fucht, Tiegt die übrige Natur nicht wie ein frembes 
formlojes Chaos um das einzelne Tebendige Gefchöpf ausgebreitet, 


156 


erft von feiner Lebenskraft Zuſammenhang Form und Entwid- 
ung erwartend. So wie der Brennpunft einer Linfe die mär- 
mende Kraft des Lichtes verbichtet, oder das zierlihe Bild einer 
Geftalt entwirft, ohne fein eigne® Verbienft, fondern die zuſam— 
menfdießenden Strahlen find es, die e8 ihm fchenfen, der Schau: 
platz jo ansgezeichneter Erſcheinungen zu fein: fo verbienftlos 
beinahe fammelt der Iebendige Körper die Stoffe und Bemegun- 
gen der Umgebung zu dem geſchloſſenen Bilbe feiner eignen Ge- 
ftalt. Wohl ift er zum Theil jelbft die Pinfe, deren brechende 
Kraft die Strahlen vereinigt, aber auch diefe wirkſame Yorm 
verdankt er einer Meberlieferung, in welde die Kräfte der Außen⸗ 
welt mitthätig eingriffen. So ift er, was er ift, al8 Ergebniß 
dev Umftände, die ihn hervorbrachten; zu harmoniſcher Entwid- 
fung erwählt, wenn fie günftig zu feiner Erzeugung liberein- 
fimmten, zu ſiechem und kümmerlichem Dafein venrurtheilt, wenn 
mißhellige Bedingungen fi) in feiner erften Anlage durchkreuzten. 
Die unabläffige allgemeine Bewegung der Natur ift überall Die 
umfaffende Strömung, in deren bewegteſtem Theile, nicht ein= 
mal wie feſte Injeln, jondern nur wie bewegliche Wirbel die 
lebendigen Gefchöpfe auftauchen und verjchwinden, indem Die 
vorüberfließenden Maſſen augenblidlib eine Zuſammenlenkung 
in eine eigenthümliche Bahn und eine Verdichtung zu beftimmter 
Geftaltung erfahren, um bald durch biefelben Kräfte, von denen 
fie in dieſen Durchſchnittspunkt zufannmengeführt wurden, im die 
geſtaltloſe allgemeine Strömung wieder zerftreut zu werben. 





Bweites Bud. 


Die Seele. 





Erſtes Kapitel. 
Das Dafein der Seele. 


Die Gründe für die Annahme ber Seele. — Freiheit des Willens. — Unvergleichbar: 
feit der phyſiſchen unb ber pſychiſchen Vorgänge. — Nothwendigkeit zweier verfchies 
benen Erflärungsgränbe. — Annahme ihrer Bereinigung in bemfelben Weien. — 
Die Einheit des Bewußtfeind. — Was fie nicht iſt, und worin fie wirklich beftcht. — 
Unmöglichkeit, fle aus ber Zufammenfeßung vieler Wirkungen zu erflären. — Das 
beziehenbe Wifien im Gegenfag zu phyfiſcher Refultantenbilbung. — Neberfinnliche 
Ratur ber Seele. 


Un in dieſer beftändigen Flucht der Elemente, die einan= 
ber fuchen und meiden, wo ift unfere eigne Stelle? Die Man 
nigfaltigfeit unferd inmern Lebens, das Spiel der Erfenntniß, 
Leid und Luft und die Regſamkeit wechlelnder Beftrebungen, wen 
gehören fie an? Iſt dies Alles vielleicht nur eine feinere Form 
des Scheines, ein Wiederglanz der inneren Bewegungen jenes 
Wirbels, dem Farbenſpiele ähnlich, das der Leichtefte Staub bes 
Waſſers über der jchrwerfälligeren Kreuzungen der Fluten ent- 
widelt? Oder gibt e8 in aller diefer Aeußerlichleit des Durdhein- 
andergehens noch einen ftillen Punkt wahrhafter Innerlichkeit, für 
den alle lörperliche Bildung nur eine heimatliche Umgebung, und 
alle Unruhe der Beränderung, welche durch die ſichtbare Geftalt 
geht, nur eine wechjelnde Aufforderung ift, die Einheit feines 
eignen Lebens in vielgeftaltiger Entwicklung zu bethätigen? 

Entgegengefeßt bem unmittelbaren Augenfchein der Erfah: 
rung hat die natürliche Ueberlegung des menfchlichen Gefchlechts 
fich ftetS für dieſen Glauben entfchieven. Keine Beobachtung zeigt 
und geiftiged Neben anders, al8 in beftändiger Verknüpfung mit 


160 


ber Eörperlichen Geftalt und ihrer Entwidlung; zufammen fehen 
wir beide fi entfalten, und mit dem Zerfallen der körperlichen 
Bildung verfchwindet ſpurlos für uns auch die Fülle und Macht 
des Geiftes, der fie befeeltee Mit fo deutlichen Hinweiſungen 
juht uns die Erfahrung davon zu überreden, daß alle innere 
Regſamkeit aus der Verbindung der Stoffe entipringt und mit 
ihrer Auflöfung verſchwindet; dennoch hat die lebendige Bildung 
aller Völker, indem fie den Namen der Seele ſchuf, in ihm bie 
Meberzeugung ausgebrüdt, daß nit nur eine Verfchiedenheit des 
Ausfehens die inneren Erfheinungen von dem körperlichen Leben 
ſcheidet, ſondern daß ein Element von eigenthümlicher Natur, anders 
geartet als die geftaltbildenden Etoffe, der Welt der Empfindungen 
Gefühle und Strebungen zu Grunde liegt und durch feine eigne 
Einheit fie untereinander zu dem Ganzen einer in fich geichlof- 
jenen Entwidlung zufammenhält. Ein fo allgemeines Vorurtbeil 
wird nie entftehen ohne dringende Aufforderungen, welde in ber 
Natur der Sache Liegen; dennoch dürfen wir es zunächſt nur 
al8 ein Borurtbeil betrachten, deffen Prüfung Beftätigung oder 
Widerlegung einer ausdrücklichen Unterfuchung vorbehalten bleiben 
muß. Denn fo gewiß der allgemeine Inftinet der menſchlichen 
Bildung nicht ohne tiefere Berechtigung unabweisbarer Bedürfniſſe 
zur Ausprägung folder Auffaſſungsweiſen fchreitet, jo wenig dür⸗ 
fen wir als gewiß vorausfegen, daß er überall glüdlih in feinen 
Ergebniffen ift und nicht auf unrichtigem Wege eine Befriedigung 
juht, deren Trüglichleit fich dem geſchärften Blide der Willen- 
ſchaft zulett nicht entziehen Tann. Und in der That, wenn wir 
bie Gründe prüfen, welche der allgemeinen Meinung immer im 
‚Stillen in Gedanken liegen, wo fie das geiftige Leben dem Ge- 
biete der Natur zu entziehen fucht, jo werden wir finden, daß 
fie fi nicht auf alle mit gleichem Rechte fügt, und daß nur in 
einem kleinen Kreife von Erfcheinungen die entjcheidende Nöthi- 
gung liegt, aus einen eigenthümlichen Wejen die. Erklärung ber 
innern Ereigniffe herzuleiten. 


* 


— 







A 
7 — — 
—— 


161 
— ©: _ 







Drei Züge find es vornehmlich, welche das 
unwiderrufliche Weife von allem Naturlauf zu trennen einen. 
Auf leinen von ihnen legt die gewöhnliche Anficht mehr Gewicht, 
als auf den zweifelbafteften von allen, auf die Freiheit der inneren 
Selbſtbeſtimmung nämlich, die wir mit unmittelbarer Klarheit in 
ung ſelbſt zu erfahren glauben, im Gegenfat zu der ununterbroche⸗ 
nen Nothwendigfeit, mit welder die Zuftände des Unbefeelten 
ſich auseinander entwideln. Alles was unfer geiftiges Daſein aus⸗ 
zeichnet, alle Würde, die wir ihm retten zu müfjen glauben, aller 
Werth unferer Perfönlichleit und unferer Handlungen jeheint un 
an diefer Befreiung unſeres Weſens von dem Zwange der me= 
chaniſchen Abfolge zu hängen, deren Gewalt nicht nur über das 
Unbelebte, fondern aud über die Entwidlung unfers leiblichen 
Lebens wir einpfinden. Und doch genügt eine Teichte Ueberlegung 
zu der Einfiht, daß weder jene Freiheit als eine beobachtbare 
Thatſache unſers innern Lebens vorliegt, noch unfere eigne Mei- 
nung über den Werth, den wir ihr beilegen, überall mit ſich 
ſelbſt in Uebereinſtimmung bleibt. Es ift wahr, daß unfere 
Selbſtbeobachtung ung fehr häufig feine bedingenden Beweggründe 
nachweiſt, aus denen mit kenntlicher Abhängigkeit unfere Entſchlüſſe 
und andere Bewegungen unferd Innern herborgingen; aber fo 
zerftreut und bruchſtückweis wendet fih auch unfere Aufmerkfam- 
feit auf uns ſelbſt zurüd, daß ihrer unvollkommenen Ueberſicht 
leiht das als freie Selbitbeftimmung ericheinen Tann, deſſen 
zwingende Gründe fie vielleiht finden würde, wenn fie noch einen 
Schritt in der Zergliederung umferer inneren Zuftände zuriidginge. 
Es ift wahr, daß Eindrüde, die auf uns geſchehen, Rüdwirfun- 
gen aus und hervorrufen, Die weder in ihrer Form noch in ihrer 
Größe ihnen entiprechen, und daß in verſchiedenen Augenbliden 
dem gleichen Anftoß, den wir von außen erfahren, die verſchie— 
denartigften Yeußerungen antworten, Aber mit all diefem unbe= 
rehenbaren Benehmen wiederholt doch unfer geiftiges Leben nur 
die allgemeine Erfcheinung der Neizbarkeit, die dem leiblichen Da- 
fein eben fo wie jelbft dem Unbelebten gemeinſam, nicht eine 

Lotze I. 4. Aufl. 11 


162 


Befreiung von dem Zwange geſetzlicher Wirkſamkeit, fondern viel- 
mehr der wahre Begriff diefer Wirffamteit felbft ifl. Denn nir- 
gends trägt ja eine thätige Urfache die Wirkung fertig über auf 
das Element, da8 von ihr leidet, fo daß fie von dieſem nur das 
gleichlautende Echo ihres eignen Thuns zurüderhielte; überall 
regt der geſchehene Eindrud nur die eigne Natur deffen zur 
Aeußerung an, dem er geihah, und die Geftalt des kommenden 
Erfolges ift, nicht minder als durch ihn felbft, durch die eigen- 
thümlichen Thätigfeiten bedingt, die er eindringend in bem Lei⸗ 
enden medte. Zuweilen kennen wir das innere Geflige ber 
Gegenſtände, welche der Reiz trifft, und wir vermögen feinen Weg 
und die Verkettung der Rüdwirkungen zu verfolgen, die er fort- 
fhreitend anregt; noch öfter find uns die inneren Berbältniffe 
bes Gereizten unflar, und unfere Beobachtung umfaßt nur den 
erften äußeren Anftoß und die legte Form der endlichen Rück- 
wirkung; unbekannt in ber Mitte Tiegt die Menge der Bermitt- 
Iungsgliever, melde das Ende mit dem Anfang nothwendig ver- 
knüpfen. Im mancherlei Abftufungen zeigt und daher bie Reihe 
der Erſcheinungen bald Erfolge, deren ſämmtliche Boransfegungen 
deutlich in unfern Geſichtskreis fallen, und die uns deshalb als 
völlig bedingte Folgen ihrer Vorangänge fi barftellen, bald 
Ergebnifje, deren Geftalt, durch die verborgen bleibende Natur 
verwidelter Mittelgliever auf das Wejentlichfte mit beftimmt, nun 
in feiner faßlihen Beziehung zu dem einfachen Reize mehr fteht, 
der fie zuerft veranlaßte. Immer Tiegt in ſolchen Fällen die Neigung 
nabe, den nothwendigen Zuſammenhang abgebrochen zu glauben ; 
wir find ihr begegnet in der Deutung des körperlichen Lebens; 
wir treffen fle hier wieder an, wo die noch ungleich größere Ber- 
widlung der mitwirtenden und doch meift verborgen bleibenden 
Bedingungen die Rückwirkung der Anregung noch unähnlicher macht 
und uns um fo lebhafter von der Freiheit urfachlofer Selbftbe- 
ftimmung überredet. Ueberzeugen wir und nun von der Irrigfeit 
bes Schluffes, melcher Die durchgehende Bebingtheit des geiftigen 
Lebens leugnet, weil fie nicht überall nachweisbar ſei, jo innen wir 


163 


vielleicht verfuchen, die Freiheit al8 nothwendige Folge moraliicher 
Wahrheiten oder als unabweisbare Borbedingung für die Erfüllung 
fittlicher Aufgaben feftzuhalten. In der That würden wir einem 
folgen Beweife, wenn er zmeifello® gelänge, reichlich den gleichen 
Werth für die Begründung unferer Anfichten zugeftehen, den wir 
einer beobachteten Thatſache beilegen. Aber wir haben bereits 
erinnert, daß hierüber das allgemeine Urtheil nicht mit fih in 
Mebereinftimmung ift; e8 wird uns häufig zweifelhaft, ob iiberhaupt, 
und in welcher beitimmteren Geftalt für die Befriedigung mora- 
liſcher Bebürfniffe jene bebingungslofe Freiheit förderlich oder noth- 
wendig fei; nicht Allen Hat fie unentbehrlich gefchienen, und der 
Verſuch, fie beftimmter ind Auge zu fafjen, führt zu Fragen, deren 
Beantwortung, wie fie ausfalle, jedenfalls weit von der Klarheit 
eines Gedankens entfernt iſt, der fich zur entfcheidenden Grund⸗ 
legung einer wichtigen Anficht eignen fol. Enblid, müfjen wir 
hinzufligen, würde doch jeve Meinung nicht von einer Freiheit 
bes inneren Lebens überhaupt, fondern nur von einer Freiheit 
des Willens Tprechen wollen und können; in dem Verlaufe unferer 
Borftellungen, unferer Gefühle und Begehrungen treten fo deutlich 
und unverhillt die Spuren eimer allgemeinen Geſetzmäßigkeit her- 
vor, daß nie eine Anficht gewagt hat, auch dieſe Ereigniffe dem 
Gebiete einer mechaniſchen Nothwendigkeit zu entziehen. Eine 
weiter forigefchrittene Unterfuchung würde vielleicht dieſes Be⸗ 
benfen befeitigen und uns zeigen Können, wie wenig wir Grund 
haben, diefe Vereinigung von Freiheit und Mechanismus in dem 
Wefen der Seele zu fcheuen, aber gewiß kann am Anfange ber 
Betrachtung die offenbare Geltung allgemeiner Geſetzlichleit in 
den größeren Theile unfers inneren Lebens dem Glauben an die 
unbeobachtbare Freiheit in einem kleineren nur entgegen fein. 
Aber eben fo wenig überzeugt doch die Erfahrung und von 
ihrem Nichtuorhandenfein, und die Meinungen, die mit zubring- 
licher Zuverſicht uns auf die beftändige Verknüpfung der geiftigen 
Creigniffe mit Börperlihen Veränderungen binmeifen, deuten eine 
befannte Thatſache mit irriger Willkür, wenn fie in ihr den Be- 
11* 


164 


weis zu finden glauben, daß alles Geiftige vollkommen aus ben 
Eigenjhaften der Materie erflärbar fei, von der es getragen wird. 
Bon äußeren Eindrüden und ihren Wechſelwirkungen mit den 
materiellen Beftandtheilen unferes Körpers zeigt und allerdings 
eme allgemeine und unabläffig wiederholte Erfahrung die Ber- 
änderungen unferer geiftigen Zuſtände abhängig. Unfere Empfin- 
dungen wechjeln mit den mwechfelnden Erregungen unſerer Sinnes- 
organe; andere Gefühle und Strebungen entitehen und, wenn 
äußere Einflüfje oder die eignen ftetigen Ummandlungen der Teben- 
digen Thätigfeiten unferem Körper veränderte Stimmungen gegeben 
haben; in der weiteften Ausdehnung finden wir bie Lebhaftigleit 
und Regſamkeit unſers Gedanfenlaufes an die Schwankungen der 
körperlichen Zuſtände geknüpft, bald durch fie begümnftigt, bald 
geſchmälert und gehemmt, und eine forgfältige Unterfuchung wird 
zugeftehen müfjen, daß jelbft in den höchſten Erſcheinungen des 
geiftigen Lebens, wie fie der gefchichtliche Verlauf der menſchlichen 
Bildung hervorgebracht hat, noch immer fi Nachklänge des Ein- 
fiufjes finden, mit welchen förperlihe Stimmungen, nicht allen 
Zeitaltern gleich gegeben, auf die geiftige Entwidlung überwirfen. 
Aber alle dieſe Thatjachen beweifen doch nur, daß die Ber- 
änderungen körperlicher Elemente ein Reich von Bedingungen 
darftellen, an welchen Dafein und Form unferer inneren Zuftände 
mit Nothwendigfeit hängt, aber fie beweijen nicht, daß in jenen 
Veränderungen die einzige und hinreichende Urſache Liegt, melde 
aus eigner Kraft und ohne die Mitwirkung eine ganz anderen 
Princips zu bedürfen, die Mannigfaltigleit des Seelenlebens aus 
ſich allein erzeugt. 

Ein zweiter Blid auf die Natur dieſes Zufammenhangs zeigt 
bie luft, die fich bier zwifchen dem ſcheinbar genügenden Grunde 
und feiner angeblichen Yolge befindet. Alles, was den materiellen 
Beftandtheilen der äußeren Natur oder denen unfered eignen 
Körpers begegnet, Alles, was ihnen als einzelnen oder als man- 
nigfach verbundenen zuftoßen fan, die Gejammtheit aller jener 
Beftimmungen der Ausdehnung Miſchung Dictigkeit und Be— 





165 


wegung, Died Alles ift völlig unvergleichbar mit der eigenthihn- 
lihen Natur der geiftigen Yuftände, mit den Empfindungen, den 
Gefühlen, den Strebungen, die wir tbatfächlih auf fie folgen 
ſehen und irrthümlich aus ihnen entftehen zu fehen glauben. 
Keine vergleichende Zergliederung würde in der hemifchen Zufam- 
menfegung eines Nerven, in der Auffpannung, in der Lagerungs- 
weife und der Beweglichkeit feiner kleinſten Theilden den Grund 
entdeden, warum eine Schallmelle, die ihn mit ihren Nachwir- 
kungen erreichte, in ihm mehr als eine Aenderung feiner phyſiſchen 
Zuftände hervorrufen follte. Wie weit wir auch den eindringenden 
Sinnesreiz durch den Nerven verfolgen, wie vielfach wir ihn feine 
Form ändern und fih in immer feinere und zartere Bewegungen 
umgeftalten lafjen, nie werden wir nachweifen können, daß es 
von felbft in der Natur irgend einer fo erzeugten Bewegung Liege, 
als Bewegung aufzubören und als Teuchtender Glanz al8 Ton 
als Süßigkeit des Gefchmades wiedergeboren zu werben. Immer 
bleibt der Sprung zwiſchen dem legten Zuftande der materiellen 
Elemente, den wir erreichen können, und zwiſchen dem erften 
Aufgehen der Empfindung gleih groß, und kaum wird Jemand 
die eitle Hoffnung nähren, daß eine ausgebildetere Wiſſenſchaft 
einen geheimnißvollen Uebergang da finden werde, wo mit der 
einfachften Klarheit die Unmöglichkeit jedes ftetigen Uebergehens 
fi uns aufdrängt. Auf der Anerkennung diefer völligen Unver- 
gleihbarfeit aller phyſiſchen Vorgänge mit den Ereigniffen des 
Bewußtſeins hat von jeher die Ueberzeugung von der Nothmen- 
digkeit geruht, eine eigenthlimliche Grundlage für die Erflärung 
des Geelenlebens zu fuchen. 

In dem Imtereffe der Wiſſenſchaft Tiegt e8 ohne Zweifel, 
eine Mannigfaltigfeit verfchtedener Erfcheinungen unter ein ein= 
ziges Princip zufammenzufafjen, aber das größere und wefentlichere 
Intereſſe alles Willens ift doch ſtets nur dies, das Geſchehende 
auf diejenigen Bedingungen zurüdzuführen, von denen e8 in Wahr- 
heit abhängt, und die Sehnfuht nad Einheit muß fi da der 
Anerkennung einer Mehrheit verfchtevener Gründe unterorbnen, 





166 


wo die Thatfachen der Erfahrung uns fein Recht geben, Berfchie- 
denes aus gleichem Duell abzuleiten. Kein Bedenken allgemeiner 
Art darf uns daher abhalten, fir die beiden großen und geſchie— 
denen Gruppen des phyſiſchen und des geiftigen Geſchehens eben 
fo gefchtedene und auf einander nicht zurückführbare Erflärungs- 
gründe anzunehmen; ohnehin würde jener Trieb nad Einheit doch 
nur die Forderung einfchließen, daß in dem einen Ganzen bed 
Weltbaues überhaupt fich das zulegt verbunden finde, was unferer 
unmittelbaren Beobachtung fich getrennt zeigt; wir würden ver⸗ 
langen Können, daß aus einer Wurzel die verfchiedenen Zweige 
ſtammen, aber nicht zugleih, daß die Zweige felbft zufammenfallen 
oder der eine ftet8 nur aus bem andern, und nicht unabhängig neben 
ihm aus der gemeinfamen Wurzel entfpringe. Ueberlaſſen wir 
deshalb fpäteren Betrachtungen die Wieberaufnahme diefer Frage 
und begnügen wir uns jegt mit dem Rechte, für Ereigniffe, die un- 
vergleichbar find, auch gefchiedene Erflärungsgründe zu verlangen. 

Und dieſes Recht nehmen wir bier nicht in anderer Weife 
in Anſpruch als in der, in welcher e8 ung ſtets aud für Die Er- 
ſcheinungen innerhalb des Gebietes der Natur jelbft zugeftanden 
wird. Ueberall, wo wir ein Element Erfolge hervorbringen fehen, 
bie wir weder aus feiner beftändigen Natur, noch aus ber Be— 
wegung, in der es ſich augenbliclich befindet, verftehen können, 
juhen wir den ergänzenden Grund diefer Wirkung in der anders 
gearteten Natur eines zweiten Elementes, die, von jener Bewegung 
getroffen und angeregt, aus fi) den Theil oder die Form bes 
Erfolges erzeugt, Die wir vergeblih aus dem erften abzuleiten 
verſuchen würden. Nicht ver Feuerfunke ift e8, der die Exploftons- 
kraft dem Pulver mittheilt, denn auf andere Gegenftände fallend, 
bringt er feine Wirkung ähnlicher Art hervor; weder in feiner 
Temperatur ‚ no in der Art feiner Bewegung, noch im irgend 
einer andern feiner Eigenfchaften würden wir den Grund finden, 
ber ihn befähigte, aus fih allein heraus jene zerſtörende Kraft 
zu entwideln; er findet fie vor in dem Pulver ‚ auf welches er 
faͤllt; ober richtiger, ex findet fie auch bier nicht fertig vor, aber 





167 


ex trifft bier mehrere Stoffe in einer Verbindung an, die bei 
dem Butritt der erhöhten Temperatur, die er binzubringt, fich mit 
plöglicher Gewalt gasförmig ausdehnen muß. Yür die Form der 
entftehenden Wirkung Liegt alfo der Grund in der Miſchung des 
Pulvers allein, für ihren wirflihen Eintritt bringt die Glühhige 
des Funkens die legte nothwendige ergänzende Bedingung hinzu. 
Zu denfelben Schlüffen berechtigt und die Unvergleichbarfeit der 
materiellen Zuftände und ihrer geiftigen Folgen. Wie feit bie 
letzteren an jene als ihre Bedingungen gebunden find, den Grund 
ihrer Form müſſen fie doch in einem andern PBrincip haben, ‚und 
Alles, was wir als Thätigfeit oder Wirkſamkeit der Materie 
denken Können, bringt nicht aus fich felbft das geiftige Leben her- 
vor, ſondern veranlaßt nır fein Herbortreten durch die Anregung 
zur Aeußerung, Die e8 einem anders gearteten Elemente zuführt. 


Allein wir müfjen noch genauer die Folgerung bejchränfen, 
Die wir aus Diefen Betrachtungen ziehen zu dürfen glauben. Wir 
waren berechtigt, für die beiven abweichenden Gruppen von Er⸗ 
fcheinungen verſchiedene Erflärungsgründe zu fuchen, aber wir 
haben darum noch nicht das Recht, diefe Gründe an verſchiedene 
Gattungen von Wejen zu vertbeilen. Kann aus denjenigen Eigen- 
‘haften, um bevenwillen wir die Materie Materie nennen, das 
Auftreten eines geiftigen Zuftandes nicht abgeleitet werden: was 
Bindert uns, in ben Zörperlichen Elementen noch neben jenen 
Eigenſchaften einen Schag inneren Lebens anzunehmen, ber unferer 
Aufmerkſamkeit fonft entgeht und eben nur in dem, mas wir 
geiftigeß Xeben nennen, Gelegenheit zur Aeußerung findet? Warım 
fol der Materie al8 einem beftändig todten Stoffe gegenüber 
alle geiftige Regfamleit in das beſondere Weſen einer Seele ver- 
bichtet werden, bie ihrerfeitö der Eigenſchaften entbehrte, mit denen 
die körperlichen Elemente fih in der Natur Geltung verfchaffen ? 
Könnte nicht der fihtbare Stoff unmittelbar ein doppeltes Leben 
führen, als Materie nach außen erſcheinend und Feine Fähigfeit 





168 


verrathend, als die mechaniſchen Eigenſchaften, die wir Tennen, 
innerlih dagegen geiftig bewegt, ben Wechjel feiner Zuftände 
empfindend und mit Strebungen die Wirkſamleit begleitend, 
deren allgemeine Gefeglichleit er freilich nicht mit Freiheit zu 
ändern vermag? 

Nur allmählich werben wir im Verlauf diefer Betrachtungen 
die volle Antwort auf diefe Tragen geben Können; e8 muß jekt 
genügen, zu zeigen, wie wenig ihre Bejahung an dieſem Anfange 
der Unterfuhung den Stand der Sache ändern würde. Denn 
eben ein Doppelweſen wiirde biefer empfindende und firebende 
Stoff immer bleiben; jo ſehr aud die Einheit feines Weſens die 
Eigenſchaften der Materialität und die der Geiftigfeit zuſammen⸗ 
hielte, fo unvergleihbar würden fie doch immer bleiben, und nie 
. würden wir aus einer Veränderung feiner materiellen Zuftände Die 
Nothwendigkeit ableiten Können, daß feine geiftige Seite folge- 
recht eine entiprechende Veränderung erleiden müßte. Er würde 
zwei Entwidlungsreihen erfahren, aus deren keiner ein Uebergang 
in die andere denkbar wäre; äußerlich zufammengepaßt würden 
wohl thatſächlich die Glieder der einen Reihe denen der andern 
entiprehen, aber auch hier würde Die materiale Veränderung nur 
deshalb eine geiftige nad) fich ziehen, weil fie auf der andern 
Seite dieſes Doppelmefens die geiftige Natur ſchon vorfände, welche 
fie weden Tann. Hierin liegt das Recht diefer Anfiht und zu— 
gleich ihre Unfruchtbarkeit. Ihr Recht; denn darin allein befteht 
ber ſchlimme und alle Weltauffafjung wahrhaft zerftörende Mate- 
rialismus, daß man aus den Wechfelwirkungen der Stoffe, fofern 
fie Stoffe find, aus Stoß und Drud, aus Spannung und Aus- 
behnung, aus Mifhung und Zerfeßung, die Fülle des Geiftigen 
als eine leichte Zugabe von felbft entftehen läßt; daß man glaubt, 
jo ſelbſtverſtändlich, wie aus zwei gleichen und entgegengejegten 
Bewegungen Ruhe, oder aus zwei verſchiedenen eine dritte in 
mittlerer Richtung entfteht, fo gehe aus der Durchkreuzung ber 
phuftihen Vorgänge die Mannigfaltigkeit des innern Lebens hervor. 
Dies ift es, was jede ernfthafte Veberlegung immer wird zurüd- 








169 


weiſen müſſen, diefe Nachläſſigkeit des Gedankens, die jene Formen 
des mechaniſchen Geſchehens, welchen überall in der Welt nur 
der Beruf mechfelfeitiger Vermittlung zwiſchen dem Innern der 
einzelnen Wefen obliegt, als das Urfprüngliche auffaßt, woraus 
als beiläufiger Nebenerfolg alle Kraft und Regſamkeit dieſes In- 
neren felbft entipringe. 

Diefen Irrthum nun vermeidet die Auffaffung allerdings, 
welche der Materie ein verborgenes geiftiges Leben zufchreibt; 
denn nicht aus den phyſiſchen Eigenfchaften derjelben läßt fie das 
Geiftige entipringen, fondern aus dem, was die Materie heimlich 
Beſſeres ift, als fie ſcheint. Aber wir fehen in ihr feinen Vortheil, 
den wir für die erfte Ausbildung unferer Anfichten benugen könnten. 
Sind in demfelben Stoffe zwar thatſächlich, aber doch unableitbar 
auseinander, die Eigenfchaften der Materialität und der Geiſtigkeit 
vereinigt, jo wird alle auf die einzelnen Erſcheinungen gerichtete 
Unterfuchung die Beränderungen der phyfifchen Seite dieſes Doppel- 
weſens doch nur als Veranlafjungen für das Herportreten auch der 
geiftigen Zuftände faffen können. Sie wiirde nicht erfläven können, 
wie es zugehe, daß eine phyſiſche Veränderung nur darum eine 
ihr ungleihartige geiftige nach ſich ziehe, weil daſſelbe Subject 
der Träger beider wäre, und fie würde aus der Einheit der auf 
fih wirkenden Subftanz die allgemeinen Geſetze, nach denen die 
Aenderungen der eimen dieſer Zuſtandsreihen von den Aende— 
rungen ber andern abhängen, um Nichts befjer entwideln können, 
als es unter Borausfegung einer Wechſelwirkung zweier ver: 
ſchiedenen Subjecte möglih wäre. Es kann fein, daß dennoch 
in diefer Vereinigung alles inneren und äußern Geſchehens auf 
daſſelbe Reale eine Wahrheit liegt, die an anderer Stelle und 
in anderer Verwendung wichtig wird; hier erfcheint fie un— 
fruchtbar. Und nit allen unfruchtbar; ſchon drängt ſich viel- 
mehr eine dritte Betrachtung zu, weldye uns verbieten wird, hier 
von ihr den Gebrauch zu machen, der uns vorgeichlagen wurde, 


170 


ALS die entſcheidende Thatſache der Erfahrung, weldye uns 
nöthigt, in der Exrflärung des geiftigen Lebens an Die Stelle ber 
Stoffe ein überfinnliches Weſen als Träger der Erſcheinungen 
zu fegen, müſſen wir jene Einheit de8 Bewußtſeins bezeichnen, 
ohne welde die Geſammtheit unferer inneren Zuftände nicht ein- 
mal Gegenftand unferer Selbftbeobadhtung werden Könnte. Manche 
Mifverftändniffe haben fih um den einfachen Namen gehäuft, 
unter dem wir diefe Thatſache erwähnten, und nöthigen uns, 
ausführlicher das zu bezeichnen, was wir mit ihr meinen. 

So lange nicht befondere Beranlafjungen und zu anderen 
Annahmen nöthigen, find wir gewöhnt, in jeder abgejchloffenen 
lebendigen Geftalt eine Seele zur vermuthen, für deren inneres 
Leben fie die umgebende Hülle und eine Zufammenftellung wir- 
fungsfähiger Werkzeuge darbietet. Das gemöhnliche Leben gibt 
und feine Gelegenheit zu dem Gedanken, daß außer der Seele, 
die unfer eigne8 Ich bildet, in unferm Körper ſich noch andere 
Weſen befinden, die auf gleiche Weiſe als Sammelpunkte aus und 
eingehender Wirkungen die Erregungen, von denen fie erreicht 
werden, zu einer Welt bewußter Yuftände in fich verarbeiten. 
Die Beobachtung aller höheren Thiere erhält ung in dieſer Ge- 
wohnheit oder führt doch nur durch einzelne Erfcheinungen, die 
der Wiſſenſchaft näher Liegen als der unbefangenen Beobadtung 
des Lebens, zu Zweifeln an dieſer Einheit des Bewußtſeins, welche 
nur eine Seele der Zahl nad in jedem lebendigen indivinuellen 
Gebilde vorausfegt. Die Aufmerkſamkeit auf niedere Thierklaflen 
erinnert ung zuerft daran, daß wir zu fehr geneigt find, dieſes 
thatfächlicde Verhalten als ein allgemein nothwendiges zu be= 
traten. Die Theilftiide des zerfchnittenen Polypen ergänzen fich 
nachwachſend zu vollftändigen Thieren, deren jedes völlig Die Summe 
pſychiſcher Fähigkeiten entwickelt, die dem urfprünglichen unverleg- 
ten Gefchöpfe zukam. Doc nicht jeder Schnitt, den wir beliebig 
führten, würde diefe Wirkung haben; die Möglichkeit ber Ver— 
vollftändigung jheint daran gebunden, daß in dem Theilftüd ein 
vielleicht unbedeutender, aber doch beftimmter Betrag innerer 











171 


Organifation als entwidlungsfähiger Keim erhalten blieb. Nicht 
blos die Fünftlihe Theilung zeigt diefe merkwürdigen Erſcheinun⸗ 
gen; in zahlreichen Thiergattungen erfolgt die Fortpflanzung durch 
freiwillige Zerfällung des Körpers, deſſen Bruchſtücke zum heil 
noch im Zuſammenhang mit ihm, zum Theil nad ihrer Abldfung 
bie vollſtändige Geftalt und Organifation der Gattung ausbilden. 
Noch andere endlich ſehen wir ftet8 fo leben, daß an einem ge⸗ 
meinjchaftlihen und ununterbrocdhenen Stamme, wie bie Knospen 
bed Baumes, ſich einzelne Individuen entwideln, unabhängig von 
einander in ber Ausübung der fpärlichen Aeußerungen lebendiger 
Regſamkeit, die ihnen möglich find, und doch durch ihre Ber- 
bindung unter einander gemeinſam manden äußern Einflüffen 
unterworfen. Deutlich zeigen uns dieſe Thierkolonien, daß nicht 
überall das Körperliche Maſſengebiet, in welchem die Lebenbigfeit 
der einzelnen Seele fich geltend machen kann, völlig abgegrenzt 
ift zu einer umfchriebenen Geftalt; an einzelnen Punften einer 
zufammenbhängenden organiſchen Maſſe finden bier ſich mehrere 
jelbftändige Wejen, deren Wirkungen in dem gemeinfchaftlichen 
Stamme ſich freuzen mögen und nur in beſchränkter Weife jedem 
einzelnen einen Spielraum feiner Willkür geftatten. Was hier 
als beitändige Lebensform auftritt, mag in den Thieren, die 
durch Theilung fi fortpflanzgen, nur eben in dieſem Vorgange 
zu Tage fommen, während in jenen, Die durch Fünftliche Schnitte 
ih zu mehreren Individuen fpalten laſſen, vielleicht niemals bie 
Mehrheit der einzelnen Yebensfähigen Wefen, bie in den Grenzen 
einer und berfelben Körpergeftalt vereinigt find, Gelegenheit zu 
jelbftändiger Entwidlung findet, wenn nicht der Zufall oder will- 
kürlicher Eingriff fie ihnen verſchafft. Nicht Die Seele des Polypen 
würde der Schnitt getheilt haben, fondern da8 Körperliche Band, 
das viele vorhandene Seelen in einer Verknüpfung zufammen- 
hielt, welde die individuelle Ausbildung der einzelnen hinberte. 
Irren wir und nicht in dem Rechte, diefe Vorgänge fo anzufehen, 
fo Binnen wir gewiß auch nicht im Voraus beftimmen, wie weit 
diefe Zerftrenung vieler Seelen in die gemeinfame Körpermaſſe aud) 


172 


in höheren Thiergattungen reichen möge. Ohne diefe Frage ent- 
ſcheiden zu voollen, deren Beantwortung, fo meit fie möglich ift, 
einer fpäteren Stelle paflender überlaffen bleibt, müffen wir bes- 
halb hier erwähnen, daß die Einheit des Bewußtſeins nicht diefen 
Sinn hat, die Zahl der Weſen zu beichränfen, die eine organiſche 
Geftalt beleben, und daß fie am wenigften durch Berufung auf 
die Erfcheinumgen, deren wir gedachten, in ihrer Geltung auf- 
gehoben wird. Vielmehr von jedem einzelnen jener Theilſtücke 
des Polypen würden wir behaupten, daß, wenn überhaupt eine 
Seele fein bewegendes Brincip ift, von dieſer in derſelben Be- 
deutung die Einheit des Bewußtſeins gelten müſſe, in welder 
wir fie unferer eignen Berfönlichleit zufchreiben. 

Diefe Bedeutung felbft nun ſuchen wir näher zu beſtimmen. 
Berftändlich wird uns allerdings der Zuſammenhang unfer8 innern 
Lebens nur dadurch, daß wir alle feine Ereigniffe auf das eine 
Ich beziehen, das ebenfo ihrer gleichzeitigen Mannigfaltigfeit als 
ihrer zeitlihen Aufeinanderfolge unverändert zu Grunde liegt. 
Jeder Rüdblid auf Die Vergangenheit führt dieſes Bild des Ich 
al8 den zufammenhaltenden Mittelpunkt mit fih; nur als feine 
Zuftände oder Thätigfeiten, nicht als Ereigniffe, die frei für ſich 
im Leeren ſchwebten, find alle unfere Borftellungen, ımfere Gefühle 
und GStrebungen uns begreiflih. Aber unabläffig wird dennoch 
dieſe Beziehung des innern Mannigfaltigen auf die Einheit des 
Ih nicht von und vollzogen. Sie findet fih mit Deutlichkeit 
doch eben nur in dem Rüdblid, den wir auf umfer Leben mit 
gewiſſer Sammlung der zufammenfafjenden Aufmerkſamkeit richten. 
Die einzelne Empfindung dagegen in dem Augenblid, in welchem 
der Äußere Reiz fle erzeugt, das einzelne Gefühl, indem es aus 
dem nützlichen oder ſchädlichen Eingriff der Außenwelt entipringt, 
jelbft die Begierden und Strebungen, die eine vorübergehende 
Veranlaſſung oft plöglih in uns erwedt, führen dieſe Hindeutung 
auf die Einheit unſers Wefens, in der fie zufammengehören, mit 
merfbarer Stärke keineswegs allgemein mit fih. Mande Ein 
brüde bleiben unbewußt bei ihrer Entftehung und wir finden fie 





173 


zuweilen wie zufällig in uns auf, nachdem ihre bewirfenden Ur- 
ſachen wieber verfchwunden find; andere ruhen durch Tange Zeit- 
räume vergeſſen in uns, und felbft die beflifiene Aufmerkjamteit, 
welche fie auffucht, vermag ihrer nicht habhaft zu merden; von 
dem mannigfadhen Inhalt, der in gleicher Zeit unfer Bewußtſein 
füllt, bleibt Vieles zufammenhanglos neben einander und vers 
ſchmilzt weder zu dem Ganzen eines und deſſelben Gedankenkreiſes, 
noch wird es in eine beutlihe Beziehung zu der Untbeilbarkeit 
unſerer Perfönlichfeit geſetzt. Diefen Sinn kann mithin die Ein- 
heit des Bewußtſeins, von der wir ſprechen, nicht haben, ein 
beftändiges Bewußtſein der Einheit unferd Weſens zu fein, und 
die Schlüffe bleiben untriftig für uns, die von einer folden An⸗ 
nahme auszugeben verſuchten. 

Anderſeits Liegt jedoch in dem Thatbeftande, den wir zugaben, 
Teine Schwierigfeit, welche die Folgerung aus der Natur unferes 
Bewußtſeins auf die Einheit des feiner bemußten Weſens unmög- 
ih machte. Denn nicht dies ift nothwendig und unerläßlich, daß 
in jedem Augenblide und in Bezug auf alle feine Yuftände ein 
Weſen die vereinigende Wirkfamfeit auslibe, deren Möglichkeit 
ihm die Einheit jener Natur gewährt; der Erfolg jeder Kraft 
hängt an Bedingungen und kann duch ungünftige gehindert wer⸗ 
den, ohne daß darum die Kraft nichtig wird, durch die er unter 
günftigeren Bedingungen entftehen würde. Läßt die Seele Daher 
manche ihrer Zuftände unverbunden, und obne fidh ihrer als 
bloßer Zuftände ihrer eignen Subſtanz bewußt zu werben, fo 
ift aus diefem Thatbeſtande Tein verneinender Schluß gegen die 
Einheit ihre Weſens zu ziehen. Iſt Dagegen. die Ceele auch 
nur felten, nur in beichräntter Ausdehnung, aber doc überhaupt 
einmal fähig, Mannigfaltiges in die Einheit eines Bemußtjeind 
zufammenzuziehen, fo reicht dieſer geringe Thatbeftand hin, um 
den bejahenden Schluß auf die Untheilbarfeit des Weſens noth- 
wendig zu machen, dem dieſe Leiftung gelingen kann. Ich vertraue 
für den Augenblid auf die eigne Ueberredungskraft dieſes einfachen 
Gedankens und behalte feine Erläuterung vor; aber ich füge hier 


174 


noch hinzu, daß ja felbft unfer Willen um den oben zugeftandenen 
Thatbeftand der Zuſammenhangloſigkeit mander innern Zuftände 
nur unter Borausfegung der Einheit des wiſſenden Weſens 
begreiflih if. Es mag fein, daß im Augenblid der finnlichen 
Wahrnehmung das Verhältniß der entftehenden Empfindung zu 
der Einheit des Ich fih uns nicht aufprängt, Daß wir vielmehr 
jelbftlo8 in den empfundenen Inhalt und verlieren; aber Die 
Thatfache eben, daß dieſes Verhalten ftattfand, würde fpäter für 
und nie zum Gegenftand der Wahrnehmung und Berwunderung 
werden können, wenn nit die Empfindung doch fchon im Augen- 
bli ihrer Entftehbung der Einheit unſers Weſens angehört hätte 
und von ihr aufbewahrt wäre, um nun erft die verfpätete Aner- 
fennung ihrer ftet3 beftandenen Yufammengehörigfeit mit unferem 
Ich zu erlangen. Mögen daher immerhin viele Eindrüde in dem 
Moment ihrer Entftehung vereinzelt bleiben, und mag erft eine 
ipätere Nachbefinnung das Urtheil über ihre Beziehung zu 
uns nachholen, fo Liegt doch in jener anfänglichen Zerftreuung 
fein Grund gegen Die Einheit unferes geiftigen Weſens, in ber 
Möglichkeit der fpätern Zufammenfafjung dagegen ein zwingender 
Grund für ihre Annahme. 

Ich entferne endlich ausdrücklich ein letztes Mißverſtändniß, 
dem der Gedankengang der vorigen Bemerkungen doch vielleicht 
noch ausgeſetzt fein dürfte. Denn dies iſt meine Meinung nicht, das 
Bemußtfein, welches wir von der Einheit unſers Weſens haben, 
verbürge an fi, durch das, was es jelbft ausfagt, auch die 
Wirklichkeit diefer Wejenseinheit. Gewiß mit ſcheinbarem Rechte 
wenigften® wiirde man dieſer Auffaffung einwerfen, daß mit faſt 
unwiderſtehlicher Ueberredungskraft fih im Laufe unferer inneren 
Entwidlung ger viele Ueberzeugungen einftellen, die trog ber 
fiegreihen Klarheit, mit welder fie das unbefangene Gemüth 
überwältigen, doch dem ſchärferen Nachdenken fich als Fehlſchlüſſe 
darftellen, im Widerfpruch mit den Gefeßen des Dentens, welche 
allein als der und unvermeidliche Maßſtab aller Wahrheit unferen 
Zweifeln entzogen bleiben müſſen. So ſei auch jene Einheit des 





175 


Ich doch nur die Geftalt, in welder unfer eignes Weſen ſich 
jelbft ericheint, und fo wenig wir an der Art, in welcher andere 
Dinge und erfcheinend ſich darftellen, unmittelbar einen Anblid 
ihrer wahren Natur befigen, fo wenig müſſe unfer eignes Wefen 
eine untheilbare Einheit deshalb fein, weil wir felbft uns fo 
vorkommen. Ich will nicht unterfuchen, ob nicht dieſer Gebante zu 
jenen Uebergenauigfeiten des Nachgrübelns gehört, die im Stillen 
fich ſelbſt um die Fehlſchlüſſe dreben, welche fie vermeiden möchten; 
in der Form, in welcher er gewöhnlich geäußert wird, trifft er 
das nicht, was wir bier zu ermeifen wünſchen. Denn nicht 
darauf beruht unfer Glaube an die Einheit der Seele, daß wir 
uns als foldhe Einheit ericheinen, fondern darauf, daß wir uns 
überhaupt erfheinen Kinnen. Wäre der Inhalt defien, als 
was wir uns erſchienen, ein völlig anderer, kämen wir ung felbft 
vielmehr als eime zufammenbanglofe Bielheit vor, fo würden wir 
auch daraus, aus der bloßen Möglichkeit, daß wir überhaupt 
etwie und vorkommen, auf die nothmwendige Einheit unſeres We- 
ſens zurüdihließen, Diesmal in vollem Widerſpruch mit dem, 
was unfere Selbftbeobachtung uns als unfer eignes Bild vor- 
bielte. Nicht darauf kommt e8 an, als was ein Weſen fich 
jelbft erſcheint; kann es überhaupt fich felbft, oder kann Anderes 
ihm erfcheinen, jo muß es nothwenbig in eimer vollfommenen 
Untbeilbarkeit feiner Natur als Eines das Mannigfache des 
Scheines zufammenfaflen können. 

Was und in diefer Frage zu verwirren pflegt, Das iſt Das 
etwas TLeichtfinnige Spiel, das wir fo oft und mit dem Begriffe 
der Erſcheinung erlauben. Wir begnügen uns, ihm das Wejen 
entgegenzufegen, das den Schein wirft, und wir vergeflen, daß 
zur Möglichkeit des Scheines ein anderes Weſen hinzugedacht 
werden muß, das ihn flieht. Aus der verborgenen Tiefe des An- 
ſichſeienden bricht, wie wir meinen, die Erſcheinung als ein Glanz 
hervor, der da ift, ehe ein Auge vorhanden ift, in welchem er 
entftände, der fich ausbreitet in die Wirffichleit, gegenwärtig und 
faßbar für den, ber ihn ergreifen will, aber auch dann nicht 


174 


noch Hinzu, daß ja jelbft unfer Wiffen um den oben zugeftandenen 
Thatbeftand der Zufammenbanglofigfeit mander innern Zuftände 
nur unter Borausfegung der Einheit des willenden Weſens 
begreiflih if. Es mag fein, daß im Augenblid der finnlichen 
Wahrnehmung das Berhältniß der entftehenden Empfindung zu 
der Einheit des Ich fih uns nicht aufbrängt, daß wir vielmehr 
felbftlo8 in den empfundenen Inhalt uns verlieren; aber Die 
Thatfache eben, daß dieſes Verhalten fattfand, wiirde fpäter für 
und nie zum Gegenftand der Wahrnehmung und Berwunderung 
werben können, wenn nicht die Empfindung doch ſchon im Augen- 
bli ihrer Entftehung der Einheit unfers Weſens angehört hätte 
und von ihr aufbewahrt wäre, um nun erft die verfpätete Aner- 
fennung ihrer ſtets beftandenen Yufammengehörigfeit mit unferem 
Ich zu erlangen. Mögen daher immerhin viele Eindrüde in dem 
Moment ihrer Entftehung vereinzelt bleiben, und mag erft eine 
fpätere Nachbefinnung das Urtheil über ihre Beziehung zu 
und nachholen, fo Tiegt Doch in jener anfänglichen Zerſtreuung 
fein Grund gegen die Einheit unferes geiftigen Weſens, in ber 
Möglichkeit der fpätern Zufammenfaffung dagegen ein zwingender 
Grund für ihre Annahme. 

Ich entferne endlich ausdrücklich ein letztes Mißverſtändniß, 
dem der Gedankengang der vorigen Bemerkungen doch vielleicht 
noch ausgejegt fein dürfte. Denn dies ift meine Meinung nicht, das 
Bewußtſein, welches wir von der Einheit unjers Weſens haben, 
verbürge an fi, durch das, mas es felbft ausfagt, auch Die 
Wirklichkeit diefer Wefenseinheit. Gewiß mit ſcheinbarem Rechte 
wenigftens wiirde man dieſer Auffafiung einwerfen, daß mit faft 
unwiberftehlicher Ueberredungskraft fi im Laufe unferer inneren 
Entwidlung gar viele Weberzeugungen einftellen, Die troß ber 
fiegreihen Klarheit, mit welcher fie das unbefangene Gemüth 
 überwältigen, doch dem fchärferen Nachdenken ſich als Fehlſchlüſſe 
darftellen, im Widerſpruch mit den Gejeten des Denkens, welche 
allein als der uns unvermeidliche Maßſtab aller Wahrheit unferen 
Zweifeln entzogen bleiben müſſen. So fei auch jene Einheit des 








175 


Ich doch nur die Geftalt, in welcher unfer eignes Weſen ſich 
jelbft ericheint, und fo wenig wir an der Art, in welcher andere 
Dinge uns erfcheinend ſich darftellen, unmittelbar einen Anblid 
ihrer wahren Natur befigen, jo wenig müſſe unfer eignes Weſen 
eine untheilbare Einheit deshalb fein, weil mir felbft uns fo 
vorkommen. Ich will nicht unterfuchen, ob nicht dieſer Gedanke zu 
jenen Uebergenauigfeiten des Nachgrübelns gehört, die im Stillen 
fich ſelbſt um die Fehlſchlüſſe drehen, welche fie vermeiden möchten; 
in der Form, in welder er gewöhnlich geäußert wird, trifft er 
das nicht, was wir bier zu erweilen wünſchen. Denn nit 
darauf beruht unfer Glaube an die Einheit der Seele, daß wir 
und als ſolche Einheit erſcheinen, ſondern darauf, daß wir ung 
überhaupt erſcheinen können. Wäre der Inhalt defien, als 
was wir umd erfchienen, ein völlig anderer, kämen wir uns felbft 
vielmehr als eine zuſammenhangloſe Bielheit vor, fo würden wir 
auch Daraus, aus der bloßen Möglichkeit, daß wir überhaupt 
etiwie und vorlommen, auf die nothwendige Einheit unferes We- 
ſens zurücichliegen, diesmal in vollem Widerfpruch mit dem, 
was unfere Selbftbeobachtung uns als unfer eignes Bild vor- 
bielte. Nicht darauf kommt es an, als was ein Wefen fich 
ſelbſt erſcheint; kann es überhaupt fich felbft, oder kann Anderes 
ihm erfchernen, jo muß es nothwendig in einer volllommenen 
Untheilbarkeit feiner Natur als Eines das Mannigfache des 
Scheines zufammenfaflen Tönnen. 

Was und in diefer Frage zu verwirren pflegt, das iſt das 
etwas Teichtfinnige Spiel, das wir fo oft und mit dem Begriffe 
der Erſcheinung erlauben. Wir begnügen uns, ihm das Weſen 
entgegenzufegen, das den Schein wirft, und wir vergeflen, daß 
zur Möglichleit des Scheine ein anderes Weſen hinzugebacht 
werden muß, das ihn ſieht. Aus der verborgenen Tiefe des An- 
fihfeienden bricht, wie wir meinen, die Erjcheinung als ein Glanz 
hervor, der ba ift, ehe ein Auge vorhanden ift, in welchem er 
entftände, der ſich ausbreitet in die Wirflichkeit, gegenwärtig und 
faßber für den, der ihn ergreifen will, aber aud dann nicht 


176 


minder fortdauernd, wenn Niemand von ihm wüßte. Wir über- 
jehen dabei, Daß auch in dem Gebiete der finnlichen Empfindung, 
dem wir dieſes Bild entlehnen, der Glanz, welcher von den Ge- 
genftänden ausgeht, eben nur von ihnen auszugehen fcheint, und 
daß er felbft nur deswegen fcheinen Tann von ihnen zu fommen, 
weil unfere Augen dabei find, aufnehmende Werkzeuge einer 
wifjenden Seele, fir welde überhaupt Erfcheinungen entftehen 
können. Nicht um uns herum breitet ſich des Lichtes Glanz aus, 
fondern dieſe wie jede Erfcheinung hat Dafein nur in dem Be- 
wußtſein defien, für welchen fie ift. Und von diefem Bewußtſein, 
bon diefer Fähigkeit überhaupt, irgend etwas fich erfcheinen zu 
laſſen, behaupten wir, daß fie nothwendig nur der untheilbaren 
Einheit eines Weſens zukomme, und daß jeder Verſuch, fie einer 
irgendwie verbundenen Mannigfaltigkeit zuzuſchreiben, durch fein 
Miplingen unfere Weberzeugung von der überfinnlichen Einheit 
der Seele befräftigen wird. 


Kaum fohiene mir diefer einfache Gedanke eines weiteren 
Beweiſes bebirftig, wenn nicht Doch der Verfuche, ihn zu umgeben, 
fo viele wären. Denn immer noch erneuert ſich zuweilen Die 
zuverfichtliche Behauptung, die zufanmmenfaflende Einheit des Be- 
wußtſeins laſſe fi als der natürliche Erfolg der Wechſelwirkung 
vieler Elemente und ihrer Zuftände begreifen. Verſuchen wir 
darum zu erörtern, wie weit Die Möglichleit dieſer Erzeugung des 
Einen aus der Bielheit reicht. 

Die Zufammenfegung vieler räumlihen Bewegungen zu 
einer gemeinfamen Refultante ift immer das Vorbild gewefen, 
auf welches dieſe Verſuche mehr ober minder unmittelbar bie 
Hoffnung ihres Gelingens ftüßten. So wie hier zwei Bewegungen 
bon verſchiedener Richtung und Geſchwindigkeit fih zu einer 
dritten völlig einfachen vereinigen, in der feine Erinnerung mehr 
an den Unterfchieb ihrer beiden Urſprünge enthalten fei, ebenfo 








177 


werde aus der Mannigfaltigleit geiftiger Elementarbewegungen, 
bie in den verſchiedenen Beftandtheilen des lebendigen Körpers 
borgehn, die Einheit des Bewußtſeins als refultirende Bewegung 
entfpringen. Aber die Ueberredungstraft diefer Analogie beruht 
auf einer Ungenauigfeit ihres Ausdrucks und verſchwindet gänzlich, 
wenn dieſe befeitigt wird. Denn nicht von zwei Bewegungen 
ſchlechthin fpricht jener unzweifelhafte Lehrſatz der phyſiſchen Me- 
chanik, Tondern nur von zwei Bewegungen, deren Ausführung von 
irgend welchen Kräften einem und demfelben untheilbaren Maj- 
jenpunfte in einem und demfelben Augenblide zugemuthet wird. 
Die einfache Giltigfeit des Sates hört fogleih auf und weicht 
einer vernwidelteren Berechnung des herauskommenden Erfolgs, 
ſobald wir an die Stelle jenes untheilbaren Punktes ein wie 
auch immer feſt verbundenes Syſtem vieler Maſſen fegen, und Die 
verichiebenen Bewegungen auf verjchiedene Punkte diefer vereinigten 
Bielheit wirken Iafjen. Und die einfache Nefultante ſelbſt, die 
in dem erſten günftigeren alle entiteht, ift eben fo wenig eine 
Bewegung Ihlehthin, deren Richtung und Geſchwindigkeit zwar 
gefetglich beftimmt wäre, während die Maſſe unbeſtimmt bliebe, 
bon der fie ausgeführt wird; fie ift natürlich nur als eine Be— 
wegung befjelben untheilbaren Punktes zu denken, auf welchen Die 
gleichzeitigen verſchiedenen Bewegungsantriebe einwirkten. Ergänzt 
man diefe wenigen Nebengedanfen, die in der Grundlegung ber 
Mechanik nie vergefien und nur in den kurzen Berufungen auf 
Died Grundgejeg nicht weitläuftig wiederholt werden, To überſieht 
man mit einem Blid die Hoffnungslofigfeit jedes Verſuchs, Die 
Ableitung des einen Bewußtjeind aus der Wechſelwirkung vieler 
Theile dur die Glaubwürdigkeit des unbeftrittenen mechaniſchen 
Theorems zu empfehlen. Denn eben dieſen wejentlichen Beftand- 
theil des Theorems pflegt jene Wbleitung zu vernadläffigen; fie 
Ipriht gern von dem Zufammengeben der verſchiedenen Zuſtände, 
die in verfchievenen Elementen ftattfinden, aber fie macht jenes 
untheilbare Subject nicht nambaft, in welches fie einmlnden, 
durch deffen Einheit fie überhaupt zur Erzeugung einer Refultante 
Zope 1. 4. Aufl. 12 


178 


gendthigt werden und an welchem endlich, als fein Zuftand, dieſe 
Refultante eine begreifliche Wirklichfeit allein erft haben Könnte, 
Wie ein neues aus Nichts entftandenes Weſen ſchwebt über den 
Wechſelwirkungen der vielen Elemente in haltlofer Selbftändigfeit 
dieſes Bewußtſein, ein Bewußtſein ohne Jemand, deſſen Bewußt⸗ 
ſein es wäre. 

Verſuchen wir nun, dieſen Mangel zu tilgen und die mög- 
lichen Ergebnifle feftzubalten, zu denen diefer Weg führen Tann. 
Nehmen wir zuerft an, jedes der vielen Elemente, deren Wechiel- 
wirkung wir vorausfegen, verichmelze in ſich ſelbſt die Eindrücke, 
Die e8 von andern erfährt, zu der Einheit eines refultirenden 
Endzuftandes, fo würde die Summe diefer Refultanten zwar in 
gewiffen Sinne fi als Gefammtzuftand der ganzen vereinigten 
Bielheit jener Elemente faſſen laſſen, aber doch nicht in einem 
Sinn, in welchem diefer Gefammtzuftand der von uns gefuchten 
Einheit eines Bewußtſeins ähnlich wirbe. Denn im Grunde 
gilt von allen Zuftänden der Thätigfeit oder des Leidens daſſelbe, 
was wir von dem Bewußtjein behaupten: fie können alle in 
ftrenger Bedeutung nur von untheilbaren Einheiten ausgefagt 
werden. Stellen wir uns eine Anzahl von Atomen auf irgend 
eine Weiſe zu einer unveränderlichen Verbindung vereinigt vor, 
io daß fie jedem Bewegungsantrieb nur in Gemeinſchaſt folgen 
können: fchreitet diefer ganze Körper gerablinig vorwärts, jo wirb 
feine Bewegung doch nur die Summe der völlig gleichen Be— 
wegungen fein, welche feine einzelnen Theile für fi ausführen. 
Ya felbft dies ift zu viel gefagt, daß wir von einer Summe von 
Bewegungen ſprechen; in Wirklichfeit geſchieht hier nur derfelbe 
Borgang fo vielmal, als Atome vorhanden find, die ihn er- 
leiden können, und diefe Vorgänge, an ſich von einander getrennt, 
bilden weder eine Summe noch ein Ganze. Sie werden Dazu 
erft unter einer von zwei Bedingungen. Laſſen wir zuerft alle 
einzelnen Bewegungen jener Atome fi) auf ein und bafjelbe un— 
theilbare Element übertragen, fo werben fie fi in dieſem aller= 
dings zu der Einheit eines Zuſtandes fummiren, deſſen Subject 





179 


diefe8 Element ijt; aber hiermit wiirde zugleich die Yorm des 
Ereigniſſes verändert und an die Stelle einer Gefammtbemwegung 
Bieler nur ein Effect derjelben, die Bewegung einer Einheit 
getreten fein. Ohne dieſe Aenderung hat die Gefammtbewegung 
einer verbundenen Bielheit nur unter ber zweiten Bedingung 
Wirklichkeit, dann nämlich, wenn das eine Bewußtfein eines Beob- 
achters die Vorftellungen der vielen Einzelbemegungen, ohne fie 
zu verichmelgen, auf einander bezieht und ihre bleibende Vielheit 
Doch unter den Gedanken der Einheit zufammenfaßt. Denken wir 
und ferner ein anderes Syſtem von Atomen, die unter einander 
Ioderer verbunden und in Bewegungen von verſchiedenen Geſchwin— 
digfeiten und Richtungen begriffen find, fo wiirde von einer Ge— 
jemmtbewegung dieſes Syftems nur noch in dieſer zweiten Weife 
zu reden fein. Wir Könnten allerdings die Größe der verfligbaren 
Bewegung beftimmen, welde das ganze Syſtem nad Abzug der 
entgegengejeßten Wirkungen, die ſich wechſelſeitig aufheben würden, 
auf ein Element außer ihm zu übertragen vermag. Aber noch 
deutlicher ift an dieſem Beifpiel al8 an dem vorigen, baß die 
Einheit dieſes erzeugbaren Effecteß nicht gleichbedeutend mit ber 
Geſammtbewegung des Syſtemes felbft ift, denn zu diefer gehörte 
- ohne Zweifel auch die mannigfaltige Durcheinanderbewegung feiner 
Theile, die in der Einfachheit jenes Ergebniffes verſchwunden ift. 
Für das Ganze diefer Mannigfaltigfeit gibt e8 in der That nur 
einen Ort, wo e8 als Einheit wirklich ift: die zufammenfaffenbe 
Borftellung jenes Beobachters. In diefer allein hängt Das Ber 
gangene mit dem Gegenwärtigen und dem Yufünftigen zufammen, 
in der Wirklichkeit ift Das eine, menn das andere nicht ift; nur 
in diefer Vorftelung hat jede Formenſchönheit, jeder Reichthum 
und jede Bedeutung der Entwidlung wahrhaftes Dafein, denn 
nur in ihr beftehen eigentlih Die Verhältniffe des einen zum 
andern, auf denen dieſe Vorzüge alle beruhen; im Wirklichen 
arbeitet jeder einzelne Theil wie im Finftern und fieht feine 
Stellung zu den übrigen nicht, obgleich er die Einflüffe, die er 
von ihnen leidet, vielleicht in da8 Gefühl eines ihm wiberfahrenden 
12* 


180 


Zuftande8 verdichten mag. So werden alſo alle Leitungen einer 
verbundenen Mehrheit entweder ſtets nur eine Mehrheit gefonderter 
Leiftungen bleiben oder in eine nur dann wahrhaft verſchmelzen, 
wenn fie auf die Einheit eines Weſens, als deſſen Zuſtände, 
übertragen werden. Bon dem Bemwußtfein aber können wir Tagen, 
Daß es als Thätigfeit eines untheilbaren Weſens wohl die Durch- 
bringung des Mannigfadhen zu eimer Einbeit möglich made, Daß 
aber nie aus der Wechſelwirkung des Mannigfachen allein die 
Einheit eines Bewußtſeins entfpringen könne. 

Von dieſen allgemeinen Erörterungen wenden wir uns noch 
einmal zu unſerem eigentlichen Gegenſtande zurück. In den mannig- 
fachen verbundenen Atomen des Körperd nehmen wir noch einmal 
jenes innerliche feelifche Leben an, welches die Anficht, von der wir 
ausgingen, aller Materie zutrauen zu müflen glaubte Möge 
nun ein gemeinfamer Sinnedreiz, wie vorhin ein gemeinfamer 
Bewegungsanftop, auf alle zugleich wirken, jo werben wir Die 
entftebende Empfindung doch nirgend anders als in Dem Innern 
jedes einzelnen Atomes fuchen Finnen. Sie wird fo oft da jein, 
als es untheilbare Weſen in dieſer verbundenen Menge gibt, 
aber dieſe vielen Empfindungen werden nirgend zu einer gemein= 
famen Gefammtempfindung zufammenftoßen, e8 jei denn, Daß 
außer ihnen allen ein bevorzugtes Weſen hinzugedacht wird, auf 
welches alle ihre innern Zuſtände übertragen, dann wird dieſes 
die Seele eines ſolchen Körpers fein. Und Iaffen wir wieder, wie 
vorhin verſchiedene Bewegungen, fo jet verſchiedene Empfindungen 
in den einzelnen Elementen dieſes Ganzen entjtehen, und nehmen 
wir an, daß jevem die Möglichkeit gegeben fei, feine eigne Er— 
regung irgendwie zur Anregung auch des anderen zu verwerthen, 
fo wird auch hier wohl jedes einzelne Wefen nad) feiner eigen- 
thümlichen Stellung zu den übrigen auf feine bejondere Weile von 
ihren Einflüffen leiden und Die überall her empfangenen Eindrüde 
in fich verfchmelzen oder verfnüpfen. Aber das neue Empfinden 
oder Wiflen, das aus dieſen Wechſelwirkungen entjteht, wird Doch 
ein Dafein immer wieder nur in den einzelnen Elementen haben, 











181 


deren jedes in feiner Einheit die mannigfaltigen Eindrücke zur 
Mifhung zufammendrängt. Es war vielfach das gleihe Wiſſen 
vorhanden, wenn jedes Element die Einflüffe aller andern in 
gleicher Weife erlitt; e8 wird hier ein vielfach verſchiedenes Wiſſen 
entftanden jein, wenn bie nicht gleichartigen Verhältniſſe, in 
welchen die einzelnen zu einander ftehen, jedem von ihnen eine 
befondere Mifhung der Eindrüde verurfachen, die bis zu ihm 
reihen können. Aber feines von ihnen wird im letzteren alle 
die Mannigfaltigfeit aller entftandenen Zuſtaͤnde überjehen: dieſer 
Sefammtbetrag der Empfindung oder des Wiſſens wird als ſolcher 
nur für einen neuen Beobadter außerhalb vorhanden fein, ber 
wiederum in der Einheit feines untheilbaren Weſens die zeritreuten 
Thatjachen zu eimem nur ihm erfcheinenden Totalbilde ſammelt. 
Sp wie der Zeitgeift, die öffentliche Meinung, nicht neben und 
zwiſchen den perjönlichen Weſen ſchwebt, fondern ihr Dafein ſtets 
nur in dem Bewußtſein der Einzelnen bat, unvolllommen und 
nur al8 Bruchftüd in denen, die ohne Ueberblid in Die Wechfel- 
wirfungen verflodten find, welche fih um ihre Stellung herum 
entipinnen, vollflommener nur in der Anfchauung deffen, welcher 
die größte Menge fremder Stimmungen vergleidhend beurtbeilt, 
jo werden bier die verfchiedenen geiftigen Elemente, welche Diefes 
lebendige Syſtem zufammenfeßen, verſchiedene Anſchauungen des 
Ganzen entwideln, in welchem fie befaßt find; die vollkommenſte 
aber wird in jenem Elemente entftehen, das durch einen urfprüng- 
lihen Vorzug feiner Natur oder dur die Gunft feiner Stellung 
zu den übrigen, als beherrſchende Monade, alle Wechfelwirkungen 
der Theile des Ganzen am Iebbafteften in fi fammelt und am 
lebhafteften auf die fo ihm zu Theil gewordenen Eindrüde zurüd- 
zuwirken vermag. 

Auf diefe Vorſtellungsweiſe führt in Wahrheit der Verſuch 
zurüd, die Einheit des Bewußtfeind aus der Wechſelwirkung Vieler 
abzuleiten. Selbft unter der Vorausſetzung jenes feelifchen Lebens 
aller Materie gelangen wir auf Diefem Wege zwar zu einer Aen⸗ 
derung, aber nicht zu einer Aufhebung des Gegenjates zwiſchen 


182 


Leib und Seele. Denn allerdings eine qualitative Verſchiedenheit 
ihrer Naturen trennt beide unter dieſer VBorausfegung nicht; aber 
in Eins verjchmelzen fie noch weniger; immer bleibt die eine und 
individuelle herrſchende Seele in völliger Sonderung den gleidh- 
artigen aber dienenden Monaden gegenüberftehen, deren verbundene 
Menge den lebendigen Körper bildet. Es mag für den Augen- 
blick dahingeftellt bleiben, ob für die Erflärung der Erſcheinungen 
dieſe Auffafjung des Lebens, als einer Wechſelwirkung von Seelen 
und Seelen, größere Vortheile bietet, als der Gegenſatz des 
Geiſtes zu dem körperlichen Stoff, den wir unfern Betrachtungen 
zu Grund legten. Iſt die herrichenne Monade diejenige Seele, 
welche unfer Ich bildet, und deren innere Regungen wir zu ver- 
ftehen fuchen, jo bleibt wenigftens uns, den Unterfuchenden, das 
Innere jener andern Monaden völlig verichlofien; wir Tennen von 
ihnen nur die MWechfelwirkungen, durch die fie und als Materie 
ericheinen, und nur unter biefem Zitel und mit den Anfprüchen, 
die durch ihn begründet find, werden fie von ung in der Unter- 
ſuchung der einzelnen Vorgänge verwendet werben Können. 


Nicht daraus ſchloſſen wir die Einheit der Seele, dag wir 
uns als Einheit ericheinen; fondern Died, daß uns überhaupt 
etwas erſcheinen kann, überzeugte und von der Ungetheiltheit unſers 
geiftigen Weſens. Ich werde vielleicht iberzeugender fein, wenn 
ich die unterfcheidende Natur des Bewußtſeins ausdrücklich ber- 
vorhebe, Die ich bisher ſtillſchweigend vorausfegte. ‘Die Vorſtellung 
von dem Berfchmelzen mehrerer Zuftände zu einem mittleren, 
von vefultivenden Kräften oder Erfolgen, die aus der Kreuzung 
einzelner Wirkſamkeiten entfprängen, haben nadtheilig genug auf 
Die Erklärung der inneren Erſcheinungen eingemwirkt; es iſt ber 
Mühe wertb, zu zeigen, wie ganz anders geartet die Natur des 
Borftellens ift, und wie völlig und auf dieſem Gebiete die ge- 
wohnten Betrachtungsmerfen der Naturmiffenichaften verlaffen, 








183 


denen das Bisherige nod eine unmittelbare Anwendbarkeit zus 
zugeftehen ſchien. 

Sehen wir in der Natur aus zwei Bewegungen bald Ruhe, 
bald eine dritte mittlere entftehen, in welder fie unfenntlich 
untergegangen find, To bietet fih uns Aehnliches im Bewußtſein 
nirgend® dar. Unſere Borftellungen bewahren durch alle ver: 
ſchiedenen Schickſale hindurch, die fie erfahren, denfelben Inhalt, 
den fie früher befaßen, und nie jehen wir die Bilder zweier 
Farben in unferer Erinnerung zu dem Gefanmtbild einer dritten 
aus ihnen gemiſchten, nie die Empfindungen zweier Töne zu der 
eines einfachen zwifchen ihnen gelegenen, niemals die VBorftellungen 
von Luft und Leid zu der Ruhe eines gleichgiltigen Zuftandes ſich 
mifchen und ausgleihen. Nur fo Lange verjchiedene der Außenwelt 
entipringende Reize noch innerhalb des körperlichen Nervengebietes, 
durch deſſen Vermittlung fie auf die Seele wirken, nad phyſiſchen 
Geſetzen einen Mittelzuftand erzeugen, läßt ung biefer, als einfacher 
Anftoß nun dem Geifte zugeführt, auch nur die einfadhe Mil: 
empfindung entwideln, ftatt der beiden, die wir getrennt wahrgenont- 
men haben würden, wenn die Reize und gefondert hätten zufommen 
können. So milden ſich für unfere Empfindung wohl die Farben 
an den Rändern, mit denen fie im Raum ſich unmittelbar berühren; 
aber die Bilder der Farben, die in unferer Erinnerung raumlos 
und ohne Scheidewand zufammen find, rinnen nicht in das ein- 
förmige Grau zujammen, da8 wir als Mittelergebnig erwarten 
müßten, wenn überhaupt das Berjchiedene in unferer Seele fich 
ausgleichend verfchmölzge. Aber das Bemußtfein hält im Gegen- 
theil das Berjchiedene auseinander in dem Augenblide ſelbſt, in 
welchem es feine Vereinigung verſucht; nicht in der Miſchung läßt 
ed die mannigfachen Eindrüde unkenntlich zu Grunde gehen, fon- 
dern indem e8 jedem feine urſprüngliche Färbung läßt, beivegt es 
fi) vergleihend zwijchen ihnen und wird ſich babei der Größe 
und der Art des Weberganges bewußt, durch den e8 von dem 
einen zum andern gelangte. In dieſer That des Beziehen und 
des Vergleichens, den erften Keimen alles Urtheilens, befteht das, 


184 


was auf geiftigein Gebiet, völlig anders geartet, der Refultanten- 
bildung phyſiſcher Ereigniffe entſpricht; hierin Liegt zugleich Die 
wahre Bedeutung jener Einheit des Bewußtſeins. 

Wenn zugleich ein ftärkerer und ein ſchwächerer Ton gleicher 
Höhe und gleichen Klanges unfer Obr treffen, jo hören wir nur 
denfelben Ton ftärker, nicht beide getrennt; ihre Wirkungen fallen 
bereit in dem Gehörnerven zufammen und die Seele Tann in 
dem einfachen Reize, der an fie gelangt, feinen Grund zu einer 
Spaltung in zwei Wahrnehmungen finden. Aber wenn beide 
Töne nad einander erllangen, jo daß das Sinnesorgan ihre Ein- 
drücke gejondert leiten konnte, jo entſteht aus ihren Borftellungen, 
welche die Erinnerung aufbewahrt und zu dem Zwecke der Ber- 
gleihung in demfelben Augenblid beide wieder insg Bewußtfein 
führt, nicht mehr die Vorſtellung eines dritten Tones von größe— 
rer Stärke, ſondern beide, obwohl ohne Scheivewand in dem un- 
räumlichen Auffafien gegenwärtig, bleiben als gejonderte einander 
gegenüber. Und entftände jener mittlere Ton, jo wiirde er nicht 
eine Bergleihung beider, fondern nur ein Zuwachs des zu ver 
gleichenden Materials fein für ein Bewußtjein, das zu vergleichen 
verftände. Die VBergleihung, welche wir wirklich vollziehen, be- 
fteht in dem Bewußtwerden der eigenthümlichen Veränderung, 
die unjer Zuftand erfährt, indem wir von dem einen Tone vor= 
ftellend zum andern übergehen, und im ihr entjteht uns ftatt 
eines dritten gleichen Tones ein ungleich größerer Gewinn: Die 
Borftellung eines intenfiven Mehr oder Minder. Roth und Gelb 
verichmelzen, wenn fie, jchon im Auge ſich mijchend, nur als ein- 
facher mittlerer Reiz unferer Seele ſich nähern; in unferer Erin- 
nerung bleiben die getrennt empfundenen getrennt und e8 entfteht 
nicht aus ihnen der Eindrud des Orange; entftände er, jo wäre 
auch durch ihn nur vergleichbares Material vermehrt, nicht die 
Bergleihung vollzogen. Sie wird vollzogen, indem wir uns ber 
Torm des Wechſels bewußt werden, den unfer Zuflend in dem 
Mebergang von Roth zu Gelb erfährt, und wir gewinnen durch 
fie die neue Vorftellung qualitativer Nehnlichkeit und Unähnlichkeit. 








185 


Bergleichen wir endlich einen Eindrud mit ſich felbft, fo ift nicht 
das Ergebniß, daß der doppelt gedachte zu einer Verboppelung 
feiner einfaden Stärke führte, fondern indem wir bie Thätigfeit 
bes Vebergehens wahrnehmen, ohne eine Aenderung in ihrem 
Ergebniffe zu bemerken, erlangen wir bie VBorftellung der Gleich: 
heit. Wir haben feinen Grund, dieſe Beifpiele mehr zu häufen; 
befannt genug ift Jedem das innere Leben, um fchon hier die 
allgemeine Ueberzeugung zu erweden, daß alle höheren Aufgaben 
unferer Erfenntniß und unferer ganzen geiftigen Bildung auf 
derfelben Schonung beruhen, mit welcher das Bewußtſein das 
Mannigfaltige der Eindrüde in feiner Mannigfaltigkeit, in allen 
Unterfchieden feiner Färbung beftehen läßt, und daß nichts fo 
weit von den nothwendigen Gewohnheiten der Seele entfernt ſein 
fonn, als jene Bildung refultivender Mifchzuftände, mit deren 
Hilfe man fo oft und fo unbedacht alle Weiterentwidlung, ja 
jelbft alle urfprüngliche Entftehung unferer inneren Regungen er- 
Hören zu innen glaubt. 

Diefe Thaten nun eines beziehenden und vergleichenven 
Wiffens wird kaum Jemand geneigt fein, noch als Handlungen 
eines Aggregates Mehrerer zu betrachten. So lange e8 fih nur 
darum handelte, daß alle Vorftellungen in demfelben Bemußtfein 
verfammelt find, daß alle aufeinander Wechfelmirkungen ausüben 
und wechjelfeitig fi} verbrängen oder hervorrufen, fo Lange konnte 
man fich wenigften® leidlich dariiber täufchen, daß doch auch fchon 
diefe Erfheinungen die Einheit ihres Trägers nothwendig machen. 
Man konnte das Bewußtſein als einen Raum anjehen, in welchem 
ſich dies mannigfaltige Spiel drängt, und dahin geftellt laſſen, 
woher eigentlich die Beleuchtung des Gewußtwerdens ftammt, in 
der e8 fich bewegt. Das thätige Element Dagegen, welches von 
einem zum andern libergehend, beides beftehen läßt, aber fich der 
Größe Art und Richtung feines Uebergehend bewußt wird, dieſes 
eigenthiimlichite Band zwiſchen dem Bielfachen kann unmöglich ſelbſt 
ein Bielfaches fein; wie alle Wirfungen überhaupt nur in ver 
Einheit eines untheilbaren Weſens, in der fie ſich treffen, ver- 


186 


bunden werden, jo erfordert noch mehr dieſe beſondere Weile, 
Mannigfaches zu verfnüpfen, die ftrenge Einheit des Verknüpfenden. 
Jeder Berfuh, an ihre Stelle eine irgendwie verbundene Mehr: 
beit zu jegen, wiirde auch hier nur zu den Folgen zurüdführen, 
Die wir bereit8 erwähnten, und buch deren Wiederholung wir 
nit ermüden wollen. 


Die Notbmendigfeit, für zwei unvergleihbare Kreife von 
Erſcheinungen zunächft zwei gefonderte Erflärungögründe zu ver 
langen, verbot uns jeden Berfuh, dus Wirkungen materieller 
Stoffe, jo fern fie materiell find, das innere Leben als einen 
jelbftverftändlihen Erfolg ableiten zu wollen. Die andere Noth- 
wendigfeit, Die Thatjache der Einheit des Bewußtſeins anzuerkennen 
und die Einfiht in die Unmöglichkeit, dieſe Einheit aus der 
Wechſelwirkung irgend welcher Vielheit zu erzeugen, Tieß uns auch 
von der Annahme eines verborgenen feelifhen Lebens in alle 
dem, was wir Materie nennen, feinen Bortheil für die Erklärung 
der einzelnen Erjeheinungen hoffen. Wir drüden daher am ein- 
fachiten das bisher erreichte Ergebniß in ber längft gemöhnlichen 
Form einer Trennung der überfinnlichen Seele von dem finnlichen 
Körper aus, gleichviel, worauf das Dajein oder die Ericheinung 
des letzteren felbft beruhen möge. Unſer Weg wird noch lang fein, 
und manche feiner Wendungen wird uns vielleicht neue Anfichten 
auch über das eröffnen, was wir jegßt nur in Diefer erwähnten 
Projection erbliden können. Für mißverſtändlich aber würden 
wir eine Sehnfuht nach Einheit halten, die ſchon hier Diefen 
Iharfen Gegenjaß in irgend einem Höheren zu vermitteln eilte, und 
in Wirklichkeit nur feine nothmwendige und deutliche Auffaffung ver- 
dunfeln würde. Wir leugnen nicht, daß es einen jo hohen Stanb- 
punft der Betrachtung geben fann, für welchen der Unterſchied des 
Geiftigen und Körperlichen in feinem Werthe verblaßt, oder als 
eine Täufhung begriffen werden kann. Aber das Gebeihen 








1837 


unferer Anfichten hängt weniger von der Erreichung dieſes Staud- 
punktes ab, als e8 Durch feine verfrühte Borausnahme gejchmälert 
wird. Auch die Kämpfe und Mühen des Lebens ericheinen einem 
geſammelten Weberblide zulett als eine Uebung, deren Werth 
nicht eigentli in der Erreihung eines Zieles Tiegt; die irdiſchen 
Zwecke mögen in nichtige Kleinheit zuſammenſchwinden im Ber- 
gleih mit der endlichen Beitimmung, die wir ahnen; bittere 
Gegenfäte unſeres Dafeins verlieren ihre Schärfe und Bedeutung, 
an dem Ewigen und Unendlichen gemejjen, auf welches unfere 
fehnfüchtigen Blicke fi) richten. Und doch werben wir in jenen 
Vebungen fortfahren, diefen beſchränkten Zielen alle Wärme unferes 
Gemüthes widmen, dieſe Gegenfäße empfinden und den Kampf 
um fie immer wieder erneuern müfjen; unfer Leben würde nicht 
edler werben durch die Geringſchätzung feiner Verbältniffe und 
des Spielraums, den es unferer firebenden Kraft darbietet. So 
mag auch jener Gegenjat zwiſchen körperlichem und geiftigem 
Dafein fein letter und unverföhnlicher fein, aber unfer gegen: 
wärtiges Leben fällt in eine Welt, in der er nod nicht gelöſt ift, 
fondern als ungelöfter allen Beziehungen unſeres Denkens und 
Handelns zu Grunde Tiegt. Und ebenjo wie er beftändig dem 
Leben unentbehrlich fein wird, ift er zunächſt wenigſtens unent- 
behrlich für die Wiſſenſchaft. Was uns als unvereinbar fich gibt, 
haben wir zuerft jedes auf fein befonderes Princip zu gründen. 
Kennen wir den natürlichen Wuchs und die Verzweigung jeder 
einzelnen der Ericheinungsgruppen, Die wir fo gefchteven haben, fo 
wird es fpäter möglich fein, von ihrer gemeinjamen Wurzel zu 
reden. Gie zu früh vereinigen wollen, würde nur heißen, ihre 
Ueberſicht trüben und den Werth verfälichen, den jeder Unterſchied 
auch dann bat, wenn er nicht unaufheblich ift. 


188 


Zweites Kapitel. 


Natur und Bermögen der Seele. 





Die Mehrheit der Seelenvermögen. — Wängel ihrer Annahme. — Ihre Vereinbarkeit 
mit der Einheit ber Seele. — Iinmittelbare unb erworbene Bermögen, Unmöglichkeit 
eineß einzigen Urvermögense. — Borftelen, Fühlen und Wollen. — Beftänbige 
Thättgkeit des ganzen Weſens der Seele. — Niebere und höhere Rüdwirtungen. — 
Veränderlichleit der Seele und ihre Grenzen. — Das belannte und das unbekannte 
Weſen der Seele. 


Nur dazu haben uns die bisher betrachteten Erſcheinungen 
beredhtigt, in der Seele jenes unbelannte Weſen zu ſehen, beflen 
ungetheilte Einheit die Mannigfaltigfeit des inneren Lebens zu- 
fammenhält: fie haben noch feine Aufklärung über die wejentliche 
Natur gegeben, mit welcher die Seele dieſe leere Form der Einheit 
ausfüllt und die buntfarbige Bielheit ihrer Zuſtände entwidelt. 
Eine vollftändigere Ueberficht der inneren Erfahrung wird gleid- 
wohl der einzige Weg zur Löſung auch dieſer Trage fein; wir 
haben keine andere Einfiht in das Weſen der Seele außer ber- 
jenigen, welche ung die Rückſchlüſſe von den beobachteten Thät- 
ſachen unſeres Bewußtſeins gewähren. So müſſen wir ihre 
Natur denken, wie fie jein muß, wenn fie das Toll leiden können, 
was wir als ihre Zuftände, und das leiſten, was wir als ihre 
Thätigkeiten in uns vorfinden. Bon einer Bergleihung ber 
inneren Ereigniſſe werden wir deshalb ausgehen müſſen; Aehn- 
liches zufammenftellend, Unähnliches fondernd, werden wir das 
Mannigfache in Gruppen jammeln, deren jede das in ſich ver- 
einigt, was durch die Gleichheit feines allgemeinen Gepräges 
zufammengehört und von Anderögeartetem fich ſcheidet. Die 
inneren Erſcheinungen find abweichend genug von einander, um 
es wahrſcheinlich zu machen, daß biefe Vergleihung, fo Yange 
fie feine anderen Geſichtspunkte einmifcht, mit der Auffindung 
mehrerer gejonberten Gruppen enbigen wird, deren eigenthimliche 









189 — 


Unterſchiede auf einen gemeinfamen Ausbru 
gelingt. Bon den veränderlichen äußeren Bedingungen, 
die Thätigfeit der Seele weden, werden wir wohl jene kleineren 
Unterfhiede abhängig denken, welche innerhalb jedes einzelnen 
Kreifed die in ihm  zufammengehörigen Aeußerungen trennen, 
ohne die allgemeinere Aehnlichkeit ihres Charakters aufzuheben. 
Aber für das Ganze jedes Kreifed von Erſcheinungen werden 
wir Doch ber Seele eine eigentbümliche Anlage zufchreiben müfjen, 
in der Weiſe thätig zu fein, die ſich in allen feinen befonderen 
Gliedern gleihmäßig als berrihend erweiſt. Wie viele auf 
einander nicht zurüdführbare Gruppen der Ereigniffe uns mithin 
die Beobachtung übrig läßt, jo viele gejchiedene Vermögen der 
Seele werden wir vorausfeßen müffen, aber wir werden über: 
zeugt bleiben, daß fie dennody nicht als eine zufammenhanglofe 
Mehrheit von Anlagen neben einander in ihre Natur eingeprägt 
find, fondern daß zwiſchen ihnen eine Verwandtſchaft ftattfindet, 
durch welche fie als verichievenartige Ausdrücke eines und deſſelben 
Weſens zu dem Ganzen ſeiner vernünftigen Entwicklung zuſam⸗ 
menſtimmen. 

So erwuchs die bekannte Lehre von den Seelenvermögen, 
mit ihren erſten Keimen ſchon der gewöhnlichen Auffaſſung des 
täglichen Lebens angehörend. Lange als Lieblingsgegenſtand der 
Wiſſenſchaft gepflegt und mehrfach zu ausführlichen Lehrgebäuden 
entwickelt, iſt ſie allmählich in Mißachtung gerathen und kaum 
würde man gegenwärtig mehr in ihr ſehen wollen, als eine erſte 
und vorläufige Ueberſicht der Thatſachen zum Zwecke einer Unter- 
ſuchung, die nun erft auf fie folgen fol. Und in ber That 
werben wir zugeftehen müffen, daß fie für die Aufflärung ber 
Erſcheinungen im Einzelnen allzumenig leiftet. Es würde eine 
Täuſchung fein, wenn man in dem Begriffe der Seelenvermögen 
ein ebenfo wirkfames Mittel der Unterfuhung zu befigen glaubte, 
wie die Naturmwiffenfchaft ein ſolches in dem Begriffe der wirkenden 
Kraft gewonnen hatte. Was diefem feine Fruchtbarkeit gibt, 
fehlt jenem, ber dagegen völlig die Fehler wiederholt, um beven 


190 


willen der verwandte Begriff der Lebenskraft ſich in vergeblichen 
Berfuhen zur Erklärung der Tebendigen Ericheinungen erſchöpft. 
Wo die Phnfit Gebrauch von ihrem Begriffe der Kraft madt, 
begnügt fie fich nicht, Diefe durch die Form und das Ausfehen 
ihres Erfolges zu charakterifiren; fie redet nicht von anziehenden 
oder abftoßenden Kräften iiberhaupt, fondern fie fügt ein Gefet 
hinzu, nad weldem die Größe ihrer Wirkſamkeit fich ändert, 
wenn genau angebbare Bedingungen, an bie fie gebunden ift, 
eine ebenfo beftimmt zu meſſende Beränderung ihres Werthes 
erfahren. Nur dadurch ift fie in den Stand gefegt, das beftunmte 
Ergebniß zu berechnen, welches jede Kraft unter gegebenen Ber- 
hältniffen Tiefern wird; nur dadurch gelingt es ihr überhaupt, an 
bie beftändig gleiche Wirkfamfeit derjelben Kraft die mannigfachften 
Erfolge zu fnüpfen, die zunächſt zwar nur ihrer Größe nad fi 
unterfeiden, aber in ihrem Zuſammentreffen mit anderen in 
gleicher Weife beftimmten Wirkungen zu einer unüberſehbaren 
Bielheit auch der formverſchiedenſten Ereigniffe führen. Der Be- 
griff der Seelenvermögen bietet dieſe Vortheile nicht. Einfeitig 
abgeleitet aus der allgemeinen Form, die einer Menge mannig- 
faltiger Vorgänge gemeinfan zufommt, bejtimmt natürlich auch 
rückwärts jedes derfelben nur im Allgemeinen wieder die Form, 
die feinen Aeußerungen zukommt. So wird ohne Zweifel das 
Borftelungdvermögen Borftellungen, das Gefühlsvermögen Ge- 
fühle erzeugen, aber es fehlt an Regeln der Beurtbeilung, Die 
über dieſe unnütze Gewißheit hinaus uns ſchließen Iehrten, melde 
Borftellung unter welchen Umftänden entftehen oder was gefchehen 
wird, wenn mehrere Aeußerungen befielben Vermögens zufam- 
mentreffen. 

Ueberall freilich hat aud die Naturwiſſenſchaft die Wirkungs- 
gefege ihrer Kräfte nicht beftinnnen können; aber wo fie es nicht 
vermochte, gibt fie eben zu, für bie wirfliche Erflärung der Erſchei⸗ 
nungen noch nicht hinlänglich vorbereitet zu fein. Selbft in folden 
Fällen bietet ihr jedoch ihr Begriff der wirkenden Kraft noch Vor⸗ 
theile, die dem der Seelenvermögen abgehen. Die Wirkungen der 








191 


natürlichen Kräfte find untereinander ftet8 vergleichbar; denn wie 
wunderfam verichieben auch die inneren Zuftände der Elemente fein 
möchten: die äußeren Veränderungen, in denen fie fihtbar werben 
innen, werben ſich zulegt immer auf Bewegungen im Raume zurüd- 
führen laſſen, die nur nad) Geſchwindigkeit und Richtung unterfchte- 
den find. Deshalb ift die Phyſik im Stande, die allgemeinen Rech⸗ 
nungsregeln der Mathematik auf fie anzumenden und mit Beftimmt- 
heit den Erfolg anzugeben, welchen das Zufammentreffen mehrerer 
Kräfte an demfelben Elemente hervorbringt; aus zwei einfachen 
geradlinigen Bewegungen fehen wir bald das Gleichgewicht der Ruhe, 
bald eine gleichförmige Geſchwindigkeit in mittlerer Richtung, bald 
beftändige Kreisläufe in gefrümmten Bahnen entfiehen. Und um 
diefer Vergleichbarkeit der Kräfte willen ift e8 jelbft dann, wenn 
ihre Geſetze nicht genau befannt find, noch immer möglich, aus der 
Form ihrer Wirkſamkeit wenigftens einen wahricheinlichen Weber: 
ihlag des Erfolges zu entnehmen, den ihr Zuſammenwirken haben 
wird, und beffen muthmaßlichen Werth zwiſchen beftimmte Grenzen 
einzufchließen. Dem gegenüber ericheinen die Seelenvermögen al8 
unvergleichhar unter einander; war doch jedes von ihnen eben nur 
aus dem eigenthüimlichen Charakter feiner Neuerungen abgeleitet, 
den man verzweifelte, mit dem unterfcheidenden Gepräge der anderen 
auf einen gemeinfamen Geſichtspunkt zurüdzubringen. Wie Daher 
eine That des Vorftellungsvermögend auf das Vermögen der Ge: 
fühle einwirken, wie dieſes ferner Strebungen veranlaffen oder hem⸗ 
men werde, das errathen wir zwar ohne die Wiffenichaft Leiblich, 
indem wir bem Inſtinete unferer inneren Erfahrung folgen; aber 
in dem Begriffe diefer Vermögen Tiegt nichts, was uns befähigte, 
biefen Tact des richtigen Urtheils zu einer Haren wiſſenſchaftlichen 
Einſicht in die gegenfeitige Abhängigkeit Diefer Vorgänge zu fleigern. 

Fügen wir endlich noch eines hinzu. Die Phyſik gibt mit Be- 
ftimmtheit die Bedingungen an, unter denen überhaupt von einer 
Wirkſamkeit der angenommenen $räfte die Rede fein kann. Sie 
unterjcheidet jene Grundfräfte, die als beſtändig der Maſſe anhaf- 
tend gedacht werden können, weil ihre Bedingungen beftändig reali⸗ 


192 


firt find, und die deshalb ſtets vorhanden nur noch auf einen Gegen- 
ftand zu warten fcheinen, an dem ihr Einfluß fihtbar werden Tann; 
fie ftellt ihnen jene anderen Leiftungsfähigfeiten gegeniiber, bie ein 
Clement nit von Anfang an befigt, fondern unter Umftänden er- 
wirbt, und die deshalb, jet auftretend, dann wieder verichwindend, 
eine wiſſenſchaftlich zu verfolgende Geſchichte ihres Entſtehens Haben. 
Auch hierin befindet fih die pſychologiſche Lehre im Nachtheil. Sie 
fonnte feines ihrer Vermögen als eine beftändig von der Seele aus⸗ 
geübte Thätigkeit faffen; ein Vorſtellen, das auf feinen Gegenftand, 
ein Gefühl, das auf feine Färbung, ein Wille, der auf fein Ziel 
noch wartete, erſchienen zu auffällig als widerfinnige Annahmen; 
man fühlte, daß fie ſämmtlich nur Leiftungen find, zu deren Aus- 
führung die Seele erft durch beftimmte Eindrüde angeregt und 
befähigt wird; eben deshalb fette man fie unter dem Namen der 
Bermögen den Kräften entgegen. Aber die Geſchichte ihres Zu— 
ftandefommens aus dem Zuſammentreffen jener Eindrüde mit der 
Natur der Seele hat man zu wenig verfolgt, und der Mangel dieſes 
Nachweiſes ließ fich nicht dadurch ausgleichen, daß man claffificirend 
Die verſchiedenen Vermögen nad der größeren Allgemeinheit ober 
Beſonderheit ihrer Aeuperungen einander über- und unterorbnete. 
Denn immer erichten jo Vieles gleich urfprünglih und neben ein- 
ander, was in Wahrheit durch die fortichreitende Bildung des Le- 
ben erft erworben und angelibt, fehr verſchiedene Stellen nady ein- 
ander in der wirflihen Entwidlung des geiftigen Xebens einnimmt. 
Die unbeſtimmten Borftellungen endlich von einem Schlummer und 
dem nachfolgenden Erwachen einzelner Vermögen waren nicht geeig- 
net, für die im Allgemeinen fehlende Einfiht in das Zufammen- 
greifen und Die gegenfeitige Unterſtützung ihrer Wirkungen zu ent- 
ſchädigen. 

So verlor man den eigentlichen Zweck der wiſſenſchaftlichen 
Unterſuchung aus den Augen, die Nachforſchung nach dem urjäd- 
lihen Zuſammenhange, durch welchen Schritt für Schritt jedes ein- 
zelne Ereigniß des Seelenlebens aus feinen Borangängen entfpringt 
und feinerjeit8 auf Die Geftaltung des nächſten Augenblides Ein- 








193 


flug übt. Darauf aber muß jede Wiſſenſchaft, der ihre zukünftigen 
Anwendungen am Herzen Liegen, bedacht fein, daß es ihr möglich 
werde, aus dem vorhandenen Zuftande Vergangenes und Kommen= 
des zu errathen. Und wo die uniiberjehbare Verwidlung der mit- 
wirfenden Bedingungen, wie in dem Falle des Seelenlebens, die 
erihöpfende Löſung diefer Aufgabe ſtets ummöglih machen wird, 
müfjen wir doch wenigftens nad) einer ſolchen Ueberſicht des urſäch⸗ 
lihen Zufammenhangs ſtreben, weldhe im Ganzen und Großen mit 
mehr Sicherheit, als die unbeftimmte Schägung eines natürlichen 
Inſtinctes gewährt, die Umrifje des Künftigen und die vergangenen 
Gründe der Gegenwart erkennen lehrt. Nur dieſe Kenntniß würde 
uns befähigen, in der Erziehung die Gegenträfte in Bewegung zu 
jegen, Die geeignet find, unerwünſchte Ergebnifje zum Beſſeren zu 
wenden. Für dieſe Aufgabe bietet Die Lehre von den Seelenver- 
mögen feine Löſung; fle wiederholt und eigentlich nur farbloſer und 
bon ferne den allgemeinen Umriß der Ericheinungen, die wir in der 
vollen Mannigfaltigkeit ihrer lebendigen Localfarben unmittelbar in 
ung beobachten, aber fe ſchweigt über die unferer Beobachtung ent- 
zogenen Ereignifje, die dieſes mannigfache Spiel eben jo ungefeben 
hervorbringen, wie die unwahrnehmbaren Schwingungen des Aethers 
die Welt des ſinnlichen Lichts und ſeiner wunderbaren Brechungen. 


Nun könnte man geneigt ſein, dieſe Mangelhaftigkeit nicht 
dem Grundgedanken, ſondern der noch unfertigen Ausführung der 
Lehre zuzurechnen. Vielleicht, nachdem ſorgfältige Beobachtung von 
den urſprünglichen Vermögen der Seele diejenigen abgetrennt haben 
wird, die augenſcheinlich nur im Verlaufe der Bildung erworbene 
Fähigkeiten find, gelangt fie noch dazu, für jene Uranlagen die Geſetze 
ihrer Wirkfamfeit und ihres wechfelfeitigen Einflufjes zu entveden. 
Aber ehe wir diefer Hoffnung einen Schritt weiter nachgehen, müſ⸗ 
jen wir eines Einwurfes gedenken, ber fie kurz abzufchneiden droht. 

Jede Mehrheit urfprünglicher Vermögen wiberfpreche der Ein- 
beit der Seele; fie zu Grunde zu legen, fei eben fo unvereinbar 

Zope I. 4. Aufl. 13 


194 


mit der nöthigen Strenge des Gedankens, als unerſprießlich für 
die Abſicht der Erflärung, deren Befriedigung verkürzt werbe, jo- 
bald man eine Mamnigfaltigleit von Leiftungen, deren Herleitung 
aus einer einzigen Duelle eben das Geſchäft der Wiſſenſchaft fein 
müßte, al8 neben einander vorhandene und einer Erläuterung ihres 
Urſprungs unbebürftige hinnehme. Man bat fich fo jehr gewöhnt, 
hierin das Entfcheidendfte zu erbliden, was gegen die Lehre von den 
Seelenvermögen eingemendet werden kann, daß wir falt zögern, eine 
entgegengefegte Anficht gelten zu machen. Geſprochen bat man 
bon jenen Vermögen allerdings häufig fo, als wären fie fertige, 
zuſammenhanglos neben einander der Seele eingeprägte Anlagen; 
und mit Recht ftellt man diefer unvolllommenen Schilderung bie 
Forderung entgegen, alle verſchiedenen Eigenfchaften eines Weſens 
nur als verfchiedene Ausdrüde feiner einen und ſtets fich gleichen 
Natur anzufehen, erft durch die Wechſelwirkung ihr abgendthigt, 
in melde fie mit anderen Elementen geräth. Aber im Streit mit 
jener nadjläffigen Redeweiſe ſchätzt man vielleicht Neuheit und Werth 
dieſes Einwurfes zu hoch. Daß die Körper nur farbig find im 
Licht, hart nur, wenn eine eindringende Gewalt ihren Widerftand 
weckt, flüfftg in diefer, fet in einer anderen Temperatur, das Alles 
find Veberlegungen, welche die gemöhnlichfte Erfahrung anregt. Leicht 
mußte man von ihnen aus zu der Weberzeugung gelangen, daß 
wenigftens die ſinnlichen Eigenihaften der Dinge nicht fefte, ihnen 
an fi eingeprägte Beitimmtheiten find, fondern werdende ent- 
ftehende und vergehende Scheine, die für uns ihre Natur unter 
wechſelnden Bedingungen wechſelnd annimmt. Aber weit näher 
Tag e8 noch, diejelbe Anficht auf Die Vermögen der Seele anzuwen⸗ 
den, deren Name ſchon darauf deutete, daß fie nicht als fertige 
Wirflichleiten, fondern eben nur als die verſchiedenen Möglichfeiten 
der Aeußerung gelten follten, welche der einen Natur der Seele 
zu Gebote ftehen, wenn fie von verfchtedenen Reizen, deren noth⸗ 
wendige Mitwirkung man nicht vergaß, zur Thätigfeit veranlaßt 
wird. Vielleicht thun wir deshalb wohl, wenn wir mandes in 
diefer Frage begangene Ungefchid des Ausdrucks auf fi beruhen 





195 


laſſen und es der hart angegriffenen Lehre zutrauen, baf fie na- 
türlich won derfelben Weberzeugung ausging, welche ihr jener Vor— 
wurf gegenüberftellt. Den erften Theil deffelben wenigftens ver- 
dient fie nit; auch fie ſah alle Vermögen als Folgen der einen 
Natur der Seele an, nur daß fie nicht glaubte, fie auch unter 
einander in ſolche Abhängigkeit bringen zu müffen, daß aus einem 
einzigen alle iibrigen hervorwüchſen. Ob fie nun darin Recht ge= 
habt, und ob fie nicht die Anfprüche der Wiffenichaft verkürzt hat, 
indem fie fih zu früh mit der Annahme urfprünglicher Anlagen 
begnügte und ihre wirflihe Zurückführung auf einen Quell ver: 
fäumte, dies ift ein anderer noch zu enticheidender Zweifel. Aber 
andy über dieſen zweiten Theil des erwähnten Vorwurfes Finnen 
wir eine jet weit verbreitete Meinung nicht völlig theilen. 
Gewiß kann unſere Wiſſenſchaft nicht weiter gehen, als bie 
Mittel unſerer Erkenntniß reichen, und ſie muß das als eine Reihe 
gegebener Thatſachen hinnehmen, was ſie in Wahrheit aus einem 
einzigen Grunde abzuleiten nicht vermag. Hierin um jeden Preis 
zu Ende kommen zu wollen, führt nur in die Verſuchung, von dem 
Gehalte des Thatſächlichen unbewußt etwas abzubrechen, um den 
bequemeren Reſt leichter zu erflären. Auch in dieſer pſychologiſchen 
Trage Tiegt eine ſolche Berfuchung nahe. Jene Forderung, welche 
alle Aeußerungen eines Weſens nur als verfchievene Folgen feiner 
einen Natur anzufehen befiehlt, erfennen wir al8 wohlberedhtigt 
an, aber wir find nicht im Stande, ihr durch die wirfliche Aus- 
führung in der Wiſſenſchaft Genüge zu leiſten. Aus wenigen Orten, 
die ein Komet zu verfchiedenen Zeiten am Himmel einnahm, fchlie- 
Ben wir auf die Bahn, die er ferner verfolgen muß; die Geſetze 
der himmlischen Bewegungen erlauben ihm nicht, Diefe Orte ein- 
zunehmen, ohne in nothmwenbiger Folge davon ſpäter auch Die anderen 
zu durchlaufen, die mit ihnen zu einer gefeglich beftimmten Krüm— 
mung zufammengehören. Eine gleiche Folgerichtigfeit fegen wir aud) 
in dem Weſen der Seele voraus. Aeußert ihre Natur ſich gegen 
den einen Reiz auf eine beftimmte Weife, fo ift num auch die andere 


Aeußerung, mit der fie einem zweiten antworten wird, nicht mehr 
13* 





196 


unbeftimmt oder ihrer Wahl überlafien; der eine Schritt entſcheidet 
auch über alle übrigen, und welcherlei Eindrüde ber verjchiebenften 
Art fie betreffen mögen, ihr Benehmen gegen jeden berfelben ift 
bedingt durch das, welches fie gegen den einen beobachtete. So wer⸗ 
den auch in ihr die mannigfachen Rückwirkungen, melde ihr ver: 
[chtedenartige Anregungen abgewinnen, nicht beziehungslos unter 
einander fein, fondern zu dem Ganzen einer in folgerichtiger Viel⸗ 
feitigfeit fih ausbrüdenden Natur zufammenftimmen. Aber dieſe 
Annahme, die wir bier jo unvermeidlich finden, wie dort, ift hier 
nicht ebenfo fruchtbar, wie dort. Für den Kometen kennen wir 
Die Gefege der Anziehung und der Beharrung als das verfnüpfende 
Band, welches alle Theile feiner Laufbahn unter einander in einen 
nachmeisbaren Zuſammenhang fett; für die Seele würden wir ein 
ungleich tiefer liegendes Geſetz bedürfen, welches uns verſchiedene, 
ihrer Form nach nicht vergleichbare Thätigleiten dennoch als Glie- 
der einer und derſelben Entwidlungsreihe begreifen lehrte. Wir 
müßten fagen können, warum ein Wefen, das auf Beranlafjung 
der Aetherwellen Licht und Farben fteht, nothwendig Töne hören 
müffe, wenn Luftſchwingungen auf feine Sinnesorgane wirken, ober 
warum feine Natur, wenn fie unter gemwifjen Eindrücken anfchauliche 
aber gleichgiltige Wahrnehmungen erzeugt, folgerichtig in Gefühle 
der Luft und Unluft unter dem Einfluß anderer ausbrechen müfle. 
Kaum dürfen wir ausdrüdlic erwähnen, daß diefe außerorbentliche 
Aufgabe nie gelöft worden ift, und daß wir nirgends eine Ausficht 
auf ihre mögliche Löſung ſehen; jede Piychologie wird Die Ueber- 
zeugung theilen, daß diefe ununterbrodene Folgerichtigleit in der 
Natur der Seele ftattfindet, aber feine wird ihr Geſetz auszufprechen 
wiſſen. ALS Leitender Geſichtspunkt, der die Verknüpfung und die 
Führung unferer Unterfuhungen im Allgemeinen beberricht, wird 
daher jene Forderung nad folder Einheit der Seele ftet8 gelten 
können, aber in der Ausführung unferer Erklärungen müfjen wir 
und begnügen, verſchiedene Aeußerungsweiſen der Seele als ge- 
gebene Thatfachen binzunehmen. 

In der That haben Die Verſuche, die der Lehre von den Ber- 








197 


mögen gegenübergeftellt worden find, mit der Anerkennung einer 
folden Mannigfaltigfeit geendigt. Aber fie haben unterſchieden zwi⸗ 
ſchen ber Bielheit diefer einfachen, gleich urſprünglichen Thätig- 
feiten, die nicht aus einander, fondern nur gemeinfam aus der 
Natur der Seele hervorgehen, und zwifchen jenen höheren Wirk- 
ſamkeiten, die nicht gleich urfprüngliche Beſitzthümer derſelben bil- 
den, jondern eben aus den Berfettungen jener einfachen Zuftände 
entipringen, und um beren Erklärung man die Wiflenfchaft ver- 
kürze, wenn man fie unmittelbar auf eigne ihnen gewidmete Ver⸗ 
mögen zurüdführe. Gegen diefen Vorwurf fih in allen Fällen zu 
rechtfertigen, wird der Xehre von den Seelenvermögen nicht gelingen. 
Sehen wir zum Beifpiel unter diefen auch Urtheilsfraft und Ein- 
bildungsfraft neben anderen aufgeführt, fo werben wir ohne Be- 
denfen zugeben, daß diefe beiden nicht zu dem angebornen Befit 
der Seele gehören, jondern Fertigkeiten find, die fi durch Die 
Bildung des Lebens, die eine langjam, Die andere fchnell, ent- 
wideln. Wir werden zugleich zugeftehen, daß zur Erflärung ihrer 
Entſtehung nicht als die Geſetze des BVorftellungslaufes nöthig 
find, nad denen jede erworbene Wahrnehmung im Gebädhtnif 
bebarren, und nachdem fie dem Bewußtfein verſchwunden ift, durch 
Erneuerung anderer, mit denen fie früher verbunden war, der Er- 
innerung wiedergegeben werden kann. In der Seele, bevor fie 
Erfahrungen gemacht bat, werden wir die Fähigkeit nicht juchen, 
Aehnlichkeiten und Unterfchieve der ankommenden Eindrüde mit 
Leichtigfeit und Schärfe aufzufafien und jeden fofort unter die all- 
gemeinen Geſichtspunkte unterzuoronen, die feinem Inhalte entipre- 
den. Aber jede im Gedächtniß feftgehaltene Wahrnehmung, durch 
eine nene ähnliche wiedererweckt, führt auch Die anderen mit ihr ver⸗ 
bundenen in das Bewußtſein zurüd, die dem neuen Eindrud fremd 
find, und fo fordert ſie auf zu fondernden und verbindenden Verglei- 
Hungen. Jede Wiederholung diefer einfachen Vorfälle vermehrt bie 
Anzahl der Gefihtspuntte, deren Erinnerung fpäter neuen Beobach⸗ 
tungen entgegenfommt und ihre Einordnung in den Kreis ver- 
wandten Inhaltes begünftigt.. So entwidelt fih allmählich und 


198 


wachſend die Sicherheit des Urtheild, indem Schritt für Schritt 
jede neu erworbene Erfenntniß zu dem Stamme von Einſicht ge⸗ 
ſchlagen wird, durch deffen zunehmende Verzweigung die anfangs 
ſchwierige und oft fruchtloſe Arbeit zulegt mit der Leichtigfeit eines 
ſcheinbar angeborenen Vermögens erfolgt. Noch weniger möchten 
wir von einer urſprünglich fertigen Fähigkeit die Leiftungen der 
Einbildungskraft abhängig machen, Leiftungen von jo buntfarbig 
verjchiedenem Anſehen, daß zu ihrer Ausführung weit weniger die 
Volgerichtigkeit einer einzigen an ein beftändiges Wirkungsgefet ge- 
bundenen Kraft, als vielmehr eine allgemeine Ungebundenheit der 
Kräfte förderlich ſcheinen könnte. In der That freilich Liegt der 
Grund diefer Fähigkeit nicht in einer ſolchen Geſetzloſigkeit, aber 
doch darin, daß nicht eine befondere Kraft ihre Erfolge vermittelt. 
Eine glüdlihe Mannigfaltigleit der gemachten Erfahrungen bat 
dem Borftellungslauf einen hinlänglicden Reichthum von Eindrük⸗ 
fen zugeführt, mit denen er ſchalten Tann; günftige andere Umftände, 
der Eörperlichen Bildung und dem geiftigen Naturell angehörig, 
vereinigen fich zugleich, um feinem Spiele alle jene Beweglichkeit 
zu laſſen, mit welder er von felbft die mannigfadhften Verbin⸗ 
dungen ber Borftellungen erzeugt, Verwandtes einander anklingen 
läßt, Entgegengefegtes contraftirt und angefangene Gedanfenreihen 
fortfeßt. So haben dieſe beiden Vermögen ihre Gefchichte, wir 
innen ihre Ausbildung durch die wachſende Erfahrung, ihre Ver⸗ 
fümmerung durch ärmlichen Inhalt dev Eindrüde, ihre Mißleitung 
durch einfeitige Füihrung des Lebens und kranfhafte Hemmungen 
verfolgen, und zur Erflärung dieſer Ereignifje bebürfen wir nicht 
der Annahme bejonderer Anlagen, die diefen Leiftungen gewidmet 
wären. Beide fegen zur Durchführung ihrer Verrichtungen bie 
Thätigleit anderer Vermögen voraus; aber ihre eignen Arbeiten 
laſſen fi aus biefen auch vollftändig begreifen. 


Läßt ſich num dieſelbe Betrachtung weiter fortfegen, jo daß zu⸗ 
legt nur eine einzige wrfprüngliche Aeußerungsweiſe der Seele zu⸗ 





199 


rüdbliebe, aus deren gemeinfamer Wurzel die übrigen ſcheinbaren 
Bermögen hervorwüchſen? Sind diefe vielleicht den Blättern Blü⸗ 
then und Yrüchten ähnlich, die ſämmtlich Erzeugniffe derfelben Trieb- 
kraft, ihre abweichenden Formen theils der Verſchiedenheit der äuße⸗ 
ven Reize verdanken, theils der Gunft der Umftände, die dem höheren 
Erzeugniß geftattet, die Bollendung des nächftniedrigeren zu feinem 
Ausgangspunkt zu nehmen? Diefe Frage bat die frühere Pſycho⸗ 
Iogie verneint; fie hat vor Allem geglaubt, daß Gefühl und Wille 
eigenthilmliche Elemente enthalten, welche weder aus der Natur des 
Borftellens fließen, noch aus dem allgemeinen Charakter des Be- 
wußtſeins, an dem beide mit dieſem zugleich Theil haben; dem Ver⸗ 
mögen des Vorſtellens wurden fie Deshalb als zwei ebenfo urfprüng- 
liche Fähigkeiten zugefellt, und neuere Auffafjungen fcheinen nicht 
glüädiih in der Widerlegung der Gründe, die zu dieſer Dreiheit 
der Urvermögen veranlaßten. Zwar nicht das können wir behaup- 
ten wollen, Daß Borftellen, Gefühl und Wille als drei unabhängige 
Entwidlungsreihen mit geſchiedenen Wurzeln entipringend ſich in 
ben Boden der Seele theilen, und, jede für ſich fortmachlend, nur 
mit ihren legten Berzweigungen fi) zu mannigfadhen Wechfel- 
wirkungen berühren. Yu dentlic zeigt die Beobachtung, daß mei- 
ſtens Ereigniffe des Vorftellungslaufes die Anknüpfungspunkte der 
Gefühle find und daR aus diefen, aus Luft und Unluft, fic 
begehrende und abſtoßende Strebungen entwideln. Aber dieſe offen 
vorliegende Abhängigkeit entfcheidet Doch nicht darüber, ob bier das 
borangehende Ereigniß in der That als die volle und hinreichende 
bewirfende Urſache aus eigner Kraft das nachfolgende erzeugt, 
oder ob e8 nur als veranlafiende Gelegenheit dieſes nach fich zieht, 
indem es zum Theil mit der fremden Kraft einer unferer Beobach- 
tung entgebenden, im Stillen mithelfenden Bedingung wirkfam 
if. Die genauere Zergliederung bes gegebenen Thatbeſtandes 
muß diefen Zweifel befeitigen., Wo es ums gelingt, in dem Ge- 
gebenen Punkt für Punkt alle Keime und Beitandtbeile des Künf- 
tigen zu finden und dieſe Keime zugleich in ihm in einer Bewe- 
gung anzutreffen, aus deren Fortſetzung von ſelbſt Die neue Geftalt 


200 


des fpäteren Erfolges fih herausbilden muß, da werben wir das 
Frühere als die genügende Urſache deſſelben betrachten bitrfen. 
Wo der Erfolg dagegen einen Reſt zeigt, der nicht aus den bebingen- 
ben Umftänden ſich erzeugen läßt, fondern fremd zu ihnen hinzutritt, 
da werben wir fchließen, Daß jene Umſtände allein nicht den vollftän- 
Digen Grund der fpäteren Erſcheinung enthielten, fondern daß um- 
beobachtet von und eine außer ihnen liegende Bedingung, bie wir 
nun auffuchen müfjen, zu ihrer Ergänzung binzugetreten war. 
Die Vergleihung jener geiftigen Erſcheinungen nöthigt ung, 
wenn ir nicht irren, zu dieſer letzteren Annahme. Betrachten wir 
Die Seele nur als vorftellendes Wefen, jo werben wir in feiner 
nod fo eigenthümlichen Lage, in welde fie duch die Ausübung 
dieſer Thätigfeit geriethe, einen binlänglichen Grund entbeden, ber 
fie nöthigte, nun aus dieſer Weife ihres Aenßerns hinauszugehen 
und Gefühle der Luft und Unluft in fi zu entwideln. Allerdings 
kann e8 fcheinen, als verftände im Gegentbeil nichts To ſehr ſich 
von jelbft, al8 daß unverſöhnte Gegenjäge zwiſchen mannigfachen 
Borftellungen, deren Widerftreit der Seele Gewalt anthut, ihr 
Unluft erregen und daß aus diefer ein Streben nad heilender 
Berbefjerung entipringen müſſe. Aber nur uns fcheint dies fo, 
die wir eben mehr als vorftellende Weſen find; nicht von felbft 
verſteht fi) die Nothwendigkeit jener Aufeinanderfolge, ſondern 
fie verfteht fi) aus dem allgemeinen Herfommen unferer inne- 
ven Erfahrung, Die uns Längft an ihre thatfächliche Unvermeid- 
lichfeit gewöhnt hat. Dieſe allein läßt uns darüber hinmwegfehen, 
daß in Wahrheit hier zwifchen jedem vorangehenden und dem folgen- 
ben Gliede der Reihe eine Lücke ift, die wir nur durch Hinzunahme 
einer noch unbeobachteten Bebingung ausfüllen Können. Sehen wir 
ab von dieſer Erfahrung, fo wide bie blos vorftellende Seele 
feinen Grund in fi finden, eine innere Veränderung, wäre fie 
ſelbſt gefahrdrohend für die Fortdauer ihres Dafeins, anders als 
mit ber gleichgiltigen Schärfe der Beobachtung anfzufafien, mit 
ber fie jeden anderen Widerſtreit von Kräften betrachten würde; 
entftände ferner aus anderen Quellen doch neben ber Wahrneh- 








201 


mung noch ein Gefühl, fo wiirde wieder die blos fühlende Seele 
Telbft in dem höchſten Schmerze weder Gund noch Befähigung in fidh 
finden, zu einem Streben nad Veränderung überzugehen; fe wiirde 
leiden, ohne zum Wollen aufgeregt zu werden. Da dies nun nicht jo 
ift, und damit es anders fein Hinne, muß die Fähigkeit, Luft und 
Unluft zu fühlen, urfprünglid in der Seele liegen, und bie 
Ereignifje des Borftellungslaufes, zurückwirkend auf die Natur 
der ©eele, weden fie zur Aeußerung, ohne fie erft aus fi zu 
erzeugen; welche Gefühle ferner das Gemüth beherrſchen mögen, 
fie bringen nicht ein Streben hervor, jondern fie werden nur 
zu Beweggrümden für ein vorhandenes Vermögen des Wollens, 
das fie in der Seele vorfinden, ohne e8 ihr jemals geben zu 
können, wenn es ihr fehlte. Diefe Ueberzeugung würden wir 
keineswegs für erjegt halten durch ein Zugeſtändniß, mit dem 
man uns entgegentommen könnte: daß ja allerdings irgend eine 
thatfähliche Lage des Vorftellungsverlaufes noch nicht felber das 
Gefühl der Luft oder Unluft oder das Streben fei, das aus ihr 
bervorgehe, daß aber doch eben Gefühl und Streben nichts An- 
deres ferien, als die Formen, unter welchen jener Thatbeſtand 
von dem Bewußtſein aufgefaßt werde. Wir würden vielmehr 
hinzufügen müfjen, Daß gerade diefe Formen der Auffaffung nicht 
unbedeutende Beimwerle find, deren man gelegentlich gedenken 
Bnnte, als fpielten fie nırr neben jenem Thatbeftand des Vorftel- 
lungslaufes, in dem allein das Weſen der Sache läge, nebenher; 
das Wefentliche Tiegt hier vielmehr eben in dieſer Art des Er- 
ſcheinens. Als Gefühle und Strebungen find die Gefühle und 
Strebungen von Werth fiir das geiftige Leben, deſſen Bedeutung 
nicht darin befteht, daß allerhand Bermwidlungen der Vorftellungen 
eintreten, die beiläufig unter jenen Formen zum Bemußtfein kom⸗ 
men, fondern darin, daß die Natur der Seele im Stande ift, ſich 
irgend etwas als Gefühl und Streben erjheinen zu laffen. 

Sp würden num diefe drei Urvermögen fi als ftufenmweis 
höhere Anlagen darftellen, und die Aeußerung der einen die Thä- 
tigleit der folgenden auslöfen. Aber dies wird doch nur dann 


202 


die Borftellung fein, die wir von ihnen erwecken wollen, wenn wir feft- 
halten, daß uns in dem Weſen der Seele dennoch für Eines gilt, 
was fir unfere Erkenntniß in dieſe Dreibeit auseinanderfällt. Nicht 
fo ſtückweis tritt fie felbft in ihre Aeußerungen ein, daß einer ihrer 
Theile erwachte und die anderen fortſchlummerten; in jeder Form 
ihres Wirkens ift vielmehr die ganze Seele thätig; fie läßt ſchon 
im Borftellen nicht nur eine Seite ihres Wefend wirken, ſondern 
gibt dem ganzen einen einfeitigen Ausorud, weil fie einer beftimmt- 
ten Anregung nicht mit allen, fondern nur mit einer beſtimmten 
Möglichkeit der Aeußerung antworten kann. Bergleihen wir Die 
Bier mit der Fünf, fo zeigt fie fih um eine Einheit Heiner, aber 
unaufgefordert fett fie nicht hinzu, daß fie auch Die Hälfte Der 
Acht und das Doppelte der Zwei fei; es bedarf neuer Vergleicdh- 
ungen, damit fie auch an Diefe VBerhältnifje erinnere; aber in jedem 
berjelben drückt ſich doch die ganze Natur der Bier aus, mur einfeitig 
nad) der Richtung allein, in welcher ihr Veranlaſſung gegeben war. 
Der kehren wir noch einmal zu einem früher gebrauchten Ber- 
"gleiche zurüd. Faſſen wir einen bewegten Körper in einem einzigen 
Punkte feiner Bahn ins Auge, fo kann Niemand jagen, mit welcher 
Richtung und Geſchwindigkeit er durch ihn hindurch geht, und ben- 
noch wirkt in ihm auch in dieſem Augenblide vollftändig die 
Bewegung, welche über die Fortfegung feiner Bahn im nächften 
entfcheidet. Beobachten wir die Seele nur in ihrem Borftellen, 
fo liegt in dieſem einen Element ihres Lebens für uns nicht ihre 
ganze Natur ausgeiprochen, aus der im nächften Augenblide ber 
Mebergang in Gefühl und Streben erfolgen kann; dennoch ift auch 
in diefem Bruchftüd ihres Entwillungsganges diefe volle Natur 
wirkſam vorhanden. Eime göttliche Einfiht würde nicht erft aus 
einem ausgedehnten Theile feiner Bahn die Bewegung eined Kör- 
pers erkennen, fondern fie unmittelbar in jedem untheilbaren Punkte 
anſchauen; fie würde eben fo in jeder einzelnen Aeußerung ber 
Seele ihre ganze Natur gegenwärtig fehen und die Nothmendig- 
feit in ihr wahrnehmen, welche unter anderen Bebingungen zu 
anderen Formen der Wirkfamkeit führen muß. Unferer. menfch- 








203 


lichen Exfenntniß bleibt nichts übrig, als dieſe Fälle nach und 
nach zu erihöpfen und eingeben? zu fein, daß, mo wir eine Mehr- 
beit der Anlagen jehen, dennod in der Natur der Seele nur bie 
Einheit eines Weſens zu Grunde Liegt. Indeſſen haben wir 
doch nicht Urſache, dieſe Annahme verichiedener Vermögen Lediglich 
als einen Behelf für die Schwäche der menſchlichen Erkenntniß 
anzufehen; fie entipricht vielmehr in gewiffen Sinne dem Weſen 
der Sade. Auch eine göttliche Einſicht fände vielleicht in dem 
Begriffe des Vorſtellens allein feine Nothwendigleit, um deren 
willen das Gefühl aus ihm folgen müßte; fie wiirde nur in dem 
ganzen vernimftigen Sinne des. Seelenlebens klarer als wir den 
Grund fehen, der beiden Erfheinungen zufammenzufein und auf 
einander zu folgen gebietet, gleich der belebenden Idee eines Ge: 
dichtes, bie feft und mit zwingender Gewalt mannigfache Beitand- 
theile an einander feſſelt, deren feinet aus eigner Macht den 
anderen aus fi entwidelt hätte. 


Bielleiht zu Lange ſchon haben wir dieſen Ueberlegungen nach: 
gebangen, aber fie treffen jo jehr die wejentlichften Vorftellungen, 
die unferen Gedanken über das Leben der Seele zu Grunde 
liegen, daß wir noch einen Augenblid bei der allgemeinen Anficht 
der inneren Ereigniffe verweilen müfjen, die als nächſte Yolge aus 
ihnen hervorgeht. Wir haben erwähnt, daß jede Auffaffung zuletzt 
mit der Anerkennung einer Vielheit auf einander nicht zurüdführ- 
barer Aeuferungsweifen der Seele jchließt. Eine Xehre, melcer 
bie Pſychologie große Fortſchritte verdankt, beſchränkt jedoch biefe 
Anerkennung auf jene Rücdwirkungen, melde die Seele in un- 
mittelbarer Wechſelwirkung mit äußeren Reizen entwidelt, auf 
die einfachen Empfindungen. Dieje urfprünglicften Aeußerungen, 
mit denen das Xeben der Seele anhebt, betrachtet auch fie als 
nicht zurüdführbar auf einander, und fie meint nicht, fagen zu 
Unnen, warum das Weſen, dem Licht und Farben ericdheinen, 


204 


andere Eindrüde als Töne auffaffen müſſe. Alle anderen höheren 
Thätigfeiten Dagegen, die in der Verarbeitung und der gegenfeitigen 
Wechſelwirkung diefer inneren Zuſtände entftehen, ſollen zugleich 
auch völlig aus ihnen entftehen; nachdem Die Seele einmal jenes 
urfprünglide Material, die Welt der Empfindungen, aus ihrer 
Natur erzeugt, zieht fi ihre wirkende Thätigkeit zurück; fie über- 
läßt diefe Erzengniſſe ihres Thuns fich felbft und den allgemeinen 
Geſetzen ihrer Wechſelwirkung, ohne wieder mit ihrer vollen Natur 
felbft handelnd einzugreifen und den herbeigeführten Berhältniffen 
neue Wendungen zu geben, die nicht von felbft aus ihnen nach 
der Folgerichtigleit ihres mechanifhen Verlaufes hernorgingen. 
So ift die Seele nur noch der Schauplak für das, was zwiſchen 
den Empfindungen und Borftellungen gefhieht, allerdings ein 
ſolcher, der alles auf ihm Gefchehende mit Bewußtſein begleitet, 
aber ohne viel anderen Einfluß darauf auszuüben, als den Des 
Umfaſſens und Zufammenhaltens, womit jeder Rahmen den um— 
ſchloſſenen Gemälde dient. Dies ift der Punkt, dem unfere Be— 
trachtungsweiſe entgegen treten möchte. Nicht nur einmal, nicht 
nur in der Entwidlung der einfachen Empfindungen tft Die Seele 
in diefer ſchöpferiſchen Weile thätig; mögen dieſe erſten Erzeugnifſe 
immerhin einem gefeglihen Mechanismus anbeimfallen, und Der 
Lauf der Borftellungen feine Verknüpfungen und Trennungen, 
fein Bergeflen und Wiedererinnern von jelbft und ohne einen 
neuen Eingriff der Seele zu Stande bringen, jo ift doch damit 
das geiftige Leben nicht abgeſchloſſen, und die höheren Thätigkeiten, 
auf denen fein Werth beruht, gehen aus diefem mechaniſchen 
Treiben nicht won felbft hervor. Der ganze nothwendige Ab- 
lauf dieſer inneren Ereigniffe erzeugt nur Beranlaffungen, Die 
dadurch allein, daß fie auf das ſtets gegenwärtige ganze Weſen 
der Seele zurüdwirten, aus dieſem neue Yormen der Wirfung 
beroorloden, die fie für fih allein nicht erzengt hätten. Gegen 
jeden einzelnen ihrer inneren Zuftände befindet fi Die Seele in 
berfelben Lage, in welcher fie fidh gegenüber den äußeren Empfin- 
bungsreizen befand; auf jeden Tann fie mit einer Geftalt der 








205 


Thätigkeit antworten, die wir nicht aus jenen Zuſtänden ableiten 
können, weil fie in der That nicht in ihnen allem Yiegt, die wir 
vielmehr an diefe Zuftände nur anknüpfen können, nachdem ung 
die Erfahrung gelehrt hat, daß eben diefe neue Form des Wir⸗ 
kens es ift, die von ihnen als Reizen einer höheren Orbnung in 
dem Wefen der Seele gewedt wird. 

Wir wollen nicht vermeiden, denſelben Gedanken noch ein- 
mal fo zu wieverholen, wie ihn eine naheliegende und doch gefähr- 
liche Bergleihung des geiftigen Lebens mit der Entwidlung eines 
organiſchen Geſchöpfes anregt. Die Seele bildet fi nicht jo aus, 
wie die Pflanze. Die Geftalt der letteren geht aus einer An⸗ 
zahl mefentlich gefchiebener felbftändiger Theile hervor, die Außer: 
lich in beftimmter Form verbunden, nad den allgemeinen Geſetzen 
des Raturlaufes die fortſchreitende Geftaltung herborbringen; und 
auch das Leben der vollendeten Pflanze ift eine Summe von 
Wirkungen, die zwifchen verfchiedenen, jelbitändig bleibenden Thei- 
len gefchehen und, wie das Leben einer Gefellfichaft, beftimmte 
Formen des Verlaufs durch die Stellung und Die Thätigkeit ihrer 
zufanmenwirfenden Glieder annehmen. Solchen Theilen fünnen 
wir die einzelnen Elemente des Seelenlebens nur mit vorſichtiger 
Beſchränkung vergleihen; denn dieſe Elemente find nicht felbftän- 
dige Atome, fondern ſtets doch nur Zuſtände des einen Weſens, 
aus dem fie nicht beraustreten innen. Für fie gibt es Daher 
nicht einen gleichgiltigen Schauplag, auf defien theilnahmlojem 
Grund und Boden fie ungeftört ſich ihren Wechſelwirkungen über- 
laſſen Könnten, einzig den Geboten eine® allgemeinen Mechanis- 
mus unterworfen. Für ihr ſpäteres Verhalten ift vielmehr auch 
der Boden reizbar, auf dem fie fi bewegen; nicht nur einmal 
hat die Natur der Seele fie hervorgebracht und entläßt fie dann, 
fo wie man fih vorftellt, daß die Erde die Thiere erzeuge, um 
ihren freien Bewegungen künftig nur als gebuldiger Schauplag 
zu dienen; fie fühlt vielmehr jeden Schritt, den der Verlauf ber 
Borftellungen in ihr thut, und durch ihn gereizt, tritt fie hier 
und da wieder felbfthandelnd hervor und führt in das ſcheinbar 


206 


fich jelbft überlaffene Getriebe derfelben neue Elemente ein, deren 
Grund wir vergebli in diefem allein fuchen würden. Dies ift 
feine Gefeglofigfeit, fondern jene Gejetlichleit von mehr verwidelter 





Form, die wir früher ſchon ald einen allgemeinen mögligen Fall 


bezeichneten, und von welder nur die Erfahrung ums verfichern 
fonnte, daß fie in der körperlichen Welt nicht in diefer Weile 
ftattfinde. In der Entwidlung des Organismus ift baher der 
Erfolg, den die Wechjelwirfung zweier Elemente haben wird, 
völlig beftimmt durch die allgemeinen Gefeße des Naturlaufes 
und die gegebenen Umftände des Augenblicks; in dem geiftigen 
Leben Dagegen tft zu jeden zwei Zuftänden und zu den Geſetzen, 
bie über ihre Wechſelwirkung gelten, die Natur dyr Segle ein 
beftändig vorhandenes viertes Element, das den Tonifitendek: Er- 
folg jo mitbedingt und umgeftaltet, wie etwa Die Berücfihligung 
eines widerſtehenden Mittel8 die Berechnung einer Bewegung um⸗ 
ändern kann, die flir einen leeren Raum gemadt worden war. 
Es wird allerdingd Reihen von Ereignifien in unferem Innern 
geben können, in deren Verlauf diefes vierte Element nicht um⸗ 
geftaltend eingreift, und dieſe werden in emem fortlaufenden 
Mechanismus fih völlig auseinander zu entwideln ſcheinen; aber 
nur eine genaue innere Beobachtung kann uns über die Ans: 
dehnungdgrenzen dieſes Verhaltens aufklären, defien Vorkommen 
allgemein anzunehmen wir nicht berechtigt find. 


Wir verlaffen diefe Betrachtungen, aus denen einige Folge: 
rungen zu ziehen fpäteren Gelegenheiten aufgehoben bleibt, und 
wenden uns einem längft zu erwartenden Zweifel zu, der an eine 

ſtillſchweigend von uns benutte VBorausfegung anknüpfen wird. 
Offenbar ift fir uns die Seele unter den Begriff eines reizbaren 
Weſens gefallen. Nicht von ſelbſt und ohne fremde Anregung 
ftrebt ihre Natur zur Thätigkeit oder vermag fie, fih Ziel und 
Richtung ihres Thuns vorzuzeichnen, fondern Eindrüde, Die von 





207 


außen an fie gelangen, rufen fie zu Rückwirkungen auf, aus beren 
weiteren Wechſelwirkungen die Mannigfaltigkeit des inneren Lebens 
entfpringt. Der eignen Natur der Seele gehört dabei die eigen- 
thumliche Form der Aeußerung an, fie bleibt die Duelle bes 
Empfindens, der Gefühle, des Strebend; in den Reizen Tiegen 
nur die Beweggründe, welche die beſtimmte Reihenfolge ihrer 
Henferungen bebingen und ihren an ſich unentfchiedenen Yähig- 
feiten ihre Richtung geben. Aber wir künnen dieſe Vorftellungen 
nicht begen, ohne, wie es fcheint, dem Weſen ber Seele eine 
Beränderlichleit zuzufchreiben, die uns in Widerſpruch mit jener 
firengen Einheit zu bringen droht, in welde für Veränderung 
fein Pla fein fcheint. Wir können dieſe Folgerung nicht ab- 
Ich; GEWIE wird nur dann ein äußerer Reiz ein zwingender 
nd für die Entfaltung einer Rückwirkung fein, wenn er 
im Stande gewefen ift, einen wirklichen Eindrud auf Die Seele 
bervorzubringen, von dem" ihr Weſen etwas leidet. Nicht die 
bloße Drohung der Störung kann die Seele zur abwehrenben 
Thätigleit aufregen; denn jede Drohung, fo lange fie von dem 
Bedrohten nicht empfunden wird, tft nicht fiir ihm vorhanden; 
ſobald fie ihm merklich wird, ift fie bereits zu einer Veränderung 
feineg Weſens geworden. Widerſpricht e8 den Gefegen unferes 
Denkens, aus der ſich gleichbleibenden Einheit eines Weſens von 
jelbft Antriebe zu vielfäftigen Handlungen hervorgehen zu laſſen, 
fo ift e8 nöthig zuzugeben, daß die Seele, indem fie handelt, eine 
andere ift, al8 zuvor, da fie ruhte; denn nur weil fle verändert 
ift, kann fie der hinlängliche Grund fiir ein verändertes Ver— 
halten fein. : 

Es wird nicht möglich fein, dieſer Forderung zu entgehen 
und von ber Seele die Veränderlichkeit durch denſelben Kunft- 
griff abzuhalten, durch welchen die Naturwiſſenſchaft die materiellen 
Atome als völlig ſtarre und unwandelbare Träger der derſchieden⸗ 
artigften Erſcheinungen auffaffen Tann. So wie fiir unfer Auge 
entfernte Gegenftände, im Raum zuſammenrückend, zu einem Ein- 
drude verfchmelgen, näher kommend fich wieder in die Vielheit 










208 


einzelner Theile auflöfen, jo mag überhaupt der Naturlauf für 
uns, die Beobadhter, eine Menge fcheinbarer Veränderungen ber- 
beiführen, in denen doch in Wirklichleit Die äußeren Gegenftände 
geblieben find, was fie waren. Indem die Atome, innerlich 
vollkommen unmwandelbar, in wechjelnde und mannigfaltige äußere 
Beziehungen zu einander gerathen, ihre Lage, Entfernung, Be⸗ 
wegung beftändig ändern, bringen fie auf ung Eindrüde ebenfo 
wechlelnder Art hervor, und in ber That flarr und undurch⸗ 
dringlich, ſcheinen fie für unfere zuſammenfaſſende Beobachtung 
bald zu verfchmelzen, bald fich zu trennen, bald in ihren Eigen- 
ſchaften völlig andere zu werben. Allein wenn wir auf dieſe 
Weile die Veränderungen in der äußern Welt auf einen nur in 
und erzeugten Schein zurüdführen, während die Wirflichfeit nur 
unweſentliche Beziehungen der unwandelbaren Elemente megpiele, 
jo Eönnen wir doch nicht wieder auch die Entftehung dieſes Scheines 
in ung nur für einen Schein erflären, der einem zweiten Beobachter 
wohl eine Aenderung unferes Weſens einzufchliegen fcheine, ohne 
daß ſie wirklich in uns ftattfinde. Das beobachtende Weſen er- 
fährt. vielmehr wirflih eine Veränderung, nicht feiner äußeren 
Lage, jondern feine inneren Zuftandes, wenn es vorftellend den 
Wedel des Aeußeren auffaßt und von einer Borftellung zur 
andern übergeht. Könnte e8 daher gelingen, die VBeränberlichkeit 
aus der ganzen äußeren Welt zu entfernen, jo würde ſie um fo 
unvermeidliher an dem Weſen der Seele haften. Geben wir 
deshalb diefe Veränderlichleit zu und machen wir nicht den hoff- 
nungsloſen Verſuch, einen Kunftgriff zu entdeden, durch welchen 
die Eigenfhaft einer unftörbaren Unveränderlichleit verträglich 
würde mit der Beſtimmung eined Weſens, das zur einer inneren 
Entwicklung berufen if. Wir glauben nicht durch dieſes Zuge- 
ftändniß etwas einzubüßen, was wir im Intereſſe der Unterfuchung 
beibehalten müßten. Suden wir zu einem Kreife von Er- 
ſcheinungen ein Wejen, das ihr Träger fei, jo müſſen wir es 
wohl feft und felbftändig genug denken, damit es ben mannig- 
faltigen Ereigniffen an ſich einen baltbaren Stützpunkt biete, aber 





209 


ihm jene unerfdjütterliche Starrheit völliger Unbeweglichkeit beizu⸗ 
legen, baben wir feinen Grund; wir würden dadurch feinen Be= 
griff vielmehr unbraudhbar machen. Indem wir einfeitig für feine 
Veftigfeit forgten, hätten wir es untauglich gemacht, die viel 
wefentlichere Beftimmung zu erfüllen, ein Mittelpunft der aus⸗ 
und eingehenden Wirkungen zu fein, aus denen der zu erklärende 
Kreis von Ereigniffen befleht. Nur Weniges werden wir Hinzu- 
fügen müfjen, um die Beforgnifle zu gerftreuen, die fih am biefe 
Borftellung einer veränderlihen Seele knüpfen möchten. 

Sie ſchließt vor Allem nicht die Gefahr eines planloſen An⸗ 
Deröwerdens, einer beftändigen Aufeinanderfolge immer neuer Zu⸗ 
ftände ein, in deren Flucht alle Einheit des urfprünglichen Weſens 
zu Grunde ginge. Kein Ding in der Welt ift ein gleichgiltiger 
Traftlofer Stoff, jo daß nur äußere Eindrüde ihm feine Beichaffen- 
heit gäben und er jelbft nur als Das Mittel diente, durch die 
Härte feiner Realität dieſen wechfelnden Inhalt in der Wirklichkeit 
zu befeftigen, dem Halten gleich, deſſen Haltbarkeit theilnahmlos 
die verfhiebenften Gewänder tragen kann. Kein Ding läßt fi 
durch die Reihenfolge äußerer Einwirkungen jo aus einer Geftalt 
in die andere treiben, daß am Ende einer Anzahl von Metamor⸗ 
phofen in dem völlig neu gewordenen feine Erinnerung mehr an 
feine frühere Natur zu finden wäre. Das, was ein Weſen zu- 
nächſt nur von außen zu leiden fcheint, ift in Wirklichkeit Doch 
allemal eine Aeußerung feiner eignen thätigen Natur, nur an- 
geregt, aber nicht gemacht durch den fremden Anftoß. Im jedem 
Augenblide feines Veränderungslaufes ift Daher der gegenwärtige 
Zuſtand eines Weſens zugleich eine mitwirffame und vielleicht Die 
mächtigfte Bedingung, welche den Erfolg des nächſtlommenden Ein- 
brudes mitbeftimmt. Nichts hindert ung num, die urfprüngliche 
Natur eined Wejend mächtig genug zu denken, damit durch alle 
Glieder einer ausgedehnten Veränderungsreibe ihr Einfluß als der 
kräftigſte fortwirkt, und fie alle dadurch in einen folgerichtigen Zu⸗ 
fammenhang tieten, dem innere Einheit fo wenig fehlt, als der 
Melodie, die ſich in einer Vielheit ſich folgender un ent⸗ 

Loge 1. 4. Aufl. 


210 


widelt. Ich weiß nicht , was uns antreiben könnte, bon einer 
Subftanz, die wechſelnden Ericheinungen zu Grunde liegt, mehr 
als diefe Art der Einheit mit fich felbft zu fordern; die Geele 
aber Teiftet dennoch mehr. Sie ift nicht allein Der Träger ihrer 
Zuftände, fondern fie weiß ſich auch als folden; und indem fie 
im Gebächtniß das früher Erlebte neben den Eimbrüden der 
Gegenwart aufbewahrt, bietet fie nicht allein für einen Beobachter 
außer ihr das Schaufpiel einer folgerichtigen Veränderungsreihe, 
fondern faßt in fi) felbft die verſchiedenen Entwidlungen ihres 
veränberlichen Weſens im eine Einheit von höherer Bedeutung 
zufammen, als fie je der unergiebigen Starrheit einer unflör- 
baren Subftanz zukommen würde. 

Wir haben Hiermit nur die allgemeine Form der Borftellung 
angebeutet, in welcher wir dieſe Frage faflen wirrden. Eine genaue 
Ueberficht der wirflichen Erfcheinungen des Seelenlebens wilrde und 
zeigen, daß es noch lange nicht jenen großen Spielraum der Ber- 
änderlichtett befigt, den wir durch dieſe Borftellungsweife recht⸗ 
fertigen könnten. In der Natur, wie wir früber fahen, findet Feine 
bleibende Veränderung der Atome ftatt, Teine ſolche wenigfteng, 
die fich durch neue Formen der Wirkung nad außen werriethe; 
mit dem Aufhören der ändernden Bedingungen kehren die alten 
Eigenſchaften wieder. Dies iſt gewiß nicht überall jo im Seelen- 
leben, deſſen Entwicklungsfähigkeit vielmehr auf der Vervollkomm⸗ 
nung der Rüdwirkungen durch die gemöhnende Uebung beruht. 
Aber ein großes Gebiet finden wir doch fogleich, in welchem bie 
Stetigfeit des Verhaltens fich der Weile der phyſiſchen Wirkungen 
nähert. Alle Sinneseindrüde, jo oft fie auch bereit8 wahrgenom⸗ 
men fein mögen, ermwedfen Doch immer wieder dieſelben Empfin- 
dungen; immer bleibt das Roth roth, immer find Drud und Hitze 
fchmerzlich und diefelben körperlichen Bedürfniſſe erwedien ſtets wie- 
der diefelben Strebungen. Dies Alles fcheint ſich jo von ſelbſt 
zu verfiehen, daß e8 befremden mag, e8 erwähnt zu jehen. In 
ber That aber ift Doch jede einzelne Empfindung eine Veränderung 
in dem Weſen der Seele; daß ibre Natur nun die Fähigkeit be- 








211 


fit, alle die Erſchütterungen, melde zahllofe Eindrüde ihr beftän- 
big zuführen, fo auszugleichen, daß fie jedem fpäteren mit derſelben 
Unbefangenheit entgegentommen Tann, biefe Thatfache verftehen 
wir zwar leicht in ihrer Zwedmäßigfeit für die Aufgaben der 
geiftigen Bildung, über ihr mechaniſches Zuſtandekommen, wenn 
wir fo fagen dürfen, begreift fi nicht von ſelbſt. Wir können 
dieſelbe Stetigfeit in den Gefegen bemerfen, nach denen Gebädht: 
niß und Erinnerung die Borftellungen feithalten, verknüpfen und 
wiederbringen; unverändert bleiben ferner die Verfahrungsweiſen 
des Verftandes in der Verfnüpfung und Beurtbeilung der gege- 
benen Eindrüde; überall ſehen wir, daß die unzähligen Einflüffe, 
welche die Seele nicht ohne innere Veränderung aufnehmen kann, 
doch die Beftändigfeit und Folgerichtigfeit der Kräfte nicht ftören, 
mit denen fie fi) bearbeitend auf dieſe Eindrüde zuriidiwendet ; 
nur eine größere Gewandtheit fcheint allen diefen Kräften mit 


. der wachfenden Uebung zu Theil zu werben, durch welche fle mit 
den Derwidlungen der Gegenftände ihres Angriffd vertraut ges 


worden find. So ‚wenig jehen wir alfo die Veränderung der 
Seele faffungslos ins Unbeftinnnte geben, fo fehr drängt fich 
vielmehr die beftändige formgebende Nachwirkung ihrer urfprüng- 
lichen Natur hervor, daß wir von ihrer Veränderung überhaupt 
faft nur um des logiſchen Intereſſes willen ſprechen Tonnten, 
das ung ihre Entwicklung nicht an den ihr widerfprechenden Be- 
griff innerlicher Unbewegtheit Inüpfen Tief. In Wahrheit aber, 
ihrer Bedeutung und ihrem Werthe nach ift Die Yolgerichtigfeit 
der innern Entwidlung jo groß, daß fie ftetd ums mehr das 
Bild beftändiger Gleichheit mit ſich felbft, als das einer fort- 
fchreitenden Umwandlung gewährt. 


Worin aber befteht num endlich das, was in diefer Entiwid- 
lung fich gleich bleibt, worin jenes urfprüngliche Weſen und jenes 
Was der Seele, defien nähere Darftellung der Anfang dieſes Ab- 


ſchnittes zu verfpresden ſchien? Wir würden a wie jedes 
14* 


212 


Wefen fih nur nad den Folgen erkennen läßt, mit denen e8 in 
unfere Beobachtung fällt, fo Können wir auch von der Seele nur 
jagen, daß fe das fei, was die Fähigfeit zu diefer Entwicklung in 
fih trage. Diefe Antwort wird Niemand befriedigen. Ale Vor⸗ 
ftellungen, alle Gedanken, Gefühle und Strebungen, würde man 
ung einmwenden, find nur Handlungen ber Seele, burd irgend 
welche Bebingungen ihr abgenöthigt; wir aber wollen wiſſen, 
nicht wie die Seele handle, fondern was fie an fich fein möge, um 
fo handeln zu können, und welches ihre urfprüngliche Natur fein 
müffe, um dieje Fähigkeiten in fich hegen zu können. Auf diefe 
verihärfte Frage Könnten wir am einfachiten zugeftehen, daß dieſes 
Was der Seele ung ftet8 unbelannt bleiben werde; allein wir wür- 
den Durch dieſes Zugeſtändniß den Schein erwecken, als ginge durch 
biefe Unfenntniß uns Vieles verloren, worauf unfere Unterfuchung 
Werth legen müßte, und als wäre und in Bezug auf die Seele 
eine Schwierigfeit unlösbar, die in Betreff aller anderen Ding, 
fih mit Leichtigkeit binwegräumen ließe. 

Wie wenig zunächft das Letztere der Fall ift, Tann eine füge 
tige Meberlegung der Kenntnifje lehren, die wir über das Weſen 
natürlicher Dinge zu haben glauben. Wenn wir Hagen, daß wir 
die Natur der Seele nie fo zu Gefiht bekommen, wie fie an fich 
und abgefehen von jeder einzelnen Bedingung tft, welche ihr eine 
beftimmte Aeußerung entlodt, jo müflen wir dieſelbe Klage viel- 
mehr auf unfere Borftellungen aller Dinge ausdehnen. Wir Denken 
zu wiffen, was das Waffer ift und was das Quedfilber, und doch 
können wir feines von beiden durch beftändige Eigenfchaften kenn⸗ 
zeichnen, die ihm abgeſehen von allen äußeren Bedingungen zu- 
fommen. Beide find bei gewöhnlicher Temperatur flüffig, beide bei 
erhöhter gasförmig, beide bei erniedrigter feit; aber mas find fie 
abgefeben von aller Temperatur? Wir willen ed nicht, wir 
fühlen ſelbſt das Bedürfniß nicht, e8 zu wiflen, da wir einfeben, 
daß nie in der Welt einer von beiden Stoffen fih dem Ein- 
flufle diefer Bedingungen ganz entziehen kann; wir begnügen und 
daher, das Wafler als den Körper anzufehen, ber bei biefer 





213 





der außerbem feine Gleichheit mit fich felbft durch bie beftän- 
digen Rückwirkungen beweift, die er unter gleichen Bedingungen 
immer gleich ausübt. Und dbaffelbe gilt von Allem, was wir 
finnlich beobachten. Alles nehmen wir anfänglich in einem feiner 
einzelnen möglichen Zuftände wahr, den wir jo lange für feine volle 
beftändige Natur halten, bis die Erfahrung uns lehrt, daß andere 
Bedingungen andere Zuftände herbeiführen. Dann verfnüpfen wir 
die verſchiedenen Eriheinungen unter einander als die wandel⸗ 
baren mehreren Formen eines und befielben Weſens, welches wir 
fortfahren mit demfelben Namen zu nennen, obgleich wir es nicht 
mehr durch eine einzige beftimmte Eigenfchaft bezeichnen, ſondern 
nur noch als das Unbekannte auffefjen können, das fähig ıft, in 
diefem Kreife von Formen ſich bin und her zu verwandeln, ohne 
jemals doch aus ihm herauszutreten und in Anderes überzugehen. 
Nichts jo Feſtes und Unmandelbares gibt es, das diefem Schid- 
fal fich entziehen Könnte; alle unfere Definitionen wirklicher Gegen- 
ftände find bupotbetifche, und fie bezeichnen unvermeidlich das Ver⸗ 
langte als dasjenige, was unter der einen Bedingung jo, unter 
einer anderen ſich anders darftellen wird. Geben wir deshalb zu, 
daß das Wefen der Seele unbelannt fei, jo thun wir es nur in 
diefem Sinne, welcher zugleich die Unmöglichkeit einjchließt, zu 
fagen, mie das Weſen irgend eines Dinges fein werde, wenn man 
jede Bedingung entfernt denkt, welche ihm Gelegenheit zu irgend 
einer Aeußerung gäbe. So unfagbar es ift, wie die Dinge im 
Binftern ausfehen, jo widerfprechend die Forderung zu wiffen, 
wie die Seele ift, bevor fie im irgend eine ber Lagen eintritt, 
innerhalb deren allein ihr Leben fich entfaltet. 


Doch nichts ſcheint hierdurch gewonnen, als daß wir für die 
Pſychologie den Vorwurf der Unwiſſenheit mildern, indem wir ihn 
über Die ganze menſchliche Erkenntniß ausdehnen. Aber wenn es 
wahr ift, daß das Weſen der Dinge in diefem Sinne uns unbe- 


214 


kannt ift, ift e8 dann gleich wahr, daß wir durch dieſe Unfenntniß 
viel verlieren, und müſſen wir in diefem Weſen, Das uns entgeht, 
eben das Wefentliche fuchen, welches wir nicht vermiflen möchten ? 
Ich glaube nicht, daß wir dieſe Frage bejahen dürfen, und in der 
That denten wir über fie im Leben anders, als wir in der Wiflen- 
haft zumeilen denken zu müſſen glauben. In der Summe der 
Renntniffe, in der Stimmung des Gemüthes, den Gefinnungen des 
Charakter8 und in der eigenthümlichen Wechſelwirkung diejer Ele⸗ 
mente unter einander glauben wir die volle Berfönlichleit eines An⸗ 
deren gegenwärtig, bat unjere Menſchenkenntniß dieſen Beftand 
durchdrungen, fo meinen wir nicht, daß unfere Einficht in das 
innerfte Weſen des Menfchen noch gewinnen wirrde durch den Nad- 
weis deſſen, was er urfprünglich war, ehe er im Lauf der Bildung 
dieſe Fülle feines inneren Dafeins gewann, oder was er jetzt noch 
im Grunde ift und als was er fich jett noch zeigen wide, wenn 
man alle dieſe Ergebniffe des früheren Lebens zugleich mit allen 
Bedingungen, die num noch auf ihn wirken Einnten, von ihm hin⸗ 
wegnähme. Wohl geben wir zu, daß dieſes geiftige Leben ſich nicht 
hätte entwideln Können, ohne daß eine uranfängliche noch äuße⸗ 
rungslofe Seele vorangegangen wäre, am fi dem Einfluffe der 
erwedenden Lebensbedingungen darzubieten; aber fie, die und fonft 
als das eigentlichjte und tieffte Weſen der Sache erjcheint, kommt 
und hier nur noch wie eine unentbehrliche, aber an fich ſelbſt würde⸗ 
Iofe Borbedingung, als ein vorauszujegendes Mittel zu dieſer Ent- 
widlung vor, im welcher ſelbſt erft aller Werth und alle wejentliche 
Bedeutung liegt. Darin ſcheint uns jegt da8 wahre Weſen zu 
liegen, wozu das ſich Entwidelnde geworben ift, und fo wenig wir 
glauben, an der entfalteten und blühenden Pflanze ein Geringeres 
zu befigen, al8 an dem einförmigen und geftaltlofen Keime, dem fie 
entiprang, jo wenig find wir bier geneigt, die BVorftellungen, Die 
wir mitdenfen, die Gefühle und Strebungen, die wir mit aller 
Wärme unferer Theilnahme begleiten und mit empfinden, als 
einen kärglichen Erjag für die Anſchauung des unentfalteten ur- 
Iprünglihen Was der Seele zu bedauern. 








215 


Fällt es uns nun dennoch fo ſchwer, das Suchen nach dieſem 
Unauffindbaren ganz aufzugeben, fo rührt dies von einem andern 
Verlangen ber, das ſich in der Frage nach dem Wefen eines Dinges 
verbirgt. Nicht blos der Keim foll es fein, aus dem die Tpätere 
Erſcheinung ſich entfaltet, jo daß wir in ihrem Inhalt auch den fei- 
nigen hätten; jondern das Weſen muß zugleich das fein, mas jenen 
Inhalt in der Wirklichkeit befeftigt, ihn, dem an fih nur denkbaren 
jene harte und ſtarke Realität gibt, durch die er al8 Wirken des und 
Leidendes in der Welt der Dinge Plat ninmt. Das Wefen ift 
zugleich das Band, das mit feiner unveränderlicen Natur die ein- 
zelnen Erſcheinungen an ſich verſammelt, e8 möglih macht, daß 
unfere Vorftelungen und alle unjere inneren Zuſtände fi er- 
halten, dauern und zu fruchtbarer Wechſelwirkung zufammtenftoßen 
Knmen. So zeigt fi, daß wir in dem Wefen der Seele nicht allein 
den Grund für die Form und den Inhalt der inneren Entwid- 
lung fuchen, fondern noch mehr vielleicht die Urſache, die beiden 
Wirklichkeit gibt. Das ift es, was. wir wifjen wollen, wie es zu- 
gehe, daß dies innere Xeben fein Tann, durch welchen Zauber e8 
dem fchaffenden Weltgeift gelinge, in dev Mitte dieſer wandelbaren 
Ereigniffe etwas Unauflösliches, Feſtes zu geftalten, das fie alle in 
fi hegt, an fich trägt und ihnen den Halt des Dafeins gibt, dem 
Gerippe ähnlich, an deſſen Starrheit die blühende Fülle der Ge- 
ftalt befeftigt ift. Diefe Frage natürlich ift jedem Nachdenken un- 
löslich; nie werden wir entdeden, wie Sein und Dafein gemacht 
wirb, oder was das iſt, woraus die Dinge beftehen. Aber biefe 
Frage wäre auch nur Dann wichtig fin ung, wenn unſere Erkennt⸗ 
niß die Aufgabe Hätte, Die Welt zu ſchaffen. Ihre Beftimmung 
ift es jebod nur, das Vorhandene aufzufafen, und gern geſteht 
fie fih, daß alles Sem ein Wunder ift, das ald Thatſache von 
ihr anerkannt, aber nie in der Weife feines Hergangs enträthjelt 
werden kann. Im diefem Sinne ift das Dafein aller Dinge für 
uns unergründlich; aber diefer Heft, den unfer Wiffen läßt, befteht 
nicht in dem Kerne der Dinge, fondern eher in einer Schale, nicht 
in dem Inhalte ihres Wefens, fondern in der Art der Segung, 


216. 


durch welche e8 befteht. Was die Dinge find, ift uns beshalb 
nit unverſtändlich; denn dieſen Inhalt entfalten fie in ihrem 
Erſcheinen; wie fie überhaupt fein und ericheinen Lönnen, ift das 
allen gemeinjchaftliche Räthfel. 


Dritte Kapitel. 


Bon dem Berlaufe der Borftellungen. 





Das Beharren ber Vorſtellungen und ihr Vergeſſenwerden. — Ihr gegenſeitiger Druck 
und die Enge bed Bewußtſeins. — Die verſchiedene Stärke der Empftudungen. 
Klarheitsgrade der Erinnerungsbilder. — Der Gegenfat ber Borftellungen. — Der 
innere Sinn. — Leitung be Borftellungslaufes durch bie Geſetze der Affectation 
und Reprobuction. 

So wie im leiblichen Leben eine Zeit unbeobachteter Wirk: 
famfeit vorangeht, in der überräfchende Neubildungen und Im: 
geftaltungen fi drängten, während nad der Geburt kaum mehr 
als ein gleichförmiges ſtilles Fortwachſen Längft feitgeftellter Formen 
übrig bleibt, fo finden wir aud in unferer Seele die bleibenven 
Gewohnheiten ihres Wirkens ſchon als gegebene Thatſache vor, 
jobald wir zuerft mit abfichtlicher Aufmerkſamkeit ihre Entwidlung 
zum Gegenſtand unſeres Nachdenkens machen. Was noch vor 
unferen Augen gejchieht, das ſcheint uns Nichts zur fein, als eine 
beftändige Uebung von Kräften, bie längft gebildet find, ein 
immer zunehmender Anfag von Erfenntniffen, in Formen gegoffen, 
die aus früherer, unbewußt gebliebener Arbeit des Geiftes nım 
ſchon fertig ihnen entgegenfommen, eine Ausbreitung endlich 
unferer Gefühle und Begehrungen über den wachſenden Kreis 
von Beziehungspunkten, den die Erfahrung, von Tag zu Tag 
fih mehrend, uns für fie darbietet. In allen diefen Vorgängen 
liegen ohne Zweifel noch ſehr enfcheidende Gründe, welche bie 
eigenthiimliche Geſtalt und den Werth der höheren menſchlichen 
Ausbildung bedingen; aber da, wo es fih noch nicht um bie 
Entftehung der Humanität handelt, fondern um Natur und Ent⸗ 
widlung der allgemeinen Seelenfähigfeiten, aus deren befonderer 








217 


Anwendung diefe hervorgeht, da fcheint Die innere Beobachtung ung 
wenig Aufichluß zu verſprechen. Das Meifte von dem, was wir 
wiſſen möchten, Tiegt gleich den erften großen Bildungsepochen un: 
jere8 Erdkörpers vor aller Erfahrung, und nur durch Vermuthun⸗ 
gen Können wir von den verhältnißmäßig doch immer einförmigen 
und befhränften Vorgängen, die unfer Inneres noch jetzt bewegen, 
auf die Ereignifje zuritdichliegen, durch welche Die Urzeit unſerer 
Geele fiir die fernere Entwicklung den feſten Boden bereitet bat. 

Und noch weit mehr als die Geologie, werben mir bon 
diefen Schwierigkeiten gebrüdt; denn dunkel find felbft die Geſetze, 
nach denen das noch Geſchehende ſich in und ereignet, und mit 
deren Hilfe allein wir den früheren Thatbeftand errathen müßten. 
Unzählige Eindrüde haben ſchon früher von und Befig genommen 
und ihre nachwirkende Kraft übt in jedem Wugenblide auf das 
Schickſal jedes fpäteren einen mitbeitimmenden Einfluß, den wir 
faum völlig von dem trennen können, was bie ſtets gleichen all- 
gemeinen Geſetze des inneren Lebens für ſich allein gebieten 
witrden. Und es ift uns nicht möglich, gleich der Natunviffen- 
haft im Experiment künftlich die verfchiedenen Kräfte zu jondern, 
um den Beitrag zu beftimmen, den jede einzelne zu dieſem zu: 
fammengejegten Erfolge liefert. Denn außer Stande, unſer 
vergangenes Leben ungefchehen zu machen, können wir un® nie 
von dem dunklen, feiner Zergliederung fähigen Drude befreien, 
durch den es alle fpätere Gefchichte des Bewußtſeins mitbebingt; 
und nie tritt für und eine Gelegenheit ein, jene einfachen und 
elementaren Wirkungen zu beobadhten, aus denen der unendlich 
verwidelte Zuftand, in dem wir uns befinden, hervorgegangen fein 
muß. So bleibt ung faum etwas Anderes übrig, als zunächft und 
an bie großen umd nicht leicht zu mißdeutenden Umriffe defien zu 
halten, was unfere innere Erfahrung noch darbietet. Indem wir 
dann die allgemeinen Bermuthungen, die ſich aus dieſer Ueberficht 
entwideln, verfuchsmeife ſchärfer ausprägen und die größere oder 
geringere Viebereinftimmung ihrer Folgen ınit dem Thatbeftande der 
Beobachtung prüfen, Können wir fo vielleicht auf weitem Ummege 


218 


zu einer beſtimmteren Einfiht in die Geſetze des geiftigen Lebens 
gelangen. 

So unendlich verſchieden num dieſes Leben für jeden Einzelnen 
verläuft, fo bat doch der übereinſtimmende Eindrud aller Selbft- 
beobadytung zeitig und allgemein die Borftellung von einem Me- 
hanismus hervorgebracht, dem der Lauf der inneren &reigniffe 
vielleicht überall und fidher in großer Ausdehnung unterworfen fei, 
in anderen Formen zwar und nad anderen bejonderen Geſetzen, 
als fie der äußere Naturlauf darbietet, aber mit gleicher durch⸗ 
gängiger Abhängigfeit jedes einzelnen Ereigniſſes von feinen vor- 
angehenden Bedingungen. So deutlich indeſſen biefer pfychifche 
Mechanismus fih in den Erſcheinungen des Gedächtniſſes und 
der Wiedererinmerung, in der Abhängigleit unferer Gefühle und 
Strebungen von gewiflen Einbrüden zeigt, durch welche fie vegel- 
mäßig hervorgerufen werben; fo ſicher und mit richtigem Tact 
wir ſelbſt im alltäglichen Leben auf feine unbeirrte Wirkfamteit 
rechten, jo wenig find wir doch im Stande, die Regeln, denen er 
folgt, mit der Schärfe von Naturgefegen anzugeben. Denn die 
Schmierigfeiten der inneren Beobachtung, deren wir ſchon gedachten, 
werden dadurch vermehrt, daß feine allgemeine, für fi felbft 
gewiſſe Lehre über die nothwendigen Wechfelmwirkungen, in denen 
bie Zuftände jedes Weſens unter ſich ftehen müßten, uns bier 
aushelfend entgegenkommt. “Die meiften der Grundzüge, Die mir 
in dem Verhalten des geiftigen Lebens bemerken, können wir 
nur als thatſächliche Einrihtungen anfehen, deren Werth für die 
höhere Ausbildung wir zwar häufig volllommen begreifen, aber 
wir Können nicht nachweilen, daß gerade diefe Formen bed Be— 
nehmens für jedes überfinnliche Weien, das einer unbeftimmten 
Bielbeit äußerer Eindrüde offen fteht, die nothwendigen Folgen 
biefer feiner Natur fein müßten. Man fteht leicht, wie nad 
theilig dieſe Tage der Sachen fir die Bebürfniffe der Erflärung 
if. Sind wir nur auf eine Sammlung erfahrungsmäßiger That- 
ſachen angewieſen, fo dürfen wir nicht über das hinausgehen, was 
bie Erfahrung felbft uns jagt; vermöchten wir biefelben That- 





219 


ſachen in ihrem nothwendigen Hervorgehen aus der Natur der 
Seele zu verfolgen, jo würden wir ihnen leicht einen ftrengeren 
und tieferen Ausdruck geben innen, der und den Zugang zu 
einer Menge jegt verfagter Yolgerungen eröffnete. Dieſe Schwie- 
rigleiten ift man fehr geneigt geringer zu fchägen, als fie find; 
duch die Erfolge der Naturwiſſenſchaft vermöhnt, pflegt man zu 
oft Säge, die für die Erklärung phyſiſcher Vorgänge eine unbe- 
frittene Geltung befigen, fir allgemeine und nothwendige Wahr- 
beiten anzufeben und vergigt dariiber, daß alle unbefangene Beob- 
achtung des inneren Lebens und durchaus andere, mit den Natur⸗ 
eriheinungen kaum noch vergleichbare Formen des Geſchehens und 
Wirkens darbietet. Ueber die Bewegung des Stoffes befigen wir 
eine Summe wifjenfhaftlic genauer Geſetze, über die Aeußerungen 
der Seele eine Anzahl empirifcher Anſchauungen, aber noch fehlt 
ung das Dritte und Höhere, deſſen wir bebürften: eine allgemeine 
Lehre, die uns die Geſetze aufiwtefe, nach denen die Zuftände ber 
Weſen überhaupt ſich richten, und aus welcher als zwei ver- 
ſchiedene Anwendungen die Wiſſenſchaft vom Naturlauf und die 
‚von dem geiftigen Leben hervorgehen könnten. 


Zu den einfachiten Thatſachen, in denen der piychiiche Me— 
chanismus fich zeigt, gehört die befannte Wahrnehmung, daß von 
den unzähligen Borftellungen, die wir äußeren Eindrüden ver- 
banken, in jedem Yugenblide nur wenige und gegenwärtig find; 
die meiften find dem Bewußtſein verſchwunden, ohne deshalb zu= 
gleich der Seele überhaupt verloren zu fein; denn ohne Erneuerung 
bes äußeren Einvrudes kehren die vergeflenen ber Erinnerung 
wieder. Man hat diefe Thatjachen fo gebeutet, daß man die 
ewige Fortdauer jeder einmal erregten Borftellung als das natür- 
licherweiſe zu erwartende Verhalten anfah; nur für das Vergeſſen⸗ 
werben juchte man eine Erflärung und glaubte fie leicht in dem 
wechſelſeitigen Drude zu finden, durch welchen die mannigfaltigen 
einander begegnenven Vorftellungen fi aus dem Bemwußtfein zu 


220 


verdrängen ftreben. Aber vergeblich würden wir verfuchen, jene 
Unvergänglichleit der Vorftellungen als die felbftverftändliche 
Folge eines allgemeinen Gefeges der Beharrung darzuftellen, nad) 
welchem jeder einmal erregte Zuſtand eines Weſens, fich ſelbſt 
überlofien, fo lange fortdauern müßte, bis eine neue dazwiſchen 
fommende Wirkung ihn änderte oder aufhöbe. Die Analogie Der 
Naturwiſſenſchaft, die fich dieſes Geſetzes als eines der vorzüg⸗ 
Tichften Hilfsmittel in der Lehre von den Bewegungen der Körper 
bedient, reiht um eines nahe liegenden Unterſchiedes in der 
Natur beider Fälle willen nicht aus, feine Anwendbarkeit auf Die 
Borgänge des Seelenlebens zu fihern. Denn der Körper leidet 
nichts von feiner Bewegung, die für ihn nur ein äußerlicher 
Wechſel der Orte ift, von denen Feiner fin ihn mehr Werth bat 
al8 der andere, dieſem Wechfel zu widerfiehen wird mithin feine 
eigne Natur weder Grund noch Fähigkeit befiten. Das Bor- 
ftellen dagegen tft als inneres Ereigniß nothwendig zugleich fiir 
das Wefen, in dem es geichiebt, eine Störung feines uriprling- 
lichen Zuftandes; mit dem gleichen Rechte nun, wie es fcheint, 
mit weldem wir ein ewiges Beharren der einmal erregten Bor- 
ftellung erwarten, könnten wir baffelbe Gefeß auf die Natur der 
Seele anwenden; wir Kinnten in ihr ein Beſtreben zur Feft- 
haltung ihres früheren Zuftandes vermuthen, Durch welches fie 
jeden ihr aufgebrängten einzelnen Eindrud nad dem Aufbören 
der äußeren Gewalt, bie ihn erzwang, wieber zu befeitigen fuchte. 
Ohne in das unentfchiedene Fin und Wider einzugehen, in welches 
der Streit diefer Anfichten auslaufen würde, wollen wir uns ein- 
facher mit dem Belenntniß begnügen, daß die Tchatfachen bes 
Bewußtſeins die Annahme jener Yortdaner der Eindrüde nöthig 
machen, und der Zukunft möge der Verſuch überlaffen bleiben, 
dieſes thatſächliche Verhalten als die unvermeidliche Folge bes 
Weſens der Seele zu begreifen. Fremdartig und-als eine fonber- 
bare Einzelbeit tritt e8 auch für uns nicht auf; beruht doch auf 
diefer Feſthaltung der Eindrüde die Erfüllung des Berufes, der 
dem geiftigen Leben gefallen ift: zu vereinigen, was in Raum und 





221 


Zeit beziehungslos auseinanderfällt, und dem Bergangenen einen 
mitwirkenden Einfluß auf die Gegenwart dur fein zurüdgeblie- 
benes Bild zu fihern, lange nachdem es felbit aus der Wirflich- 
keit des Naturlaufes ausgefchieden ift. 

So wenig wir num die Beharrung der Borftellungen Teugnen, 
jo wenig können wir auch zögern, in dem Einfluffe, welchen fie auf 
einander äußern, den Grund ihrer Verdrängung aus dem Bewußt⸗ 
jein anzuerkennen. Aber während die Erfahrung überall zur An- 
nahme dieſes Einfluffes drängt, find wir fehr wenig im Stande, 
einen Grund für die Nothmendigfeit feines Vorkommens nachzu⸗ 
weifen. &8 reicht nicht bin, ſich auf Die Wefenseinheit der Seele zu 
berufen, welche ihren verſchiedenen Zuftänden nicht geftatte, unver- 
bunden und wirkungslos neben einander zu verlaufen. Denn diefe 
Einbeit ließe ung zunächſt nicht8 Anderes als das Beftreben erwar- 
ten, alle Unähnlichfeit der inneren Zuftände in einen gleihförmigen 
Geſammtzuſtand zu verjchmelzen. Aber wir wiſſen, daß eine folche 
Neigung weder in dem bewußten Vorftellungslauf vorhanden ift, 
denn alle Mannigfaltigfeit der Eindrücke bleibt in ihm erhalten, noch 
daß fie in jenen unbewußten Zuftänden vorkommen kann, in welche 
die verſchwindenden Borftellungen ſich verwandeln, dem fle ehren 
aus dieſer Vergeflenheit mit ungetrübter Schärfe der Gegenjäte 
wieder, die fie im Bewußtſein befaßen. Völlig würden wir uns 
alfo in jener Erwartung getäufcht haben, die wir auf die Einheit 
der Seele gründen zu Finnen glaubten, und dies Mißlingen macht 
und darauf aufmerffam, daß überhaupt wohl die Einheit eines 
Weſens im Allgemeinen zu einer Wechſelwirkung feiner verichie- 
denen Zuftände drängen möge, daß aber die beſtimmte Form 
oder der Sinn, in welchem diefe Wirkung gejchiebt, won der be- 
ſonderen Natur jedes einzelnen Weſens abhänge. Daß die Vor- 
ftellungen fi nicht zu einem Mittleren miſchen, fondern nur die 
Beleuchtung durch das Bewußtjein einander ftreitig machen, da⸗ 
von müfjen wir den Grund in dem fuchen, was die Seele zur 
Seele macht, oder in dem, wodurch das Bewußtſein fi von an⸗ 
deren Aeußerungen ihrer Thätigleit unterſcheidet. 


222 


Ueber die Schwierigfeiten nun, weldhe die Natur des Bewußt⸗ 
ſeins darbietet, tröften wir uns im täglichen Leben mit fo umvoll- 
kommenen Borftellungen, daß wir kaum Beranlafiung hätten, auf 
diefe gewöhnlichen Auffaflungen zurückzukommen, wenn nicht die 
Auffälligfeit ihrer Mängel uns die Räthfel verdeutlichte, welche fie 
ungelöft laſſen. Wir betrachten wohl das Bewußtfein als einen 
Raum von begrenzter Weite, in welchem die Eindrüde fi ibre 
Pläge ftreitig machen; wir kümmern und wenig dabei um den 
Grund, welcher der Ausdehnung diefe8 Raumes Schranken zieht, 
und ebenfo wenig um die Urfache, welche die Eindrüde veranlaßt, 
in ihn einzubringen; indem wir endlich an dem Bilde Körperlicher 
Geftalten hängen, deren jede freilich durch ihre Undurchdringlichkeit 
der andern den Plat entzieht, den fie felbft einnimmt, finden 
wir e8 felbitverftändlich, daß in dem begrenzten Raume des Be- 
wußtſeins auch nur eine endliche Menge der Borftellungen neben- 
einander fein inne. So haben wir lediglich unter dem Schute 
eines ganz unberechtigten Bildes den Gebanten an eine Unver- 
träglichfeit der Vorftellungen untereinander und an die Nothwen⸗ 
digkeit eines Drudes, den fie gegenfeitig ausüben, nebenher er- 
lichen. Oder wir Iprechen von dem Bewußtſein wie von einem 
Lichte von vielleicht veränderlicher, aber Doch immer nur enblicher 
Stärke der Helligkeit, und finden e8 dann natirlih, daß fein 
Borrath von Erleuchtungskraft fi über die vorhandene Menge 
ber Eindrücke vertbeile, durch Zerftreuung auf eine größere Biel- 
heit ſich abſchwächend, durch Einſchränkung auf Weniges ſich deut- 
licher fammelnd. Und bei diefer Vergleihung verläßt uns fogar 
das Bild, dem wir folgen wollten. Denn jebed Licht, rundum 
fi verbreitend, erleuchtet das Viele nicht ſchwächer als Das 
Wenige, und man fieht nicht feine Strahlen von dem Punlte, 
wo fie nichtS zu beleuchten fanden, in frummlinigen Bahnen um— 
ſchwenken, um ſich gefammelter auf die geringere Anzahl vorhan⸗ 
dener Gegenftände zu merfen. Nur dann werden die vielen 
ſchwächer beleuchtet, wenn fie einander deckend ſich das Licht ent- 
zieben, und gerade die war es, was zu erflären war, wie es 


223 


geihehen könne, daß zwiſchen den Vorftellungen Verhältniffe ein- 
treten, in denen die eine der andern die Möglichfeit des Gewußt⸗ 
werdens entziehe. Und nur wenig würden wir gewinnen, wenn 
wir, dieſe räumlichen Gleichniffe verlaffenn, das Bewußtſein über⸗ 
haupt als eine erichöpfbare Kraft bezeichneten, die nur einen be- 
grenzten Aufwand von Thätigkeit machen könne. ‘Denn immer 
wirde der Grund dafür mangeln, daß einzelne Borftellungen 
allein von ihr Tebendig erfaßt, andere ganz fallen gelafien werben; 
wir würden nicht wiflen, warum ftatt einer Dämmerung, bie 
mit immer abnehmender Helligfeit fich über eine ſtets anwachſende 
Zahl der Eindrüde verbreitete, diefer Wechſel voller Beleuchtung 
und völligen Dunkels eintreten müßte, in welchem die Vorftel- 
lungen auftauchen und wieder verſchwinden. 

Doch auch fir diefe Frage bat unfere gemöhnlicde Meinung 
eine Antwort, die etwas tiefer eingehend auch uns zu weiterem 
Eingehen nöthigt. Bon allen jenen Reizen, welche ber Seele 
bon außen zukommen, läßt man in ihr zunächſt Eindrücke ent⸗ 
ftehen, die als ſolche noch nicht Empfindungen, noch nicht Bor- 
ftellungen find, fondern als eine angebäufte Summe innerer 
Zuftände eine Bewußtſeins noch warten, das fie wahrnehmen 
und durch fein Wahrnehmen fle erft zu Empfindungen verflären 
wird. Bon der Eigentbümlichfeit diefer Eindrüde können wir und 
natürlich nie eine Anfchauung bilden, weil fie als das, was fie 
find, ftet8 dem Bemwußtfein entzogen bleiben, und aufhören zu 
fein, was fie waren, fobald fie von ihm ergriffen werben; ihre 
unendliche Anzahl aber erfcheint uns als eine verkleinerte und 
angenäherte Wiederholung ber äußeren Welt, zwar in das 
Innere der Seele verfegt, dem Bewußtſein jedoch nod eben fo 
fremd, mie Alles, was noch ohne eine Wechſelwirkung mit uns 
in äußerer Ferne ruht. Bon diefen Einvrüden gelte das Gefet 
beftändiger Beharrung; einmal entftanden, vergehen fie nicht 
wieder; aber veränderlich fei ihr Verhalten zu der wifjenden 
Thätigfeit umferes Geiſtes, die mie ein wandelndes Licht bald 
dem einen, bald dem andern fi) zumendenb, fie bald wahr: 


224 


nehme, bald in das bewußtloſe Dafein verborgener Eindrüde. 
zurückfallen Laffe. 

Es ift nicht ohne Imtereffe, den verſchwiegenen Vorausſetz⸗ 
ungen nachzugehen, auf denen diefe Auffaffung beruht. Wo wir 
durch einen äuferen Reiz irgend ein Element zu einer Berän- 
derung bemogen jehen, deren beftimmte Geftalt diefes nur aus 
feiner eignen Natur, nit aus der des Reizes entlehnt, da 
werden wir das Ganze befien, was in dem Elemente geſchieht, 
in Gedanken ſtets al8 eine Aufeinanderfolge zweier Ereigniffe, 
eines Eindrudes und einer lebendigen Rückwirkung gegen ihn, 
betrachten innen. Unfere Beobachtungen im Leben pflegen ſich 
nun auf zuſammengeſetzte Gebilde zu beziehen, und bier bedarf 
e8 einiges Zeitverlaufes, ehe Die Erfchütterung des einen Theiles, 
den der Eindrud zunächſt getroffen bat, fi über das Ganze 
verbreitet und dur Anregung der übrigen einen Rüdichlag 
gegen die urſprüngliche Störung hervorruft. So gewöhnen wir 
uns an die Vorftellung einer Kluft zwilchen dem Leiden und ber 
Thätigfeit, die ihm antwortet. Wenden wir nun unfere Gedanken 
auf die einfache Natur der Seele, fo erſcheint dieſelbe Vorftellung 
nicht mehr gleich zwingend. Gewiß wirb jeder äußere Reiz fie 
nur dadurch zum Handeln bringen, daß fie von ihm leidet, denn 
er wäre nicht fir fie vorhanden, Litte fie nicht; gewiß werben 
auch ihre inneren Veränderungen, ihr Leiden ſowohl als ihre 
thätige Rüdwirkung fih nur in einem Zeitverlauf entwideln; 
aber nothwendig wenigftens ift e8 nicht, daß dieſe beiden für 
unfere denkende Auffaffung unterſcheidbaren Theile des ganzen 
Borganges in verfchievenen Zeitabichnitten auf einander folgen, 
oder daß zu dem Eindrude der äußeren Reize erjt noch irgend 
eine andere ergänzende Bedingung binzutreten müſſe, um ihm, 
dem an fih unbewußten, die Aufmerkſamkeit des Bewußtſeins 
zuzumwenden. In jedem untheilbaren Augenblide vielmehr können 
wir beide als gleichzeitig, als jo in einander verſchmolzen betrach- 
ten, daß die verſchiedenen Namen, die wir ihnen geben, nicht mehr 
zwei Vorgänge bezeichnen, fondern den einen und ungetheilten 











225 


unter verichiedenen Gefthtspunften auffaffen. Denn auch das, was 
wir Leiden nennen, ift ja nicht eine fertig in das Leidende ges 
brachte Veränderung, von der es nur einen Drud überhaupt em⸗ 
pfände, ohne ſich in einer beftimmten Form und Weiſe bebriidt 
zu fühlen. Inter demfelben Eindrud leiden verſchiedene verſchie⸗ 
den; fo num zu leiden und nicht anders, ift ſelbſt ſchon eine Rück⸗ 
wirkung, in ber fi die innerfte Natur eines jeden lebendig 
gelten macht. 

Menden wir und nun zu der unmittelbaren Empfindung, 
welche uns ein äußerer Sinnesreiz veranlaßt, jo müffen wir ge- 
ftehen, daß das ganze Ausſehen diefer einfachen Vorgänge wenig 
für jene trennende, weit mehr für dieſe vereinigende Auffaflung 
ſpricht. Wir willen nicht, warum die Lichtwelle, die unjer Auge 
trifft, durch ihre Nachwirkung auf die Seele zuerft einen unſagba⸗ 
ren unbewußten Eindrud berborbringen müßte, dem nım erft als 
eine Rückwirkung die Empfindung folgte, für die er als Blau ober 
Roth erſchiene. Das Sehen diefer beftimmten Farbe, das Hören 
dieſes beftimmten Tones läßt fih unftreitig unmittelbar als der 
eine ungetbeilte Zuftand faflen, in den die Seele gerätb, und wir 
nennen ihn Eindrud, wenn wir an feine Berurfahung durch einen 
äußeren Reiz benfen, lebendige Rückwirkung aber, fobald wir uns 
erinnern, daß derfelbe Reiz in anderen Naturen andere Zuſtände 
vege gemacht haben würde, die Form des bier vorhandenen mithin 
von dem Weſen diefer Seele abhängt. Nicht anders feinen wir 
diefe Vorgänge auffaffen zu müſſen, als fo, wie wir auch die Mit- 
theilung der Bewegung zwiſchen unelaftifchen materiellen Punkten 
beurtheilen. Wir meinen nicht, daß der geftoßene Körper zuerft 
nur empfangend die Geſchwindigkeit und Richtung aufnehme, die 
ibm der Stoß zu geben ftrebt, und daß er Dann erſt vermöge ber 
Bewegung, in welcher er fidy bereit8 befand, auf diefen Eindrud 
zurückwirkend, jene mittlere reſultirende Bahn beftimme, die er 
wirklich durchlaufen wird. Vom erften Augenblide des Stoßes 
an kommt vielmehr nichts in ihm zur Wirflichleit, als dieſe eine 
und ungetheilte Bewegung, in welcher der mitgetheilte Eindrud 

Zope I. 4. Aufl. 15 


226 


und die Wirffamleit des urfprüngliden Zuftandes ununtericheib- 
bar verfchmolgen find. Bon ſolchen Ueberlegungen geleitet, würden 
wir es ablehnen Können, unbewußte Erregungen in der Seele der 
bewußten Empfindung voranzudenken; nicht nur müßig, fondern 
vielleicht widerfinnig erfchtene es, in dem Geifte, der Iauter Be- 
wußtſein und Licht fei, einen dunklen Grund der Nacht zu ſuchen, 
aus dem als eine fpätergeborne Erſcheinung fich die Helle ver Ge- 
danken entwidle. Und in der That bat hieraus ſich eine piycho- 
logiſche Anficht gebildet, welde die bewußten Empfindungen als 
die Urvorgänge des Seelenlebend betrachtet und alle übrigen Er- 
eigniffe aus ihren Wechſelwirkungen ableitet. 

Die nöthige Rüdfiht auf die vergeflenen Borftellungen än- 
dert einigermaßen diefen Stand der Sade. Gewiß dürfen wir 
e8 dem Sprachgebrauche nicht verargen, wenn er das, was einft 
Borftellung war, auch dann nod fo zu nennen fortfährt, wenn 
es längſt das weſentliche Merkmal eingebüßt bat, um deswillen 
ihm dieſer Name zufam. Aber die erflärende Unterfuhung muß 
fih dod der Ungenauigfeit diefer Ausdrucksweiſe erinnern; fie muß 
zugeben, daß die Namen der vergefienen oder unbewußten Bor- 
ftellungen etwas bezeichnen, was in feiner Weife mehr Borftellung 
ift, und daß diefe in ſich widerſprechenden Benennungen nur als 
Erinnertingen an den Urfprung, aber nicht al8 Behauptungen über 
die gegenwärtige Natur der durch fie angebeuteten Zuftände zu 
dulden find. Wie fehr man dann auch fortführe, alles unbewußte 
Geſchehen in uns nur aus der Hemmung der Borftellungen ab- 
zuleiten, immer würde aud fo diefe Auffaffung das Geſtändniß 
einichließen, daß es doch eben außer dem Bemußtfein noch andere 
Zuftände der Seele gebe, in weldhe das Bewußtfein fi) verwan- 
deln könne. Müſſen wir aber dies einmal zugeben, jo wird es 
[mer fein, die Grenzen der Folgerungen zu beftimmen, die ſich 
daraus ziehen Taffen. Eine beftändige Wechſelwirkung zwiſchen 
dem hellen Xeben des Bewußtſeins umd dem bunflen Grunde des 
Unbewußten haben wir damit einmal zugeftanden, und num ge— 
winnt aud) die andere früher erwähnte Anficht wieder Boden, wenn 





227 


fie das Borftellen überhaupt als eine wandelbare Thätigkeit be- 
tradtet, Die zu dem aufbewahrten Reichthume unbewußter Ein- 
drücke bald hinzutritt, bald fi von ihnen abmwenbet. 


In dem Gegenfat diefer beiden Meinungen liegt wohl einer 
der hauptſächlichſten von jenen Gründen, welche die pfychologiſchen 
Anfihten auch der Gegenwart nad verſchiedenen Wegen ausein⸗ 
ander gehen laſſen. Für beide muß es die weſentlichſte Aufgabe 
fein, Erflärungen der beftimmten Reihenfolge und der Ordnung 
überhaupt zu finden, bie fich in dem Wechſel umferer Borftellungen 
zeigt. Die eine wird bie Frage ſich fo ftellen, daß fie nach den 
Regeln des Mehanismus fucht, durch welchen die bewußten Zu- 
flände einander verdrängen; die andere wird nad) den Gründen 
forſchen müſſen, durch welche die einzelnen unbewußten Einbritde 
die Aufmerkſamleit des Vorftellens auf ſich ziehen und von anderen 
ablenten. Beide werden in ihren Ergebniffen mehrfach zuſammen⸗ 
treffen, wie fle denn beide von der Betrachtung eines und befjelben 
Thatbeſtandes fi) müſſen Leiten laſſen; dennoch bleibt die Ver⸗ 
ſchiedenheit in der Art ihres Vorgehens beträchtlich genug, um 
noch emige Augenblide unfere Erwartung zu fpannen. 

In der größeren oder geringeren Stärle der Vorftellungen 
wird natürlich die erſte Anficht den Grund für das Maß des 
drängenben Einfluffes finden, welchen fie auf einander üben. Doch 
find die Vorftellungen nicht urfprünglich mit abftoßenden Kräften 
begabt; eine Nothmwendigfeit ihrer Wechſelwirkung überhaupt tritt 
erft dadurch ein, daß die Einheit der Seele fie zu verbinden ftrebt, 
ihre Gegenfäte unter einander aber diefer Bereinigung widerftehen. 
Deshalb wird die Weite des Gegenfages, ber zwei Borftellungen 
trennt, im Allgemeinen Die Lebhaftigfeit ihrer Wirkung auf einan- 
der, ihre Stärke dagegen das Maß des Leidens beftimmen, welches 
in diefer Wechſelwirkung jebe einzelne der andern zufligt oder 
von ihr erfährt. Daß nun diefer Kampf, obwohl angeregt durch 

15* 


228 


Die Gegenfäge der Borftellungen, doch nicht mit einer Ausgleihung 
derfelben endet, fondern daß nur die Stärke der ftreitenden Bor- 
ftellungen ohne Aenderung ihres entgegengelegten Inhalt vers 
mindert wird, diefen Umftand wird die erwähnte Anficht am beften 
tbun, fr eine ebenfo unerwartete als unerflärliche Thatſache 
auszugeben, zu deren Annahme die Beobadhtung zwingt. Erſt 
nad dem Zugeftändniß dieſes Punktes beginnt die Möglichkeit, 
die verwickelteren Erſcheinungen auf ihn zurückzuführen; bie innere 
Nothwendigkeit feined eignen Vorkommens entgeht uns völlig 
und wir gewinnen nicht8 duch das Bemühen, diefe Lüde durch 
täufchende Reden zu füllen. 

Aber auch jene Begriffe der Stärke und des Gegenfates, an 
die wir in der Berechnung phyſiſcher Ereigniffe gewöhnt find, 
bieten bei ihrem beabſichtigten Gebrauche zur Exflärung bes Vor⸗ 
ftellungslaufes mehrfache Schwierigleit. Den Empfindingen, d. h. 
jenen Borftellungen, welche durch Die gegemwärtige Einwirkung 
eines äußeren Reizes in uns erregt werden, kommt ohne Zweifel 
eine gradweis verſchiedene Stärke zu, denn Feine von ihnen ift 
eine reine und gleichgiltige Darftellung ihres Inhaltes; jede wird 
vielmehr zugleich als eine größere oder geringere Erſchütterung, 
als ein mehr oder minder eingreifender Zuſtand unſeres eignen 
Weſens von ung gefühlt. Nicht nur an fi ift das blendende 
Licht ein Stärferes, als der ſanfte Schimmer, fondern auch uns 
begegnet mehr, wenn wir jenes, als wenn wir dieſen jehen; nicht 
blos an ſich ift der Iautere Klang ein größerer Stoff für unfere 
Wahrnehmung, jondern auch feine Wahrnehmung ift ein ftärkerer 
Eindrud in uns, als die des leiſeren Tones. Und nicht nur die 
Empfindungen deffelben Sinnes find in dieſer Weife vergleichbar; 
aud) die Erregungen des einen können als größere oder geringere 
Erihütterungen unjeres Innern mit denen eines andern zufanmen- 
geftellt werden. Denken wir uns deshalb eine Seele, deren Bes 
wußtfein noch von feiner Erinnerung früherer Erfabrungen be- 
herrſcht wird, einer Mannigfaltigfeit äußerer Reize zum erften 
Mal ausgelegt, jo werden wir e8 mahricheinlich finden, Daß die 


229 


Empfindung des ftärferen Inhaltes Die des ſchwächeren verdrängen 
wird. In der ausgebildeten und durch Erfahrung erzogenen Seele 
finden wir die Ereigniffe nicht mehr fo einfach; wir wiffen, daß 
ein leiſes Geräuſch unfere Aufmerkſamkeit von lautem Lärmen ab- 
ziehen Tann, und daß überhaupt die Macht, welche die Borftellun- 
gen über die Richtung unferes Gedantenlaufes ausiiben, nicht 
mehr im Berbältniß zu der Stärfe des finnlichen Inhaltes fteht, 
ben fie wahrnehmen. Im Fortſchritt des Lebens hat ſich vielmehr 
an die Eindrücke ein überwiegendes Interefje gelnüpft, das nur 
noh an den Werth gebunden tft, welchen fie al8 vorbedeutende, 
begleitende oder nachbildende Zeichen anderer Ereigniffe befigen. 
So beftimmt für die Zukunft die Erfahrung, die filr jeden eine 
andere ift, auch für jeden die Werthe der einzelnen Borftellungen 
. anders und beſtimmt fie felbft für den Einzelnen nicht unveränder- 
lich. Nur die beharrlice Natur des Geiftes und die nicht min- 
ber beftändigen Grundzüge der Törperlihen Organifation forgen 
dafür, daß diefe Verſchiedenheit nicht ind Ungemefjene geht, indem 
die überwältigende Kraft, mit welcher einzelne finnlihe und in⸗ 
tellectuelle Eindrüde in Alle gleichmäßig eingreifen, überall die 
Werthbeftimmungen des BVorgeftellten auf ein gewiſſes Maß der 
Bergleihbarkeit und Berechenbarkeit zurückbringt. 

So ſcheint e8, als wenn wir dreifach untericheiden müßten, 
zuerit das Mehr oder Minder des vorgeftellten Inhaltes, dann 
die Stärke der Erregung, die er uns zufügt, endlich die Macht, 
welche fein Eindrud über unfern Vorftelungslauf ausübt; und 
nur in der Empfindung der noch erfahrungslofen Seele würden 
diefe verſchiedenen Beftimmungen vollftändig zufammtenfallen. Aber 
in unferer Erinnerung verſchwindet das zweite diefer Glieder. In— 
bem fie den Inhalt früherer Empfindungen getreu nah Art und 
Stärke wieberholt, wiederholt fie nicht gleichzeitig Die Erſchütterung, 
Die wir von ihnen erfuhren, oder wo fie dies zu thun ſcheint, fügt 
fie Doch in Wahrheit vielmehr das bloße Bild des früheren Er- 
griffenfeins als eine zweite Vorftellung zu der wiebererzeugten An- 
ſchauung des früheren Inhaltes hinzu. Das Rollen des Donners 


230 


ift in unferer Erinnerung, fo deutlich fie auch feine Eigenthüm⸗ 
lichleit und feine Stärke wiedergibt, Doc feine gewaltigere Erre⸗ 
gung als die gleich deutliche VBorftellung des leiſeſten Tones; wir 
gedenken vielleicht wohl der ftärkeren Erſchütterung mit, die ber 
beftigere Klang uns zufügte, aber auch dieſe Vorftellung der leb⸗ 
hafteren Erregung ift nicht jet wieder eine größere Bewegung im 
uns, als die gleich deutliche des geringeren Ergriffenfeind. Wir 
unterfcheiden in der Erinnerung die verſchiedenen Gewichte zweier 
Segenftände, aber die genaue Wiebervorftellung bes ſtärkern 
Druckes, den uns ber eine verurfachte, iſt nicht auch jetzt wieder 
ein flärferes Ergriffenfein fir uns, als das nicht minder genaue 
Nachgefühl der geringeren Laft. Die Borftellung des Schmerzes 
ift nicht Schmerz, die der Luft nicht Luft felber; leidlos und 
freudlos erzeugt das Bewußtfein wie aus einer ficheren Höhe 
herab den Inhalt vergangener Eindrüde mit aller Mannigfal- 
tigleit feiner inneren Berhältniffe, jelbft mit den Bildern der 
Gefühle, die fih an ihn Mmüpften, aber nie trübt es die Auf- 
fung feiner Aufgabe dadurch, daß es an der Stelle der Bilder 
ben Eindrud felbft mwiederfehren ließe. Ausdrücklich als abweſend 
ftellt e8 das Vorgeftellte vor, und ohne von dem Größeren mehr 
als von dem Kleineren ergriffen zu werben, wiederholt e8 mit 
gleicher Leichtigkeit beide, gleich zweien Schatten, von denen feiner 
fhwerer iſt als der andere, wie verſchieden auch Die Gewichte 
der Körper fein mögen, denen fie entſprechen. 

So würde mithin der Gebantenlauf der Erinnerung zwar 
großen und kleinen, ftarten und ſchwachen Inhalt dem Bewußt⸗ 
fein wiederbringen, aber die vorftellende Thätigfeit,, die er dazu 
verwendet, würde gradlos überall diefelbe fein. Und doch wilde 
nur von Unterfchieden dieſer Legteren die Wechſelwirkung der Bor- 
ftellungen, da ihre Inhalte ſich nicht miſchen, abhängig fein kön— 
nen, denn nur in der unmittelbaren Empfindung würde die Größe 
des Borgeftellten, da fie zufammenfällt mit der Stärke der Erre- 
gung, den Sieg bes einen Eindrudes über den anderen entſcheiden. 
Wenn wir deshalb von einer Stärke der Borftellungen fo ſprechen, 


231 


daß wir von ihr das Schickſal der VBorftellungen im Streite gegen 
einander beftimmt denken, fo kann e8 nur noch in jener dritten 
Bedeutung gefchehen, in welcher fle Die Macht ift, welche jede ein⸗ 
zelne Borftelung auf die Richtung des Gedankenlaufes ausübt. 
Aber dieſe Macht ift nicht mehr eine vorher Hare Eigenſchaft, 
durch weldhe wir den ferneren Erfolg erläutern Tünnten, fondern 
fie ift die Fähigkeit felbft, deren Gründe wir fuchen. Bon einer 
Stärke in dieſem Sinne die Leiftungen der Borftellungen berzu- 
leiten, würde nicht mehr Aufflärung gewähren, als die Behaup- 
tung, daß im Kampfe derjenige zu fliegen pflege, der aus unbekannt 
bleibenden Gründen die Oberhand erhalte. Aber ehe wir dieſe 
noch unbelannten Gründe anderöwo fuchen, müſſen mir noch 
einige Berhältniffe erwähnen, die dem Gedanken einer veränber- 
lihen oder verſchiedenen Stärke der Vorſtellungen doch einige 
Unterftügung zu gewähren jcheinen. 

Man ift völlig an die Meinung gewöhnt, daß jeder Inhalt, 
ohne daß er felbft verändert würde, in unzählig verfchiebenen Gra⸗ 
den ber Klarheit oder Stärke gedacht werben könne, und eben, in- 
dem’ fie abwärts Die Stufenreihe diefer Grade durchlaufen, follen 
die Borftelungen allmählich und ftetig ſich verdunkelnd aus dem 
Bewußtfein verfhwinden. Aber dies ift die Beſchreibung eines 
Ereigniffes, das Niemand beobachtet haben Tann, da die beobach⸗ 
tende Aufmerkſamkeit eben die Möglichkeit feines Eintreten auf- 
heben würde. Exft fpäter, wenn wir inne werden, daß eine Vor- 
ftellung eine Zeit hindurch in unferem Bewußtſein gefehlt bat, 
beantworten wir ung die Frage nad) der Art ihres Verſchwindens 
durch Diefe Bermuthung eines allmählichen Erlöſchens, für deren 
Nichtigkeit die wirkliche Beobachtung, fo weit fie der Sade fid 
nähern kann, durchaus fein Zeugniß ablegt. Erinnern wir uns 
des inneren Zuſtandes, in dem wir uns befanden, wenn eine 
ſtark angeregte Vorftellung längere Zeit in uns lebendig war und 
nach und nad zu verſchwinden fchien, fo werden wir ſtets finden, 
daß fie nicht ftetig verdunkelt wurde, fondern mit vielen und ſcharfen 
Unterbrechungen bald im Bewußtſein war, bald nicht. Jeder neue 


232 


Eindrud, defien Inhalt in irgend einer Beziehung zu jener Bor- 
ftellung ftand, führte fie augenblicklich wieder in die Erinnerung 
zurüd, durch jeden fremden, in feiner Neuheit auffallenden warb 
fie augenbfidlid wieder verdrängt; jo glich fie einem ſchwimmen⸗ 
den Körper, der durch wechſelnde Wellen bald plötzlich verichlungen, 
bald ebenfo geſchwind gehoben, in dem einen Augenblid ganz ſicht⸗ 
bar iſt und im anderen gänzlich umfichtbar. Was wir bier als all- 
mählie Verdunkelung deuten, find zum Theil die wachſenden 
Pauſen, welde die Wiedererfheinungen der Borftellung unter- 
brechen, theils eine andere Eigenthümlichkeit, deren wir fpäter ge⸗ 
denken werben. 

Theilen wir nun die vielgeftaltige Menge der Borftellungen 
in die einfachen Eindrüde der finnliden Empfindung und in die 
zufammengefegten Bilder, Die aus biefen durch mannigfacdhe Ber- 
fnüpfung entfteben, fo würden wir nicht angeben künnen, worin 
für die erfterem die Verſchiedenheit ihrer Stärke befteben follte, 
wenn wir nicht den vorgeſtellten Inhalt unvermerkt verändern. 
Denjelben Ton von derjelben Höhe und Stärke, von gleichen 
Klange des Inſtrumentes, Können wir nicht mehr oder weniger 
deutlich vorftellen, wir haben entweder feine Borftellung, oder wir 
haben fte nicht, oder enblich wir fehlen gegen unfere eigne Boraus- 
fegung, indem wir die Borftellung eines ſtärkeren oder ſchwächeren, 
alſo eines anderen Tones an die Stelle einer ftärkeren oder ſchwä⸗ 
cheren Borftellung deſſelben Tones fegen. Und ebenfo dieſelbe Schatz 
tirung derſelben Farbe Können wir nicht in derſelben Helligkeit 
ihrer Beleuchtung nun noch mehr oder minder deutlich vorftellen; 
wohl aber, wenn fie und durch einen Namen ober eine Befchrei- 
bung angedeutet war, fünnen wir in dem Berfuche, uns ihrer zu 
erinnern, ungewiß ſchwanken zwifchen mehreren verwandten Far: 
benbilbern, die ſich anbieten und von denen wir nicht wiffen, wel- 
ches das verlangte if. Damm beuten wir fälfchlich unjeren in- 
neren Zuftend fo, als hätten wir Die Borftellung wirklich, nur 
in geringer Klarheit, während wir fie in der That nicht haben, 
fondern fie herausſuchen aus einer Menge, mit berem Anzahl 





233 


unfere Ungewißheit, alfo die fcheinbare Unflarheit der Borftellung 
wädhlt. 

Noch weniger gehen unfere zuſammengeſetzten Anfchauungen 
durch fietige Verdunkelung zu Grunde, durch welche ihr ganzes 
Bild allmählich ſchwächer beleuchtet verblaßte; fondern fle werben 
unklar, indem fie wie verwefend ſich auflöfen. Bon einem geſehe⸗ 
nen Gegenftande fallen in unferer Erinnerung einzelne minder 
beadytete Theile aus und die beftimmte Verbindungsweife, in ber 
fie mit anderen zufammengebörten, wird völlig vergeflen; bet dem 
Berfude, im Gedächtniß das Bild nachzuzeichnen, irren wir rath⸗ 
108 zwiſchen den manderlei Möglichkeiten, die entftandenen Lücken 
auszufüllen oder die Einzelheiten zu verknüpfen, die uns nod in 
voller Klarheit vorſchweben. Sp entjteht auch bier eine ſcheinbare 
Unklarheit der Vorſtellung, die in geradem Verhältniſſe mit der 
Weite des Spielraumes wächft, der unferer ergänzenden Phantaſie 
gelafien ift. Vollkommen Kar ift Dagegen jede Borftellung, deren 
Theile vollftändig und zugleich mit zweifellofer Beftimmtbeit ihrer 
gegenfeitigen Beziehungen gedacht werben, und. diefe Klarheit ift 
an fich weder einer Steigerung noch einer Minderung fähig. Den- 
noch ſcheint e8 uns häufig fo, als ob felbft ein längft vollftän- 
dig vorgeftellter Inhalt noch an Stärke feines Vorgeſtelltwerdens 
zunehmen Hinne; in der That aber wird er in folden Fällen um 
einen nenen Gehalt vermehrt. So wie er unflar wird durch ent- 
ſtehende Lücken, die feinen Beftand verkleinern, fo fcheint er an Klar⸗ 
beit noch zuzunehmen, jobald über feinen eignen Beitand binaus 
nod die mannigfachen Beziehungen in das Bewußtſein treten, Die 
ihn nach allen Seiten hin mit anderem Inhalte verknüpfen. Es 
ift nicht möglich, den Kreis oder das Dreied mehr oder weniger 
vorzuftellen; man hat entweder ihr richtiges Bild oder hat e8 nicht; 
aber gleichwohl feheint die Anfchauung beider an Klarheit zu mach- 
fen, wenn unfere geometrifche Bildung die zahlreichen wichtigen Be- 
ziehungen, durch die beide Figuren fi auszeichnen, fogleih mit 
erinnert. Dies ift eine Klarheit in dem Sinne, in mweldem wir 
fie als gradweis verfchieden zugaben; eine Macht nämlich, Die der 


234 


Vorſtellung nit aus einer eignen Stärke, fondern aus ihren 
Connexionen erwächft. Unklarer fcheint uns deshalb in unferem 
Bewußtſein eine früher lebhafte Borftellung dann zu werben, wenn 
fie aus irgend einer Urfache allmählich abläßt, alle die anderen 
in bie Erinnerung mitzubringen, die fi im erften Augenblide 
ihrer größten Lebhaftigfeit an fie knüpften, oder auf deren Mit- 
gegenwart eben dieſe Lebhaftigkeit ſelbſt beruhte. So verflingt, 
wie wir oben erwähnten, eine angeregte Borftellung in uns, indem 
fie bald auftauchend, bald verichwindend, bei jever jpäteren Rüdkfehr 
einen Heineren Theil der Nebengedanten mit fih führt, von denen 
fie anfangs begleitet war. Deshalb ſcheint uns auch nachher, wenn 
wir auf einen vergangenen Borftellungslauf zurückblicken, ein einzel- 
ner Eindrud nur mit geringer Klarheit ober nur in niedrigerer Höhe 
durch das Bewußtſein gezogen zu fein, wenn er in Der That zwar mit 
derfelben gradlojen Deutlichkeit, wie jeder andere, auftrat, aber zu we- 
nige Nebenvorftellungen anregte, durch die er Längere Zeit fich Hätte 
halten und auf die Richtung unferer Gedanken Einfluß üben Können. 

Sp kommen wir endlidh zu der Behauptung zurüd, daß die 
Macht, mit welcher die mannigfachen Vorftellungen einander be- 
fämpfen, nicht abbängig ift von einem beftimmten Grade der Stärke, 
den jede einzelne entweder urfprünglich gehabt hätte, oder bald 
größer bald Heiner in jedem Augenblid aus irgend welden Grün- 
den erlangte. Was wir als die Stärke der Borftellungen bisher 
fennen lernten, befteht nicht in einer gradweis beftimmbaren In- 
tenfität des Wiflens um fie, fondern in einer ertenfiv meßbaren 
Bolftändigfeit ihres nothwendigen Inhaltes und in dem veränber- 
lichen Reichthum überzähliger Elemente, welche fih an den Iu- 
haltsbeſtand jeder einzelnen anknüpfen. Doc findet vielleicht eine 
genauere Nachforſchung noch Etwas, was wir bisher in den That⸗ 
jachen überjehen haben; aber ehe wir uns bazu menden, bebarf 
das andere Element, auf das man fi) in der Betrachtung Des 
Borftelungslaufes zu fiüten pflegt, der Gegenſatz der einzelnen 
Eindrüde unter einander, eine kurze Berlidfichtigung. 

In der Empfindung, fo lange wir alſo gegenwärtige äußere 








235 


Eindrüde wahrnehmen, jehen wir unfer Bewußtfein der größten 
Mannigfaltigkeit zugänglid. Unzählige Farbenpunkte unterfcheibet 
unfer Auge mit einem einzigen Blid, nnd wo dieſe verfchiedenen 
Eindrüde einander zu trüben feinen, haben wir Grund, diefen 
Erfolg nicht von einer Wechſelwirkung der ſchon gebildeten Farben⸗ 
borftellungen, fondern von Störungen abzuleiten, welde die lörper- 
lichen Erregungen in den Elementen des Sinnesorganes durch ein- 
ander erfahren, noch ehe ihre legte Endwirkung für die Seele zur 
Beranlafjung der Empfindung wird. Am menigften dürften wir 
annehmen, daß in irgend einem früheren Alter die Farbenpunkte 
für das Auge, die Töne fir das Obr nur ein unterfchieblofes Ge- 
miſch Darböten, aus welchem erft die wachlende Aufmerkfamfeit die 
einzelnen Elemente ſchiede. Denn weder einen Beweggrund wiirde 
biefe, noch eine Regel des Scheidens haben, wenn nicht der Ein- 
druck verſchiedenartige Beitandtheile ſchon erkennbar darböte, zwi- 
ſchen denen fie die Theilſtriche wohl vertiefen und zufchärfen, aber da 
nicht ziehen kann, wo fie durch Feine Andeutung vorgezeichnet find. 
Ohne Zweifel ift Daher das Bewußtfein weder zu eng für eine 
Bielheit von Empfindungen, no iſt in ihm irgend eine Neigung, 
bie einmal gebildeten verichiebenartigen Borftellungen zu irgend 
einem Mittleren zu verſchmelzen. Diefe mehrfach erwähnte Eigen⸗ 
tbümlichleit nun macht uns zwar mißtrauiſch gegen die Annahme, 
daß ber Gegenfat der Borftellungsinhalte gleihwohl maßgebend 
fein ſolle für die Lebhaftigfeit, mit welcher fie fih aus dem Be⸗ 
wußtſein zu verbrängen fuchen; aber fie macht body dieſen Einfluß 
nit fo unmöglich, dag wir nicht zuvor die Entfcheivung der Er⸗ 
fabrung einholen müßten. Sehr deutlich nun find unfere Selbft- 
beobachtungen in diefem Punkte überhaupt nicht; dennoch feinen - 
fie jene Annahme in feiner Weife zu beftätigen. Es bat immer 
große Schwierigkeiten, zwei VBorftellungen unverbunden neben ein- 
ander zu fafien; jo weit es indeſſen gelingt, finden wir die gleich⸗ 
zeitige Borftellung von Weiß und Schwarz nicht ſchwerer als Die 
von Roth und Orange, den Verſuch, Süß und Sauer zugleich zu 
denken, nicht mißlicher, als den, zwei äbnlidhe Süßigfeiten zu 


236 


vereinigen. Es ſcheint uns im Gegentheil, als wenn die äußer- 
ften Gegenfäge, die wir in dem Inhalte der Vorftellungen errei- 
hen können, mit größerer Leichtigfeit neben einander gedacht wür⸗ 
den, als Verſchiedenheiten, deren Weite ein beftimntes Maß bat. 
Die Vorftellimgen des Lichtes und der Finfterniß, des Großen und 
bes Kleinen, des Pofttiven und des Negativen, und unzählige &hn- 
liche finden wir fo im Bemwußtfein verbunden, daß das eine Glied 
nicht ohne das andere gedacht wird, und wenn es und unmöglich 
ift, Diefe entgegengejeßten als gleichzeitige Merkmale Eines und 
Defielben zu faflen, jo bat e8 dagegen feine Schwierigfeit, fie auf 
Verſchiedenes zu vertbeilen, und dies reicht hier völlig bin, wo 
es ſich nicht um Die Berträglichleit der Eigenfchaften an den Din- 
gen, fondern um die Vereinbarkeit ihrer Vorſtellungen in unferem 
Bemußtfein handelt. Störten in der That die Vorftellungen ein- 
ander nad Maßgabe der Gegenfäte in ihrem Inhalte fo, daß 
die unähnlicheren fich mehr von ihrer Klarheit raubten, als Die 
äbnliheren, fo wiirde Daraus die fonderbare Folge entfpringen, 
Daß nun auch unfere vergleichende Beobachtung die Meinen Unter- 
ſchiede Haxer faſſen müßte als die großen. Aber alle Ausbildung 
unferer Gedanken beruht vielmehr darauf, daß das Bewußtſein voll- 
kommen unbefangen durch den Inhalt bleibt, und daß es, um die 
Berhältniffe zwifchen dem gegebenen Mannigfaltigen unparteiiſch 
aufzufafien, eben durch dieſe Berhältniffe in feinen Verrichtungen 
nicht gehemmt oder gefördert wird. Zugeben binfen wir wohl, 
daß durch Die verfchiedenen Beziehungen zwifchen den Vorftellungs- 
inhalten Gefühle in un® erregt werben, melde das Maß der 
Aufmerkſamleit beftimmen, die wir dem einen von ihnen mehr 
als dem anderen zuwenden; allein abgejehen von dieſen Wirkungen, 
die einem anderen Zwecke des geiftigen Lebens dienen, glauben wir 
die Behauptung ausſprechen zu Dürfen, daß für bie gegenfettige 
Berdunlelung oder Verdrängung der VBorftellungen durch einanber 
ber Gegenſatzgrad ihrer Inhalte ohne alle Bebeutung if. Dean 
kann an diefem Ergebniß Anſtoß nehmen, weil man es in Wider- 
ftreit glaubt mit dem allgemein nothwendigen Sage, nach welchem 





237 


entgegengefeßte Zuftände eines und befielben Weſens einander auf⸗ 
heben müſſen. Aber wie es fih aud um die Gültigkeit dieſes 
Satzes verhalten möge, jene Erfahrungen lehren uns eben, daß 
die Thätigfeiten, durch welche wir entgegengeleßte Inhalte vor⸗ 
ftellen, entweder nicht entgegengefegt find, oder nit in einem 
ſolchen Sinne, in welchem ihr vielleicht vorhandener Gegenfaß zum 
Grunde einer Gegenwirkung werden müßte Auch bier lernen 
wir nur, wie durchaus anders fi das Gefchehen im Geifte ver- 
hält, als die Ereignifjfe in der Natur, und wie jehr ung bie vor⸗ 
eilige Anwendung von Erlenntniffen irre führen muß, die in der 
Naturwiſſenſchaft unbeftritten gelten, weil man die Punkte genau 
fennt, auf die fie anzıtwenden find, während auf dem Gebiete des 
geiftigen Lebens ihre vielleicht auch hier allgemeine Giltigkeit vor⸗ 
läufig nutzlos für uns wird, da wir nicht die Urvorgänge, auf 
die fie fich beziehen müßten, fondern vielfach vermittelte Folgen 
derfelben vor uns haben. 


Keine unſerer Fragen ift bisher beantwortet. Für die Noth- 
wendigfeit, daß überhaupt das Bewußtſein nur eine begrenzte 
Menge von Borftellungen faffe, haben wir feinen zwingenden 
Grund gefunden. Und festen wir fie als eine Thatſache voraus, 
fo jchien weder in dem Begriffe einer verſchiedenen Stärke ber 
Borftellungen, nod in dem ihrer Inhaltögegenjäge ein Erflärungs- 
mittel für die Größe der Macht gegeben, mit welcher, jede ber: 
jelben fi gelten madt und zu ihrem Theile die Richtung bes 
Sedantenlaufes bedingt. No einmal müſſen wir verfuchen, in 
dem jet verfleinerten Kreife möglicher Annahmen eine taugliche 
zu finden. 

Jene Enge des Bewußtſeins nun, die den erften Gegen: 
ftand unferer Fragen ausmachte, findet im Grunde nicht ftatt 
fir die wirflide Empfindung äußerer Eindrüde. Alle unfere 
Sinne können zugleich thätig fein und eine unermeßliche Mannig- 


238 


faltigleit einzelner Reize aufnehmen, deren jeder, fo lange nicht 
körperliche Zwiſchenwirkungen feine Sortleitung zu der Seele 
hemmen, durch eine bewußte Vorftellung wahrgenommen wird. 
Man mag immerhin behaupten, daß von fo vielen Eindrüden doch 
Die meiften nur bunfel und unflar aufgefaßt werden; die Mög- 
lichkeit, fich ihrer und ſelbſt ihrer Unflarheit fpäter zu erinnern, 
beweift uns doch, daß fie wirklich im Bewußtſein geweſen find, 
nur daß fie weder durch eine überwiegende finnlidde Erregung 
noch durch einen größeren Werth ihrer Bedeutung Die anderen 
verdrängen und ſich als richtungbeftimmende Mächte im Gedan⸗ 
fenlauf hervorthun konnten. Es fcheint völlig anders, wenn wir, 
ohne von gegenwärtigen Sinneßreizen genöthigt zu fein, in Der 
Erinnerung das abmefende oder vergangene Manmigfaltige zu 
wiederholen ſuchen. Faft nur nad emanber Tehren Hier Die 
Theile des Gefehenen und Gehörten zurüd, die in der wirflichen 
Empfindung gleichzeitig erjchienen; und die Gebanfen, welche 
weniger unmittelbar ein Nachbild finnlicher Einbrüde find, bilden 
in unferem Inneren ftetd einen fchmalen und dünnen Strom. 
der wohl häufig und in ſcharfen Sprüngen fi von einer Bor- 
ftellung zur andern wendet und in kurzen Abwechfelungen Biel- 
faches durchläuft, aber faft ganz die Fähigkeit verloren zu haben 
ſcheint, gleich dem Blicke des Auges eine unzählbare Vielheit zu- 
gleich zu umfaflen. So ift e8, als weite nur der Zwang, Den 
die andringenden Reize der Außenwelt uns anthun, das Bewußt- 
fein aus, während es in der Erinnerung fich felbft überlaffen 
fi zu einer Enge zuſammenzieht, die kaum Mehreres neben ein- 
ander, fondern nur Mannigfaches nad einander faßt. Dennoch 
würden wir zu viel behaupten, wenn wir dies Letztere in voller 
Strenge ausfprechen wollten. Denn obgleich es fehr ſchwierig 
fein würde, durch unmittelbare Beobachtung zur entfcheiden, ob 
mehrere Borftellungen zugleidy im Bewußtſein vorkommen Einen, 
und ob nicht vielmehr überall und nur die Raſchheit der Ab- 
wechſelung mit dieſem Scheine täufcht, jo nöthigt uns doch Die 
Thatſache, daß wir überhaupt Vergleiche anftellen Tönnen, zu der 








239 


Annahme einer möglichen Gleichzeitigleit. Denn wer vergleicht, 
gebt nicht blos von dem Borftellen des einen der verglichenen 
Glieder zu dem Norftellen des andern über; um den Vergleich 
zu vollziehen, muß er nothwendig in einem untheilbaren Bewußt⸗ 
fein beide und zugleich die Form feines Weberganges zwifchen 
beiden zuſammenfaſſen. Wenn wir eine Bergleichung mittheilen 
wollen, find wir dur die Natur der Sprache genöthigt, bie 
Namen beider verglichenen Glieder und die Bezeichnung ber Be: 
ziehung zwiſchen ihnen zeitlich auf einander folgen zu laſſen und 
Died verurfacht und wohl die Täufchung, al8 fände in der Bor- 
ftellung, die wir mittbeilen wollen, das gleide Nacheinander 
ftatt; aber zugleich vechnen wir body darauf, baß in dem Bewußt⸗ 
ſein des Anderen unfere Ausſage nicht drei getrennte Vorftellungen, 
fondern die eine Vorſtellung einer Beziehung zwifchen zwei andern 
veranlaflen wird. Obgleich wir endlich, gemöhnt an den Gebraud 
der Sprache, auch unferen verjchwiegenen Gedankengang in die 
Form einer innerlichen Rede bringen, fo ift Doch offenbar auch 
hier die Reihenfolge, in melder zeitlich die Worte für unfere 
Borftellungen fih verfnüpfen, nur eine Nachzeichnung der Be- 
ziehungen, die wir zwifchen ihren Inhalten früher vorftellten, und 
dieſe Gewohnheit des innerlichen Sprechens verzögert eigentlich 
den Gebantenlauf, indem fie das urſprünglich Gleichzeitige in 
eine Reihe auflöft. 

Bürgen und nun diefe Thaten des beziehenden Wiffens für 
die Gleichzeitigfeit einer Mehrheit von Vorftellungen, fo ſcheinen 
fie zugleich die Bedingungen des Stattfindens berfelben zu lehren. 
Nur für unverbundenes Biele hat das Bewußtſein feinen Raum; 
es ift nicht zu eng für eine Mannigfaltigfeit, deren Glieder wir 
durch Beziehungen getheilt geordnet und verbunden benfen. Zwei 
Eindrüde zugleich, aber ohne irgend ein gegenfeitiges Verhältniß 
borzuftellen gelingt uns nicht; das Bewußtſein bebarf einer An- 
ſchauung bes Weges, den e8 felbit von einem zum andern zurüd- 
zulegen hätte; mit diefer umfpannt es die größere Vielheit leichter 
als die Heinere ohne fie. Seine Faſſungskraft ift deshalb ftei- 


240 


gender Ausbildimg fähig. Zuſammengeſetzte finnlihe Bilder wie- 
derbolt die Erinnerung leichter, je geübter wir waren, fchon in 
der Wahrnehmung uns nicht nur leidend ihren Eindrud hin— 
zugeben, fondern die Berhältniffe ihrer Theile nachzuzeichnen. 
Die gleichzeitigen Töne einer Muſik werden von Jedem als ſolche 
empfunden, aber ſchwer von dem erinnert, für den ſie nur eine 
zufammenhangloje Vielheit waren; das muſikaliſch gebildete Ohr 
faßt fie von Anfang an als ein beziehungsreihes Ganze auf, 
befien innere Organifation durch den vorhergehenden Berlauf ber 
Melodie vorbereitet war. Jedes räumlide Bild haftet fefter in 
unferm Gebächtniß, wenn wir ım Stande find, feinen anſchau⸗ 
lihen Eindrud in eine Beſchreibung aufzuldjen. Wenn wir von 
dem einen Theile eines Gebäudes jagen, daß er auf dem andern 
ruhe, einen dritten ſtütze, gegen einen vierten fich unter beftimmtem 
Winkel neige, vermehren wir zunäcft die Menge der feſtzuhalten⸗ 
den Borftellungen; aber in Diefem ſprachlichen Ausdruck durch 
Süße verwandelt fi das ruhende Nebeneinander der Theile in 
eine Reihe von Wechſelwirkungen, die zwifchen ihnen ftattzufinben 
- feinen und fie deutlicher gegenfeitig verbinden, als die unzer- 
gliederte Anſchauung. Je reicher die Bildung des Geifled wird, 
je feiner fie die vereinigenden Beziehungen entlegener Gedanuken 
zu finden weiß, um fo mehr wächſt die Weite des Bewußtſeins 
auch für Vorftellungen, deren Inhalt nicht mehr durch räumliche 
und zeitliche Sormen, jondern durch Zufammenhänge innerer Ab- 
hängigfeit verbunden ift. 


Erſchien uns nun in der Empfindung das Bewußtſein durch 
bie Gewalt der äußeren Reize, die gebieterifch ihre Berüdfihtigung 
verlangen, einer unbegrenzten Bielheit leidentlicher Zuftände zu— 
gänglich, To ftellt fich dieſes Wiffen der Erinnerung mehr als 
eine von dem Geifte ausgeübte beziehende Thätigleit bar. So 
lange wir das Bewußtjein als einen Raum behandelten, im 


241 


welchen die Vorftellungen aus eigner Kraft auf und ab fteigen, 
fehlte e8 uns am einem Grunde für die enge Begrenztheit feiner 
Ausdehnung und die Bielheit gleichzeitiger Zuftände konnte ung 
nicht unmöglich ſcheinen; natürlicher glauben wir Dagegen voraus- 
fegen zu müſſen, daß die Einheit der Seele eine gleichzeitige 
Menge unverbundener Handlungen ausichließt, und daß fie nur 
das umfaßt, mas fe in der Einheit einer einzigen Handlung 
zufammenbalten kann. So ſchiene die Anficht, welche das Vor⸗ 
ſtellen als einen beweglichen inneren Sinn die Eindrücke hervor⸗ 
heben laßt, leichter zu der Enge des Bewußtſeins zu führen, nad) 
deren Gründen wir fragten. Doch enthält fie noch keinen Nach: 
weis der Gefeße, nach denen dies wandelnde Licht der beziehenden 
Aufmerkſamkeit die Richtung ſeines Weges wählt. Nicht unbe- 
ftimmt in das Leere hinaus wird es fuchend geben können, ſondern 
wenn es thätig feine Gegenftände zu erfaffen jcheint, wird feine 
Thätigfeit doch nur in der Wahl beftehen, mit der es von ben 
vielen Eindrüden, Die fih ihm entgegenfommend aufprängen, Die 
einen aufnimmt und die andern fallen läßt. 

Es find befannte Thatſachen, auf die wir hiermit hindeuten. 
Daß ein neu erzeugter Eindrud die vergeffene Vorftellung eines 
früheren gleichen wiederbelebt oder fie in das Bewußtjein repro⸗ 
ducirt, ift das einfachfte der allgemeinen Gefege, welche den Lauf 
der Erinnerung beherrihen. Aber dieſe Wieberermedung ift doch 
nur infofern von Werth für unfer inneres Leben, als fie nicht 
nur das Vergeſſene wieberbringt, jondern zugleich da8 Bewußtſein 
feiner Gleichheit mit dem neuen Eindrud vermittelt. Neues und 
Altes darf deshalb nicht völlig zufammenfallen, ſondern beide 
mäüffen als zwei gefchiedene Fälle der gleichen Borftellung aner- 
kannt werben, und dies ift nur möglich, ſobald beide durch Neben: 
züge, die fi an fie knüpfen, unterfcheibbar find. Der Gewinn 
jener unmittelbaren Reproduction berubt Daher auf der Möglicdh- 
feit, daß der wiebererwedte Inhalt auch Die andern mit ſich ins 
Bewußtſein zurüdführt, mit denen er früher verbunden war, be⸗ 


ftänden dieſe au in Nichts weiter, als in bem dunklen Gefühl 
Loge I. 4. Aufl. 16 


242 


ber allgemeinen Gemüthslage, in welche feine frühere Wahrnehmung 
fiel, und die verfchieden wäre von der Stimmung, welche feinen 
neuen Eindrud begleitet. Mit den Namen der Affociationen 
pflegt man dies gegenfeitige Haften der Eindrüde an einander zu 
bezeichnen, das wir auch in ihrem unbewußten Zuftande als 
fortbeftehend betrachten müffen, um ihr gemeinſchaftliches Hervor⸗ 
treten im Augenblide der Wiederbelebung zu begreifen. Ber 
geblich würde jede Bernühung fein, von der Art und Weiſe dieſes 
Haftens irgend eine anfchauliche Borftellung zu gewinnen; nur 
in feinem Erfolge bemerkbar, iſt e8 an ſich aller Beobachtung 
entzogen und hat nirgends eine Analogie in dem Gebiete ber 
Naturerfheinungen. Ohne deshalb zu fragen, durch meldes 
Bindemittel die Haltbarkeit dieſer Vorſtellungsverknüpfungen be- 
wirkt werde, können wir nur die Bedingungen zu bezeichnen fuchen, 
unter denen fie auf übrigens unbegreiflihe Weiſe jtattfinden. 
Alle Afjociationen der Borftellungen laſſen fih nun auf den 
gemeinfamen Geſichtspunkt zurückführen, daß die Eeele die Summe 
aller ihrer gleichzeitigen Zuftände nicht chemiſch zu einem einfür- 
migen Mittelzuftand, wohl aber mechaniſch als Theile zu einen zu 
fammenhängenden Ganzen verbindet, und daß fie ebenfo bie zeitlich 
ablaufende Reihe ihrer Veränderungen zu einer Melodie verknüpft, 
in welcher die Glieder am fefteften zufammenhängen, die ohne Da: 
zwiſchentreten anderer fich unmittelbar berühren. Gebe Reprobuc- 
tion beruht dem entipredhend darauf, daß das Wiederbelebte nicht 
allein auftauchen kann, fondern das Ganze mit fich zu bringen 
ftrebt, deffen Theil e8 früher bildete, und aus dem Ganzen zunaͤchſt 
ben andern einzelnen Theil, mit dem e8 am engften verbunden war. 
Auf diefen gemeinfamen Ausdruck laſſen ſich die einzelnen Fälle 
zurüdführen, die man zu unterfcheiden pflegt. Er umfaßt vor 
Allem nicht allein die Afiociationen der Vorftellungen, auf die unfer 
Zufammenhang ung bier zunächſt führte, ſondern ſchließt die zahl- 
veihen Verknüpfungen mit ein, die in ganz ähnlicher Weife zwiſchen 
Gefühlen, zwiſchen Strebungen unter einander oder zwiſchen Vor⸗ 
ftellungen und Gefühlen, Gefühlen und Strebungen ftattfinden, 








243 


und deren mitbeftimmender Einfluß in einem vollftändigen Gemälde 
auch des BVorftellungslaufes für ſich nie überſehen werden barf. 
Wir finden ferner in ihn eingejchloffen die Affoctatton, durch welche 
die Bilder einzelner räumlicher Geftalttheile einander und das 
Ganze zurüdrufen. Denn jede Raumgeftalt läßt uns ihre Theile 
entweder gleichzeitig überſehen, oder wir werden uns ihrer in einer 
Reihenfolge nachbildender Bewegungen unſeres Blickes bemußt. 
Jede andere innerlihere Beziehung ferner, durch die wir früher 
einmal Mannigfaches zu dem Ganzen eines Gedankens verknüpft 
hätten, würde ebenfo nur in einem gleichzeitigen Vorftellen oder 
in dem ununterbrodhenen Zuge eines zeitlich verlaufenden für uns 
faßbar gemwefen fein. Eyinnert ung endlich oft ein Eindrud an 
einen andern ähnlichen, mit dem er doch früher nie in gleichzeitiger 
Wahrnehmung gegeben war, fo erforbert Doch auch dieſer jehr häufige 
Borgang Feine befondere Erflärung. Er beruht zum Theil auf der 
unmittelbaren Wiederbelebung des Gleichen durch das Gleiche; Die 
frühere Vorftellung deffen, was beiden Eindrücken gemeinfhaftlic 
ift, ftrebt zurüdzufehren und führt num durch mittelbare Reprodue— 
tion auch die befonderen Züge mit fi, um deren willen das Alte 
dem Neuen nur noch ähnlich, nicht gleich iſt. Einfache Vorftellun- 
gen, deren Aehnlichfeit in einer ebenfo einfachen unfagbaren Ber- 
wandtſchaft ihres Inhaltes befteht, rufen einander mit geringer Leb⸗ 
haftigkeit hervor; eine Farbe erinnert nur wenig an andere Farben ; 
ein Ton faum an die Manmnigfaltigfeit der Scala; viel kraftvoller 
reproduciren beide das Ganze, als deſſen Theil fte früher auftraten, 
die Farbe, die Geftalt der Blume, an der fie erſchien, die Töne, die 
Melodie, die mit ihnen begann. ‘Das Wort, als eine Reihe von 
Tönen, erinnert wohl an gleichgebaute, und wir vermwechjeln es; 
aber doch Iebhafter an das Bild der Sache, mit dem es zu einem 
afioeiirten Ganzen verbunden war. In zufammengefegten Bor- 
ftellungen pflegt überall die Verbindungsform des Mannigfachen in 
unferer Erinnerung über den Eindrud zu überwiegen, den die un= 
mittelbare beſondere Eigenſchaft der Theile gibt; diefelbe Form ber 
Buchſtaben erlennt ſchon das Tindliche Auge wieder, ohne Durch die 
16* 


244 


Berichiedenheit ihrer Färbung fi aufhalten zu laſſen. Auf Das 
Lebhaftefte erinnern daher Bilder an einander, deren vielleicht äußerfi 
verfchiebene Beftandtheile doch in gleicher Art der Verzeihnung, 
nach einem gleichen Schema des Zuſammenhangs, fi gruppirten. 
Die Richtung, welche der Verlauf der geiftigen Ausbildung nimmt, 
bevorzugt allmählich Die eine Diefer Reproductionsweiſen vor ben 
andern; je häufiger unfere Aufmerkſamkeit auf Die gleigen und 
ähnlichen Verknüpfungsformen des Mannigfachen gerichtet geweſen 
ift, um fo leichter überficht fie das Verſchiedene, das jelbft in 
diefen vorkommt, und hält die allgemeineren Aehnlichkeiten feft; 
fie gewöhnt fih, auch die innerlichen und unanfhauliden Zu— 
fammenbänge aufzufaffen, und fir ihre Erinnerung wird das, 
was unter allgemeinen Geſichtspunkten begrifflich zufammengehört, 
näber verwandt, als dasjenige, was feinem Wefen nad einander 
fremd nur durch gleichzeitige Wahrnehmung fih im Bewußtfein 
zufammenfand. Dann pflegt nicht felten die Schärfe des Gedächt- 
niſſes fir die Reihenfolge der Vorfälle des Lebens abzunehmen, 
während feine Treue für die allgemeinen Beziehungen zwiſchen 
den Naturen der Dinge wächſt. Aber e8 muß binreiden, an 
dieſe Verhältniffe erinnert zu haben, deren reihe Mannigfaltig- 
feit bier zu erjhöpfen völlig unmöglich fein wiirde. 

So ift durch den Mechanismus der Affociationen dem Ge— 
panfenlauf eine Bielheit möglicher Wege eröffnet, die er ein- 
fchlagen kann und zwiſchen denen er wählen muß. Indem num 
jede der eben vorhandenen Vorftellungen alle jene andern wieber- 
zubringen ftrebt, mit denen fie im Laufe des Lebens nad und 
nad) verknüpft worden ift, wird die Entſcheidung darüber, was 
von al diefer Fülle in jedem Augenblide zuerft in das Bewußt⸗ 
fein zurüdtehren fol, von einem Zufammenfluß verichiedener Be— 
dingungen abhängen. Je größer die Anzahl der ähnlichen Züge 
ift, welche irgend eine vergeſſene Vorſtellung mit der eben herr⸗ 
ſchenden theilt, um jo leichter wird fie Durch dieſe wieder erweckt 
werben, denn um fo zahlreicher find bie einzelnen Fäden bes 
Bandes, welches beide vereinigt. Aber die wirkjame Verwandt⸗ 





245 


haft zwifchen ihnen wird doch nicht allein in der Wehnlichkeit 
ihrer Inhalte beſtehen; auch ohne dieſe Webereinftimmung kann 
in fehr mannigfaltiger mittelbarer Weife eine Borftellung mehr 
oder weniger eng mit dem Sinne einer eben ablaufenden Gedan⸗ 
kenreihe zuſammenhängen, mit welcher fie frühere Weberlegungen 
als weſentlichen Beziehungspunkt, al8 Beſtandtheil, als Beiſpiel, 
als begleitendes Phänomen, verbunden haben. Selbſt eine form⸗ 
lofe Stimmung des Gemüthes wird zwei Vorftellungsgruppen, 
welche fie mit gleicher Färbung begleitete, troß der Verſchiedenheit 
ihrer Inhalte einander verwandter erjcheinen laſſen, als andere 
von ähbnlicherem Gepräge. An die Stelle eines feiten Gegen: 
ſatzes zwiſchen den Vorftellungen, welcher maßgebend für die Leb⸗ 
baftigfeit ihrer gegenfeitigen Verdrängung ober Wiederbelebung 
wäre, haben wir daher eine für jeden Augenblid neu beftimmte 
Größe ihrer Verwandtſchaft zu fegen, die fi) ändert, wie der 
Contraſt zweier Yarben mit dem Hintergrunde wechſelt, auf den 
fie aufgetragen find. Und ebenfo wandelbar ift die andere Be- 
dingung für die Richtung des Gebanfenlaufes, die Größe des In- 
tereſſes, die jeder Borftellung zukommt, und welche die Stärke 
ausmacht, mit der fie im Bewußtfein fich gelten zu machen jucht. 
Kein fpäterer Augenblid bringt dieſelbe Geſammtſumme von Bor- 
ſtellungen, Gefühlen und Strebungen und diefelbe Körperliche 
Stimmung wieder, im Zufammenhang mit denen früher dem 
Eindrud die Höhe ſeines Intereſſes zugemefjen war. Nicht mit 
diefem alten Werthe wirft er daher für die Beſtimmung des 
weiteren Gebantenlaufes mit, fondern mit dem neubeftimmten 
Grade defjelben, den er zu gewinnen vermochte, indem er mit 
jenem, welden er früher befaß, in diefen neuen Streit mit 
neuen Berhältniffen eintrat. “ 

Die Entwillung eines Vorſtellungszuges geftaltet ſich unter 
diefen Bedingungen zu dem wandelbaren und veränderlichen Schau⸗ 
fpiel, das wir alle in uns kennen, und deſſen fcheinbar vegellofer 
Wechſel und häufig in Verwunderung fest, weil wir feine leiten- 
den Gründe nie zu überfehen im Stande find, ‘Denn der boll- 


246 


ftändige Grund für die Geftalt jedes nüchſten Augenblid8 Tiegt 
nur in dem vollftändigen Gefammtzuftande unferer Seele während 
des gegenwärtigen; aber von ihm zeigt uns unfere Gelbftbeob- 
achtung immer nur wenige Bruchſtücke; wir werden und wohl 
der Reihenfolge unferer vorangegangenen Borftellungen bewußt, 
aber nie find wir in der Lage, zugleich die Eigenthümlichkeiten 
unferer körperlichen Stimmung, unferer Gemüthslage, unferer 
Strebungen, endlich die bejonderen Wechjelbeziehungen zu zerglie= 
dern, in melde alle diefe Elemente zu einander verflocdhten waren. 
Und doch hängt nur von der Summe aller diefer Bedingungen 
zujammengenommen aud der Fleinfte und unbebeutendfte Zug 
unſeres Vorftellungslaufes ab; denn nicht in einem fonft leeren 
Bemußtfein ereignet er fih ja iiberhaupt, ſondern nur in der 
ganzen vollftändigen Iebendigen Seele, die immer zugleih in 
jenen andern Richtungen thätig ift und im dieſen wieder nicht 
thätig fein kann, ohne vermöge der Einheit ihres Weſens deſſen 
auch in ihrem Vorſtellen eingedenf zu fein. 


Biertes Kapitel. 
Die Formen des beziehenden Wiffens. 


Die Verbältniffe zwifgen den einzelnen Vorſtellungen als Gegenftände neuer Borftel- 
lungen. — Wechfel des Wiffend und Willen vom Wechſel. — Angeborene Ideen. — 
Die räumlich zeitliche Weltauffaffung der Sinnlichkeit. — Die denkende Weltauffaf- 
fung des Verſtandes. — Der Begriff, das Urtheil, ver Schluß. — Das zufammen- 
fafiende Beſtreben ber Vernunft. 


Jede Rede verftehen wir nur, wenn unfere Erinnerung bie 
früheren Worte aufbewahrt, während wir die fpäteren hören. Und 
nicht Died allein; auch die Reihenfolge, in welder die einzelnen 
uns zugezählt werden, muß bis zum Scluffe der Rede irgendwie 
in unferem Bemwußtfein wirffam erhalten bleiben; denn nicht ohne 
dieſe zeitliche Abfolge fonnte der Sprechende vollftändig Die innere 
Berfnüpfung des Vorftellungsganzen bezeichnen, das er und mit- 











247 


zutheilen wünſcht, und ber Hörende dürfte die zeitliche Ordnung 
ber Worte erft dann vergefien, wenn er den Sinn dieſes Ganzen 
in fih aufgenommen bat. 

Zwei verjchiedene Leiftungen finden wir hierin eingejchloffen. 
Ich erwähne diejenige zuerft, die in etwas veicherer Ausführung 
zu den befannteften Erſcheinungen gehört: die Fähigfeit, auch in 
Ipäterer Nacherinnerung eine Reihe von Eindrüden, eine Gefchichte, 
Melodie oder Rede, in derſelben Aufeinanderfolge ihrer Beſtand⸗ 
tbeile zurüdzurufen, in welder eine frühere Wahrnehmung fie 
darbot. Unmöglich wäre offenbar diefe geordnete Wiederholung, 
ebenfo unmöglih auch ſchon jene erfte verftehende Zuſammen⸗ 
faſſung de8 Mannigfachen in der Wahrnehmung, wenn die zu- 
rüdbleibenden Erinnerungsbilver aller früheren Eindrüde mit denen 
der fpäteren nur überhaupt in einen Knäuel verſchmölzen; irgend 
eine beftimmte Gliederung muß ſogleich zwiſchen ihnen geftiftet 
worden fein und fie mit Auswahl und Abftufung gefondert und 
verbunden haben. Nur unter diefer Bedingung kann es gefchehen, 
daß der Hörende mit der Vielheit der nad) und nad vernommenen 
Worte einen Sinn verbinde, und daß dem Erinnernden jekt diefe 
vielen nicht in einem formlofen Schwalle zurüdfehren, fondern 
in berfelben Reihenfolge, die fie in der urſprünglichen Wahr: 
nehmung hatten, vor feinem Berwußtfein fi wieder entwideln. 

Man bat weitere Rechenſchaft von der Art diefer Gliederung 
zu geben verfuht. Wenn eine Reihe finnlicher Neize nad und 
nad auf uns einmwirkt, jo begegne jchon der erfte einer hemmen- 
den Rückwirkung von Geiten des übrigen Inhalts, den er ftet8 
im Bewußtjein bereit8 borfinde; unvermeidlich werde deshalb die 
Stärke des von ihm erzeugten Eindrucks ſchon eine Verminderung 
bi8 zu dem Augenblide erlitten haben, in welchem der zweite Reiz 
der Reihe zu unjerer Wahrnehmung kommt. Nicht mit dem 
urſprünglichen Eindrud des erften Reihengliedes, fondern nur mit 
dem noch vorhandenen abgeſchwächten Klarheitörefte defjelben, ver- 
bindet fi) num der Eindruck des zweiten Gliedes, denn dieſen 
Reſt allein trifft e8 im Bewußtſein noch wirfiih an. Auch dieſe 


248 


Berbindung aber unterliegt demfelben hemmenden Einfluß, und 
beide Beftandtheile derjelben werden eine neue Verminderung 
ihrer Stärke bis zu dem Beitpunfte erlitten haben, in weldem 
der dritte Reiz unfere Wahrnehmung erwedt. Auch Diefer dritte 
verknüpft fich daher weber mit dem erften felbit, noch mit dem 
zweiten jelbft, am wenigften gleich innig mit beiden; er lann ſich 
nur zu dem gejellen, was er jet no im Bewußtſein vorfinbet, 
zu jener Combination nämlich, in welder ein zweiter Klarheits⸗ 
reſt des erften Eindrucks mit einem erften Klarheitsreſt des zwei- 
ten verbunden ift. Die Fortſetzung dieſer Betrachtung würde mit: 
hin zeigen, daß jeder fpätere Eindrud ſich mit einer Gruppe ver- 
fnüpft, die fir feinen andern die gleiche ift, und in welcher jedes 
frühere Glied der Reihe durch einen um jo ſchwächeren Klarheitd- 
reſt vertreten ift, je länger die Neibe geworden und je näher es 
felbft an deren Anfange Tiegt. Die Wiebererinnerung der Reihe 
folgt dann denfelben Abftufungen. Das Anfangsglied, wenn feine 
Borftelung im Bewußtfein auf irgend eine Art erneuert worden 
ift, hebt nicht auf eimmal und mit gleicher Kraft alle übrigen 
Glieder empor; erft wenn e8 felbft bis zu jenem erften Klarheitd- 
refte gehemmt ift, mit dem in der urfprünglichen Wahrnehmung 
fih das zweite Glied verbunden hatte, zieht e8 num auch Dies 
zweite in das Bewußtſein zurüd; erft dann taucht das britte 
Glied auf, wenn gegen den Widerftand, den die übrige Anfüllung 
des Bewußtſeins auch dieſem Vorgang leiftet, die Wiederbelebung 
des zweiten gelungen und die Combination der erften beiden bis 
zu dem Klarheitsreſte gehemmt ift, mit dem allein dies dritte 
Glied fih früher verknüpfen konnte. 

Wenn ed nur um einen Grund für die Ordnung zu thun 
wäre, in welcher die Erinnerung die Glieder der wahrgenommenen 
Reihe wiederholt, jo reichten einfachere Betrachtungen aus. Wenn 
einmal eine Mehrheit von Eindrücken der Seele in zeitlicher 
Folge zulommt, fo werden diejenigen am inmigften oder ausſchließ⸗ 
Lich fich verknüpfen, die unmittelbar‘, ohne ein anderes Glied zwi⸗ 
hen ihnen, auf einander folgen. Denn worin auch immer Grund 











249 


und Weſen der Vorftelungsverbindung, für die wir den Namen 
der Aflociation brauchen, und worin auch immer die Abftufung 
in der Innigfeit dieſer Verbindung beftehen mag: unter allen 
Umftänden wird doch ein mittleres Glied zwiſchen zweien das 
beffere Recht der engen Verknüpfung mit jedem von beiden haben 
und Durch fein Dazwiſchentreten beide von einander trennen. Wie- 
derholt daher die Seele in zeitlicher Yolge die einft ihr ebenfo 
zugelommenen Wahrnehmungen, fo kann der Weg dieſes Erinnerns 
von dem erften Gliede zu dem dritten nur durch das zweite gehen, 
und nicht die Innehaltung diefer Richtung, ſondern nur die Ab- 
weichungen von ihr würden befonderer Erflärung bedürfen. Allein 
daß überhaupt die Erinnerung in zeitlicher Abfolge die Eindrücke 
wiederholt, welche die erfte Wahrnehmung zeitlich nach einander 
aufnahm, ift nicht ebenfo ſelbſwerſtändlich. Dies Nacheinander 
ber Wahrnehmung war das Mittel und der Grund, die einzelnen 
Eindrüde in Beziehungen von abgeftufter Innigleit zu verbinden; 
wenn aber zwifchen dem Augenblid der vollendeten Wahrnehmung 
und bem der Erinnerung die ganze Reihe vergeffen ruht, fo ift 
fie mit der ganzen fo erworbenen Gliederung aller ihrer Beſtand⸗ 
theile gleichzeitig und auf einmal vorhanden. Warum erwedt nun 
die Erinnerung nicht das Ganze auf einmal, als eine gleichzeitige 
Momnigfaltigkeit, deren Theile unter einander nur mit jenen Ab- 
flufungen der Engigkeit verbunden find? Auf diefe Frage fuchte 
die Anfiht zu antworten, deren wir gebachten. In den Hem- 
mungen der Borftellungen durch einander und in der Anftrengung, 
Durch welche gegen foldhe Hemmung eine vergefjene Vorftellung 
wieder in das Bewußtſein zurückgebracht wird, ſah ſie Vorgänge, 
die an fich des Zeitverlaufs zur Erreichung ihres Zieles bedürfen; 
nur nah und nad, indem in beftimmten Zeitpunkten beftimmte 
Klarbeitsgrößen der Vorſtellungen wiedererrungen worden find, 
treten daher die wirffamen Veranlaffungen wirklich ein, welche 
ber Reihe nach die mit jenen Klarheitsreften verbundenen Glieder 
der urſprünglichen Wahrnehmungskette zurüdführen. 

Aber wichtiger ift und bie andere zweite Leiftung, die wir 


250 


oben ſowohl in dem erften verftehenden Anhören einer Rede als 
in der Nacderinnerung ihres Ablaufs nachzuweifen veripradhen. 
Zum Verſtändniß reichte e8 nicht bin, Daß die gehörten Worte 
nach einander folgen; die früheren mußten aufbewahrt bleiben 
neben den fpäteren; auch die Erinnerung einer Reihe bringt nicht 
in jedem Augenblid nur ein Glied wieder, ſodaß vor und hinter 
ihn Nichts im Bewußtſein wäre; vor Diefem Gliede fenfen fich 
nod die ſchwindenden Bilder der früheren, hinter ihm beben ſich 
bereit8 die auffteigenden der fpäteren Eindrüde. Aber das Ber- 
ftändniß erfordert mehr, e8 reicht nicht hin, Daß dieſe geordneten 
und abgeftuften Beziehungen zwifchen den einzelnen Vorftellungen 
beftehen, oder daß in regelmäßiger Abfolge die Erinnerungs- 
bilder derfelben im Bemußtfein vorüberziehen. Käme Nichts an- 
deres hinzu, jo wäre die Seele nur ein Schauplag, auf welchem 
thatſächlich ein Zuſammenhang des Vorftellend oder ein Wechfel 
des Willens ftattfände; ein Vorſtellen dieſes Zuſammenhangs aber 
oder ein Wiffen von diefem Wechfel würde exit in einem Beob- 
achter entftehen Können, der mehr verjtände, al8 Zuftände in fich 
auf einander folgen zu laſſen; der es verftände, in einem zweiten 
und höheren Bemußtjein jene Thatjachen, Die ftattfindenden Be— 
ziehungen zwiſchen jenen gleichzeitigen oder abwechſelnden Bor- 
ftellungen, zufammenzufaffen und zu beurtheilen. 

In der That nun bebürfen wir freilich Diefes andern Zu— 
Ihauers nicht; denn dadurch ift Die Seele ja Seele, daß fie Au— 
deres und fich felbft zu beobachten vermag. Aber dazu glauben 
wir dennoch Grund zu haben, dieſe ihre eigenthümlidhe Fähigkeit 
ausdrücklich im Gegenfage zu dem Mechanismus der Wechjel- 
wirkungen zwilchen ihren unmittelbaren Borftellungen hervorzu⸗ 
heben. Man täufcht ſich gewiß, und nicht ohne nachtheilige Tol- 
gen des Irrthums, wenn man dies Wiffen vom Wechiel Des 
Willens blos aus dem Begriffe der Seele als eines vorftellenden 
Weſens und aus der Einheit ihrer Subftanz als eine felbftwer- 
ftändliche der Erwähnung kaum bebürftige Folge zu begreifen 
glaubt. Denn zuerft der leere Begriff diefer Einheit kann uns 





251 





wohl zu der unbeftimmten Forderung irgend eimer d PER — 
den Verknüpfung zwiſchen allen Zuſtänden veranlaſſen, die Sl 
einen Weſen begegnen könnten; in welcher Form aber diefe Ber: 
knüpfung ftattfinden müßte, würden wir nicht errathen; einer 
fo wenig charakterifirten Verpflichtung würde Die Seele in ber- 
That ſchon durch jene Verfettungen der Affociation und Repro= 
duction zu entfprechen fcheinen fünnen, die ja wirklich ihre Vor— 
ftelungen in gegenfeitigen Zuſammenhang bringen. Auch Dies 
aber würde nicht ausreichen, die Nothmenbigfeit des zuſammen⸗ 
fafienden Wiffens vom Wechſel des Wiffend durch den Zuſatz be= 
gründen zu wollen, Daß das einheitliche Wefen der Seele zugleid) 
ein vorftellendes Weſen ſei. Wahricheinlichfeit, obmohl nicht Ge= 
wißheit, hat allerdings der Gedanke, daß die Seele die Fähigkeit 
bed Borftellene, in welcher ihre unterfcheidende Eigenthümlichkeit 
befteht, in der That auch auf jeve Veranlaffung ausübt, welche 
geeignet ift, zu ihrer Ausübung aufzufordern; wahrſcheinlich tft 
es alſo an fi ſchon, daß auch die Verhältniffe, welche zwiſchen 
ihren einzelnen Vorftellungen eingetreten find, zu neuen Reizen 
für fie werden, auf melde fie wieder mit einer Handlung des 
Borftelend antwortet. Und da die Erfahrung uns nun lehrt, 
daß wirklich geſchieht, was wir hier erwarten zu können glaubten, 
fo entfteht allerdings der Schein, als ginge alles Wiffen um bie 
Aufammenhänge der Borftellungen und um ihren Wechſel als 
jelbftverftändlihe Zugabe aus der Thatfache diefer Zuſammen— 
hänge und dieſes Wechſels ſelbſt hervor. 

Wenn wir im Gegenfag zu dieſem Schein für nothwendig 
halten, die zufammenfafjende und beziehende Bewußtſein als eine 
neue Thätigkeitsäußerung der Seele abzutrennen und auszuzeich- 
nen, jo wünſchen wir durch diefe Sonderung eine Folgerung ab- 
zujchneiden, Die und irrig ſcheint. Aus der Zerglieverung eines 
äußern Sinnesreizes, und ohne die Erfahrung zu befragen, kön— 
nen wir nicht vorher beftimmen, ob er als Ton oder als Farbe 
werde empfunden werben. Vergleichen wir aber zwei ähnliche 
Reize, von denen wir aus Erfahrung wiſſen, daß fie um ihrer 


250 


oben fowohl in dem erften verftehenden Anhören einer Rede als 
in der Nacerinnerung ihres Ablaufs nachzuweiſen veripraden. 
Zum Berftändnig reichte es nicht hin, daR die gehörten Worte 
nach einander folgen; die früheren mußten aufbewahrt bleiben 
neben den fpäteren; auch die Erinnerung einer Reihe bringt nicht 
in jedem Augenblid nur ein Glied wieder, ſodaß vor und hinter 
ihn Nichts im Bewußtſein wäre; vor dieſem Gliede fenfen fich 
noch die ſchwindenden Bilder der früheren, hinter ihm heben fich 
bereit8 die auffteigenden der fpäteren Eindrüde. Aber das Ver— 
ftändniß erfordert mehr; e8 reicht nicht bin, daß dieſe georbneten 
und abgeftuften Beziehungen zwiſchen den einzelnen Vorftellungen 
befteben, oder daß in regelmäßiger Abfolge die Erinnerungs- 
bilber derjelben im Bewußtfein vorüberziehen. Käme Nichts an= 
deres hinzu, fo wäre die Seele nur ein Schauplat, auf welchem 
thatjächlih ein Zufammenhang des Vorftellend oder ein Wechſel 
des Wiffens ftattfände; ein Vorſtellen dieſes Zuſammenhangs aber 
oder ein Wiflen von dieſem Wechfel würde erft in einem Beob- 
chter entjtehen Können, der mehr verftände, als Zuſtände in fich 
auf einander folgen zu laſſen; der es verftände, in einem zweiten 
und höheren Bewußtſein jene Thatfachen, die ftattfindenden Be- 
ziehungen zwiſchen jenen gleichzeitigen oder abwechſelnden Vor— 
ftellungen, zufammenzufafien und zu beurtheilen. 

In der That nun bebürfen wir freilich diefes andern Zu— 
ſchauers nicht; denn dadurch ift Die Seele ja Seele, daß fie An— 
dere und fich jelbft zu beobachten vermag. Aber dazu glauben 
wir dennoch Grund zu haben, diefe ihre eigenthümliche Fähigfeit 
ausdrücklich im Gegenfate zu dem Mechanismus der Wechfel- 
wirkungen zwifchen ihren unmittelbaren Borftelungen hervorzu=- 
heben. Man täufcht ſich gewiß, und nicht ohne nachtheilige Fol- 
gen des Irrthums, wenn man Died Wiffen vom Wechſel Des 
Wiſſens blos aus dem Begriffe der Seele als eines vorftellenden 
Weſens und aus der Einheit ihrer Subftanz als eine ſelbſtver— 
ftänbliche der Erwähnung kaum bebürftige Folge zu begreifen 
glaubt. Denn zuerft der leere Begriff diefer Einheit kann ung 





251 





den Berknüpfung zwiſchen allen Zuftänden veranlafjen, die die 
einen Weſen begegnen könnten; in welcher Form aber dieſe Ber- 
knüpfung ftattfinden müßte, würden wir nicht erratben; einer 
fo wenig harakterifirten Verpflichtung würde die Seele in ber: 
That ſchon Durch jene Berkettungen der Affociation und Repro— 
Duction zu entiprechen jcheinen Fünnen, die ja wirklich ihre Bor- 
ftelungen in gegenfeitigen Zuſammenhang bringen. Aud Dies 
aber würde nicht ausreichen, Die Nothwendigkeit des zufammen- 
faffenden Wiffens vom Wechiel des Willens durch den Zufat be= 
gründen zu wollen, daß das einheitliche Wefen der Seele zugleich 
ein vorftellendes Weſen ſei. Wahricheinlichleit, obwohl nicht Ge- 
wißheit, hat allerdings der Gedanke, daß die Seele Die Fähigkeit 
des Borftellens, in welcher ihre unterjheidende Eigenthümlichfeit 
befteht, in der That aud auf jeve Veranlaffung ausübt, melche 
geeignet ift, zu ihrer Ausübung aufzufordem; wahrſcheinlich ift 
ed alſo an fih fchon, Daß auch die Verhältniffe, welche zwiſchen 
ihren einzelnen Borftellungen eingetreten find, zu neuen Reizen 
für fie werden, auf welche fie wieder mit einer Handlung des 
Borftellend antwortet. Und da die Erfahrung uns nun lehrt, 
daß wirklich gefhieht, was wir hier erwarten zu können glaubten, 
fo entjteht allerdingd der Schein, als ginge alles Wiſſen um Die 
BZufammenhänge der Vorftelungen und um ihren Wechfel als 
jelbftverftändlihe Zugabe aus der Thatfache dieſer Zuſammen⸗ 
hänge und dieſes Wechſels ſelbſt hervor. 

Wenn wir im Gegenfat zu diefem Schein für nothwendig 
halten, dies zufammenfaffende und beziehende Bewußtſein als eine 
neue Thätigfeitsäußerung der Seele abzutrennen und auszuzeich- 
nen, jo wünſchen wir Durch diefe Sonderung eine Folgerung ab— 
zufchneiden, die und irrig fcheint. Aus der Zergliederung eines 
äußern Sinnesreizes, und ohne die Erfahrung zu befragen, kön— 
nen wir nicht vorher beftimmen, ob er ald Ton over als Farbe 
werde empfunden werben. Vergleihen wir aber zwei ähnliche 
Reize, von denen wir aus Erfahrung willen, daß fie um ihrer 


252 


Form willen beide al8 Töne gehört werden, und dürfen wir vor⸗ 
ausfegen, daß die Thätigfeit des Hörens unter dem gleichzeitigen 
Eindrude zweier Reize das Verfahren nicht ändert, mit dem fie 
einen einzelnen für fich aufnehmen würde, jo Können wir daran 
denfen, das Ergebniß des Zuſammenwirkens beider Töne als Er- 
folg ihrer Wechfelwirfung zu berechnen. Dieſer Verfuch würde 
dagegen fruchtlos werben, wenn die Thätigfeit des Hörens durch 
jeden Wechjel in der Zahl und dem Berhältni von Tönen, die 
gleichzeitig an fie Anfpruch machen, zu einer Abänderung der Ge⸗ 
jege beftimmt würde, nach denen fie auf jeden einzelnen zurüd- 
wirt. Was fle dann in jedem diefer Fälle wirflich hörte, würde 
fi nicht aus der bloßen Berehnung der Eindrüde, welde bie 
Töne einzeln gemacht haben würden, und der zwiſchen biefen 
Eindrüden entftehenden Wechſelwirkungen errathen: man müßte 
noch einmal fragen, wie diefe ganze Summe von Thatfachen auf 
die börende Thätigkeit einwirkt, und weldhe neuen und eigenthlim- 
lichen Rückwirkungen fie in ihr veranlaßt. 

Ih babe an einer früheren Stelle (S. 204) dieſe allgemeine 
Betrachtung ausgeführt, nach welcher wir von den einfachen Bor: 
ftellungen, Die und für erfte Rückwirkungen der Seele auf un- 
mittelbare Reize der Außenwelt galten, geiftige Thätigfeiten 
höherer Ordnung unterfchieden, als Rückwirkungen zweiten Gra⸗ 
des, angeregt durch die Verhältnifſe, welche zwiſchen jenen ein⸗ 
facheren einzelnen Acten der Seele entſtanden ſind. Immer von 
neuem als Reize höherer Ordnung ſchienen uns dieſe Verhältniſſe 
auf Das ganze Weſen ber Seele einzuwirken und Fähigkeiten deſ⸗ 
jelben zur Aeußerung zu Inden, zu deren Ausübung jene ein- 
facheren Reize erfter Orbnung feine Anregung gaben; nicht felbft- 
verſtändlich aus der Betrachtung dieſer veranlaffenden Urfachen 
ſchienen uns diefe neuen Rückwirkungen ableitbar; fle konnten in 
Formen gejhehen, die aus der Beichaffenheit der Bedingungen, 
die fie hervorriefen, unerflärbar wären, erflärbar nur aus der 
eigenthlimlidden Erregbarfeit der Seele, bie miterzeugend in ihnen 
fih äußert. Diefe Betrachtungen nun wenden wir auf ben bor= 











253 


Tiegenven Fall an. Käme ed nur darauf an, Das Wiſſen vom 
Wechſel des Wiſſens als ein bloßes Gewahrwerden ber Verhält- 
niffe zwiſchen den Borftellungen zu. begreifen, ohne daß im Ge- 
wahrwerden Neues zu ihnen hinzukäme, fo wäre bie Umftändlich- 
feit unferer Ueberlegung überflüffig. Aber Dies zufammenfafjende 
Wiſſen gejchieht in Formen, die und nicht in den zujammenzu- 
fafjenden Thatſachen bereits gegeben ſcheinen, in Formen, welche 
nicht fo einfache Erzeugniffe gewiſſer Vorgänge im Vorſtellungs⸗ 
verlauf find, daß fie mit begreiflicher Nothwendigkeit überall ent- 
ftehen müßten, wo diefe Vorgänge ſich ereignen; wir halten fie 
für abhängig von einer neuen Seite in ber Natur der Geele, 
die bisher noch nicht zur Aeußerung fam, und die auch dann eine 
befondere Beachtung erforbert, wenn fie thatſächlich eine überall 
vorhandene, nur in unferer Definition noch nicht berüdftichtigte 
Eigenſchaft jeder Seele ift. 


Frühere Zeiten haben von angeborenen Ideen geſprochen, 
die, dem menfchlichen Geifte vor aller irdiſchen Erfahrung ange- 
hörend, einen unverlierbaren Theil feines Weſens bildeten. Ohne 
immer genau zu prüfen, welche Merkmale e8 fein müßten, durch 
die ein Gedanke diefen vorzeitlihen Urfprung beweiſen könnte, 
bat man die Grenzen dieſes urjprünglichen Befiges von Erfennt- 
niß weit genug gezogen und Alles, was dem gebilveten Menſchen 
am höchſten gilt, den Glauben an Gott, an die Unfterblichkeit 
der Seele, an die freiheit des Willens ficherer zu ftellen gefucht 
durch Einreihung in den Schag der Wahrheiten, melde nicht die 
trüglide und unvollftändige Erfahrung, fondern Die ewig gleiche 
Natur unſeres geiftigen Weſens und darbiete. Die Willkirlich- 
feit ſolcher Anfichten hat der erfte Aufſchwung unferer nationalen 
Pbilofophie dur die Annahme begrenzt, daß allerdings wohl 
dem menfchlichen Geifte eine Mehrheit angeborner Ideen zukomme, 
aber nicht folcher Ideen, welche irgend eine Thatſache oder einen 


254 


einzelnen Zug des Weltbaues enthüllen, fondern nur older, 
welche die allgemeinen Beurtheilungsgründe ausbrüden, nach denen 
unfer Denken jeden noch zu erwartenden möglichen Gehalt der 
Wahrnehmung auffaffen und verarbeiten muß. Aller Inhalt 
unferer Gedanken komme uns mittelbar oder unmittelbar von 
ber Erfahrung, aber nicht ebenfo die Regeln, nach denen wir be 
ziehend vergleichend urtheilend und folgernd diefen Inhalt ver- 
binden und trennen, von einem zu dem ambern übergehen. Ihre 
Duelle fei nicht außer uns zu ſuchen; das Gefühl der nothwen⸗ 
digen und unausweichlichen Giltigfeit, mit dem fie unjerem Be- 
wußtſein ſich aufprängen, bürge uns vielmehr dafiir, daß fie von 
dem abflammen, von dem wir uns nie trennen können, won ber 
eignen Natur nämlich unſeres geiftigen Weſens. Ausgerüftet mit 
diefen Weifen der Auffaffung ftehen wir der Mannigfaltigfeit der 
Eindrüde gegenüber, welche die Außenwelt in ung veranlaft hat; 
durch ihre Anwendung erft wird die thatfächlich vorhandene Summe 
der innern Zuftände für uns zur Erkenntniß. So bringen wir, 
und eingeboren, die anfchaulichen Formen des Raumes und der 
Zeit jenen Eindrüden entgegen, deren gegenfeitige Verhältniſſe 
fih nun fir uns in das Nach- und Nebeneinander der finnlichen 
Ericheinungswelt verwandeln; fo treten wir mit der unabweisbaren 
Borausfegung, daß alle Wirklichkeit auf der Grundlage beharı- 
liher Subftanzen beruhen müſſe, an melde fi) abhängig und 
unfelbftändig die mwanbelbaren Eigenfchaften knüpfen, mit ber 
Gewißheit ferner, daß jedes Ereigniß dur einen urfächlicen 
Zufammenhang als Wirkung an feine Borangänge gebunden jet: 
mit diefer uns eingeborenen Zuverfiht treten wir zur Beobach⸗ 
tung des gegebenen Inhaltes Hinzu und vermandeln feine Wahr: 
nehmung, indem wir diefe Grundfäge unferer Beurtheilung auf 
ihn anwenden, in die Erfenntniß eines durch innerlihen Zu— 
ſammenhang in fi abgefchloffenen Weltganzen. 

Manches an diefen Anftchten, die den Gedanfengang unferer 
Wiſſenſchaft noch immer in weiter Ausdehnung beherrichen, wird 
innerhalb der Wiſſenſchaft felbft anders gefaßt werden müflen. 








255 


Der ungeeignete Name angeborener Ideen wird und nicht ver⸗ 
leiten dürfen, jene Grundfäge unſeres Erkennen, oder die Be— 
griffe, mit denen man fie kurz zu bezeichnen pflegt, die Vor— 
ftellung des Raumes der Zeit des Dinge8 der Urſache und die 
andern, Die vielleicht von gleichem Werthe ſich anfchließen, als 
einen urfprünglich bewußten Beſitz des Geiftes zu betrachten. So 
wenig in dem Steine der Funke als Funke ſchon vorher ruht, 
ehe der Stahl ihn hervorlockt, jo wenig werben vor allen Ein- 
drücken der Erfahrung jene Begriffe vor dem Bewußtſein fertig 
fhweben und ihm in feiner Einfamfeit die Unterhaltung ge— 
währen, die und etwa die Betrachtung eines Werkzeuge vor dem 
Beitpunft feines möglichen Gebrauches verichaffen könnte. Selbft 
in unferm fpäteren durch Erfahrungen ausgebildeten Leben treten 
fie jelten in dieſer Geftalt vor unfere Aufmerkſamkeit; in ung 
vorhanden ift nur Die unbewußte Gewohnheit, nach ihnen zu han⸗ 
deln und in der Erkenntniß der Dinge zu verfahren; einer ab- 
fichtlichen Weberlegung bedarf e8, um fie, die lange unbemerkt bie 
Yeitenden Triebfedern unferer Beurtheilungen gewejen find, felbft 
zu Gegenftänden unferes Vorſtellens zu machen. In feinem an- 
deren Sinne find fie mithin angeboren als in dem, daß in ver 
uriprünglichen Natur des Geifte8 ein Zug Liegt, der ihn nöthigt, 
unter den Anregungen der Erfahrung unvermeidlich diefe Auf- 
faffungsweifen des Erkennens auszubilden, und daß andererfeits 
nit der Inhalt der Erfahrung allein fie ihm ſchon fertig zur 
bloßen Aufnahme überliefert, fondern daß e8 eben diefer Natur 
des Geifted bedurfte, um durch die Eindrüde der Erfahrung zu 
ihrer Bildung getrieben zu werden. 

Und in folder Faſſung wird die allgemeine Richtigkeit die— 
fer Anfiht kaum für widerlegt zu Halten fein durch die mannig- 
fachen Berfuche, die Entftehung aller jener Grundzüge des Den- 
kens aus dem Mechanismus des unmittelbaren Vorftellens allein 
nachzuweiſen. Die Sprade, indem fie von einer Urfache, von 
einem Urſprung, von Abhängigkeit und dem SHerborgehen der 
Folge aus dem Grunde Spricht, erinnert uns allerdings durch dieſe 


256 


Namen an die einzelnen Thatjachen und Formen der Erfahrung, 
auf deren Beranlaffung wir und am leichteften des inneren Zu- 
fammenhanges bewußt wurden, den jene uriprünglihe Natur 
unferer Vernunft zwifchen dem Mannigfachen vorausfest. ber 
eine genauere Ueberlegung wird uns Doch ftet zu dem Glauben 
zurüdführen, daß durch alle jene Beobachtungen dem Geifte nur 
Gelegenheit gegeben wurde, fi einer ihm eingebornen Wahrheit 
zu erinnern, und daß fie jelbft für ſich allein uns die allgemeinen 
Grundfäge der Beurtheilung aller Dinge nicht überliefern konn⸗ 
ten. In welden fein abgemefjenen Beziehungen auch immer 
unfere Borftellungen fich befinden mögen, al ihre innere Orb- 
nung wilrde nicht von jelbft den Gedanken einer nothwendigen 
Berbindung zwiſchen ihnen erzeugen, wenn nicht die Natur des 
Geiſtes ihrerfeit8 die Forderung einer folchen erhöbe.. Niemals 
wird Die genauefte Kenntniß der mechaniſchen Wechfelwirkungen 
zwiſchen den einzelnen Vorftellungen zu einer Erflärung der Art 
führen, wie jene allgemeinften Vorausfegungen über den Zuſam⸗ 
menhang aller Dinge in unfern Geift kommen, wenn wir nidt 
in ihm einen Drang zu ihrer Erzeugung anerlennen, den wir in 
unfern Begriff von feiner urfprünglicden Natur mit aufnehmen 
müffen. Darin befteht die wahre Einheit des Geiſtes, die ihn 
als Geift von der Einheit jedes andern Wefens unterjcheidet, daß 
er nicht nur feine verſchiedenen Zuftände zu einem Mechanismus 
der Wechſelwirkung unter einander zufammenbrängt, fondern über- 
Dies durch die beziehende Thätigleit, Die er in jenen Berfahrunge: 
weiſen bes Erfennens ausübt, dieſes Mannigfaltige der Eindrüde 
in dem Sinne eines zufammenhängenden Ganzen zu deuten und 
e8 in das Bild einer Welt zu verwandeln ftrebt, in beren 
innerlicher Verknüpfung er den Widerfchein feiner eignen Ein- 
heit findet. 





257 


Berfuchen wir die einzelnen Leiftungen zu überbliden, in 
welchen die Aufgabe dieſes vereinigenden und beziehenden Wifjens 
nad und nach gelöft wird, fo gedenken wir zuerft jener Einheit 
der Seele noch einmal, Die nody nichts Anderes bedeutet, als Die 
Identität des wahrnehmenden Subjects, in welchem die Eindrücke 
aus verſchiedenen Theilen der Außenwelt und aus verſchiedenen 
Zeiten ſich ſammeln. Sie bildet die erfte nothwendige Bedingung 
fir jede That des Beziehens, die fpäter möglich werben foll, aber 
fie ift nicht Die zureichende Bedingung für die Entftehung folder 
Thaten. Nun blieb allerdings unfere Ueberlegung nicht bei die— 
fem leeren Gedanken einer fubftantiellen Einheit der Seele über— 
haupt ftehen; die Erfahrung lehrte und Gefete des Wirkens 
kennen, durch welde die innern Zuftände dieſes geiftigen Weſens 
und ihre wechfelfeitigen Einflüffe ſich auszeichnen; wir ſahen, wie 
der Mechanismus der Affvciation und Reproduction einzelne Ein- 
drücke enger verband als andere, und wie in Die bunte Menge 
der aufbewahrten Eindrücke eine Gliederung kam, die Aehnliches 
zuſammenbrachte, Unähnliches von einander ſchied. Doch auch diefe 
zweite Leiftung, alle dieſe Geſetze des Vorſtellungsverlaufs ſchufen 
an fi nur Beziehungen zwifchen den einzelnen Acten der vor- 
ftellenden Thätigfeit, geordnete Gegenftände einer Tpäteren mög- 
lichen Anſchauung; fie liegen den beobadhtenden Blid vermifien, 
ber dieſe Orbnung wahrnimmt und fie deutet. Diefer Blick des 
geiftigen Auges begegnet und zuerft in einer dritten Leiftung, in 
den Anfchauungen des Raumes und der Zeit, in welde das 
vereinigende und beziehende Thun des Geiſtes die gegenfeitigen 
Berhältniffe der Eindrüde wie in eine eigne neue Sprache 
überſetzt. 

Wohl mag es ſcheinen, als wenn jede zeitlich ablaufende 
Reihe von Eindrücken eben dadurch, daß fie abläuft, von ſelbſt 
uns als ein zeitliche Naceinander auch ericheinen müſſe; und 
ebenjo wiirde die räumliche Ordnung bes 1. nur 
des Gewahrwerdens liberhaupt bedürfen, aber Teiner befondern 


Thätigleit des Geiftes, welche dies Gegebene oder die 
Lotze I. 4. Aufl. 


258 


Formen erft aus fich ſelbſt erzeugte, in denen es ihm erfcheinen 
wird. Aber vielmehr, eben fofern eine Reihe von Eindrüden zeit- 
ih in uns abläuft, ift fie niemals in unferem Bewußtſein als 
ein Ganzes, fle ift auch nicht in ihm als eim zeitlich georbnetes 
Mannigfadhe vorhanden; ihres Vorübergehens und ihrer inneren 
Gliederung im Borübergehen werben wir doch nur inne, wenn 
wir in einer ungetheilten That des Wiſſens ſchon vergangene und 
noch gegenwärtige Glieder der Kette zufammenfafien und ihre 
gegenfeitigen Berbältnifie auf einmal überſehen. Verlaufen daber 
unfere inneren Zuftände wirflih in zeitlicher Ordnung, gegen 
welche natürliche Annahme wir ſchwer zu behandelnde Einwürfe 
nicht bier bereits vorbringen wollen, jo find doch dieſe wirklichen 
Zeitverbältniffe unferer Eindrüde nur Bedingungen, welche unfere 
Seele nöthigen, durch eine neue und eigenthümliche Rückwirkung 
nun aus ſich ſelbſt auch die Anſchauung der Zeit hervorzu⸗ 
bringen, und welde fie zugleich befähigen, in biefer angefchauten 
Zeit jedem einzelnen Eindrude die ihm zukommende Stellung 
anzuweiſen. 

Was uns ſchwieriger hier ſcheint, iſt uns deutlicher an dem 
andern Beiſpiele, dem Raume. Denn eine räumliche Ausdehnung, 
Größe und Lage werden wir den Eindrücken der Dinge in uns 
nicht beizulegen meinen; wie groß der vorgeſtellte Inhalt ſein 
mag, unſere Vorſtellung von ihm breitet ſich doch nicht in unſerer 
Seele zu gleicher räumlicher Ausdehnung aus. Mögen wir da⸗ 
ber unentſchieden lafjen, ob die Welt außer ung dieſe räumliche 
Wirklichkeit, in der wir fie zu fehen glauben, an ſich jelbft be⸗ 
fist oder nicht befißt: die Eindrüde, die fie ung mittheilt, find in 
unferem Geifte in beiden Fällen raumlos neben einander wie Die 
gleichzeitigen Töne einer Muſik, und alle wechfelfeitigen Beziehun⸗ 
gen zwifchen ihnen find nicht Verhältniffe der Lage, der Richtung 
und der Ausdehnung, ſondern den abgeftuften Verwandtſchaften 
zu vergleichen, bie auch die Töne dur unräumliche Intervalle 
von einander fcheiven und auf einander beziehen. Aus biefer 
Welt der raumloſen Eindrüde bildet die Seele die Anſchauung 





259 


ber räumlichen Welt, nicht weil das Aeußere räumlich war, fon- 
dern meil der Kaum ein Wort ihrer eignen Sprache ift, in 
welche fie die unräumlichen Erregungen überjeßt, die fie von jenem 
empfing. Und ebenfo wie wir, an die Ausdrucksweiſe der finn- 
lichen Anſchauung gewöhnt, uns die harmoniſchen Beziehungen 
der Töne in die räumlichen Symbole der Höhe und Tiefe, bes 
Auf- und Abſteigens durch Intervalle zurücküberſetzen, fo Tieß Die 
Seele durch die uriprünglichen itberfinnlichen Beziehungen ber 
Eindrüde ſich darin leiten, jedem einzelnen zu jedem andern feine 
Stellung in der von ihr geichaffenen Raumwelt des Borftellens 
anzuweifen. Beide mithin, Zeit und Raum, zeitliche und räum- 
liche Berhältniffe der Eindrüde find nicht etwas Fertige, das 
unfere wiffende Thätigleit auf ihrem Wege fände und aufläfe; 
Beides erzeugt fie ſelbſt. Ob wir Recht Hatten, zu fagen, daß 
fie die Beziehungen der Eindrüde und der äußeren Gegenjtände 
in eine neue, nur ihr felbft eigne Sprache überjege, mag dahin 
geftellt bleiben. Vielleicht ift die Außenwelt an fich felbft eine 
räumliche; vielleicht verlaufen Ereigniffe wirklich in einer Zeit; 
dann hat unfer Bewußtfein, indem es feine eigne Sprache redete, 
zugleich die getroffen, welche die Sprache der Dinge ift; aber 
feine Thätigleit war darum weder eine andere noch eine weniger 
eigenthümliche. Denn aud wir, Die wir unter einander biefelbe 
Sprade und dafjelbe Denken haben, flößen nicht dem Andern 
unmittelbar den fertigen Sinn unferer Gedanken ein; auch er 
vernimmt zunächſt nur den an fich bebeutungslofen Schall des 
Wortes und muß durch eigne Thätigkeit aus ihm ſich dieſelbe 
Borftellung bald eines finnlichen Gegenftandes, bald einer über⸗ 
finnlihen Beziehung, bald eines Ereignifjes wieder erzeugen, die 
wir ihm mitzutheilen ftrebten. 

Es ift eine unbewußte Wirkſamkeit unſeres Geiftes, durch 
welche auf dieſe Weiſe das räumliche Bild einer umgebenden Welt 
und die Anſchauung eines zeitlichen Fluſſes der Ereigniſſe um 
uns und in uns entſteht; niemals werden jene urſprünglichen 
Berhältniffe der Eindrücke, deren Abſtufungen wir in dieſen For⸗ 

17* 


260 


men deuten, in ihrer eignen wahren Geftalt Gegenftände unferes 
Bewußtſeins; niemals jehen wir unferer eignen Thätigkeit zu, 
wie fte dieſe räumlich zeitliche Welt aufbaut, die vielmehr ſtets 
fertig uns unmittelbar gegeben ſcheint und und einen müheloſen 
Einblick in ihre Mannigfaltigfeit geftatte. Aber in anderer 
Weile verräth diefe finnlihe Weltauffafiung doch überall die 
Spuren eines beziehenden Wifjend, das liber ihre einzelnen Theile 
fih verbreitet hat. Denn niemals beſchränkt fie fih in der That 
auf die Darftellung eines räumlichen Nebeneinander und einer 
zeitlichen Folge; ſelbſt dies finnliche Bild der Welt ift überall 
von Gedanken einer ſtufenweis gegliederten inneren Abhängig- 
feit durchzogen, ohne welche feine anſchauliche Ordnung fir uns 
unverftändlich fein würde. Nicht nur wie ein Spiegel gibt das 
Bewußtfein die Geftalt des Aeußeren; indem e8 einzelne Theile 
derjelben zu Eleineren Ganzen zufammenfaßt und fie gegen ihre 
Umgebungen abgrenzt, bringt e8 Theilftriche an, die fo nicht in 
dem unmittelbar gegebenen Bilde Liegen, fondern von der Voraus⸗ 
fegung einer ungleichen inneren Zuſammengehörigkeit ausgehen, 
die zuweilen wohl das Entferntere ftärker verknüpft, als das Be- 
nahbarte. Zu diefer neuen Drbnung des Sinnes und der Be- 
deutung, in welde wir das finnlih Wahrgenommene bringen, 
führt und zum Theil der natürliche Mechanismus unferer Vor⸗ 
ftellungsafjociationen, ohne doch allein dieſes Werk zu vollenden. 
Indem er die früheren Wahrnehmungen fefthält und fie wieder 
auftauchen läßt, wenn ber veränderte neue Eindrud doch burdh 
einzelne beibehaltene Züge an fie erinnert, bringt er nach und 
nad das Material zu einer zufammenhängenden Erfahrung ber- 
bei, deren wirkliches Zuftandelommen doch nur durch die eingrei- 
jende Thätigfeit des Denkens erfolgt. 





261 


Gar Vieles führt die äußere Wahrnehmung räumlich und 
zeitlich verbunden unferm Bewußtſein zu, was durch feine Ge- 
meinfhaft des Sinnes verknüpft, ſondern fremdartig unter ein- 
ander, nur eimem beſonderen Zufalle fein augenblidliches Bei- 
fanmenfein verdanlt. Die Erinnerung wiederholt treu und 
unbefangen, was ihr die Wahrnehmung bot; fie bringt Das Zu- 
ſammenhangloſe mit gleicher Genauigfeit wieder, wie das innerlid 
Berwandte, und wirft unfern Borftellungslauf durch ungeeignete 
Afjociationen, die fih_an einzelne Eindrüde gefnüpft haben, aus 
der ftetigen Richtung heraus, die er durch die Reihenfolge ein- 
ander begründbender Gebanfen nehmen könnte. Aber der Geift 
begnügt ſich nicht damit, fi) von dem Mechanismus der Wahr- 
nehmung und Erinnerung Verbindungen der Borftellungen auf- 
drängen zu lafien; als eine beftändige kritiſche Thätigfeit jucht 
das Denken jede berjelben auf die Rechtsgründe zurückzuführen, 
weldye die Verbindung des Verbundenen bedingen und das Zu- 
ſammenſeiende als ein Zuſammengehöriges erweifen. So trennt 
e8 von einander die Eindrücke, die ohne inneren Zufammenhang 
fih in der Seele zufammenfanden, und erneuert beftätigend Die 
Verknüpfung derer, denen die innere Verbindung ihres Inhaltes 
ein Recht auf beftändige Gefellung gewährt. In allem diefem 
Thun wird es geleitet und unterſtützt durch denfelben mechanifchen 
Borftellungsverlauf, den es berichtigt; denn er felbft, indem er 
durch nee Wahrnehmungen den früheren widerfpricht ober fie 
beftätigt, führt feine eigne Verbeſſerung durch die allmähliche 
Sonderung herbei, bie auf dieſem Wege unvermeidlich das Fremd⸗ 
artige jcheidet und das Verwandte zufmmenbringt. Dennoch ift 
er allein nicht das Denten und vollzieht nicht ſelbſt die Auf- 
gaben, die wir dieſem ftellen. 

Dft wiederholte ähnliche Borftellungen werden nicht allein 
in ihrer ganzen Eigenthümlichkeit aufbewahrt, jondern neben ihnen 
bilden ſich zugleich allgemeinere und unbeftimmtere Bilver, welche 
Das Gleichartige der einzelnen auffammeln und ihre Unterfchiebe 
verwiſchen. Aber die bloße Gegenwart diefer Bilder, welche der 





262 


mechaniſche Borftelungslauf für fich erzeugt, ift noch nicht gleid- 
zufegen dem Begriffe, in deſſen Form. das Denken diefelbe Man- 
nigfaltigfeit auf ihr gleichartige Allgemeine zurüdführt. Denn 
in biefem ift überall der Nebengedanfe einer geſetzgebenden Regel 
mitvorhanden, durch welche die einzelnen Züge des Allgemeinen 
nit nur als eine thatſächliche Verknüpfung, die in vielen Ein- 
zelnen fich wiederholt, jondern als ein zufammengehöriges Ganze 
eriheinen, in ihrer Verbindung durch den untheilbaren Sim des 
Weſens verbirgt, defien Bild fie find. Es kommt wenig darauf an, 
wie ausgebildet unſer Wiſſen um den Grund und die Bedeutung 
diefer Zufammengehörigfeit ift; daß fie überhaupt von uns gefühlt 
wird, und daß wir die bloße Summe vereinigter Merkmale, welche 
und der Vorftellungslauf an ſich bietet, in den Gedanken eines 
Ganzen verwandeln, ſcheidet binlänglich unfere Auffaffung von 
dem bloßen Bilde ſelbſt. Diefe Verwandlung aber vollzieht be- 
ftändig auch das ungelibtefte Denken, wenn es einen Namen ber 
Sprache ausipriht; noch mehr, wenn es dem Namen den Ar- 
titel voranjhidt und das Wahrgenommene als irgend ein Das 
bezeichnet, hat es jchon Fräftig genug und umverfennbar dieſe Ber- 
einigung der zufammengefellten Züge des Bildes in den Geban- 
fen eined innerlich untheilbaren Ganzen vorgenommen. 

Der Lauf der Wahrnehmungen zeigt uns oft zwei Eindrücke 
verbunden, Die eine bald kommende nene Empfindung uns getrennt 
darftellt, während eine dritte ihre frühere Verknüpfung wieder 
beftätigt. Kein Grund konnte und veranlaffen, in jener erften 
Wahrnehmung das Verbundene zu trennen, wir nahmen es un: 
befangen als an einander bängend bin; der letzten erneuerten 
Wahrnehmung diefer Verbindung ftellt fi dagegen bie Erinne- 
rung an die inzwiſchen gemadte Beobachtung ihrer Auflöfung 
entgegen; beide Eindride werden nun nicht mehr in jener arg: 
Iofen Weife, wie fie ung die erfte Anſchauung darbot, an einander 
haften, fondern durch den Nebengedanfen ihrer möglichen Tren⸗ 
nung aus einander gehalten werden. Der Baum, zuerft blühend 
oder belaubt gefehen, wirb und ein einzige8 Bild gewähren, beffen 





263 


Theile alle mit gleicher Innigkeit zufammenhängen; die folgende 
Wahrnehmung des entlaubten ftört dieſes Bild, und auch mo e8 
nen durch wirkliche Anſchauung gegeben wird, ift es nun für 
uns in Die Borftellung der feitftehenden Form des Stammes 
übergegangen, an den als veränderliche, vergängliche Theile bie 
Blätter fih knüpfen. Solche Trennungen und Verbindungen der 
Borftellungen find das, was wir denfend in der Form des Ur- 
theils ausdrücken; aber wir jagen im Urtheil mehr, als fie ſelbſt 
enthielten. Indem wir vom Baume fagen, er fei grün, faffen 
wir ihn unter der Form eines jelbftändigen Dinges, an dem bie 
Farbe in jener Weife veränderlich und abhängig bafte, in welcher 
überhanpt Eigenichaften ihren Trägern zufommen. Dieſes mitge- 
dachte Verhältniß zwilchen Ding und Eigenfchaft ift der Grund, 
auf welchen wir jene eigenthümliche Verknüpfung unferer Borftel- 
lungen zurüdführen, die ebenjo ſehr das Verbundene auseinanber- 
hält, wie fie es vereinigt; in der Natur jener inneren Beziehung, 
welche die Subftanz mit ihren Attributen zufammenfaßt, Tiegt die 
Nothwendigfeit, welche auch hier den Inhalt der BVorftellungen in 
biefer befondern Form zufammenfpannt. Nicht anders, wenn in 
unferer Wahmehmung auf die Anfchauung der Bewegung, mit 
der ein Körper ſich uns nähert, der Schmerz des Stoßes folgt. 
In unferer Erinnerung werden beide Eindrüde fich affociiren, 
aber das Urtheil, daß der Körper uns ftoße, enthält mehr als 
die bloße Wiederholung der Thatſache, daß beide Eindrücke ſich 
in und zu folgen pflegten. Indem e8 den Körper als die thätige 
Urſache, den Stoß als die Wirkung bezeichnet, führt e8 das Zu- 
fammenfein auch diefer Verbindung der Borftellungen auf einen 
inneren Grund ihrer Zufammengehörigfeit rechtfertigend zurück, 
auf jenen Cauſalzuſammenhang, deſſen allgemeine Herrichaft über 
alle Ereigniffe eine ber urfprünglichen Vorausſetzungen unferes 
Geiſtes über die Verknüpfung der Welt ift. 

Aus der Öfteren Wiederholung einer Wahrnehmung endlich, 
in welcher eine Begebenheit auf Die andere folgte, wird ſich die 
Gewohnheit der Erinnerung ausbilden, bei dem Wiedereintritt 


264 


ber einen von ihnen auch Die Wieberfehr der andern zu erwarten. 
Sole Erwartungen Hoffnungen oder Befürchtungen über die 
Zukunft, einfache Erzeuigniffe des mechaniſchen Borjtellungsverlau- 
jes, beherrjchen uns im täglichen Leben überall, und ein großer 
Theil unferer Handlungen wird ohne Zweifel durch diefe unmit- 
telbaren Borftellungsverbindungen ohne weitere Weberlegung ihres 
Urſprungs ebenfo geleitet, wie wir e8 von der Seele des Thieres 
voranszufegen pflegen, der wir mit Recht oder Unrecht jenen Me⸗ 
chanismus allein, nicht aber die höhere Thätigleit des Denkens 
zugeftehen. Und in dev That werben jene Erwartungen dem 
Thiere fitr die praftifchen Zwecke feines Lebens ziemlich dieſelben 
Dienfte Leiften, Die e8 von einer denkenden Wiederholung deſſel⸗ 
ben Inhaltes in der Yorm eines Schluffes hoffen künnte. Aber 
dennoch Liegt in dem Schluſſe eine ganz andere geiftige Arbeit, 
als in jener inftinctiven Erwartung. Indem wir die erneuerte 
Wahrnehmung zum Ausgangspunkt einer Vorausſicht benußen, 
rechtfertigen wir im Schluffe Das Zufanmenfein des Ermwarteten 
‚ mit dem Wahrgenommenen durch den Gedanken eines allgemeinen 
Gefetes, durch deflen Gebot beide zufammengehören. Eo bringen 
wir auch hier die Thatfache der Verknüpfung entweder auf ben 
Grund zurüd, der in ber eignen Natur der Sache liegend fie 
nothwendig macht, oder wir überzeugen uns, daß feine wefentliche 
innere Beziehung beide Glieder mit einander zufammenfchließt und 
daß jene Erwartung eine der vielen Täufchungen ift, welche der 
Mechanismus des Borftellungslaufes uns zuführt, indem er die 
mannigfachen Eindrücke nicht nad der Verwandtſchaft ihres In⸗ 
haltes, jondern nad dem Zufall ihres gleichzeitigen Eintretens in 
unfer Bewußtſein aneinanderfügt. 

Bon den Ergebnifjen diefer fichtenden, kritiſchen Thaͤtigkeit 
des Geiftes ift nun unſere ſinnliche Weltauffafjung überall be- 
reits durchdrungen; fie ift nirgends eine rein finnlidde, ſondern 
zugleich eine verftändige. Nirgends fchweben uns Die Erſcheinun⸗ 
gen als bloße Bilder vor, wir glauben bie Dinge mit zu ſehen, 
beren Einheit und Selbftändigfeit fie zu einem zuſammengehörigen 


265 


Ganzen als Eigenfchaften verbindet; nie tritt in der Beobachtung 
eine8 Ereigniſſes der nächte Zuftand fir und nur an die Stelle 
des früheren, höchftens in unferem Bewußtſein durch die Erinne- 
rung an diejen begleitet, fondern wir glauben den urfächlichen 
Zufammenhang mit zu beobachten, der beide durch die Stetigfeit 
einer inneren Verknüpfung verbindet; mo endlich größere Gruppen 
der Begebenheiten einander folgen, ſcheint uns in ihrer Ordnung 
unmittelbar der Zwang einer durchdringenden Geſetzlichkeit offen- 
bar, der jedem Grunde feine Folge, jeder Urſache Größe und Art 
ihrer Wirkung zumißt. Doc dieſes allgemeine Beftreben des 
Berfiandes, die finnlihe Wahrnehmungswelt als ein innerlich 
zuſammenhängendes Ganze aufzufaflen, erreicht felbft feine Be- 
friedigung nur durch die Beihilfe der Erfahrung. Indem wir 
den Erſcheinungen Wefen, den Ereignifjen Urfachen, ihrem Zu⸗ 
ſammenhange Gejege unterlegen, greifen wir doch häufig fehl in 
der Bezeichnung beilen, was das eigenthümlihe Wefen der ein- 
zelnen Erſcheinung, die befondere Urfache des beftimmten Ereig⸗ 
nifjes, das inhaltuolle Geje eines begrenzten Zuſammenhanges 
ift. Nur indem eine glüdlihe Mannigfaltigleit der Beobachtun⸗ 
gen und eine ftetige Aufmerkſamkeit auf ihre Unterfchieve und 
Aehnlichkeiten und von den zufälligen Borftellungsverfnüpfungen 
befreit, melde die einzelnen Wahrnehmungen in uns bewirken, 
lernen wir allmählich die allgemeineren und weientlihen Zuſam⸗ 
menhänge erkennen, und unfere Weltauffafjung thut in wachjen- 
der Annäherung dem Verlangen des Berftandes Genüge, die Bor: 
ausjegungen, die er mit Nothwendigfeit über allen Zufammen- 
hang der Dinge macht, an der Mannigfaltigfeit des Wirflichen 
in der That zur Geltung gebracht zu jehen. Aber die Gelchichte 
diefer allmählihen Entwidelung gehört nit zu den Gegenftän- 
den, die diefer erſte Ueberblick unſeres geiftigen Lebens umfaffen 
fol. Nur der Betrachtung der Hilfsmittel gewidmet, aus deren 
Gebrauch die menſchliche Bildung entftehen Tann, muß er fid 
begnügen gezeigt zu baben, wie wenig diefe Bildung fertig in 
und liegt, und wie felbft das, was als angeborne Anlage uns 








266 


zulommt, nur dadurch feine Aufgabe erfüllt, daß feine Kraft im 
Gebrauche wächſt, indem jede gewonnene Erfenntniß das Ber- 
mögen des Geiftes zu ihrer Erweiterung vermehrt. 


Ueber die wahrnehmende Sinnlichkeit und den beziehenden 
Berftand hinaus hat eine weit verbreitete Anficht noch ein höheres 
Streben der Erfenntniß in dem menſchlichen Geifte zu finden 
geglaubt, die Thätigleit der Bernunft, die, auf Einheit unferer 
Weltauffaffung gerichtet, die Erfahrung zum Abſchluß zu bringen 
ſuche. Welche Zweifel e8 auch erweden möcte, fie als nenes 
und höheres Vermögen dem Berftande überzuordnen, mit deſſen 
Gewohnheiten ihre eignen Forderungen fogar in Streit zu ge— 
rathen fcheinen, jo drückt doch diefer neue Name in der That 
eine neue und eigenthlimliche Form des beziehenden Dentens aus, 
bie in dem wirklichen Leben des Geiftes zu bedeutſam bervortritt, 
um nicht bier hervorgehoben zu werden, noch ehe wir ihrem Ur- 
fprunge weiter nachforſchen können. 

In jedem einzelnen Falle, den uns die Erfahrung darbietet, 
ift der Berftand befchäftigt, nad jenen Gejegen des Zuſammen⸗ 
hanges, die er als allgemein geltende Nothwendigkeiten voraus- 
fegt, nach dem nächften ergänzenden Gliede zu forfchen, auf wel- 
ches die Wahrnehmung hinmweift und welches fie fordert. Bu 
jedem einzelnen Schein der Eigenſchaften fucht er ein Weſen, Das 
ihn wirft, zu jedem einzelnen Ereigniß die Urſache, die es her⸗ 
vorbrachte, und Die Wirkungen, bie es ſelbſt begründen wird, zu 
jeder Gruppe von Thatſachen das Geſetz, melches fie beherricht. 
Sp von Punkt zu Punkt fortichreitend, wie weit ihn die Beran- 
lafjungen der Wahrnehmung treiben, verfnüpft er aud nur im 
Einzelnen Punkt mit Punkt; aber er legt fi nicht die Frage 
vor, welches endliche Geſammtbild der Welt und ihres Zuſammen⸗ 
hanges nun zulett entfliehen werde, wenn Diefelben Regeln Der 
Beurtbeilung auf alle wirklichen und benfbaren Fälle der Wahr- 
nehmung und auf jeden einzelnen fo oft wiederholt angemanbt 


267 


würden, als jeder nad) feiner Natur zur Erneuerung diefer An- 
wenbung veranlaflen Könnte. Es befümmert den Berftand nicht, 
wie die Reihe der Urjachen, welche auffteigend jede Urſache eines 
einzelnen Ereignifjes von Neuem verlangt, irgendwo abjchließen 
werde, in welchem Zuſammenhang die unzähligen Fäden geſetz⸗ 
licher Berfnüpfung, die er neben einander fcharfjinnig verfolgt, 
zulegt in einander verflochten fein mögen, an welchem Dafein von 
unbebingter Natur endlich die vielfachen bedingten Wirklichfeiten 
bangen, deren Wechfelverhältniffe unter einander, nachdem fie vor⸗ 
handen find, ſich feinen Gejegen unterworfen zeigen. 

Es Tann eine fpielende Bertheilung der Arbeiten fcheinen, 
wenn wir von dem Berftande behaupten, daß er dieſe ragen 
fih nicht ftelle, und wenn wir num hinzufügen, daß aus ihrer 
Beantwortung die Vernunft ihre Aufgabe madt. Und gewiß 
find beide darin verwandt, daß fie eine Zufammenfaffung des 
Mannigfachen verſuchen, aber der Leitende Gedanke, den Die Ver⸗ 
nunft bierbei befolgt, die Gewißheit, daß die Summe der Wirt: 
lichfeit nur als vollendete Einheit und Ganzheit Beftehen haben 
tönne, ift doch nicht derſelbe Grundſatz, nach welchem der Ber: 
ftand nur die Form der Verknüpfung zwifchen je zwei Gliedern 
unterfucht, obne über die Geftalt, welche aus der Bereinigung 
aller hervorgehen wird, einen Ausfpruch zu thun. So wie der 
ardhiteftonifche Stil, den wir bauend wählen, die Berfettungsart 
jedes Baugliedes mit jedem andern beftimmt, aber völlig unbe- 
ftimmt die endliche Form des Gebäudes läßt, defien Plan viel- 
mehr nur der Zweck vorzeichnet, dem wir es wibmen: fo zeigen 
uns die Grundſätze des Verſtandes wohl den Stil des Welt- 
baues, aber nicht die Geftalt der Umriſſe, die fein vollendetes 
Ganze befist. Daß die Vernunft dieſes Räthſel Idfe, werben wir 
ebenſo wenig behaupten, al8 wir dem Berftande jemals das voll- 
fändige Gelingen feiner geringeren Aufgabe nachrühmen dürfen. 
Schon über den Sinn der allgemeinen Gefege, die er dem Zu— 
fammenbange der Dinge vorjhreiben zu können glaubt, täufchen 
ibn oft die Gewohnheiten einer beſchränkten Erfahrung; an den 


268 


Beifpielen ber Ereignifje haftend, welche und der für jeden end⸗ 
lihen Geift nur beſchränkte Kreis der Beobachtung verführt, 
nehmen wir zu oft die beftimmte Form, unter der fi in befon- 
beren Fällen der geſetzliche Zuſammenhang der Dinge äußert, für 
die reine und allgemeine Nothwendigfeit an, die wir überall wie- 
derfinden müßten; fo gerathen wir in manderlei Unflarbeiten 
über den wahren Sinn und die Giltigfeitögrenzen der Grundſätze, 
die wir auf einen gewohnten Erfahrungskreis lange mit dem voll= 
ften Gefühle ihrer Nothwendigkeit und unmittelbaren Klarheit 
anmwendeten. Um fo weniger, je mehr fchon dieſe Schwierigkeiten 
und drüden, vermag die Bernunft das Bild eines Weltganzen zu 
begrenzen, deſſen Einzelnbeiten ihr nur unvollftändig liberliefert 
werden; fie kann nur allgemeinfte Forderungen ausfprechen, denen 
Genüge zu leiften fie von jedem Verſuche dieſes Wagniſſes verlangt, 
und auch) fie wird, bevrängt von dem mannigfach widerftreitenden 
Intereſſe, mit dem unfere Wünfche und Bedürfniſſe in den That- 
beftand der MWirflichleit venwidelt find, den Sinn deſſen häufig 
mißverftehen, was fie verlangen muß. Noch mehr wie die ver- 
ftandesmäßige Betrachtung der Welt werben biefe Beftrebungen 
der Vernunft, wie fie im unmittelbaren Leben des Geiſtes vor⸗ 
fommen, eine geordnete Aufflärung über fich felbft durch Die Hilfe 
der Wiffenfchaft bebitrfen, und noch weniger als jene find fie, 
ohne die Zucht einer abfichtlich geleiteten Bildung, nur als na- 
türliche Anlage des Geifted zur Erreichung ihres Zieles fähig. 
Aber in dem Anlauf, den fie nehmen, verratben fie doch eim 
eigenthiimliches der Beachtung würdiges Thun des Geiftes, deſſen 
Duelle wir nicht mehr allein in der vorftellenden ober beziehenden 
Natur der Seele, jondern in einem andern Zuge ihres Wefens, 
dem wir und nun zumenben, glauben fichen zu müffen. 


269 


Füunftes Kapitel, 


Bon den Gefühlen, dem Selbftbewußtfein und dem 
Willen. 





Entſtehung und Formen ber Gefühle — Ihr Zuſammenhang mit der Erkenntniß. — 

Die Werthbeitimmungen der Vernunft. — Selbfibemußtfein; empiriſches und reines 

Ich. — Triche und Strebungen. — Der Wille und feine Freiheit. — Schluß: 

bemerfung. 

So wie die Farbe eines Gemäldes den Eindrud feiner Zeich⸗ 
nung belebt und fteigert, fo durchdringen Gefühle der verichieben- 
ften Arten alle Die mannigfachen Ereigniffe des Borftellungslebens, 
die wir bißher ſchilderten. Wie wenig wir ihren Urfprung unmittel- 
bar aus den Berwidlungen der Vorftellungen ableiten können, bie 
zu ihrem Hervortreten Beranlafiung geben, haben wir uns früher 
überzeugt. War es eine urſprüngliche Eigenthümlichkeit des Gei- 
ſtes, Beränderungen nicht nur zu erfahren, fondern fie vorftellend 
wahrzunehmen, fo ift e8 ein ebenfo urfprünglicher Zug deſſelben, 
fie nicht nur vorzuftellen, fondern in Luft und Unluft auch des 
Werthes inne zu werben, den fie für ihn haben, indem fie bald 
in dem Sinne feiner eignen Natur ihn anregen, bald ihm For⸗ 
men und Berfnüpfungen der Zuftände zumuthen, die dem natlir- 
lichen Ablauf feiner Thätigleiten zuwider find, Denn darauf wird 
doch zulett alle Luft beruhen, daß dem Geifte, deſſen Beftimmung 
nicht Die Ruhe, fondern die Entwidlung ift, Erregungen zugeführt 
werden, die, mit ber Richtung den Bedingungen oder der Form 
feiner lebendigen Entfaltung übereinftimmend, ihm nicht nur bie 
Sicherheit des Unangefochtenjeins ſondern eine Förderung feines 
eignen Thuns verichaffen. Und ebenjo, wie die Seele als ver- 
änderliche8 und thaͤtiges Welen im Gefühle der Luft fich biefer 
Uebung ihrer Kräfte als einer Steigerung in dem Werthe ihres 
Daseins bewußt wird, ebenfo befigt fie die Fähigkeit, die Std- 
rungen, die von ihrem eignen Wege fie ablenfen möchten, weder 
blos zu leiden noch an ihnen zu Grunde zu geben, fondern fie 


270 


im Gefühle der Unluſt als das was fie find, als Störungen ihres 
beftändigen Sinnes, zu empfinden und von der natürlichen Ent= 
widlung ihres Weſens abzutrennen. 

Wir find es freilich zunächft, die Unterjuchenden, welche bie 
Entftehung der Gefühle jo uns deuten; wir vollziehen jene Berglei= 
hung des Eindruckes mit den Bedingungen, bie dem Leben ber 
Seele ans ihrer eignen Natur vorgeſchrieben find; wir glauben 
in dem Unangenehmen’ den Wiberftreit der gejhehenen Erregung 
mit dem, was diefe Bedingungen fordern, in der Luft die Ueber— 
einftimmung beider zu finden. Die fühlende Seele jelbit macht 
weber überall, no unmittelbar im Augenblide des Gefühls dieſe 
Bergleihung. So wenig fie fi der vermittelnden Ereigniſſe in 
ihrem Körper bewußt wird, aus denen die finnlide Empfindung 
entfteht, fo wenig fieht fie vor dem beginnenden Gefühle dem 
Streite oder der Webereinftimmung der Eindrüde mit den Be— 
dingungen ihres Lebens zu, um nım erft nad) dein Ergebniß dieſer 
Bergleihung Luft oder Unluft an fie zu Tnüpfen. Unbelannt 
mit jenen Bedingungen, wie fie unbelannt ift mit den Ereigniffen 
in den Sinnedorganen, wiirde fie felbft dieſe Vergleihung nicht 
ausführen können; und wie von allen Vorgängen, welde die Em⸗ 
pfindung begründen, nur das legte Ergebniß, die Empfindung 
felbft, in dem Bewußtſein auftaucht, ebenjo fteigen die Gefühle 
in und auf, ohne die innere Bewegung der Seele zu verrathen, 
aus der fie entipringen. Aber einmal vorhanden, werden fie doch 
immer von und fo gedeutet werden, wie wir e8 gethan haben, 
und nie wird es dem natürlichen Bewußtſein zweifelhaft fein, Daß 
in irgend einer unbelannten Förderung, die unfer Leben erfahren 
hat, die Luft, in irgend einer Störung die Unluft wurzele Und 
ebenfo endlich, mie die wachſende Erfahrung unfere Vorſtellungsver⸗ 
knüpfung berichtigt, wird auch diefer Rückſchluß durch fie näher be= 
ftimmt. Die augenblickliche Förderung, die und ein Eindrud bereitete, 
bürgt nicht für die Heilfamkeit auch der fpäteren Nachwirkungen, mit 
welchen er in das Ganze unferes Lebens eingreift, und ber einzelne 
Bortheil, den und die eine Eigenfchaft eines Reizes bereitete, hin⸗ 








271 


bert nicht die Gefährlichkeit der Einflüffe, die von ben übrigen 
ausgehen Können. Das Gefühl wird Recht behalten, wenn es 
die Süßigfeit eines Giftes Tiebte und die geredhte Strafe bitter 
fand, denn immer Yag in jenem Geſchmacke eine augenblidliche 
Vebereinftimmung des Eindrudes mit der Thätigfeit des Nerven, 
und in dem Schmerz der Strafe eine feindlihe Störung unferer 
Stimmung. Die Erfahrung nimmt diefe Urtheile nicht zurück; 
fie warnt nur, fi auf fie allein zu verlaffen, und lehrt uͤns 
über den Geſammtwerth eines Eindrudes erſt dann zu urtheilen, 
wenn wir aud die Geſammtſumme feiner Folgen und der Stö- 
rungen oder Förderungen, die fih an fie Inüipfen, gezogen haben. 


Die Formen find verichtenen, unter denen die Gefühle im 
finnlichen wie in dem geiftigen Theile unſeres Dafeins fi dar⸗ 
bieten. Bald treten fie hervor, an einen beftimmten Eindrud ge- 
knüpft, deffen Inhalt und Form noch außerdem durch eine beut- 
Tihe Borftelung wahrgenommen wird, bald breiten fie fih ohne 
Hare Erinnerung an ihren Urfprung als allgemeine Stimmungen 
über das Gemüth aus, den Beleuchtungen ähnlich, die von einem 
verborgen bleibenden Lichtquell durch unzählige Zurückwerfungen 
der Strahlen entftehen. Verknüpft mit mancherlei körperlichen Zu⸗ 
ftänden, von denen fie entweber veranlaßt werden, oder Deren Ver⸗ 
anlafjungen fie jelbft find, begleitet bald von einem ärmeren Er⸗ 
innerungßfreife, defjen jeder einzelne Theil das eigenthümliche In⸗ 
terefle wiederzuerwecken fucht, welches feinem Inhalt anhaftete, 
durchzogen endlich von mancherlei ihres Zieles entweder gewillen 
oder unbeftimmt fuchenden Strebungen, nehmen die Stimmungen 
des Gemüthes eine Mannigfaltigfeit fein fchattirter Formen an, 
die weit entfernt find von der trodenen Vergleichbarkeit eines 
bloßen Mehr und Minder allgemeiner Luft und Unluſt. Der Ber: 
lauf der Bildung, wie er die Weite des Bewuftfeins für die Zu- 
jammenfafjung mannigfacher Borftellungen vergrößert, fteigert aud) 
die Feinheit diefer Durchkreuzungen der Gefühle und bringt jene 


272 


unermeßliche Vielfeitigfeit der Gemüthsregungen hervor, Deren 
Darftellung faum der Kunſt und nie den unvolllommmeren Mitteln 
der wiſſenſchaftlichen Zergliederung gelingt. 

Ohne dieſes Labyrinth jett zu betreten, in welches ung Die 
Betrachtung der menſchlichen Eultur fpäter und zu vertiefen nö- 
tbigen wird, möchten wir drei Richtungen namhaft machen, in 
denen das Gefühl als eine ber weſentlichſten Kräfte in dem Zu- 
fammenhange unferes geiftigen Lebens wirkſam wird. Man wird 
vor Allem fich entwöhnen müflen, die Gefühle als Nebenereigniffe 
zu nehmen, die im Verlauf der inneren Zuftände zumeilen ein- 
träten, während der größere Theil der legtern in einer gleichgilti- 
gen Reihe Teid- und Luftlofer Veränderungen beftände. Außer der 
völligen Ruhe würden wir uns feinen Zuftand denken fünnen, ber 
nicht mit den eignen Entwidlungsbedingungen der Seele entweder 
üübereinftimmte ober in irgend einer Weife ihnen zumider wäre. 
Welche Erregung daher die Seele aud immer erfahren mag, von 
jeder werden wir einen Eindrud der Luft oder Unluft erwarten 
müfjen, und eine genauere Selbftbeobadhtung, fo weit fie bie ver- 
blaßten Farben dieſer Eindrücke zu erfennen vermag, beftätigt diefe 
Bermuthung, indem fie feine Aeußerung unferer geiftigen Thätig- 
feit findet, Die nicht von irgend einem Gefühle begleitet wäre. 
Verblaßt find jene Farben allerdings in dem entwidelten Gemüth 
vor dem übermächtigen Intereffe, das wir einzelnen Sweden un- 
ſerer perjönlichen Beftrebungen zuwenden, und nur eine abfichtliche 
Aufmerkfamteit findet fie wieder auf, ebenfo wie unfere mikroſtopiſche 
Beobachtung die regelmäßige Bildung unfcheinbarer Gegenftände, 
über die unfer Blid gewöhnlich unachtſam hinwegſieht. Jeder ein- 
fachen finnlihen Empfindung, jeder Farbe, jedem Zone entipricht 
urſprünglich ein eigner Grad der Luft oder Unluft; aber gewöhnt, 
dieſe Eindrücke nur in ihrer Bedeutung als Merkmale der Gegen- 
ftände aufzufaflen, deren Sinn und Begriff ung wichtig ift, bemerken 
wir den Werth des Einfachen nur dann noch, wenn wir mit geſam⸗ 
melter Aufmerkſamkeit uns in feinen Inhalt vertiefen. Jede Form 
ber Zufammenfegung des Mannigfaltigen erregt neben ihrer Wabr- 


273 


nehmung in uns einen leiſen Eindrud ihres Uebereinſtimmens 
mit den Gewohnheiten unferer eignen Entwidlung, und dieſe oft 
unflaren Gefühle find e8, welche fiir jedes einzelne Gemüth jedem 
einzelnen Gegenftand feine bejondere Färbung geben, jo daß er, 
mit demfelben Thatbeftande dev Merkmale für alle, doc für jeden 
von ung ein anderer ſcheint. Aber jelbft die einfachiten und fchein- 
bar trodenften Begriffe des Denfens find nie von diefem neben- 
hergehenden Gefühle ganz entblößt; wir fafjen den Begriff der 
Einheit nicht, ohne zugleich ein Glück der Befriedigung zu ge⸗ 
nießen, da8 fein Inhalt einfchließt, den des Gegenfates nicht, 
obne zugleich die Unluft der Feindfeligfeit mit zu einpfinden; Ruhe 
Bewegung und Gleichgewicht beobadhten wir weder an den Din- 
gen, nody entwideln wir uns ihre Vorftellungen, ohne und mit 
unferer ganzen Lebenbigfeit in fie binein zu verfegen und ben 
Grad und die Art der Förderung oder der Hemmung mitzufühlen, 
die fir uns aus ihnen hervorgehen könnte. Auf diefer Allgegen= 
wert der Gefühle beruht ein guter Theil unferer höheren menſch⸗ 
lichen Ausbildung; fie ift der Grund der Phantafle, aus der die 
Werke der Kunft geboren werben, und melde das Verſtändniß 
aller natürlihen Schönheit eröffnet; denn in nichts Anderem be- 
fteht dieſe Ichaffende und nachſchaffende Kraft, als in der Fein— 
finnigleit des Geiftes, welche die Welt der Werthe in die Welt 
der Formen zu Tleiden, oder aus ber Verbüllung der Form das 
in ihr enthaltene Glück berauszufühlen verfteht. 

Aber das Gefühl enthält zugleich den Grund jener eigen- 
thümlichen und höchſten Thätigleit, welcher wir in dem Gebiete 
der Intelligenz begegneten, jener Vernunft nämlich, die von den 
Ganzen der Wirflichleit Formen des Dafeins befolgt willen will, 
in denen fie allein den Werth des Wirflichen verbirgt findet. 
Wenn wir von dem Weltall ebenſowohl die zählbare Endlichkeit 
einer beftimmten Größe als die unvollendete und unvollendbare 
Grenzenloſigkeit abhalten möchten, wenn wir von feiner Vorftellung - 
verlangen, daß fie ein Ganzes und innerlich abgejchloffenes Eine 
darbiete, daB Doch zugleich das Umfaffende aller Einzelnen fei, fo 

Zope 1. 4. Aufl. 18 


274 


folgen wir in diefer und in anderen Forderungen nicht mehr ber 
bloßen Neigung eines gleichgiltigen Verſtandes, dem fein Gegen- 
ftand ohne diefe Bedingungen undenkbar würde, fondern wir 
folgen den Eingebungen einer werthempfindenden Vernunft, die 
auch das Denkbare abweift, fo Iange es nur denfbar ift und nicht 
durch die innere Würde feines Inhaltes zugleich die Anerlennung 
feiner Giltigfeit in der Welt erringt. Gar Bieled würde ber 
Berftand für fi allein möglih und den Gefeßen feines Ber- 
fahrens entiprechend finden, was die Vernunft dennoch um feiner 
inneren Unglaublichfeit willen verſchmähen wird; vieles Andere 
wird fie verlangen können, was dem Verſtande in feinen eignen 
Denkformen aufzufafien mißlingt. Blicken wir auf unfere Welt- 
auffaffung, wie fie fih um Laufe unferer wirflicden, nicht allein durch 
die Schlüffe der Wifjenichaft, ſondern aud durch die Erfahrung 
des Lebens zu Stande gelommenen Bildung entwidelt bat, fo 
werden wir fie veichlich eben jo ſehr von diefen oft nur verſtohlen 
mitwirfenden Forderungen unferer Bernunft, als von den völlig 
aufflärbaren Grundfägen unferes Verſtandes beitimmt finden. 
An den Räthfeln, welche uns die Beräuderung der ‘Dinge, bie 
Mannigfaltigkeit ihrer Eigenfchaften, die Lebendigfeit und Freiheit 
aller Entwidlung darbieten, an diefen Schwierigfeiten arbeitet bie 
wifjenfchaftliche Kraft des Verſtandes ſich müde, nicht fruchtlos 
zwar, aber außer Stande doch, die Begriffe der lebendigen Frei⸗ 
heit und Thätigkeit jo Mar zu rechtfertigen, wie die unverwüſt⸗ 
lihe Zuverfiht der Vernunft zu ibrer nothwendigen Giltigfeit 
verlangen würde. Dem menſchlichen Gemüthe ift jene glüdliche 
Inconſequenz gegeben, zwei Gebanfenrichtungen arglos zugleich zu 
folgen, ohne den Widerſpruch zu empfinden, in welchen fie zulegt, 
nicht immer freilich in größter Nähe, zufammenftoßen. So geben 
wir und im Laufe der gewöhnlichen Erfahrung ohne Bedenken 
den Derfahrungsmeifen des Berftandes hin, mit denen wir ficher 
find, immer Einzelnes mit Einzelnem gejegmäßig verbinden zu 
lönnen, und mit denen wir zugleich fiher fein fünnten, wenn wir 
e8 eben bemerften, niemals jenes Bild des Weltganzen zu er- 








275 


reihen, das während aller diefer Bemühungen unfere Vernunft 
gleichzeitig fefthält oder zu gewinnen fucht. 

Nicht immer allerdings laſſen uns die Ereigniffe des Lebens 
in diefer Bergeßlichkeit; in dem ‘Dafein der Einzelnen wie in bem 
ber Geſchlechter ſehen wir unvermeiblih an einzelnen Wende: 
punkten das Bewußtfein der großen Lücke auftauchen, die zwiſchen 
unferer wiflenihaftlihen Erfahrung im Gebiete des Endlichen 
und unjerem Glauben über den Inhalt und die Form des Ewigen 
ſich ausdehnt. Aber weder biefen Kampf in dem einzelnen Ge- 
müthe, noch die großartigeren Formen, die er in ber Gefchichte 
der Eultur und Speculation angenommen bat, mögen wir in 
dieſem vorläufigen Weberblid einer ſpäteren Schilberung bormeg- 
nehmen. Wie man auch immer geglaubt hat, ihn entſcheiden zu 
müfjen, dieſe verichiedenen Urtbeile haben im wirklichen Leben, 
in weldem die Evidenz unferer Gedanken noch eine andere und 
anders vertheilt ift, als innerhalb der Schranken der Wiffenfchaft, 
niemals die Zuverficht zu trüben vermodt, daß in jenem Gefühl 
für Die Wertbe der Dinge und ihrer Verhältniſſe unfere Vernunft 
eine ebenſo ernſt gemeinte Offenbarung befigt, wie fie in den 
Grundfägen der verftandesmäßigen Forfhung ein unentbehrliches 
Werkeug der Erfahrung hat. Aber zugleih würde uns eine 
Meberficht jener Urtbeile lehren, daß feine Quelle der Offenbarung 
trüber fließt, feine fo fehr einer feften Faſſung bedarf, als dieſe, 
welche ihre Behauptungen über Die nothwendige Form der Welt 
nur aus dem Gefühle des Werthes zu begründen vermag, ben 
fie in ihr zu entdeden, in anderen denkbaren zu vermiffen glaubt. 
Unzählige Umftände können uns bier täufchen; unzählige unver- 
merkt entftandene Gewohnheiten des Denkens und der Anſchauung, 
aus individueller Eigenthümlichkeit, aus dem Bildungsftande ber 
Zeit, aus der Beſchränktheit unferer Lebenserfahrung hervor- 
gegangen, Können ums verleiten, Das, was wir mit Recht in einer 
Allgemeinen Weife verlangen würden, eigenfinnig in einer einzelnen 
beſtimmten Form oder unrihtig und uns felbft mißverftehend in 
völlig falſchem Sinne zu fuhen Mögen daher dieſe höheren 

18* 





276 


Anfichten der Dinge, wie man fie zu nennen liebt, immerhin die 
belebende und erwärmende Macht in allen menfchlichen Bejtre- 
bungen fein, fo werben fie doch immer die Verwandtſchaft ber 
wertbbeftimmenden Bernunft mit der Fünftlerifhen Phantafie be- 
ftätigen; was fie hervorgebracht haben, darin tritt überall das 
Gefühl einer poetifhen Geredhtigfeit an die Stelle der Einſicht 
in Die Gründe der Gewißheit. Sie bilden einen großen, «aber 
fhwer zu gemeinfamer Berftändigung zu verwertbenden Schatz 
unferes Innern, und die Wiffenfchaft muß vielleicht zufrieden fein, 
wenn ihr der Nachweis gelingt, daß die Haren und unwiberleg- 
lihen Grundſätze des Verftandes eben nichts find, als felber die 
aufklärbaren und zum Gebrauch fertig ausgebildeten Theile jenes 
Schages, nicht ihm frembartig zugefellt, jondern aus ihm ſelbſt 
hervorgehend, als die einzigen Berfahrungsmeifen, Denen ed von 
unferem menſchlichen Standpunkte aus gelingen kann, den eignen 
Sinn und Zwed der Bernunft, die Verbindung der Wirklichkeit 
in die Einheit eines zufammengebörigen Ganzen, durchzuführen. 

Entipreden nun diefe Verſuche unſeres Geiftes, aus ber 
Welt der Werthe Die Welt der Formen zu deuten, der auffaſſenden 
Thätigleit der Phantafie, welche Das Wirkliche aus feiner eignen 
Schönheit, wie aus einer wirkenden Kraft, nachzuſchaffen jucht, 
fo fteht der Tünftlerifchen Erzeugung der Schönheit die handelnde 
Bernunft zur Seite. Verſchiedene Zeitalter haben verſchiedenen 
Idealen der Kunft nachgetrachtet; aber wie abenteuerlich auch Die 
Geftalt fein mochte, in welcher zuweilen ihre wenig feinfinnige 
Phantaſie ſchon den Ausdruck des Höchſten erreicht zu haben meinte: 
alle empfanden eben al8 Ideal, was fie verehrten. Kaum we- 
niger berjchieden find ın der Mannigfaltigfeit der Zeiten und 
der Eulturftufen die fittlichen Ideale der handelnden Bernunft ge- 
weien; aber mas auch ihr Inhalt fein mochte, man empfand es 
als Pflicht, ihn durch Thaten zu verwirkliden, und Die fittlichen 
Srundfäge jeder Zeit wurden ftet8 von dem Gemüthe in einer 
anderen Weife gebilligt, als die Wahrheiten der Erfenntniß; auch 
fie waren Ausiprühe eines wertheinpfindenden Gefühles. Kine 





277 


Bildung, die von den verfchiedenften Seiten ber Die mannigfad- 
ftien Aufflärungen über die Stellung des Menſchen in der Welt, 
über Maß und Bedingungen feiner Kräfte und über den Neich- 
thum des realifirbaren Guten empfangen bat, glaubt vielleicht 
über diefen Standpunft hinaus zu fein, der aud das Bewußtſein 
unferer moralifhen Verpflichtungen aus einem fittlichen Gefühle 
entfpringen ließ. Uns allerdings erjcheint der Inhalt der weſent⸗ 
lichften fittlihen Gebote fo Har, daß wir meinen, ihre innerliche 
Nothwendigkeit müſſe fih ebenfo unmittelbar aufdrängen, wie fich 
die einfachften Grundfäge der Erlenntniß wenigftens als unbewußte 
Uebung allen Bölfern aufgedrängt haben. Aber doch auch uns be- 
lehrt Die Erfahrung des Lebens wenn gleich in geringerem Mafftabe 
von ber Verſchiedenheit des Inhaltes, den einzelne Gemüther mit 
gleicher Weberzeugung und Religiofität als die verpflichtende Auf- 
gabe ihres Handelns fefthalten; eine ausgedehntere Weberficht aber 
würde bei der Bergleihung verjchiedener VBölfer und Gulturen 
faum etwas Anderes finden, als die Thatfache, daß überall auch 
Sefinnungen und Handlungen Gegenftände einer werthbeftimmen- 
den Bernunfs find, aber daß die Fähigkeit diefer Vernunft, den 
Werth ihres gefuchten Ideals in den beftimmten Yormen des 
Handelns wiederzuerlennen, ähnlichen Täuſchungen unterliegt, wie 
ihnen die Berfuche zu höherer Erkenntniß der Dinge ausgefett 
find. Auch die Welt der fittlichen Weberzeugungen ift ein Ergeb- 
niß der Bildung; daß fie nicht ohne die zahlreichen Einflüfie 
diefer entftehen konnte, davon haben wir in dem weiten Ge- 
mälde der Humanität, dem dieſe Betrachtungen zum Eingange die⸗ 
‚nen, die bezeichnenden Züge zufammenzuftellen, daß fle aber auch 
nicht durch die Bildung allein entjtand, fondern ihre Wurzeln in 
dem inneriten Wefen des Geiſtes hat, daran allein war bier zu 
erinnern Beranlaffung. Weit entfernt, als eine nebenherlaufende 
Zugabe nur aus der Mebung unferer vorftellenden Thätigfeit zu 
entftehen, beruht das Sittliche vielmehr auf Diefem Grunde des 
Gefühles, das weit eigenthümlicher als die Erkenntniß die wahre 
Natur des Geiftes bezeichnet und mit feinem Einfluß auf bie 


278 


offenbarfte Weife, wie wir gejehen haben, auch in die Bemühun⸗ 
gen unferes erfennenden Verſtandes hinübergreift. 


——————— — — 


Aber wir wollten die Wirkſamkeit des Gefühls nach drei 
Seiten hin beſtimmen, und die eben gemachte Aeußerung erinnert 
uns an die zweite dieſer inneren Erſcheinungen, die wir nicht 
ohne die Grundlage des Gefühls begreifen können, obwohl fie am 
häufigften als eine Thatſache des bloßen Erkenntnißlebens auf: 
gefaßt wird. Ich meine dad Selbftbemußtjein, in welchem 
wir uns als Ich von dem Nicht-Ich ber librigen Welt umter- 
fheiden und die Mannigfaltigleit der inneren Zuſtände auf dies 
Ih, als den zufammenbaltenden Mittelpunlt aus- und ein- 
gehender Wirfungen, beziehen. 

Früheren Anfichten hat es oft gefchienen, als bilde gerade 
das Selbftbewußtfein jenen wefentlihen und angeborenen Charak⸗ 
ter, ohne deſſen urſprüngliches Borhandenfein der Geift felbft un- 
denfbar fein wiirde, oder durch deſſen Beſitz er wgnigftend von 
der felbitlofen Seele des Thieres ſich unterſcheide. Man bat all- 
mählich diefe Annahme aufgegeben und ſich gewöhnt, das Selbft- 
bewußtſein al8 das Ergebniß eines nicht kurzen Bildungslaufes 
zu betrachten, fei es, daß man ein Streben zu feiner Entfaltung 
überhaupt als die treibende Kraft in aller geiftigen Entwidlung 
anfah, oder daß man als ein glüdliches Nebenerzeugniß aus dem 
Mechanismus des Borftellungsverlaufes unter anderen auch das 
Bewußtſein des eignen Ich hoffte hervorgehen zu ſehen. Zwiſchen 
diefen Auffafjungen hindurch fcheint do die Natur der Sache 
einen anderen mittleren Weg zu fordern. Gewiß kann Niemand 
ernftlih das Selbftbemußtfein fo für ein angebornes Beſitzthum 
des Geiftes Halten, daß wir das, was wir felbft find, in einer 
deutlichen BVorftellung abgebildet von Anfang an vor und fähen. 
Kommen wir doc, durch alle Bildung des Lebens und durch alle 
Aufmerkſamkeit abſichtlichen Nachſinnens unterftügt, nie zu dieſer 


279 


vollfommenen Erfenntniß, vor deren erfchöpfender Auskunft alle 
weiteren ragen nach der eigentlicheren Natur unſeres Weſens 
verftummten. Niemals zeigt unſer Bewußtfein und dies Bild als 
ein gefundenes; nur hingewiefen werden wir auf einen mehr ober 
minder dunklen Punkt, in dem das liege, was wir als unſer Ich 
ſuchen. Aber daß wir e8 eben fuchen können, daß mir dies fo 
unvolftändig Erkannte doch mit der entſchiedenſten Lebhaftigkeit 
immer von der Außenwelt trennen, dieſen Trieb können wir nicht 
verſtehen, ohne ihn als unabhängig von den Umſtänden zu den- 
fen, melde die fortichreitende Vervolllommnung unferes Wiſſens 
um ung felbft bedingen. Wie kommen wir alfo dazu, die Mannig- 
faltigfeit alle8 Vorftellbaren in dieſe zwei Theile zu ſcheiden, das 
eine Ich und ihm gegenüber bie unzählbare Fülle alles Uebrigen? 
Unterfcheiden wir uns von der Welt, fo ift e8 nicht ein Unter- 
ſcheiden, dem ähnlich, Durch welches wir zwei andere Gegenftände 
auseinander halten; dieſer Gegenfag vielmehr zwifchen uns und 
dem, was nicht wir find, erfcheint ung nad Sinn und Größe als 
ein unbedingter und unvergleihbar mit allen übrigen. 

Und dies aus fehr natürlichem Grunde, wird man fagen: 
enthält doch er den befondern und völlig einzigen Fall, in welchem 
dasjenige, welches dieſe entgegenfegende Beziehung denkt, felbft das 
eine Glied des Gegenfates bildet. Dies Zuſammenfallen des Den- 
fenden und des Gedachten, der mejentlihe Zug befien, mas wir 
das Ich nennen, vedhtfertige das befondere Gewicht, welches wir 
auf diefen Unterfchied legen. Aber genauer betrachtet erflärt dieſer 
Umftand fehr wenig das Räthſel des eigenthümlichen Intereſſes, 
das wir an diefem Unterfchiede nehmen, und das ſehr wenig mit 
der bloßen Theilnahme an der interefjanten Eigenthlimlichfeit eines 
befonderen Falles gemein hat. Nicht darin Tiegt die Bedeutung 
des Selbſtbewußtſeins, daß Denkendes und Gedachtes zufammen- 
fallen; denn diefer Zug bezeichnet nicht unfer Ich allein, fondern 
die allgemeine Natur jedes Ich, von der wir eben das unfere 
wodurd nun eigentlich unterfcheiven? Dadurch gewiß, daß es das 
Denkende unferer Gedanken ift. Aber mad meinen wir damit, 


280 


wenn wir irgend welche Gedanken als unfere bezeichnen? Darüber, 
was unfer ift, muß es offenbar eine unmittelbare Gewißheit geben, 
und fie fann uns nicht aus der allgemeinen Vorftellung von der 
Natur des Ich fliegen, von welcher unfern eignen Fall zu unter- 
fcheiden gerade die wefentliche Keiftung unferes Selbftbemußtfeins 
if. Und num wird man leicht verftehen, wie wenig eine immer 
vollfommenere Ausbildung unferer Einfiht in das Wefen unferer 
Seele die Tüde ausfüllen würde, die wir hier vorfinden. Denn 
felhft wenn wir genau und zutreffend alle die eigenthümlichen 
Merkmale verzeichnen Lönnten, durch die in der That unjere Seele 
fih von allem Anderen unterjcheibet, fo wiirde doch noch immer 
und jeder Beweggrund fehlen, die fo gewonnene Vorſtellung für 
mehr, als für das gleichgiltige Gemälde eines Weſens zu nehmen, 
das irgendivo vorhanden wäre und von einem zweiten ſich ebenfo 
vollftändig unterichiede, wie ein drittes von einem vierten. Und 
wenn nım ferner auch dies felbft unferer Wahrnehmung nicht ent- 
ginge, daß dies in fo vollftändiger Erkenntniß durchſchaute Wefen 
zugleich eben bafjelbe ift, welches in diefem Augenblide diefe An- 
ſchauung feiner felbft vollzieht, fo würden wir mit diefer that- 
ſächlich vollendeten Selbftbefpiegelung zwar Das Bild jenes Weſens 
durch den letzten ihm eigenthümlichen merkwürdigen Zug ergänzt 
haben, aber noch immer würden wir gleich weit entfernt fein von Der 
Bedeutung deſſen, was wir in unferem wirklichen Leben als Selbft- 
bemußtfein fennen und genießen. Wohl wäre für dieſe vollkom⸗ 
mene Erkenntniß ihr eigned Weſen in ‚völliger Klarheit gegen- 
ſtändlich geworden, aber auch fo gegenftändlih, daß ihr eignes 
Selbft ihr nur als ein Gegenftand unter anderen erſchiene; un= 
befannt und unverſtändlich würde ihr die Innigfeit bleiben, mit 
der wir in unferem wirklichen Selbitbewußtfein den unendlichen 
Werth diefer Zurückbeziehung auf uns felbft empfinden. Wie alle 
Merthe des Vorgeftellten, jo wird auch biefer nur durch Gefühle 
der Luft und Unluft von uns ergriffen. Nicht indem jenes Zu- 
fammenfallen des Denkenden mit dem Gedachten von und gedacht, 
fondern indem es in dem unmittelbaren Wertbe, den es für uns 


281 


bat, gefühlt wird, begründet es unfer Selbftbemußtfein und hebt 
unmiderrufli den Unterſchied zwifchen uns und der Welt über 
ale Bergleihung mit den Gegenfäten hinaus, durch Die ein 
Gegenftand fi vom andern fondert. 

Und hierzu reichen einfache finnliche Gefühle ebenſowohl aus 
als jene feiner gegliederten intellectuellen, durch welche entwideltere 
Geifter zugleich den Werth und das eigenthümliche Verdienſt ihrer 
Perfönlichkeit fih zur Anfchauung bringen. Wie reich oder wie 
armlich die Vorſtellung der Seele von ſich felbft ift, wie treffend 
fie ihr Bild entwirft oder es ganz verfehlen mag: völlig unab- 
hängig davon ift die Lebhaftigkeit und Innigkeit, mit welder der 
Inhalt diefes Bildes von allem Andern unvergleichbar verſchieden 
gefühlt wird. Der getretene Wurm, der fi im Schmerze krümmt, 
unterfcheidet fein eignes Leiden gewiß von ber übrigen Welt, ob- 
gleich er weder fein Ich noch die Natur der Außenwelt begreifen 
mag. Aber die vollendete Intelligenz eines Engels, fehlt ihr 
jenes Gefühl, würde wohl fcharfe Anfchauungen des verborgenften 
Weſens der Seele und der Dinge entwideln und in Lichter Klar⸗ 
beit die Erſcheinung ihrer eignen inneren Selbftipiegelung beob- 
achten, aber fie würde nie erfahren, warum fie auf ihren Unter: 
ſchied von der übrigen Welt jemals einen größeren Werth Iegen 
ſollte, als auf die zahlreichen Verſchiedenheiten der Dinge über: 
haupt, die fi ihrer Erfenntniß ebenfo darbieten. So gilt uns 
das Selbftbewußtfein nur für die Ausdeutung eines Selbftge- 
fühl s, deſſen vorangehende und urfprüngliche Lebendigkeit Durch 
die Ausbildung unſerer Erkenntniß nicht unmittelbar geſteigert wird; 
nur der Reichthum und die Klarheit des Bildes, das wir von 
unſerem Weſen uns erfennend entwerfen, erhöht ſich im Fortſchritt 
unſerer Bildung. Und ebenſo allerdings wächſt mit ihm die Summe 
dev Gedanken, die den äußeren Gegenſtänden eine Beziehung zu 
unferem Streben und Wollen geben; nicht nur klarer wird ber 
Inhalt unjeres Ich, fondern er dehnt ſich aus über einen zunehmen 
den Umfang; fo wächſt mittelbar auch die Lebhaftigkeit des Selbft- 
gefühles, indem bie gebildete Eeele veizbar wird für unzählige Ber- 


282 


hältniffe, die ihr al8 Störungen oder Förderungen ihres eignen 
Weſens gelten, während fie dem unentwidelten Gemüthe nur 
gleichgiltige Beziehungen zwifchen dem Yeußeren feinen. 


Auch diefen Bildungslauf zu fhildern, müfjen wir der ‘Dar- 
ftellung der menfchlichen Lebensverhältniffe, durch bie er bedingt 
wird, zurücklaſſen, und nur mit wenigen Worten gedenfen wir 
einiger Punkte defjelben, durch welche hindurch wir ung dem legten 
Gegenftande diefer Weberficht nähern. Es iſt leicht begreiflic, 
wie im Anfang das Bild des eignen lebendigen Körpers eine 
bevorzugte Stelle in unferm Gedantenlaufe einnehmen muß. 
Werkzeug aller Wahrnehmungen und aller Bewegungen, ift er in 
jede Aeußerung unfere® Lebens verflodhten, und jede Erinnerung 
eined Eindrudes, einer Handlung, eine8 Leidens oder Gennſſes 
führt mit fi) auch fein Bild zurüd und gewöhnt und daran, Die 
Regſamkeit unferes Weſens unmittelbar in der bewegten und 
beweglichen Geftalt des Leibes zu ſehen. Aber eben fo einfad 
find doch die Erfahrungen, die uns bald davon überzengen, daß 
das Lebendige in ihm nicht er felbft ift, daß wir wohl in ihm, 
aber nicht aufgehend in feine fihtbare Form, eine bewegende 
Kraft ſuchen müffen, die gleichzeitige Urfache feiner eignen Ber- 
änderlichkeit und der Iebenbigen Ummwandlungen der inneren Welt, 
in der unfere Borftellungen, Gefühle und Strebungen einander 
drängen. Mit diefer unvollkommenen Auffaffung begnügt fi 
ohne Zweifel die größte Anzahl der Menſchen, mehr hinausgewie⸗ 
fen über die Borftellung des Körpers, ald hingewiefen auf irgend 
einen andern beftimmten Punkt. Wohl verjucht die Wiffenfchaft 
diefe Lücke zu füllen, indem fie die dunkle gefuchte Weſen in der 
Form eines Dinges, einer überfinnlichen Kraft, einer immateriellen 
Subitanz zu faffen ftrebt; «aber dieſe Verfuche Tiegen liber den 
Umfang des natürlichen und unbefangenen Gedanfenganges bin- 
aus, und indem fie die allgemeine Natur der Seele feitzuftellen 





283 


fuchen, führen fie ohnehin nicht dazu, jedem Einzelnen die unter: 
ſcheidende Natur feines eignen Ich aufzubellen. Deshalb ift das 
natürliche Bewußtfein wenig geneigt, dieſem grübelnden Nadh- 
denken nachzuhängen; es freut ſich feiner Individualität vielmehr, 
indem ed durch die Erinnerung an feine körperliche Ericheinung, 
an die Gedichte feines Lebens, an feine Leiden ımb Freuden, 
feine Leiftungen und Hoffnungen, an feine ganze eigenthümliche 
Stellung in der Welt ſich als dieſes einzelne Ich von jedem 
andern unterſchieden weiß. 

Aber es erfährt auch, wie die Welt ihm Widerftand Leiftet, 
wie wenig es im nächſten Augenblid das werden fann, was es 
im vorigen werden wollte; fein Wiffen und Können findet es ab- 
hängig von den Zufällen feines Bildungsganges, feine ganze ihm 
ſelbſt beobachtbare Individualität ericheint ihm als angethan durch 
Umſtände, die nicht es ſelbſt ſind. So kommen wir dazu, dieſem 
ſcharfgezeichneten Bilde des empiriſchen Ich ein anderes gegenüber— 
zuftellen, in welchem wir jene beftändigen Züge zu fammeln glau- 
ben, die den wahren Gehalt unjeres Wefens bilden und unab- 
hängig von der beftimmten Form find, in melde die äußeren An- 
vegungen uns weiter ausgeprägt haben. So wie wir in der 
Betrachtung aller Dinge die zufällige Geftalt, die ihnen eine fremde 
Einwirkung gegeben bat, von den unveränberliden Eigenfchaften 
ſcheiden, durch melde fie jet eben zu diefer und unter anderen 
Umftänden zu ganz anderen Formen der Erſcheinung befähigt 
werden, jo ſuchen wir jeßt unfer wahres Ich in den dauernden 
Gewohnheiten und Eigenthümlichleiten unſeres geiftigen Wirkens, 
die immer fich würden gleich geblieben fein, auch wenn die äufe- 
ren Bedingungen ihrer Ausbildung völlig andere gemwejen wären. 
Nicht Durch das mithin, was wir wiflen, was wir gethan und er⸗ 
lebt haben, glauben wir jet unſer Ich zu erichöpfen, ſondern in- 
dem wir ausdrücklich die ganze Mannigfaltigfeit dieſer Entwid- 
lung nur für eine der vielen möglich geweſenen Ausbildungen 
unſeres Weſens halten, finden wir uns felbft vielmehr in ber all- 
gemeinen Stimmung unferer Gefühle, in dem Temperament, das 


284 


wir mit Niemand vollkommen ähnlich theilen, in der ganzen Ma— 
nier und Gewohnheit, der Gemanbtheit oder Schwerfälligfeit unfe- 
res Verhaltens, in der eigenthiimlichen Weife, in der wir mit 
dem Inhalte unferes Erkennens ſchalten und walten. Died Alles, 
meinen wir, würde völlig fich felbft gleich geblieben fein, welden 
Entwillungsgang and die Schickſale des Lebens uns vorgezeichnet 
hätten, und wenn wir gern jede ſchöne und vorzügliche Ausbildung, 
die unfere wirfliche Lage ung möglich gemacht bat, zu dem eignen 
Berdienfte unferer Natur zählen, fo zweifeln wir doch nicht, daß 
alles Berfehlte und Ungerathene den hemmenden Umftänden allein 
zuzurechnen fei. Das empiriiche Ich erfcheint und wie die Belau- 
bung eines Baumes, deren Fülle und Schönheit von der Gunft 
und Ungunft des Jahres abhängt; ftreifen wir fie ab, fo bleibt 
in dem Stamme bie treibende Kraft, immer fich felbit gleich und 
unter glüdlicheren Bebingungen zu der Hoffnung befferer Ent- 
widlung berechtigt. Im dieſer Weife, durch dieſes äfthetifche Bild 
unferes beftändigen Naturells, pflegen wir am meiften unjere Per: 
fönlichfeit uns jelbft anfhaulid zu machen, und gewiß erreichen 
wir dadurch ein treuereö und fprechenveres Gemälde unferes We- 
ſens, als durch die zeritrente Mannigfaltigfeit unferer empirifchen 
Erinnerungen, welde des Vergangenen und Zufälligen zu viel, 
und von dem Zukünftigen zu wenig einfchließt. Aber wir finden 
body bald, daß auch dieſe Borftellung uns das noch nicht gewährt, 
was wir in gefteigerter Bedeutung des Wortes als unfer wahres 
Ih ſuchen. 

Denn nur in zu großer Ausdehnung finden wir unfer Tem: 
perament, Die beftändige Stimmung unſeres Gemüthes, die eigen- 
thümliche Richtung und die Lebhaftigkeit der Phantafie, endlich 
die hervorragenden Talente, welche zunächſt den Beftand unferer 
individuellſten Perſonlichkeit auszumachen ſchienen, abhängig von 
ber körperlichen Conſtitution und ihren Veränderungen; ſelbſt als 
ererbte Anlage iſt Vieles davon nur das Ergebniß eines Natur⸗ 
laufe, der lange vor unſerem eignen Daſein ſchon einzelne Zuge 
unſeres ſpäteren Lebens unwiderruflich beſtimmte. Und ſelbſt wenn 


285 


ed nun nicht der Zufammenhang phyſiſcher Wirkungen wäre, dem 
wir auf dieſe Weife verjchuldet find, wenn vielmehr unabhängig - 
von ihm ſich die weientliche Natur unferer Seele gebildet hätte: 
immer würde jelbft dann ihre urfprüngliche Anlage und als ein 
Gegebenes, als eine Mitgift der ſchaffenden Kraft ericheinen, aus 
welcher unjer Dafein floß, und wo wir irgend unfer eignes Selbit 
zu erfaffen meinten, würden wir e8 doch nur finden als ein durch 
eine fremde Macht feftgeftelltes, nicht jo al8 unſer Eigenthum, 
wie wir das befigen, was aüs unferer eignen Anftrengung und 
freien Thätigkeit entftanden if. So bildet fi jene Sehnſucht 
aus, über allen Inhalt unferes Ich hinauszugehen und in einem 
reinen noch beſtimmungsloſen und fich felbft geftaltenden Triebe 
da8 wahre und tieffte Wefen unferer Perfönlichkeit zu fuchen; 
nur das glauben wir jegt wahrbaft zu fein, wozu wir uns ſelbſt 
gemacht haben. Wir wollen nit den ſeltſamen Widerſprüchen 
folgen, zu welcden in der wiſſenſchaftlichen Forſchung dieſe Rich- 
tung der Gedanken nothwenbig führen mußte; die natürlicere 
Meinung des unbefangenen Gemüthes befcheidet fih hier und 
verlangt nicht, daß aus unferem Weſen Alles entfernt werde, was 
nicht unfere eigne That fei. Indem fte zugefteht, mas fie nicht 
leugnen Tann, daß ohne unfere Wahl der Umkreis aller unferer 
möglichen Entwidlung durch äußere Umſtände, durch die Eigen: 
thümlichkeit des Gefchlechtes, dem wir angehören, der leiblichen 
Conftitution, die uns mitgegeben ift, des Zeitalterd, in dem wir - 
geboren werden, endlich durch Die allgemeinen Geſetze des geiftigen 
Lebens, welche für Alle gleich gelten, unverſchiebbar beſtimmt ift, 
verlangt fie nur no, daß in der Mitte aller diefer gefeglichen 
Nothwendigkeit ein Punkt der Freiheit wenigftend vorhanden ei, 
bon dem aus unfere Thätigleit dieſen uns dargebotenen Stoff des 
Dafeind zu einem uns allem angehörigen Beſitzthum geftalten 
inne. Bedingt in allem Uebrigen, in den Formen der Erkennt⸗ 
niß, dem Laufe der Vorſtellungen und Gefühle, wollen wir frei 
wenigftens im Wollen und im Handeln fein. 


286 


Wir haben früher Die Meberzeugung ausgeſprochen, daß neben 
dem Borftellen und dem Gefühl das Wollen ein eigenthümliches 
Element geiftiger Regſamkeit enthalte, nicht ableitbar aus jenen 
beiden, obwohl von ihnen als Beranlafjungen ‚feines Hervortre- 
tens abhängig. Indem wir jedoch jegt zu einer genaueren Be- 
trachtung dieſer neuen ThätigfeitSweife der Seele geführt werben, 
müflen wir das Zugeftändniß vorausichiden, daß unter den man- 
nigfaltigen Erſcheinungen, Die man unter verſchiedenen Namen ihr 
entweder unmittelbar zuordnet oder Doch als verwandt an fie an- 
fnüpft, viele fi) befinden, in denen wir nur befondere Formen 
des Borftellend und des Gefühle zu erkennen vermögen. Mit 
dem Namen des Wollend und Strebens find wir unleugbar zur frei= 
gebig und bezeichnen mit ihm manches Ereigniß, zu welchem bie 
Seele fi) nur als beobachtendes Bewußtſein, nicht als handeln- 
des Wefen verhält; Bewegungen der Borftellungen und Gefühle, 
die in und auf manderlei Veranlaſſungen des allgemeinen pfychi⸗ 
ſchen Mechanismus nur gefhehen und al8 geichehende von uns 
bemerkt werben, faffen wir irrig als Thätigkeiten, die unfer ent- 
ſchiedener Wille oder doc ein weniger ausdrückliches Streben un- 
feres Ich ind Werk gefett habe. 

Prüfen wir die Mannigfaltigfeit der finnlihen Triebe, fo 
werben wir al8 ihren eigenthümlichen Kern immer nur ein Ge- 
fühl antreffen, das in Luft oder Unluft und den Werth eines 
vielleicht nicht zu bewußter Einficht kommenden körperlichen Yu- 
ſtandes verräth. Nur weil wir Erfahrungen gemacht haben, die 
nun der Mechanismus der Erinnerung und wieder vorführt, fo 
daß die Borftellungen der Bewegungen oder der Gegenftände, die 
früher die Luft verlängerten oder die Unluft verkürzten, jet dem 
Bewußtſein wiederlehren, nur dadurch geht das Gefühl in eine 
Bewegung über, auf die Wiebererlangung diefer günftigen Um— 
ftände gerichtet. Aber was hier zunächſt entfteht, Das ift nicht 
eine Aeußerung unferes Willens, jondern völlig willenlos und mit 
mechanischer Abfolge vegt das Gefühl felbft und die mit ihm 
verbundenen Borftellungen ſogleich die Anfänge der leiblichen Be- 


287 


wegungen an, die jenem Zwecke dienen, und was wir nım Trieb 
nennen, ift nicht ein Wollen, durch welches wir den Körper Ien- 
fen, ſondern eine Wahrnehmung feines Leidens und der unmwill- 
fürlih in ihm entftehenden Bewegungen, durch melche nun auch 
die übrigen Thätigfeiten unfere8 Bewußtſeins zu entfprechender 
Wirkſamkeit veranlagt werben. So ift mithin der Trieb nur das 
Innewerden eines Getriebenwerdend; und wenn irgend ein Wille 
in ibm vorkommt, fo ift e8 einfach dieſer, dem natürlichen Ab⸗ 
lauf Diefer inneren Veränderungen nicht zu widerftehen, fondern 
fi ihnen ‚hinzugeben. 

Aber wir können diefe Betrachtung nicht auf finnliche Triebe 
beichränfen; der größte Theil deffen, was wir im täglichen Leben 
unfere Handlungen nennen, geſchieht völlig in derſelben Weiſe. 
Borftellungen tauchen in und nad allgemeinen Gefegen auf und 
an fie nüpfen ſich theild unmittelbar, theil® durch das Mittel- 
glied verichievenartiger Gefühle allerlei Bilder Körperlicher Be: 
wegungen, die bald als Mittel zur Erreihung eines äußeren 
Gegenftandes, bald als Linderungen eines vorhandenen Wehes 
unjerem Bewußtfein vorſchweben. Im den feltenften Fällen wird 
dur dieſen Andrang innerer Reize ein wirkliches Wollen aufge- 
regt; von felbft geht meiftens die Vorftellungsreihe in äußere 
Bewegung über, und eine große Anzahl felbft zufammengefegter 
Handlungen Täuft in diefer unwillkürlichen Weife ab, ohne daß 
auch nur die Reihe der Vermittlungsglieder, durch welche fie von 
dem urfprünglichen Anlaß abbingen, vollftändig fich vor dem Be- 
wußtſein entfaltet hätte. Kein Grund ift vorhanden, diefe Er- 
eignifje durch einen befonderen Namen von jenen Wirkungen ab- 
zutrennen, die wir in jedem zufammengejegten Organismus in 
gleicher Bormenmannigfaltigfeit und mit gleicher mechaniſcher 
Nothwendigkeit der Abfolge zu Stande fommen ſehen; und in ber 
That pflegen wir geneigt zu fein, den Thieren, deren Yeußerim- 
gen wir und ausſchließlich auf dieſe Weiſe begründet denken, jeden 
eigentlichen Willen abzufpregen. Nur da find wir überzeugt, es 
mit einer That des Willens zu thun haben, wo in beutlichem 


288 


Bewußtfein jene Triebe, die zu einer Handlung drängen, wahr- 
genommen werden, die Enticheidung darüber jedoch, ob ihnen ge= 
folgt werben foll oder nicht, erſt geſucht und nicht der eignen Ge— 
walt biefer Drängenden Motive, fondern der beftinnmenden freien 
Wahl des von ihnen nicht abhängigen Geiftes überlaffen wird. 
So nahe zeigt ſich der Begriff der Freiheit mit dem des Willens 
verfnüpft; denn in diefer Entſcheidung über einen gegebenen That- 
beftand beſteht allein die wahre Wirkjamfeit des Willens. Aller 
mögliche Inhalt des Wollend Dagegen wird überall durch den un- 
willkürlichen Verlauf der VBorftellungen und Gefühle herbeigeführt, 
und ohne an fich ſelbſt ein nach außen gerichtete, geftaltendes 
und fchaffendes Streben zu fein, muß der Wille fi mit der Yrei= 
heit unbefchränfter Wahl zwiichen dem begnügen, was ihm bon 
dorther dargeboten wird. 

Wäre e8 num unmöglich, dieſe Freiheit zu denken oder ihre 
Annahme zu rechtfertigen, würden wir dann noch Beranlaffung 
haben, überhaupt den Namen des Willend beizubehalten? Wie 
fehr auch Die eigenthümliche Berwidlung der Ereigniſſe im 
geiftigen Leben die des Naturlaufes noch übertreffen mag, ihr 
Zufammenhang fhiene dann Doch dem Wefen nad) in Nichts mehr 
von ber vollkommenen und blinden Nothmwendigleit eine8 ununter- 
brochenen Mechanismus abzuweichen. Dennoch glauben wir, daß 
ſelbſt unter diefer Vorausfegung das Wollen als eigenthihmliches 
Element fi) aus der Reihe der übrigen Aeußerungen. geiftiger 
Thätigleit nicht wlrbe hinmwegbeuten laſſen, obmohl feine Stellung 
eine ſehr befrembliche fein würde. Wenn Die Sprache der Men- 
hen für einfache, nicht aus einer Vielheit von Vorftellungen 
zufammengefegte, ſondern mande Bielbeit vielmehr zu einem 
Ganzen erft verbindende Vorgänge einen eigenthiimlichen Namen 
ausprägt, fo mag fie häufig in feiner Anwendung irren und febl- 
greifen in der Begrenzung der Erfcheinungen, in denen fie Dies 
Bezeichnete wieder zu finden glaubt; aber das, was fie meinte, 
wird fie ſchwerlich aus der Luft greifen, ohne daß es etwo im Der 
Welt wirflides Daſein hätte. Denn zulett kann fi) Doch alles 


289 


unſer Vorſtellen nur des Inhaltes bemäcdhtigen, den wir irgend- 
wie erleben, und wie wir nichts völlig Neues erfinnen, jo können 
wir uns auch kaum anders irren, als in der Verbindung und 
Benugung der einfachen Elemente, welche dieſe innere Erfahrung 
ung dargeboten hat. Nur ein Borurtheil der Schule Tann des⸗ 
halb, wie es fcheint, den Verſuch machen, die Natur des Wollens 
auf ein bloßes Wiſſen zurüdzuführen und die Behauptung zu 
vertheibigen, der Sat: ich will, fei gleichbedeutend mit dem Maren 
und zuverſichtlichen Bewußtſein des andern: ich werde. Nur die 
Gewißheit vielleicht, daß ich handeln werde, mag gleichgeltend 
fein mit dem Wiffen meines Wollend, aber dann wird in dem 
Begriffe des Handelns jenes eigenthümliche Element der Billigung, 
der Zulaffung oder Abficht eingefchloffen fein, welches den Willen 
zum Willen macht, und welches wir in der bloßen Vorausficht 
des zufünftigen Eintretens einer von uns ausgehenden Wirfung 
vermiffen. Vergeblich fucht man deshalb das Vorhandenfein des 
Wollens zu leugnen, ebenfo vergeblih, als wir uns bemühen 
wirden, feine einfache Natur, die nur unmittelbar ſich erleben 
läßt‘, durch umſchreibende Erflärungen zu verdeutlichen. Dieſe 
Biligung nun, duch welche unfer Wille den Entſchluß, welchen 
die drängenden Beweggründe des Borftellungslaufes ihm darbieten, 
al8 den jeinigen adoptirt, oder die Mißbilligung, mit welcher er 
ihn von fich zurückweiſt, beide würden denkbar fein, auch wenn 
feine von beiden die geringfte Macht beſäße, beftimmend und 
verändernd in den Ablauf der inneren Ereigniffe einzugreifen. 
Ebenſo wie der Menſch durch äußere Verhältniffe zu einer Weife 
des Verhaltens gedrängt wird, der jede Theilnahme, jede Zu- 
ſtimmung ſeines Innern fehlt, jo könnten auch in feinem Innern 
jelbft mit ununterbrochener Nothwendigkeit die einzelnen Ereig- 
nifje ſich verketten und wunaufbaltfam Handlungen erzwingen, 
welche das Gewifjen mit macdhtlofer Reue ſchon im Augenblide 
ihres Geſchehens begleitete. 

Dieſe Vorſtellung, ſo befremdlich ſie im erſten Augenblicke 


erſcheinen mag, liegt doch nicht ſo weit von = a ab, 
Zope I. 4. Aufl. 


290 


die wir im Leben zu hegen gewohnt find. Faſt nur bie wiffen- 
ſchaftliche Unterſuchung pflegt Die unbeſchränkte Freiheit des Wol- 
lens mit der grenzenlojfen Fähigfeit des Vollbringens zu verwed- 
feln; unfere lebendige Erfahrung dagegen mahnt uns an unfere 
Schwäche im Streit mit der drängenden Gewalt unwillfürlicher 
Strebungen, und wir glauben eines höheren Beiftandes bebürftig 
zu fein, um über fie zu fiegen. Im der That ift e8 ein Irr— 
thum, von dem Willen mehr zu verlangen, als daß er wolle, und 
die Schwierigfeiten, die man der Ueberzeugung von feiner Frei⸗ 
beit entgegenftellt, gehen am meiften, obwohl aud fo nit un⸗ 
überwindlich, aus dieſem Vorurtheile hervor. Wie oft hat man 
nit von dem freien Entichluffe eines befeelten Weſens, wenn es 
nicht gelänge, auch ihn wieder als eine nothwendig bedingte Folge 
in den übrigen Zufammenbang des Weltlaufes einzufchalten, eine 
Zerſtörung aller Ordnung der Wirklichkeit beforgt! Man vergaß, 
wie eng die Grenzen der Macht auch dann noch dem endlichen 
Geſchöpfe gezogen ſein würden, wenn fein Wille nicht nur frei 
im Wollen, fondern auch die Mittel der Törperlichen Organifation 
feinen Entſchlüſſen unbedingt dienftbar wären. Man vergaß, 
daß jede Wirkung, wie unberechenbar frei auch ihr Beweggrund 
gewefen wäre, doch, ſobald fie als Wirkung berbortritt, wieder in 
ben Kreis der berechenbaren den allgemeinen Naturgefegen unter- 
worfenen Ereigniffe eintritt, und daß Feiner Freiheit mehr Spiel- 
raum des Erfolges gegeben tft, als die unverrüdte Orbnung der 
Dinge nach ihrem eignen Rechte ihr zugefteht. Und wenn man 
endlich beforgte, Daß dennoch die Vorgänge, welche der befeelte 
Wille nach feiner Wahl in den Ablauf der Wirflichfeit einführt, 
allmählich fih jummirend, dem Plane der Natur zumider fich 
ausbreiten Könnten, fo überſah man doch, daß felbft der ununter- 
brochene freibeitlofe Zuſammenhang aller Zuftände im Seelen- 
Yeben diefe Gefahr nicht mindern wiirde. ‘Denn wo Täge bie 
Bürgſchaft dafür, daß in jedem einzelnen Gemüthe die Borftel- 
lungen die Gefühle die Strebungen fich jederzeit in jo glücklicher 
Form und Miſchung zufammenfänden und aufeinander wirkten, 


291 


um zulegt immer einen Ausſchlag zum Handeln zu geben, welcher 
mit dem eignen Sinne des Naturlaufes übereinftimmte? Greifen 
wir nicht fo wie wir wirklich find, frei oder unfrei, in der That 
flörend ober verwüftend in den Beftand der Natur ein, mannig- 
fache Spuren unferer eigenwilligen Thätigkeit deutlich zurücklaſſend, 
ohne freilich im Großen die Ordnung der Dinge erjhüttern zu 
Ennen? Und wenn wir nun annehmen, daß ein völlig unbe- 
vechenbarer und freier Wille unfere Handlungen lenkte, würden 
wir dann, jobald wir Rüdfiht auf die Grenzen unferer Macht 
nehmen, eine viel beträchtlichere Störung in der Orbnung der 
äußeren Welt befürchten müffen? Und eben fo wenig, wie die 
Ratur um uns, würde durch eine unbebingte Freiheit unferer 
Entſchlüſſe unfer eignes Weſen, wie man fo oft meint, jeden in- 
neren Zuſammenhang verlieren. ‘Denn immer wilden es nur 
die Entſchlüſſe fein, Die wir jener Freiheit überlaffen hätten; auf 
dem angebornen Gemeingefühl unferer Eriftenz, auf der Eigen- 
thümlichkeit unferer Talente, der Summe der empfangenen Ein: 
dDrüde, auf dev Erinnerung des Erlebten, auf der fortdauernden 
Stimmung, auf den immer wieder wirffamen allgemeinen Ge— 
fegen unſeres Vorſtellungslaufes würde die Einheit und Stetigkeit 
unſeres perjönlihen Bewußtſeins breit und ficher beruhen, denn 
über alle diefe Elemente unſeres geiftigen Lebens würde jene 
Freiheit feine Macht befigen. Jene Größe der Veränderlichkeit 
Dagegen, die in der That durch die Unberechenbarkeit der Entfchlüffe 
uns nod übrig bliebe, dürfte Leichter zu der Entwidlungsfähig- 
feit gehören, die wir wünſchen müſſen, als zu dem Wechſel, den 
wir zu fliehen haben. 

Aber das allgemeine Geje der Kaufalität, welches zu jeder 
Wirkung die genügende Urſache binzuzufuchen befiehlt, wird es 
nicht zulegt jeder Annahme einer Freiheit entgegenftehen und 
unerbittlih den Zuſammenhang des ganzen Weltall in eine 
unendliche Kette blinder Wirkungen verwandeln? Wir möchten 
meinen, je deutlicher fich diefe Verwandlung als die nothmwendige 
Bolgerichtigkeit jener Auffaffung des urfächlichen Zufammenhanges 

19* 


. 292 


zeigt, um fo deutlicher fer auch die Unrichtigfeit der Auffaffung 
ſelbſt. Daß die Geſammtheit aller MWirklichleit nicht die Unge- 
veimtbeit eines überall blinden und nothwendigen Wirbels von 
Ereigniſſen darftellen könne, in welden für Freiheit nirgends 
Platz ſei: dieſe Heberzeugung unferer Vernunft fteht uns fo un⸗ 
erfchütterlich feft, daß aller übrigen Erkenntniß nur die Aufgabe 
Zufallen kann, mit ihr als dem zuerjt gewifjen Punkte den wider- 
ſprechenden Anſchein unferer Erfahrung in Einklang zu bringen, 
Wir leugnen nicht, daß dieſe Aufgabe der Wiffenfhaft noch weit 
von der Haren fung entfernt ift, die wir für fie wünſchen, und 
ohne hier in Unterfuchungen einzugehen, deren Yührung ſchwer 
und deren Ergebniß zweifelhaft fein wiirde, mögen wir der ge= 
wöhnlichen Ueberzeugung nur einzelne Punkte zu wiederholter 
Ueberlegung einwerfen. 

Wenn das Eaufalgefeg mit Recht zu jeder Wirkung eine 
Urſache verlangt, jo ift e8 Dagegen unfere Schuld, wenn wir in 
jedem Ereigniß eine Wirkung fehen, oder wenn wir Die gefundene 
Urſache überall jelbit wieder als Wirkung einer anderen betrad- 
ten. Die unvollendbare Reihe, in welche wir uns hierdurch ver⸗ 
wickeln, muß uns darauf aufinerkſam machen, daß jener Satz im 
Grunde weniger ausſagt, als er ſcheint. Wenn wir behaupten, 
daß jede Subſtanz unzerſtörbar ſei, ſo ſagen wir etwas Richtiges, 
ſobald wir in dem Begriffe der Subſtanz eben das Merkmal der 
Unzerſtörbarkeit eingeſchloſſen haben; aber wir drücken damit nichts 
aus, was eine unmittelbare Geltung hätte; denn es wird ſich 
dann eben fragen, ob es Subſtanzen in dieſem Sinne gibt, und 
ob die Erfahrung, die uns allerdings nöthigt, zu jedem Kreiſe 
von Eigenſchaften und Entwicklungen ein Subject als Träger der⸗ 
ſelben hinzuzudenken, uns auch überall dazu nöthige, dies Sub- 
ject ſelbſt in Geſtalt einer ſo gearteten Subſtanz aufzufaſſen. 
Eben ſo verlangt ohne Zweifel Alles, was wir einmal als Wir⸗ 
kung denken und bezeichnen, ſeine Urſache, aber es iſt fraglich, ob 
wir ein Recht haben, jedes vorkommende Ereigniß als Wirkung 
in dieſem Sinne zu betrachten. Eben jene Unvollendbarkeit der 





293 


Saufalveihe überzeugt und von dem Nichtvorhandenſein dieſes 
Rechtes, denn fie führt nothwendig auf die Anerkennung eines 
urfprünglicden Seins und einer urſprünglichen Bewegung zurüd. 
Nicht darin befteht die unbedingte Giltigkeit des Caufalgefetes, 
daß jeder Theil der endlichen Wirklichleit immer nur im Gebiete 
biefer Endlichfeit ſelbſt durch beftimmte Urſachen nach allgemeinen 
Geſetzen erzeugt werden müßte, fondern darin, Daß jeder in dieſe 
Wirklichkeit einmal eingeführte Beftandtheil nad) dieſen Geſetzen 
weiter wirkt. Sprechen wir gewöhnlich nur davon, daß jede 
Wirkung ihre Urſache babe, fo follten wir im Gegentheil das 
größere Gewicht -auf den andern Ausdrud des Satzes legen, 
darauf, daß jede Urfadhe unfehlbar ihre Wirkung hat. Darin 
befteht, nicht allein zwar, aber wie mir fcheint zum mejentlicheren 
Theile der Sinn der Sanfalität, daß fie jedem aus irgend welcher 
Duelle einmal entjtandenen Elemente der Wirklichkeit fein thäti- 
ges Eingreifen in den übrigen Beſtand der Welt, zu welcher es 
nun gehört, fihert, und zugleich ihm verwehrt, innerhalb der⸗ 
jelben anders thätig zu fein, als in Mebereinftimmung mit jenen 
allgemeinen Gefegen, die in ihr alles Geſchehen beherrſchen. So 
gliche die Welt einem Wirbel, zu dem von allen Seiten ber, 
nit von ihm felbft angezogen, nicht von ihm erzeugt, neue 
Fluten fih einfinden; aber einmal in ihn eingetreten, find fie 
nun gezwungen, an feiner Bewegung Theil zu nehmen. Go 
haben wir ferner ein Bild deſſelben VBorganges an dem Verhal- 
ten unferer eignen Seele zu den Werkzeugen des Körpers; eine 
Menge Entihlüffe, Anfangspunfte künftiger Bewegungen, erzeugt 
Die Seele in ſich; keiner von ihnen braucht bedingt und begriün- 
bet zu fein durch Ereigniffe in dem leiblichen Leben, auf welches 
er zurückwirkt; aber jeder, in dem Augenblide, in welchem er in 
dieſes Leben übergeht, ordnet fih nun den eignen Gefeten deſ— 
felben unter und erzeugt fo viel oder fo wenig Bewegung und 
Kraft, als diefe ihm zugeftehen, und Bewegung in diefer und in 
feiner andern Richtung, als in welcher fie es ihm geftatten. Der 
Anfänge, deren Urfprung nicht in ihm felbit enthalten ift, kann 


294 


der Weltlauf in jedem Augenblide unzählige haben, aber feinen, 
deffen nothwendige Yortfegung nicht in ihm anzutreffen wäre. 
Wo aber ſolche Anfänge Liegen, fönnen wir nicht im Voraus 
beftimmen; überzeugt und die Erfahrung, daß jedes Ereigniß 
der äußeren Natur zugleich eine Wirkung ift, die ihre Urfache in 
vorhergehenden Thatſachen hat, fo bleibt die Möglichkeit unbe- 
nommen, daß der Kreis des inmeren geiftigen Lebens nicht gleich 
durchgängig einen ftarren und nothmwendig ablaufenden Mechanis- 
mus bilde, fondern daß in ihm neben unbeichränfter Freiheit 
des Wollend auch eine befchräntte Macht des unbedingten An— 
fangens gegeben fei. 


Indem wir nun dieſes Gemälde abichließen, in welchem wir, 
weit entfernt, die Fülle des geiftigen Lebens erichöpfen zu wollen, 
vielmehr nur die großen Umriſſe feines Zufammenbanges in füch 
felbft zu bezeichnen fuchten, möchten wir einen Punkt bauptfächlich 
al8 den Gewinn diefer Betrachtungen feſthalten: Die Ueberzeugung 
nämlich von der durchgehenden Verſchiedenheit, welche das Ber- 
halten des inneren Lebens von den Eigenthümlichkeiten Des 
äußeren Naturlaufes trennt. Nicht nur feine Elemente find an 
dere als die der Natur; Bewußtjein, Gefühl und Willen haben 
feine Aehnlichkeit mit den Zuftänden, die unjere Beobachtung ung 
in’ den materiellen Mafjen entweder nachweiſt oder anzunehmen 
nöthigt; auch die Yormen der Thätigfeit, alle jene Aeußerungen 
einer beziehenden Zuſammenfaſſung des Mannigfaltigen, deren 
Werth wir Tennen gelernt haben, bieten keine Analogie mit Den 
Wechſelwirkungen, die wir zwijchen jenen verfolgen Tönnen. Wie 
jehr wir auch durch die weit überwiegende Ausbildung der Na- 
tumwifjenichaften daran gemöhnt fein mögen, die Grundvorftellun- 
gen, welche diefe entwidelt haben, als die überall anwendbaren 
Hilfsmittel Der Unterfuhung anzufehen: wir müfjen ung Dennoch 
zugeftehen, daß wir hier ein völlig andere und neues Gebiet 





295 


betreten haben, deſſen eigentbümliche Natur au die Gewöhnung 
an neue und eigentbiimliche Gefichtspunfte von uns verlangt. 
Man würde irren, wenn man dieſe Sorderung nur gegenüber 
dem Materialismus ausgeiprochen glaubte, der folgerecht, indem 
er die Selbftändigfeit des geiftigen Weſens leugnet, auch die Ber- 
pflihtung abweifen muß, neue Betrachtungsweifen für einen 
Gegenftand zu ſuchen, der ihm nicht neu erjcheint; viel weiter 
breitet ſich diefelbe Neigung, die wir tadeln, auch durch Anſich⸗ 
ten hindurch aus, die gemeinjam mit der unferen auf dem Zu- 
geſtändniß der felbftändigen Urſprünglichkeit des Geiftigen ruhen. 
So fehr find wir in der Betrachtung der Natur an die mittel- 
baren Wirkungen und an ihre Erflärung durch Zuſammenſetzung 
einzelner Beiträge, jo ſehr an die Zurüdführung inhaltvoller 
Unterfchiede der Eigenfchaften auf unbedeutende Veränderungen in 
der Größe und Verbindungsweiſe gleichartiger Elemente gewöhnt, 
daß uns zulegt das Verſtändniß alles Unmittelbaren abhanden 
fommt und eine allgemeine Sucht, Alles zu conftruiven, Allem 
eine verwidelte Mafchinerie feines Entſtehens und Daſeins unter- 
zufchieben, fi unferer Gedanken unmillfürlich bemächtigt. Faſt 
möchten wir dann behaupten, daß auch in unſerem Innern nichts 
vorhanden fei, al8 eine äußerliche Aneinanderfettung von Ereig- 
nifjen, ähnlich der Mittheilung der Bewegung, durch welche wir 
in der Außenmelt ein Element das andere ftoßen jehen; und 
was fonft nod in uns vorkommt, Bewußtſein Gefühl und Stre- 
ben, wir würden faft verjucht fein, e8 nur als einen beiläufigen 
Schein anzufehen, den jenes wahre Geſchehen in und wirft, wenn 
nicht dann doch wieder Etwas da fein müßte, für welches und 
in welchem diefer Schein entſteht. Dieſes Etwas ift nun da; 
jede einzelne Aeußerung unſeres Bewußtſeins, jede Negung un⸗ 
ferer Gefühle, jeder keimende Entſchluß ruft uns zu, daß mit 
unüberwindliher und unleugbarer Wirklichfeit Ereignifje in ber 
That gefchehen, die nach feinem Maße naturmiffenihaftlicher Be- 
griffe meßbar find. So lange wir dies Alles in uns erleben, 
wird der Materialismus zwar im Bereiche der Schule, die fo 





296 


viele nom Leben ſich abwendenden Gebanten einfchließt, fein Da- 
fein friften und feine Triumphe feiern, aber feine eignen Belen- 
ner werden durch ihr lebendiges Thun ihrem falihen Meinen 
widerſprechen. Denn fie merben alle fortfahren, zu lieben und zu 
haſſen, zu boffen und zu fürchten, zu träumen und zu forſchen, 
und fie werden fich vergeblich bemühen uns zu überreden, daß 
dies mannigfaltige Spiel der geiftigen Thätigfeiten, welches ſelbſt 
die abfichtliche Abmwendung vom Weberfinnlichen nicht zu zerftören 
vermag, ein Erzeugniß ihrer Eörperlihen Organiſation fer, oder 
daß das Imterefje für Wahrheit, welches die einen, die ehr- 
geizige Empfindlichkeit, welche andere verratben, aus den Berridy- 
tungen ihrer Gehirnfaſern entfpringe. Unter allen Berirrungen 
des menſchlichen Geiftes ift dieſe mir immer als die feltiamfte 
erihienen, daß er dahin kommen konnte, fein eignes Weſen, 
welches er allein unmittelbar erlebt, zu bezweifeln oder es ſich 
als Erzeugniß einer äußeren Natur wieder ſchenken zu laſſen, Die 
wir nur aus zweiter Hand, nur dur das vermittelnde Willen 
eben des Geiftes kennen, den wir leugneten. 








Drittes Bud. 


Das Leben. 















7 — 
5 OF THP 


VNIYERSITY 






— 


Erſtes Kupitel, 


Der Zufammendbang a Leib und Seele. 





Verſchiedene Stufen der Weltauffaffung; die wahren und die abgeleiteten Standpunkte, 
— Das allgemeine Band zwiſchen Geift und Körper. — Die Möglichkeit und bie 
Unerlärlicgleit der Wechſelwirkungen zwiſchen Gleichartigem und Ungleihartigen. — 
Die Entſtehung der Empfindungen. — Die Lenkung der Bewegungen. — Der ge⸗ 
ſtaltbildende Einfluß der Seele. 


Weit ab von den Pfaden, auf denen fi die Erklärung 
der Naturerfheinungen zu bewegen pflegt, hat und die Beobady- 
tung des inneren Lebens nad andern Richtungen geführt. Aber 
je größer die Eigenthiimlichfeit des geiftigen Daſeins ift, fo groß, 
daß nur die unbedachteſte Gewöhnung an die Formen der Sin⸗ 
nenwelt. feine Entftehung aus den Gegenmwirkungen der Stoffe 
denkbar fand, um fo Tebhafter drängen fich jest die mühſam zu= 
rüdgehaltenen Fragen nach der Möglichfeit des gegenfeitigen Ein- 
fluffes hervor, in welchen wir beide fo ſcharf geſchiedene Gebiete 
des Geſchehens doch überall verwidelt finden. Wie groß und 
ſchwerwiegend die leitende Macht ift, welche in jedem Einzelnen 
der Wechſel der Eörperlichen Stimmung über Größe und Rich— 
tung der geiftigen Regſamkeit ausübt, davon überzeugt uns, hin⸗ 
reihend um jede weitere Erwähnung unnöthig zu maden, Die 
gewöhnlichfte Erfahrung; ich meine jene Erfahrung, die auch dann 
noch übrig bleibt, wenn wir die leichtfinnigen Webertreibumgen 
abziehen, mit denen mande Anficht unferer Zeit, als ſei ihr 
jedes Andenken an Selbftbeherrfhung und Entfagung abhanden 
gefommen, in allen Regungen des Seelenlebens nur den gleid- 
Inutenden Widerhall phufticher Vorgänge zu finden verfihert. Wie 


300 


ſehr anderfeit8 alle höhere Cultur von den unzähligen Wechlel- 
wirtungen abhängt, die, alle zulegt durch Körperliche Thätigfeiten 
und Bedürfniffe vermittelt, zwiichen uns und der Außenwelt aus⸗ 
getaufcht werden, und mie mächtig die umgebende Natur bald 
durch Teichte Gewährung bald durch eigenfinniges Verſagen neue 
Entwillungen unferer Kräfte anregt oder verfümmern läßt: da⸗ 
von hat jedes Zeitalter liberzeugende Beifpiele gegeben, aber noch 
keinem ift fo lebhaft wie dem unferen diefe Abhängigkeit zu vol- 
lem und klarem Bemwuhtfein gekommen. Ob dies im Ganzen 
uns günftiger ftellt, «als frühere Gefchlechter, ob dieſe bewußte 
und in dem Umfange ihrer Anftrengungen großartige Ausbeutung 
der Außenwelt für den Fortſchritt des allgemeinen Wohlbefindens 
auch den Sinn für die Höhe der Zwecke lebendig laſſen wird, 
für die Doch alle dieſe Weußerlichfeit der Eultur zum Mittel be- 
rufen ift, müſſen wir der Zukunft anheimftellen; gewiß bat bis 
jegt die Haft dieſes Fortichritteß nicht die Theilnahme für Die 
ernten Fragen zu erftiden vermodt, die uns über den großen 
Zuſammenhang der geiftigen Weltorbnung mit dem Naturlauf 
und im Kleineren über die Verknüpfung unferer perfönlichen Seele 
mit ihrer leiblichen Hülle inner von Neuem auffteigen. 

Aber von je mannigfaltigeren Intereffen das nach außen 
gerichtete Leben bewegt wird, aus deſſen Geräuſch wir uns jelbft 
fammelnd zur Weberlegung diefer Fragen zurüdtehren, deſto viel- 
geftaltiger find aud die Bedürfniſſe nad Aufflärung und Die 
verjchwiegenen Erwartungen, Die wir zu ihrer Unterfuhung mit- 
bringen, deſto verjchiedenartiger die verfiohlenen Keime von Mik- 
verftändniflen, Die ſpäter mit widerſprechender Lebhaftigkeit ihrer 
Anſprüche anwachſend unfere Bemühungen zu verwirren drohen. 
Allen dieſen ihrer jelbft fo oft ungewiflen Anforderungen bes 
Gemüthes zu genügen, wird jeder Anficht ſchwer fallen; am 
ſchwerſten dann, wenn wir ohne Theilung der Aufgaben auf ein- 
mal die verſchiedenen Zwecke erfüllen wollen, die jede wifjenjchaft- 
liche Erörterung fih überhaupt ftellen Tann. 

Denn unfere Wünſche innen entweder auf das Verſtändniß 








301 


der Erfcheinungen und auf die Nachempfindung ihres wejentlichen 
Sinnes, oder auf die genaue Erfenntniß der äußerlichen Formen 
ihres Zuſammenhanges und ihre gegenfeitige Berechenbarkeit aus- 
einander gerichtet fein; aber mehr als eine Unvollkommenheit der 
menſchlichen Natur ſcheint und das völlige Verjchmelzen beider 
Richtungen unſeres Forſchens zu einer untheilbsren Einheit des 
Wiſſens zu verfagen. Auf die letzten und tiefften Gründe in dem 
Weſen der Dinge zurüdzugeben und jede Unflarheit ber Exfchei- 
nungen, die und beläftigt, aus den urſprünglichſten Geſetzen alles 
Wirkens in der Welt und aus dem vernünftigen Sinne des 
Planes aufzuklären, der die einzelnen Ereigniffe zu der Orbnung 
eine bedeutungsvollen Ganzen zujammenfaßt: diefe ideale Auf- 
gabe möchten wir weder dem begeifterten Streben verfümmern, 
das immer wieder zu ihrer Löſung zurüdtehrt, noch möchten wir 
fie der Unempfänglichkeit gegenüber, die ſich geringſchätzend von ihr 
abwendet, für minder werthvoll anerkennen, als fie iſt. Dennoch 
müſſen wir zugeftehen, daß dieſe Begeifterung für das Höchfte jelten 
die Mutter einer genaueren Erkenntniß des Niedrigeren geweſen 
ift; indem fie dem Gemüthe die eigenthümliche Befriedigung einer 
fiheren Ruhe in dem allgemeinen Grunde aller Dinge gewährte, 
bat fie nicht zugleich die Iharffinnige Beweglichkeit gefteigert, mit 
welcher der menfchliche Geift, für die Erfüllung feiner Lebensauf- 
gaben aud auf die Verkettung der endlichen Welt angewiefen, 
das Hervorgehen des Einzelnen aus Einzelnem zu erforichen em 
jo großes Intereffe bat. UWeberall mo Zwecke des Handelns zu 
den Aufgaben der bloßen Erkenntniß binzutreten, wo es uns 
darauf ankommt, den Ablauf der Ereigniffe nicht allein bewun- 
dernd zu verftehen, fondern umgeftaltend in ihn eingreifen zu 
tönnen, da tritt an Werth die Einficht in die höchſten Gründe 
der Dinge, die allen gemeinfam find, binter die Kenntniß der 
nächſtliegenden Kegeln zurüd, welche in dieſem einzelnen Gebiete 
unſeres möglichen Handelns berrihen. Nun gelangen wir wohl 
Veiht von der Betrachtung des Einzelnen zu dem Allgemeinen 
und Höheren, das ſich über ihm ausbreitet, aber jchwerer finden 


302 


wir den Rückweg aus der Unbeftimmtheit des Allgemeinen in 
alle jene Verwicklungen des Einzelnen, um defjen genaue Beherr- 
hung uns zu thun iſt. Nicht diefen Weg fehen wir daher bie 
Wiſſenſchaften einjchlagen, denen wir bisher die bleibendite und 
fruchtbarfte Erweiterung unferer Einfihten verdanken; fie gehen 
in ihrer Arbeit nicht von den Punkten aus, die auch ein ſpäteres 
ausdrückliches Nachdenken als die höchſten ihrer ſelbſt gewiſſen 
Grundlagen aller Folgerungen, als die eigne weſentliche Wahr- 
heit der Dinge zugeftehen müßte. Manches laſſen fie vielmehr 
unentſchieden und dahingeftellt, am meiften die endliche Recht⸗ 
fertigung der Grundfäße, die fie der forgfältigen Zergliederung 
der Erfahrungen als wohlbeglaubigte, obgleich in ihrem Urfprunge 
dunfle Unterlagen für die weiteren Schritte ihrer Erflärungen 
entlebnen; immer vorwärts auf Die zunehmende fichere Herrichaft 
über das Einzelne gerichtet, mögen fie beſchaulichen Gemüthern 
weniger Kopf zu befiten fcheinen, aber gewiß haben fie mehr 
Hand und Fuß, als jene höheren Anfichten der Dinge, Die meift 
mit undurhführbaren Anfprüden, immer fehr verfchmenbertich 
mit Forderungen, und Nichts felber gewährend, ihnen gegenüber: 
treten. Es gelingt uns vielleicht zumeilen, indem wir alle Be- 
dingungen eine Naturereignifjes berüdfichtigen, eine Yormel zu 
finden, welde das vollftändige Geſetz derſelben erſchöpfend aus⸗ 
brüdt; aber die Gleichung, die wir fo erlangt haben, vermögen 
wir vielleicht nicht aufzuldfen, und die Wahrheit, die wir an ihr 
befigen, bleibt ein unbenutzbar verichloffener Schatz. In ſolchen 
Vällen beſcheidet ſich die Wiffenihaft, und indem fie einige der 
Bedingungen, die geringen Einfluß auf Die Begründung der Er: 
ſcheinung und großen auf die Benwidlung der Formel haben, 
aus ihrer Unterfuhung binwegläßt, zieht fie aus ber vereinfad- 
ten und lösbar gewordenen Gleihung Bolgerungen, die nur an- 
nähernd richtig, aber deshalb, weil man fie haben kann, nütz⸗ 
licher find als die volllommen genauen, die man nicht haben 
kann. Auf ähnliche Weife finden wir vielleicht eine glaubliche 
Aufklärung über Die höchften Zwecke der Welt; aber bie bißherigen 








303 


Berfuhe dazu haben uns mit dem Mißgeſchick vertraut gemacht, 
daß wir aus diefen hohen Aufgaben jehr wenig den verwidelten 
Geihäftsgang abzuleiten verftehen, durch melchen der Naturlauf 
fie zur Erfüllung bringt, und doch liegen die meiften praftifchen 
Beweggründe zu unferen Unterfuchungen auf dieſem Gebiete, 
deſſen Geſetzlichkeit fich einem weniger hochfliegenden Gedanken⸗ 
gange nicht unerforſchlich zeigt. 

Mit dieſer natürlichen Vorliebe nun für die Dinge, die ſich 
ausführen laſſen, verbindet ſich für und noch eine doppelte Be⸗ 
trachtung, die und überredet, die Aufgabe, melde uns obliegt, zu 
theilen. Je weiter wir und von den gegebenen Thatjachen ent- 
fernen, um aus ihrer verallgemeinernden Vergleichung die höch⸗ 
ften Grundfäge zu finden, die uns wieder zu ihnen zurüdführen 
ſollen, um fo zahlreicher werden unvermeiblidh Die Quellen mög⸗ 
licher Irrthümer; ihre Menge wächſt mit der fteigenden Anzahl 
ber Vermittlungsglieber, durch Die unfere Schlüffe das Gegebene 
mit dem gefuchten Höchften verbinden. Nur ein verhängnifivolles 
Zutrauen zu ihrer eignen Unfehlbarfeit kann Daher die Wiflen- 
haft verleiten, ihre Erfenntniß iiber einen reich geglieverten In⸗ 
halt mit Vorliebe an die möglich geringfte Anzahl von Grund- 
fügen oder an den dünnen Faden eines einzigen Princips zu 
nüpfen, mit beffen Riß das Ganze fallen müßte. Anftatt ihren 
Bau auf die fharfe Schneide einer einzigen Grundanſchauung zu 
ftellen und das ſonderbare Kunſtſtück der möglich größten Labili- 
tät mit immer tieffinnigeren Mitteln auszuführen, wird fie nüß- 
Ticher arbeiten, wenn fie für die breitefte Grundlage ihres Auf- 
ſteigens forgt und das Gegebene mit bejcheidenerem Anlauf zuerft 
auf die nächftliegenden Erflärungsgründe bringt, Die feine Deutlich 
erkennbare Eigentbinmlichleit verlangt. Sie wird ſich vorbehalten, 
dieſe Ergebnifje erfter Ordnung zum Gegenftand einer höher ftei= 
genden Forfhung zu machen; aber indem fie fich erinnert, wie 
in dieſer Höhe allmählich die Schärfe der Umriſſe in den Gegen- 
ftänden der Frage und damit die Sicherheit unferer Beurtbeilung 
abnimmt, wird fie die Möglichkeit des Irrthums zugleich zugeben 


304 


und zugleich feine Schäblichleit mindern. ‘Denn e8 wird ihr frei 
fteben, diefe höheren Gebiete wieder aufzugeben, die fie mit un⸗ 
zureichenden Mitteln ſchon erkämpft zu haben glaubte, und ſich 
auf jene niedrigeren noch immer unabhängig für fi haltbaren 
Standpunkte zurüdzuzieben, deren Ausficht, obwohl fie nicht Die 
Ausfiht vom Gipfel ift, Doch immer aud eine Wahrheit und 
Wirklichkeit bleibt. 

Und endlich, felbft wenn wir uns getrauten, den Weg bis 
zum Gipfel der höchſten Höhe fehlerlos zurlidzulegen, würben wir 
doch eine Beranlaffung haben, ibn nur felten zu gehen. Denn 
um die Höhe zu erreichen, würden wir gendthigt fein, gar manche 
von jenen Borftellungsarten der Dinge aufzugeben, auf deren 
Anwendung für uns alle Klarheit und Anfchaulichkeit in unferm 
täglichen Verkehr mit den Gegenftänden beruht. So gewiß wir 
nun dieſe Berzichtleiftung auf die Richtigkeit des uns jo vertraut 
gewordenen Scheines entjchloffen durchführen müfjen, eben fo ge- 
wiß werden wir doch Dann, wenn wir.von jenen höchften Stand⸗ 
punkten zu ber Ebene der und umgebenden endlichen Welt zu- 
rüdfehren, aud Die Sprache des Scheines wieder vorziehen müſſen. 
Klarheit und Einficht erreichen wir nicht, indem wir in jedem 
einzelnen Falle die gewohnten Formen menſchlicher Auffaflung 
aufgeben und die Sprache einer höheren Wahrheit an ihre Stelle 
fegen, fondern dadurch, daß wir einmal auf den Grund der 
Dinge zurüdgehen und aus ihm die Grenzen verftehen lernen, 
innerhalb deren wir eben jene gewohnten Auffafjungsformen als 
gelenkige Werkzeuge unferer Erkenntniß als angenäberte und ber 
Handhabung fähige Abkürzungen des wahren Berhaltens ohne 
Irrthum anwenden dürfen. Niemals Vortheil, fondern nur ben 
Nachtheil beängftigender Unflarheit bringt es mit fi, wenn wir 
in befondere und einzelne Unterfuhungen unmittelbar die höchften 
Principien einmiſchen, von denen alle Eutfcheidung freilich zuletst 
abhängt; Niemand ift im Stande, zugleich die ganze Reihe der 
Weiterbeftimmungen im Auge zu behalten, durch welche doch eigent- 
ih auch jene höchften Gründe erft zu dem werden, wovon der 





305 


gegebene Fall zunäcit abhängt. Obwohl die Aftronomie den 
Stillftand der Sonne und die Bewegung der Erde entſchieden hat, 
fo vermeidet unſer Sprachgebraud Doch die Gefchmadlofigfeit, dem 
Auf- und Untergang der Sonne den ſchwerfälligeren Ausdruck des 
wahren Verhaltens vorzuziehen; obwohl von den Kräften, mit 
welchen die kleinſten Theilchen gegen einander wirken, die größere 
oder geringere Fähigkeit der Körper abhängt, ihre geftörte Geftalt 
wieder herzuftellen, jo gehen wir Doch nicht bei jedem Anlaß auf 
die Berechnung derfelben zurüd, fondern freuen uns, in dem Be- 
griffe der Elafticität und in ihren erfahrungsmäßig gefundenen 
Gefegen näher liegende Mittel zu bequemerer Beurtheilung zu 
befiten; obwohl endlich jede Veränderung, durch melde unfere 
Speijen genießbar werden, ohne Zweifel auf allgemeinen chemi⸗ 
ſchen Geſetzen beruht, fo warten wir doch nicht, bis dieſe entdeckt 
ſein werden, und vermuthlich wird die Kochkunſt ſelbſt dann die 
Kunſtgriffe der Erfahrung als beſſere Bürgſchaften des Erfolges 
den Vorſchriften der Wiſſenſchaft vorziehen. Die geringe Neigung, 
welche bisher die höheren Unterſuchungen gezeigt haben, den Schatz 
ihrer vielleicht ſehr vollwichtigen Ergebniſſe in dieſe gangbare 
Kleinmünze behaltbarer Gedanken und faplicher Abkürzungen aus- 
zuprägen, bat ihnen nicht allein die allgemeine Theilnahme ent- 
zogen, fjondern zu ihrer eignen Unflarheit mitgewirkt. Es ift 
kein volllommener Zuftand der Gejellichaft, wenn die Entfcheidung 
jeder ftreitigen Kleinigfeit und die Anweiſung zur Beforgung des 
geringiten Gejchäftes unmittelbar von der höchſten Behörde einge- 
holt werden muß; wie man bier der geleßgebenden Gewalt und 
der leitenden Regierung einen wohleingeübten Mechanismus ber 
Berwaltung unterorbnet, fo bedarf auch die Wiffenichaft einer Ab- 
ſtufung der Geſichtspunkte, und die nicht genügenden Entſchei⸗ 
dungen ber niedrigeren müflen zwar den höheren zu befjerer Auf- 
klärung überwiefen werben Können, aber nicht überall muß die 
Recht fuchende Forſchung zu dem weiten Wege bis an den lebten 
Urfprung der Dinge zurüd genöthigt fein, 


Loge I. 4. Aufl. 20 


306 


Keine Frage dürfen wir fiherer erwarten, als die nach dem 
Bande überhaupt zwifchen Leib und Seele; fie pflegt die erfte zur 
fein, die man in diefen Betrachtungen aufwirft, und zu ihr kehrt 
man im Berlaufe derſelben zurüd, indem man unbefriedigt durch 
alle beftimmteren Auseinanderfegungen wie mit einem tiefen Athem- 
Thöpfen nun noch einmal die eigentliche Schwierigleit der Sache 
in ihr zufammenzufaffen meint. Und dod kann kaum etwas hin- 
derlicher fein, al8 eben das Mißverſtändniß, welches diefe Faſſung 
der Frage jelbft einfchließt. Denn was ift ein Band Anderes, 
als ein Mittel äußerlicher Verknüpfung fir das, was nicht von 
felbft aneinander haftet und wegen des Mangels jeder innerlichen 
Beziehung feine Wechſelwirkung auszutaufchen geneigt ift? Und 
wäre e8 uns nun gelungen, dieſes allgemeine und zwar dieſes 
eine Band zwiſchen Leib und Seele zu entveden, welches Bebürf- 
niß hätten wir dann eigentlich befriedigt? Keine der zahllofen 
Wechſelwirkungen, die wir zwifchen beiden gefchehen fehen, würde 
ihrer Geftalt und Art nah aus dieſer äußerlichen Umfchnürung 
erflärbarer fein, als ohne fie; ja ſelbſt Die Möglichkeit jedes gegen- 
feitigen Einfluffes würden wir noch einmal mit einem ganz neuen 
Anlauf der Unterfuhung aus der Natur des Verbundenen zu be- 
greifen ſuchen müſſen, da wir fie in der unbeftimmten Borftellung 
des Bandes nicht finden. Und jedes Band überdies, durch welches 
neue Bindemittel find feine eigen Beſtandtheile verfnüpft, um 
nun mit ihrem Zuſammenhang auch Anderes binden zu können? 
Wie weit wir auch in das Kleine hinein den Behelf eines immer 
ernenerten Kittes wiederholen mögen, zuletzt werden wir zugeftehen 
müffen, daß nicht ein vorangehendes Band die legten Elemente 
zur Wechſelwirkung befähigt, fondern daß eben die Wechfelwirfung 
felbft fie unmittelbar aneinander heftet und fie befähigt, Bänder 
zu werben fiir Anderes, deſſen eigne gegenfeitige Berwandtfchaften 
zu kraftlos find, um feine Bereinigung im Kampfe mit miber- 
ftreitenden Hinderniffen zu bewirken. 

Aber hat nicht dennod die Forderung, jenes allgemeine Band 
aufzuzeigen, den richtigen Sinn, eine Bedingung zu verlangen, 





307 


bie für das Zuftandelommen der Wechſelwirkung vorher gewährt 
fein muß? Das Gefäß, welches zwei chemiſche Stoffe umfchliekt, 
wirkt es nicht als ein Band, das beide zunächſt zu gegenfeitiger 
Berührung zufammenzwingt und dadurch erft ihnen Gelegenheit 
gibt, die Einflüffe auszuüben, deren beftimmte Art und Größe 
freilich nur in ihrer eignen gegenfeitigen Verwandtſchaft begründet 
ift? Gewiß, die Elemente, deren Wechfelbeziehungen nicht fo leb- 
haft find, um fie einander auffuchen zu laſſen, bedürfen einer 
leitenden Hand, um fie zufammenzuführen; aber num, nachdem fie 
zufammen find, ift e8 weder jene Hand mehr nod das Gefäß, 
was fie verbunden hält, fondern ihre eignen Wechfelwirfungen 
verknüpfen fie, und oft zu einer größeren Feſtigkeit, als jenes 
äußerliche Band ihnen je hätte geben können. Und fo mag es, 
um das Gleihniß zu verlaffen, eine der Aufmerkfamleit würdige 
Frage fein, auf welche Weife in der erjten Bildung des Lebens 
Leib und Seele vereinigt worden find; aber in dem einmal ge= 
bilveten und fich erhaltenden Leben, deſſen Aufklärung nothwendig 
unfer nächſter Gegenftand fein muß, da wir nur aus der Kennt⸗ 
niß feines Beſtehens Vermuthungen über feine Entftehung ent- 


wideln können: aud in ihm ein fortdauerndes Band zwiſchen Leib - 


und Seele zu verlangen, das von der lebendigen Wechſelwirkung 
beider noch verjchieden wäre, ift eine gleich überflüffige und arm- 
jelige Vorſtellung. Sie ift ebenjo überflüffig, als wenn wir das 
Band der Freundichaft. das zwei Gemüther verknüpft, noch be- 
ſonders als eine fihtbare Umſchnürung wahrnehmen wollten, wäh- 
vend es eben die Freundſchaft ſelbſt ift, welche das Band bildet; 
fie ift armſelig, weil fie e8 ift, Die recht eigentlich auf ganz äußer⸗ 
liche Weife Leib und Seele aneinanderketten möchte und nicht 
daran denkt, daß ftatt des einen formlofen Bandes vielmehr 
das feingegliederte Geflecht unzähliger Beziehungen beide auf das 
Sinnvollite zu gegenfeitigem Eingehen auf ihre Zuftände und Be- 
dürfniſſe befähigt. Denn jede einzelne Wechſelwirkung, die zwifchen 
ihnen ausgetauſcht wird, ıft ein Faden deſſen, worin ihr Band be- 
fteht, und die fpottenden Einwürfe, die jo oft der Anficht von der 
20* 


Bere Aue nicer wur wberer enwerten, als die nad i 
Barte Bar-Jarr rechten Kot zer Serle: fie plegt die erfle 
wır. rer mer ıx Tuer Ferofcreeen aufmuit, und zu ihr I 
mas rm Berizrr vereiben sera, mie man unbeirtedigt d. 
alle bet-mmır:ra Ynfernraterietarnoen wer mut einem tiefen Al 
\hörien mer sed cımal Tue ezentiube Scamserigfeit der € 
in son zeit. let dedb fan Fam etwas 


berlscher fein, als chen ref Witvertintwik, melde bieie Ft... 


ter frage Wi arihvit Tem web ı em Band An, 
als em Mc: iuperluber Kertuir’en: für das, was nid, 
Vepebrnz keine Werichrurteng awfzutznikben geneigt ift? 
wäre e8 uns won gelunzen, dieies allgememe und zwar 
eıme Pant zriiben Yerk wur Seele zu entvedien, weldes 2 
zig bätten wer tun eigentlich befriedigt? Seine der za 
Wedsiehnirtungen, die wir zriicen beiden gefchehen ſehen, 
ihrer Geñalt und Art nad aus dreier änferlihen Umſch 
erflärbarer fein, als ebme fie; ja felbft die Möglichkeit jedes 
feitigen Einfluffes würden wir ned einmal mit einem gan; 
Anlauf der Unterfubung aus der Natur des Berbundenen 
greifen fuchen mũſſen, ba wir fie ın der unbeflimmten Bor‘ 
des Bandes nicht finden. Und jedes Band überdies, durch 
neue Bindemittel find feine eignen Beftandtheile verknüp' 
mm mit ihrem Zufammenhang auch Anderes binden zu ki 
Wie weit wir auch in das Kleine hinein den Behelf eine? 
erneuerten Kittes wiederholen mögen, zulet werden wir zur 
müffen, daß nicht ein vorangehendes Band die legten €: 
zur Wechſelwirkung befähigt, fondern daß eben die Met 
jelbft fie unmittelbar aneinander beftet und fie” he 
zu werben für Anderes, deſſen eigne z. 
zu fraftlos find, um feine Bereinigu 
ftreitenden Hinderniffen zu bewirken 
Aber hat nicht dennoch die For 
aufzuzeigen, den richtigen Sinn, J 










— — BB — 








rgang 


ugnen, 
Stelle 
c einen 
ver Bil- 
Die ans 
‚ht ſehr 
nd einer 
ſchinerie, 
imkeit in 
ıben wir 
en. Wir 
nhängen= 
ehrt, was 
hweis von 
s Räthfel, 
Elementen 
en wir eine 
inbegreiflich 
es Rad des 
Zewegungen 
erträgt, ſo 
n wie nicht 
des inneren 
ihren Erfolg 
auliche Ge⸗ 
eimniſſe ber 
vir uns ein⸗ 
obwohl ſie 
begreiflichkeit 


aittheilbarleit 
und De” 


308 


Zuſammenſetzung der menſchlichen Natur aus Leib und Seele ge- 
macht werden, weil fie unfer Weſen aus der Abdition zweier Be- 
ftandtbeile erzeugen wolle, tragen nur diefe Kümmerlichkeit ihrer 
eignen Borftellung von einem allgemeinen Bande mit Unrecht auf 
bie unbegrenzte Mannigfaltigleit dieſer organifirten Wechſelwirkung 
über. Laſſen wir deshalb diefe nugloje Anficht auf ſich beruhen, 
wie fie theils in gröberer Form ſich nach einem ftoffartigen Cement 
ſehnt, das vielleicht in Geftalt einer ätheriſchen Materie Leib und 
Seele verlitte, theils in feinerer und doch nicht wahrerer Ausbil- 
dung die Seele felbft als Mittelglied zwiſchen Körper und Geift 
ftellt und Durch dies Alles nur die Anzahl der Fugen vermehrt, 
deren Berlittung fie doch wünſcht. 


Aber diefe Wechſelwirkungen felbft, gehören fie nicht zu dem 
Unerklärlichſten, oder gäbe es ein Mittel, fich eine Anſchauung da⸗ 
bon zu machen, wie die Eindrlide vom Körper zur Seele übergeben 
und von dieſer zurüdfehren? Auch dieſe Trage enthält des Mip- 
verftändlichen viel, und in der That ift fie nur eine neue Form 
des Ausdruckes für die falſche Meinung, die der vorigen zu Grunde 
lag. Denn unerflärlich ift jene Wechſelwirkung allerdings, aber 
fie gehört nicht zu den Vorgängen, deren Wirklichleit wir um ihrer 
Unerflärlichleit willen bezweifeln dürfen, weil e8 ihre Pflicht fein 
würde, nach uns bekannten Gefeten fich erflären zu laſſen; fie 
felbft ift vielmehr der Begriff jenes einfachen und urfprünglichen 
Geſchehens, auf welches jede Erläuterung zufammtengefegter Ereig- 
niffe uns zurüdführt, und welches wir nun, uns felbft mißver- 
ftehend, aus feinen eignen Folgen begründen möchten. Ober ver- 
langen wir mit jener Frage vielleicht etiwa8 Anderes als die aus⸗ 
führliche und anfchauliche Befchreibung der Arme, mit denen Die 
Seele thätig in den Körper übergreift, der phufiichen Werkzeuge, 
durch welche der Körper ihr feine Eindrüde beibringt, kurz jener 
ganzen Maſchinerie, welche hier, wie in anderen Fällen der Wedh- 











309 


felwirkung, die wir genauer zu kennen glauben, den Uebergang 
des Einfluffes von einem zum andern vermittele? 

Prüfen wir uns unbefangen, jo können wir nicht leugnen, 
daß in unferer Weltauffaffung ſehr oft Die Neugierde an die Stelle 
der Wißbegierde tritt, und daß die reiche Befriedigung der einen 
durch Die umterhaltende Mannigfaltigfeit aufeinanderfolgender Bil- 
der und nur zu oft vergeffen läßt, wie völlig ungeftillt die an- 
dere bleibt. Wir ſchätzen die Gründlichkeit unferer Einſicht ehr 
gewöhnlich nach der Menge der Einzelheiten, die wir in irgend einer 
Unterfuhung kennen gelernt haben; je mehr innerliche Mafchinerie, 
je mehr Zufammenfegung unfere zergliedernde Aufmerkfamteit in 
irgend einem Gegenftande findet, deſto vollftändiger glauben wir 
MWefen und Wirkungsweife befielben begriffen zu haben. Wir 
denken nicht daran, daß diefe Mannigfaltigfeit zufammenhängen- 
der Glieder eigentlich doch nur die Summe deſſen vermehrt, was 
einer Erflärung eben bebürftig wäre, und daß jeder Nachweis von 
Mittelgliedern zwiſchen erfter Urſache und Enderfolg das Räthiel, 
wie nun überhaupt Wechſelwirkung zwifchen verfchiedenen Elementen 
möglich fei, nicht Yöft, fondern nur vervielfältigt. Haben wir eine 
Maſchine, deren Wirkungsweife ung zunächſt völlig unbegreiflich 
fchien, in ihrem Innern betrachtet und gejehen, wo jedes Rab des 
Getriebes in das andere eingreift und feine eignen Bewegungen 
in beftimmten Richtungen auf andere Elemente überträgt, fo 
glauben wir nun alle Rätbfel gelöft. Und doch haben wir nicht 
im Geringften eine Kenntniß der Art erlangt oder be inneren 
Borganges, durch welchen hier die wirkenden Kräfte ihren Erfolg 
hervorbringen; wir haben nur das große unanfchaulide Ge⸗ 
heimniß der ganzen Mafchine in jene einzelnen Geheimniffe der 
einfachen Naturwirkung zerlegt, in Betreff deren wir ung ein- 
mal entfchieden haben, fie als klar gelten zu laſſen, obwohl fie 
doch für jede nähere Betrachtung fi zu völliger Unbegreiflichleit 
verdunkeln. 

Denn alle Maſchinenwirkung beruht auf der Mittheilbarkeit 
der Bewegung und auf der Feſtigkeit des Gefüges und des Zu⸗ 


310 


fammenhanges in den Maffen, zwiichen denen fte übertragen wer⸗ 
den fol. Welche von dieſen beiden Bedingungen verfteben wir 
nun? Wiffen wir anzugeben, was in der Mittheilung der Bewe- 
gung gefchieht, und wie der treibende Körper e8 anfängt, um durch 
Stoß oder Drud den anderen in Bewegung zu fegen und einen Theil 
feiner Gefchwindigfeit an ihn zu übertragen? Ober ift e8 uns 
vielleicht Flar, wie und wodurch die einzelnen Theile eines Trieb- 
rades jo aneinanderhaften, Daß der Stoß, der dem einen von ihnen 
gegeben wird, auch die andem nöthigt, mit ihm in Gemeinfchaft 
fih zu bemegen und die freisförmige Ummwälzung um eine Are 
hervorzubringen, die nun zu neuen nüßlichen Effecten verwendet 
wird? Vielleicht berufen wir ung auf die Wirkung anziehender 
Kräfte, welche alle Theilchen zu einem Ganzen verbinden. Aber 
diefe Wechſelwirkung der gegenfeitigen Anziehung, worin befteht 
fie felbft und wodurch wird fie hervorgebracht? Wie fangen jene 
Kräfte e8 an, liber die Grenzen des Körpers binauszugreifen, dem 
fie angehören, und über einen andern, deflen Eigenthum fie nicht 
find, dieſe Macht auszuüben, daß er ihrer Anziehung folgen muß? 
Wir befürchten nicht, daß man auch hier nod einmal von einem 
Bande fprechen werde, das Sonne und Planeten zufammenbalte: 
man wird der Trage, die fich fogleich erneuern würde, wie fie es 
nun machen, dies Band bald zu verkürzen, bald zu verlängern, 
durch das offene Zugeſtändniß ausweichen, daß hier eine der ein- 
fahen Wirkungen vorliege, durch deren Zufammenfeßung man wohl 
bie Geftalt verwidelter Erfolge erflären könne, während fie felbft 
durch Keinen neuen Zwiſchenmechanismus deutlicher werden als 
obne ihn. Sowie wir wohl willen, was mir meinen, wenn wir 
fügen, daß etwas fei, aber nie erfahren und ergründen werben, 
wie Sein gemacht wird, fo wiffen wir, was wir meinen, wenn 
wir vom Wirken fprechen, aber nie werden wir angeben können, 
wodurch das Wirken überhaupt zu Stande kommt. Nichts wird 
unfere Wifjenfchaft Leiften Birnen, als daß fie genau die Bedingm- 
gen auffucht, unter denen dieſes umbegriffene und unbegreifbare 
Wirken entfteht; und wie großartig und wichtig ihre Leiftungen 





311 


in der Entwirrung und Berglieberung verwidelter Zufammen- 
hänge fein mögen: wenn fie die einfachen Wechfelwirfungen er- 
reicht bat, auf deren Zufammtenfegung fie jenes Mannigfaltige 
zurüdführt, wird fie überall befennen müſſen, daß der eigentliche 
Act des Wirkens in allen denkbaren Fällen feines Vorkommens 
ung glei unerflärbar bleibt. 

Aber man wird dies nur zugeftehen, um es fogleich wieder 
zu vergeflen, fobald die beftunmte Frage nach der Wechſelwirkung 
zwifchen Körper und Seele aufgeworfen wird. Obgleich eine kurze 
Durchforſchung der Naturwiſſenſchaft uns lehren Tann, daß in der 
That in allen Formen der Gegenwirkung zwifchen Stoff und Stoff 
die gleiche Dunkelheit herricht, ift e8 doch eine kaum zu überwäl- 
tigende Gewohnheit geworden, den gegenfeitigen Einfluß zwilchen 
Leib und Seele als einen bejonderen unglüdlihen Ausnahmefall 
zu betrachten, in weldhem und wider Erwarten das nicht Far wer⸗ 
ben wolle, was in jebem Beifpiele blos phufiicher Wirkungen ung 
ganz deutlich fei. Wie wenig ed num dort deutlich ift, haben mir 
zwar gezeigt; aber dennoch wird dieſe Klage fich wiederholen, denn 
der Eindrud der Unflarheit wird bier geſchärft durch die Unver— 
gleichbarkeit der Glieder, die auf einander wirken jollen. Den 
materiellen Beftandtbeilen des Körpers fteht die überfinnliche Na- 
tur der Seele gegenüber; wie kann nun der Stoß und “Drud der 
Maſſen, oder ihre chemiſche Anziehung, die einzigen Mittel, mit 
denen fie wirken zu können fcheinen, Eindrud auf die Seele ma- 
chen, die ihnen wie ein nichtiger Schatten feinen Angriffspuntt ge- 
währt? Und wie möchte umgelehrt Das Gebot der Seele, ein Ge— 
bot, dem an fich feine ausübende Gewalt des Stoßes zur Seite 
fteht, Maſſen bewegen, die nur fo handgreifliden Antrieben ge= 
horchen würden? Nur von Gleichartigem zu Gleichartigem ſei 
ein Austaufh der Wirkungen denkbar. Aber bei näherer Ueber- 
legung zeigt fich Doch auch dieſes Verlangen nad) Gleichartigfeit aus 
dem Irrthume hervorgegangen, als feien Stoß Drud Anziehung 
und Abftoßung oder chemiſche Wahlverwanbtichaft erflärende Be- 
dingungen der Wechjelwirkung, da fie doch nur Formen find, 





3i2 


in denen die Wirkung auf unbegreifliche Weife erfolgt. Die völlige 
Gleichheit zweier Kugeln macht an fi die Mittheilung ihrer Be- 
wegung im Stoße nicht begreiflicher; fie gewährt lediglich unferer 
Anſchauung den Vortheil, die beiden wechjelwirkenden Elemente 
gleich deutlich vorftellen zu können und die räumliche Bewegung 
zu ſehen, mit der fie fih nähern; d. h. fie macht ung ein Bild 
des Thatbeftandes möglich, wie er vor aller Wechfelwirkung iſt, 
aber fie erklärt das Zuftandelommen des Wirkens um nichts 
befjer. Jener Bortheil der Anfchaulichkeit nun entgeht uns zunächſt 
allerdings. Wir würden getröftet fein, wenn wir die Seele ſprung⸗ 
fertig der Materie gegenüber jehen Könnten, um auf fie einzu- 
dringen oder ſich ausbreitend, um den Stoß derjelben aufzufangen; 
wir würden dann das Bild erreicht haben, nad) dem wir ung fo 
ſehr fehnen, ohne für das Verſtändniß des Herganges das Ge- 
ringfte gewonnen zu haben. Vielleicht führt und nun eine fpätere 
Wendung unferer Unterfuhung zu einem Standpunkte, auf wel- 
chem dieſe Ungleichartigfeit der überſinnlichen Seele und bes finn- 
ih wahrnehmbaren Stoffes ohnehin verſchwindet; aber auch wenn 
fie nit verſchwände, wiirde fie nicht im Ernft eine Vergrößerung 
der Schwierigkeit für uns fein. Denn der Act des Wirkens, da 
ex felbft fein ſinnlich anſchaulicher Vorgang ift, kann auch feine 
andere Gleichartigkeit der wechſelwirkenden Glieder verlangen, als 
eine folche, die reichlich dadurd gewährt ift, daß die Seele als 
wirkliche, des Thuns und des Leidens fähige Subftanz den Ato⸗ 
men des Stoffes gegenüberfteht, die wir ihrerfeitö ebenfo als reale 
Mittelpunkte aus- und eingehender Wirkungen betrachten. Jede 
Forderung noch weiter gehender Aehnlichfeit wirrde nur auf dem 
Irrthum beruhen, welcher den Act des Wirkens als einen Lebergang 
fertiger Zuftände aus einem Element in das andere anfieht und 
deshalb freilich auf Aehnlichfeit oder Gleichheit beider dringen muß, 
um dem auswandernden Zuftande da, wo er einwandert, eine gleich 
große und gleich geftaltete Behaufung wieder anbieten zu Können. 

Und endlih, müfjen wir hinzufügen, gibt es nicht Wechſel⸗ 
wirkungen überhaupt, fo wie e8 nicht eine Verknüpfung überhaupt 





313 


gab. Jede Wirkung ift eine befondere, nad Form und Größe 
beſtimmte, und wir haben feinen Grund zu der Annahme, daß 
alle Verſchiedenheit der Erfolge in der Welt immer nur von ver⸗ 
fhiedenen Zufammenfegungs- und Benutungsweifen eines und 
befielben gleichartigen Wirkens herrühre. Iſt dies nun fo, was 
witrden wir für die Aufhellung der Erfcheinungen gewonnen haben, 
wenn wir die allgemeine Möglichkeit des Wechſelwirkens zwifchen 
Leib und Seele irgendwie erflärt hätten, wenn wir aber aus 
ihr nicht entwideln Könnten, warum unter verſchiedenen Umftän- 
den bald diefe, bald jene eigenthümliche Art der Wirkung zwiſchen 
beiden ſich entipinnen müßte? Im Interefje der Wiffenichaft kann 
e8 deshalb nur wenig liegen, dieſe allgemeinfte Frage weiter zu 
verfolgen. Sie wird zugeftehn und vorausfegen, daß die Art, wie 
Wirkungen überhaupt in der Welt möglich feien, in allen Fällen 
und auf jedem Gebiete der Ereigniffe gleich undurchdenkbar bleibe; 
das wahre und ergiebige Feld der Unterfuchung liege in der Nach⸗ 
forſchung darnach, unter welchen beftimmten und angebbaren Be- 
dingungen ebenſo beftimmte und angebbare Wirkungen allgemein 
und gefeglich eintreten. Während fie e8 aufgibt, zu erfahren, wo⸗ 
burch und wie überhaupt Wirkungen von ihren Urſachen hervor: 
gebracht werben, richtet fie ihre Aufmerkſamkeit auf Die andere 
nüßlichere Frage, welche Wirkungen von welchen Urfachen ausgehen. 
Indem fie Die Sorge für da8 Zuftandelommen der Ereigniffe einer 
allgemeinen und gefeglichen Naturnothwendigkeit überläßt, deren 
Gebote feinen Widerftand finden, welchen hinwegzuräumen be- 
fondere Mittel nöthig wären, hat fie an diefem Gedanken einen 
ebenjo reichen und ergiebigen Gegenftand der Unterfuchung, wie 
die Aftronomie einen ſolchen in der Borftellung der allgemeinen 
Anziehung befigt, von deren Zuſtandekommen fie nichts weiß, aber 
aus welcher fie unter Berüdfihtigung der mannigfachen Umftände, 
unter denen ihre unbegreifliche Wirkung auftreten Tann, eine Fülle 
der verwideltiten Erſcheinungen zu erklären vermag. 

Man wird dieſe Anficht richtig bezeichnen, wenn man fie mit 
dem Namen des Occafionalismus belegt, aber man wird Unrecht 


314 


haben, e8 im Sinne eined Tadels zu thun. Wir nennen eine 
Lehre fo, die Alles, was unjerem unbefangenen Blicke als die 
hervorbringende Urſache eines Erfolges eriheint, nur als Die Ge- 
legenheit auffaßt, bei welcher auf unbegriffene Weiſe dieſer Erfolg 
berportritt. Dies Bewußtfein num möchten wir eben ermeden, 
daß alle unfere befte Kenntniß der Natur überall nur ein genaues 
Studium der Gelegenheiten ift, bei denen dur einen Zufammen- 
hang des Wirkens, deſſen innere bewegende Nerven wir nicht 
verftehen, die Ereignifje berbortreten, jedes nach allgemeinen Ge- 
fegen an eine ihm allein zugehörige VBeranlafjung gefnüpft, und 
jedes nach ebenfo beftändiger Regel ſich mit der Veränderung diefer 
Beranlafjung verändernd. Wir ftehen nicht außerhalb des Kreifes 
naturwiſſenſchaftlicher Auffaffungen, wenn wir den Wechjelwirkun- 
gen zwiſchen Leib und Seele diefe Betrachtung unterlegen, ſondern 
wir dehnen nur die Gewohnheiten der Naturerkenntniß folgerecht 
auf dies neue Verhältniß aus. Ja die Klare Einficht, daß auch 
unfer Wiſſen um die phyſiſchen Ereigniffe fein wejentlich tieferes 
ift, wird ung nun jelbft erlauben, jene Anſchauungen der täglichen 
Beobachtung, deren Wegfall in diefer Frage wir oben bebauerten, 
. ohne Befürchtung eines Irrthums wieder anzumenden. 

In der That warum follten wir uns verjagen, von dem 
Drud und von dem Stoß der Maſſen auf die Seele, von der An- 
ziehung und Abſtoßung beider durch einander zu ſprechen, ſobald 
diefe Ausdrücke, obwohl fie feine Aufflärung enthalten, Doch dazu 
dienen, unfere Vorftellungen des Sachverhaltes bequem und an= 
ſchaulich abzukürzen ? Was wir unter jenen Worten im gewöhnlichen 
Leben zunächſt verftehen, das find die äußerlichen Formen, welche 
die Wechſelwirkung größerer und zufammengefegter Maſſen gegen- 
einander annimmt. Hier ſcheint es uns, al8 wirkten die Maſſen 
Durch den Stoß, durd den Drud. Aber gehen wir auf die 
einfachen Atome zurüd, die das Gefüge diefer Körper bilden, fo 
treffen wir innerhalb der phyſikaliſchen Anfchauungen auf die Bor- 
ftellung von großen Zwifchenräumen, die auch in ber Dichteften 
Maffe die Heinften Theile trennen, und deren Größe zwar durch 











315 


mannigfaltige Kräfte verfleinert, aber nie bis zu völliger. Berüh- 
rung der Atome vernichtet werben inne. Dann wiirde der Stoß 
zweier Atome anderd zu faflen fein. Noch ehe eine Berührung 
erfolgt, würde die Annäherung des einen in dem andern eine 
zurüdftoßende Kraft erweden oder fteigern, und die nun erfolgende 
Wirkung, die und früher durch den bandgreifliden Anprall des 
Stoßes wie dur ein Mittel ihrer Verwirklihung zu entftehen 
ſchien, würde in der That von einem wechfeljeitigen Einfluß der 
Elemente aufeinander abhängen, für deffen Zuftandelommen wir 
gar Teine weitere Mafchinerie mehr aufzuzeigen wiffen. Die Er- 
ſcheinung des Stoßes würde nur noch die Folge eines inneren 
unvermittelten Verſtändniſſes der Dinge untereinander fein, kraft 
deffen fie ihre Zuftände nach allgemeinen Gefegen auf einander 
wirten laflen. Warum alfo follte nicht ein Atom des Nerven- 
ſyſtems ebenfo auf Die Seele oder fie auf jenes ftoßen und brüden 
können, da doch jeder gemeine Stoß und Drud ſich für Die nähere 
Betrachtung nicht als ein Mittel zur Wirkung, fondern nur als 
die anſchauliche Form eines viel zarteren Creigniffed zwiſchen 
den Elementen ausweilt? 


Doch ohne allzuviel Werth auf den Wiedergewinn dieſer 
Ausdrücke zu legen, wollen wir vielmehr die nächte allgemeine 
Folge hervorheben, die aus unferer Anficht fich für die Behand- 
Yung ber einzelnen Fragen ergeben wird. Wir haben eben des 
feltfamen Vorurtheils Erwähnung gethan, welches den Borgang 
des Wirkens als die Uebertragung eines fertigen Zuftandes von 
einem Element zum anderen betrachtet. Wie wenig aus einer 
folden Vorausſetzung fih die Mannigfaltigleit der Ergebniffe 
würde erflären laſſen, welche ber Eindrud eined Reizes in ver- 
ſchiedenen Gegenftänden wedt, auf bie er trifft, bedarf feiner 
weiteren Erörterung; beftände fein Wirken nur in der Aus: 
ftrahlung eines fertigen Zuſtandes, der von jenen als folder 


316 


aufgenommen würde, jo könnte ihm auch nichts antworten, als 
ein ganz gleichlautendes Echo, ebenfo vielftimmig, als Gegen- 
ftände vorhanden waren, die dieſem gleichen Eindruck ſich öffneten. 
Mag es fein), daR von dem wirkenden Punkte immer nur eine, 
ibm und feinem Zuſtande entiprechende Bewegung fi) ausbreitet, 
fo muß doch offenbar der Erfolg, den fie haben wird, verſchieden 
fein nad der Verſchiedenheit der Weſen, auf welche fie trifft. 
Die Anſicht, die wir feftzubalten befchloffen haben, legt uns jenen 
Irrthum nicht nahe; fie führt uns vielmehr ohne Umfchweif dazu, 
jeden äußeren Einfluß, der von irgend einem Element auf ein 
anderes überwirkt, immer nur als einen veranlaffenden Reiz zu 
betrachten, welcher in dieſes zweite nicht einen fertigen und ihm 
fremden Zuftand bineinträgt, jondern in ihm nur wedt, was in 
feiner eignen Natur ſchon begründet war. Die hölzernen Taften 
des muſikaliſchen Imftrumentes enthalten. nicht felber die Töne, 
bie fie Durch ihren Anfchlag aus den Saiten bervorloden lediglich 
die Spannung der legteren ift e8, Die durch jenen Stoß in ton- 
erzeugende Schwingungen übergeben Tann. Ebenfo find alle Ein- 
brüde des Körpers nur Anftöße für die Seele, auß ihrer eignen 
Natur die inneren Phänomene der Empfindung zu erzeugen, bie 
ihr von außen nie mitgetbeilt werben innen. Denn aud wenn 
e8 nicht die Bewegung einer Tafte, fondern felbft ſchon eine 
Schallſchwingung wäre, was Die Saite zum Mittönen brächte, 
immer wiirde Doch dieſe den Ton nur durch ihre eigne Spannung 
wieder zu erzeugen fähig fein, gleichviel ob das, was fie in Erzitte- 
rung verjegte, ein diefer Schwingung ähnlicher oder unähnlicher 
Borgang war. Nicht anders würde es ſich verhalten, wenn wir 
auf irgend eine Weiſe die Empfindung als einen ſchon in den 
Nerven vorhandenen Zuſtand faſſen wollten; er würde in ber 
Seele doch von Neuem entftehen müfjen dur irgend eine An- 
regung, die der empfindende Nerv ihr zufommen ließe, und er 
würde nie durch Äußere Eindrüde in ihr entftehen können, wenn 
nicht ihre eigne Natur zur Entfaltung diejer eigenthinnlichen 
Form des inneren Geſchehens an fich ſelbſt befähigt wäre. Jede 








317 


Borausfegung mithin, die das, was in der Seele entftehen foll, 
auf irgend eine Art ſchon außer ihr als vorhanden vorausfekt, 
ift doch genöthigt anf dieſen Gedanken zurückzukommen und das 
Aeußere nur als eine Beranlaffung, das innere Ereigniß dagegen 
al8 ein aus der Natur defien, in welchem es geichieht, hervor: 
gehende zu betrachten. Die Nothwendigkeit dieſer neuen Ent- 
ftehung beffelben Tann durch jene Annahme eben fo wenig ver- 
mieden werben, al8 etwa die Erfenntniß einer Wahrheit oder bie 
Degeifterung eines Gefühle fi von einem Geifte an den andern 
ohne eine wiedererzeugende Selbitthätigleit des letztern mittheilen 
läßt. In wie vielgeftaltiger Weife daher die Einwirkungen bes 
leiblichen Lebens die Entwidlung des geiftigen bedingen, jo führen 
fie Doch weder das Bewußtfein überhaupt, noch irgend eine ein- 
zelne Empfindung oder Borftellung der Seele fertig, al8 das ſchon 
gewonnene Reſultat Körperlicder Vorgänge zu; alle jene Einwir⸗ 
fungen find nur Signale, auf deren Eintreten die Seele nad un⸗ 
veränberlichen Geſetzen nur aus der Natur ihres eignen Weſens 
beftinumte innere Zuftände erzeugt; aber die feine Organifation 
des Körpers, die ed ihm möglich macht, jene Signale in eimer 
beftimmten, den wirklichen Berhältnifien der Dinge entſprechenden 
Sruppirung und Reihenfolge zu überliefern, leitet auch die Seele 
zu .einer Abwechſelung und Berfnüpfung ihrer Empfindungen an, 
in welcher fie alle Wahrheit erreicht, die überhaupt durch Die 
bloße Auffafjung des Gegebenen noch ohne denkende Bearbeitung 
feines inneren Zuſammenhanges möglich ift. 

So wie nun das Ganze der Empfindungswelt eine innere 
Entwidlung ift, nicht von Außen bereingefommen, fondern in der 
Einheit des vorftellenben Weſens durch die Vielheit fremder An- 
ftöße nur angeregt, fo ift auch die Mannigfaltigfeit der körperlichen 
Bewegungen, die auf den Anlaß der Seele entſtehen, eine Entfal- 
tung wirkungsfähiger, in der leiblichen Organifation begründeter 
Berhältnifie, angeregt wohl durch die inneren Zuftände der Seele, 
aber nicht von ihr als fertige auf die Werkzeuge des Körpers 
übergetragen. Bon jenen äußeren Reizen, welde eine Empfin- 


318 


dung hervorrufen, kennt unfer unmittelbares Bewußtfein weder 
ihre Natur noch die Mittel, durch welche fie einen Eindrud auf 
und erzeugen; erft die Wiſſenſchaft Hat nad Langer fruchtlofer 
Bemübung die Eigenthümlichkeiten der Licht- und Schallwellen 
aufgeflärt, denen wir Ton und Barbe verbanfen. Aber felbft 
von jenen Vorgängen, die durch Diefe Reize in unſerem Nerven⸗ 
iuftem hervorgebracht, die nächte Beranlaffung unferer Empfin- 
dungen find, wiffen wir nicht, und auch Die phyſiologiſche Unter: 
fuhung bat fie bisher nicht kennen gelehrt; nichts tritt in unferem 
Bewußtſein hervor, als das Ende aller diefer Vermittlungen, die 
bewußte Empfindung des Tones oder der Farbe ſelbſt. So 
wenig verfteht die Seele die Entwidlungsgeihichte ihrer Vor⸗ 
ftellungen; fie erzeugt fie nicht als freie, wählende und ihres 
Thuns fih bewußte Thätigfeit, fondern durch ein allgemeines 
und bindendes Naturgeſetz ift fie als ein fo geartetes Weſen ge- 
nöthigt, diefem Emdrud mit diefer, einem beftimmten andern 
ftet8 mit einer beftimmten andern Empfindung zu antworten. 
Ganz ebenfo wenig weiß und verfteht die Seele von dem Bor- 
handenfein, der Lage, der Verknüpfung und der Wirkſamkeit der 
Werkzeuge, durch welde fie ihre Bewegungen ausführt; fie lernt 
wohl bald die äußere Geftalt der beweglichen Gliedmaßen Tennen, 
aber nicht unmittelbar, fondern nur durch die Hilfe der Wiſſen⸗ 
haft erfährt fie, und immer unvolllommen, die innere Einrich- 
tung ber Muskeln und der Nerven, Die zu ihrer Bewegung 
dienen. Nicht durch dieſe mangelhafte Kenntnig wird fie zu 
ihren Handlungen befähigt; nicht fie ift e8, welche die vorhan- 
denen Mittel überblidend, wählen und im Einzelnen Alles leitend, 
fih zur Ausführung einer Bewegung die nöthigen Muskeln aus- 
ſucht. Hätte fie felbft diefe gefunden, fie wiirde doch rathlos 
ftehen, wie fie dieſen Werkzeugen die hinlängliche Größe eines 
Anſtoßes zukommen laſſen follte; weiß doch jelbft die Wiffentchaft 
noch nicht zweifellos, durch welche Form des Vorganges der be- 
wegende Nerv feine Erregung den Muskeln mittheilt. Auch bier 
muß die Seele jenem Zufammenbange vertrauen, der in allem 











319 


Naturlauf nah unveränderlichen Gefegen Zuſtand mit Zuftand 
verbunden hat und der auch die inneren Regungen, zu denen 
ihre Natur fähig ift, ohme ihr mithelfendes Zuthun mit Verän- 
Derungen ihres Körpers verknüpft. Sobald das Bild einer be- 
ftimmten Bewegung in unferem Bewußtfein verbunden mit dem 
Wunſche ihres Geſchehens auftaucht, fo ift dies der innere Zu— 
ftand, an den diefe durchdringende Gefeglichfeit der Natur als 
notbwendige Folge die Entftehung diefer beftinnnten Bewegung 
gefettet hat und fie gefhieht nun, nachdem dieſe Anfangsbebin- 
gung ihres Eintretens gegeben ift, ohne unfer Mitwirken, ohne 
unſer Zuthun, jelbft ohne alle Einfiht unferfeit8 in den Gang 
des Mechanismus, den und der Zufammenhang der Natur zu 
Gebot geftellt hat. 

Und nit immer gehen Bewegungen aus unferem Willen 
hervor; fie erfolgen als Ausdrud leidenſchaftlicher Erregungen in 
unfern Gefihtszügen und in allen Theilen unſeres Körpers häufig 
ohne, felbft gegen unferen Willen; fie erfolgen in Formen, deren 
Bedeutung oder deren Nuten zum Ausdrud oder zur Linderung 
Diefer inneren Erregung wir nicht verſtehen; wir weinen und 
laden, ohne zu wiſſen, warum das eine der Freude, Das andere 
der Trauer ein nothiwendiger Ausdrud fein müßte; das Schwanken 
unferer Gemüthsbewegungen verräth fi in taufend Abwechſe— 
Lungen unſeres Athmens, und wir Binnen nicht nachweifen, weder 
auf welchem Wege, noch zu welchem Zwecke fich dieſe Fürperlichen 
Erſchütterungen an die umferes Inneren Inüpfen. So find offen= 
bar viele geiftige Zuftände, nicht allein Entjchlüffe des Willens, 
fondern auch willenlofe Gefühle und Borftellungen, von dem 
allesumfaflenden Naturlauf zu bebingenden Anfangspunften ge- 
macht worden, die allerding8 unjere Seele zum Theil wenigfteng 
felbftthätig aus ihrem eignen Innern erzeugt; nachdem fie aber 
erzeugt find, bringen fie die ihnen entſprechende Bewegung mit 
der blinden Sicherheit eined Mechanismus, ohne unfer einrich⸗ 
tendes und leitendes Mitwirken, felbft ohne unfere Kenntniß von 
der Möglichfeit dieſes Wirken hervor 


820 


Man täufcht fi daher, wenn man mit einem beliebten 
Gleichniſſe den Leib als das bewegliche Schiff, die Seele als 
feinen Führer bezeichnet. Denn der Iegtere keunt, oder Tamm 
wenigftend den Bau Tennen, deſſen Bewegung er leitet; er ſieht 
vor fih den Weg, den er ihn führen fol, und indem er in jedem 
Augenblid die Richtung, in der er fi bewegt, mit der Bahn 
vergleicht, die er durchlaufen fol, kann er nicht nur die Größe 
der nöthigen Ablenkung berechnen, jondern flieht vor ſich bie 
mechaniſchen Handhaben des Steuer, durch weldye fie zu be- 
wirken ift, und feine eignen Arme, welde jene Handhaben drehen 
fönnen. Weit entfernt von diefer verhältnigmäßig volllonnmenen 
Einfiht in den Gang der Maſchine, gleicht die Seele vielmehr 
einem untergeordneten Arbeiter, der wohl an dem einen Ende eine 
Kurbel zu drehen oder Kohlen aufzufchlitten verfteht, aber gar nichts 
bon der inmenbigen Webertragung der Bewegungen weiß, durch 
welche das andere Ende des Getriebes ein fertiges Product Liefert. 
Oder wollen wir bei jenem Gleichniß bleiben: das Verhaͤltniß 
zwifchen Seele und Leib gleicht nicht dem zwiſchen dem Führer 
und der Maſchine, fondern natürlich dem zwiſchen der Seele 
biejes Führers und feinem Leibe; der Führer erfüllt feine Auf- 
gabe nur, weil ihm zu den verftändlichen Bewegungen, die er 
feinem Werkzeug mittheilen fol, die unverftandene Beweglichkeit 
feiner eignen Arme als Mittel zu Gebot fteht. So täufcht jenes 
Gleichniß oberflächlich, weil e8 das unbegriffene Berglichene ftill- 
ſchweigend einſchließt. 

Man wird wenig geneigt fein, dieſer Anficht rückhaltlos 
zuzuſtimmen. Zu ſehr hat man ſich gewöhnt, die Seele als die 
freiherrſchende und ſchaltende Gebieterin anzuſehen, deren Gebot 
den Körper zwinge. In dem Schwunge, den wir dem Arme 
mittheilen, glauben wir unmittelbar das Ueberſtrömen unſeres 
Willens in die Organe zu fühlen, wie er fie werkthätig in Be- 
wegung jeßt; und diefer Anftoß follte nicht genligen? Eine all- 
gemeine Naturnothwendigfeit follte dem Willen die Folgfamfeit 
der Glieder erft zum Geſchenk maden müſſen? Und doc ift es 





321 


fo; in jenem Schwunge des Armes fühlen wir nichts fo wenig, 
als das Webergehen der Kraft; was wir empfinden, iſt nichts, 
als Die Veränderung, welche durch die ſchon gefchehene Anregung 
die Muskeln während ihrer Zufammenziehung erfahren, und von 
welcher eine Wahrnehmung, der Müdigkeit ähnlich und in fie 
übergehend, zu unferem Bewußtfein zurückkehrt. Nicht die Reben- 
digfeit des Willend und auch nicht Die Thatfache feiner Macht 
über die Glieder wird durch unfere Auffaffung bedroht; aber feft- 
geftellt wird, daß die Natur des Willens nur im Tebenbigen 
Wollen, nit an fi zugleih im Vollbringen beſteht; fo wenig 
unfer Wille unmittelbar über die Grenzen unferes Körpers hin- 
ausreicht und als thätige Gewalt die entfernte Außenwelt ver- 
ändert, jo wenig reicht er in unferer Perfönlichleit an fich über 
unfere Seele hinaus; wenn er dennoch eine Macht ausiibt über 
den Körper, den ihm bie Natur als Werkzeug zugefellt bat, fo 
ift e8, weil diefelbe Naturnothwendigkeit es feftgefett hat, daß an 
feine Gebote, die an ſich machtlojen, eine gefeglich geordnete Yolg- 
ſamkeit ver Maſſen fich knüpfe. 

So iſt alſo, um zu unſerem Anfange zurückzukehren, die 
Mannigfaltigkeit unſerer Bewegungen eine Entwicklung der zweck⸗ 
mäßigen Berbältnifje unſerer körperlichen Organiſation, nicht aus⸗ 
gedacht, nicht im Einzelnen überwacht und ins Werk geſetzt durch 
die Seele, ſondern von ihr einſichtslos angeregt. Wohl kann die 
Seele, indem ſie eine Reihenfolge ſolcher inneren Zuſtände in 
ſich erzeugt, die der allgemeine Naturlauf zu Anfangspunkten von 
Bewegungen gemacht hat, auch eine Reihenfolge der letzteren in 
einer Ordnung und zweckmäßigen Gruppirung hervorrufen, für 
welche an fi die Einrichtung des Organismus keinen hinläng-— 
lichen Grund enthält; aber alle ihre Herrſchaft über den Körper 
kommt in dieſer Beziehung doch nicht über eine unendlich man- 
nigfach variirte Benutzung und Zuſammenſetzung elementarer Be- 
wegungen hinaus, von denen ſie keine einzelne zu erſinnen oder 
zu begreifen weiß. Sie verknüpft zweckmäßige Elemente zu einem 
zweckmäßigen Gebrauch, wie die Sprache ihre — und Conſo⸗ 

Lotze 1. 4. Aufl. 


4 


322. 


nanten zu einem unendliden Reichthum der Worte und bes 
Wohlklanges; aber wie die Sprache ihre Laute vorfand, fo findet 
die Seele die einfachen zweckmäßigen Bewegungen vor, leicht er⸗ 
regbar durch einen inneren Zuftand, den fie herbeizuführen weiß, 
aber in der fibrigen Weife ihrer Entftehung und Durchführung 
ihr völlig dunkel und von ihr unabhängig. 


ALS wir die Vorftellungen prüften, welche über den Grund 
ber zweckmäßigen Bildung des lebendigen Körpers nach und nad 
berborgetreten find, haben wir bereits jener Anficht gedacht, welche 
feine Harmonie nur aus der thätigen Mitwirkung eines geiftigen 
Weſens ableitbar glaubte Wir haben Damals gejehen, daß diefe 
Meinung ihr Ziel verfehlte, wenn fie durch die Hilfe der Seele 
die Entwidlung bes Körperd dem Gebiete des mechaniſchen Ge- 
ſchehens zu entziehen fuchte. Denn das, wodurch allein die Seele 
mehr ift, als der blinde Mechanismus, die verfländige Meber- 
legung und die willfürlihe Wahl der Zwecke und Mittel, Tonnte 
nad Allenı, was die Erfahrung uns lehrte, nicht als mitwirkend 
bei dem allmählihen Aufbau der körperlichen Geftalt betrachtet 
werden. Die Formen des Leibes werden in einem Zeitraum 
endgiltig feftgeftellt oder vorbereitet, in welchem alle dieſe Thätig- 
teiten der Seele ihrer Ausbildung noch entgegenfehen; Alles, was 
fie felbft daher zur Begründung des Eörperlichen Vebens beitragen 
konnte, vermochte fie nur, fofern fie als ein Element neben an- 
dern in den Zuſammenhang der mechanischen Wechſelwirkungen 
mit verflochten war, aus deren zufammenftimmender Thätigfeit 
mit blinder Nothwendigkeit die worherbeftimmte Form des Orga- 
nismus hervorging. 

Diefe nöthige Zurüdweifung einer falihen Borftellung über 
bie Form, in welder die Seele an dem Ausbau bes Körpers 
theilnimmt, würde an ſich nicht hindern, diefen Antheil groß und 








323 


wichtig zu denken. Immer wiirde die Seele durch Die bedeutungs⸗ 
vollere Natur ihres Weſens ein bevorzugtes Element in der Mitte 
aller übrigen fein, und. obgleih aud ihre Mitwirkung nur in 
nothwendigen Rückwirkungen beftände, zu denen fie in jebem 
Augenblide dur die Summe ihrer Beziehungen zu jenen ge- 
zwungen wird, fo Tönnte Doch eben die Tiefe ihrer eignen Natur 
fie befähigen, aud auf diefe Weile Einflüffe von fih ausgehen 
zu laffen, deren Nuten für den Fortſchritt der Organifirung die 
Berdienfte aller übrigen Beftandtheile überböte. Sehen wir nun, 
wie noch innerhalb der Grenzen unferer Beobachtung die An- 
vegung des Willens die Musfelfafern zur Verkürzung bringt, wie 
alfo offenbar einem Wechſel in den Zuftänden der Seele auch 
eine Beränderung in den Lagenverhältnifien kleinſter Maffentheil- 
hen des Körpers nadfolgt, To Können wir im Allgemeinen die 
Möglichfeit durchaus nicht bezweifeln, daß in einer früheren Bil- 
dungszeit, in welcher Die Elemente des Körpers noch nicht die feſte 
Structur und Lage angenommen baben, welche fie im Erwachſenen 
befigen, die inneren Regungen der Seele auch auf die erſt noch 
zu gewinnende Lagerungsform der Theilchen, mithin auf die Aus- 
bildung der Geftalt, einen beträchtlichen Einfluß ausüben könnten. 
Allerdings wird der Anfangspunft diefes Einfluffes nicht die be- 
wußte Vorftellung der Bewegung von Gliedmaßen fein können, 
von deren Dafein und Verwendbarkeit die Seele in diefem Zeit- 
raume noch feine Erfahrung haben könnte; aber wie wir aud 
noch in ber fertigen Geftalt Gemüthsbewegungen unwillkürlich 
fi mit der Gewalt ihres Eindrudes auf einzelne Theile werfen 
und die Lagenverhältnifje dieſer ſchon verfeftigten Elemente durch 
mimifche Bewegungen verändern fehen, jo könnten ohne Zweifel 
auch die formlofen, noch auf Feine beftimmten Handlungen be- 
ziehbaren Erregungen, weldje die unentwidelte Seele des werben- 
den Organismus erihüttern, nad) ihrer qualitativen Natur einen 
ähnlichen Einfluß auf die erſte Feftftellung einzelner Formverhält- 
nifje äußern. 

Aber im Ganzen müfjen wir und body zugeftehen, daß Dies 

21* 





322 


nanten zu eimem umendlichen Reichthum ber 


Woblilanges; aber wie Die Sprache ihre Laute ı 
tee Seele tee einachen zweiimähigen Bewegung: 
regbar durch einen inneren Zufland, den fie her" 


aber im ver übrigen Weiſe ihrer Entflehung u: 


ihr vlig duntel web von ihr unabhängig. 


Als wir die Scorfiellungen prüften, welche 
der zweilmäßigen Bildung bes lebendigen Körpe 
bervergetreten find, haben wir bereits jener Anſi 
feine Harmonie nur auß der thätigen Mitwirku 
Weſens ableitbar glaubte. Wir haben damals 
Meinung ihr Ziel verfehlte, wenn fie durch tv. 
die Entwidlung bes Körpers dem Gebiete des 
ſchehens zu entziehen fuchte. Denn das, wodu 
mehr ift, als der blinde Mechanismus, vie 
legung und die willtürlihe Wahl der Ymede ı 
nah Allem, was die Erfahrumg uns lehrte, m 
dei dem allmählichen Aufbau ber körperlichen 
werden. Die Formen des Leibes werben iı 
enbgiltig feftgeftellt oder vorbereitet, in melden 
feiten der Seele ihrer Ausbildung noch entgege: 
fie felbft aber zur Begründungshbesilörperlidh. 
fonnte, vermochte jie nur, joh@g v.als 
bern in ben —* aniſchen 
mit berflochten nu ' tn 
mit blinder No eit | kl 
nısmud bevborg 

Dieje nl 
die Form, MR 
theilmimmt, 19 











auch 
zu Bl 
Anmnög⸗ 
nicht 
ahme 
Macht 
ſelbſt 
N eine 
te auf 
Muskel⸗ 
ng ges 
‘tr. Die 
n Körper 
Geſtalt. 
bens zu⸗ 
derung ſie 


influß der 


re Schön⸗ 


‚iu, welche 
daß aber 
„ill Maße 


iſt eine 
ben Bei: 
Anlagen 








Kapitel. 


ge der Seele. 


‚Strfungsfreiß ber Seele — Gehirnbau. — 
. — Bedingungen ber räumlichen Anſchauung. 
Nervenfafern. — Allgegenwart ber Seele im 


0, welchen wir bisher benußt ha= 
Weſens, deſſen Natur zur Entwid- 
(en und Strebungen fähig ift, Liegt 
räumliche Beziehungen hindeutete. 
n welde die Seele zu den Maſſen 
a8 natürliche Verlangen, nicht nur 
8 Mechfeleinfluffes im Allgemeinen, 
Stellung beider wirkfamen Glieder 
v raumlichen Anfchaulichkeit vorftellen 
obachtung der Natur zwar nicht bie 
aber wohl unfere Borftellungen über 
itet. Man wird nad dem Site ber 


e ift einfach; laſſen wir dahin geftellt, 
seilbaren Weſen eines wahrhaft Seien- 
ısdehnung in dem Sinne zuzufchreiben, 
‚nateriellen Stoffen beilegen zu können 
alle Meinungen darin ſich vereinigen 
ausgedehnten Wefen ein Ort im Raume 
vd e8 vorhanden fein, bis wohin alle 
n ſich fortpflanzen müffen, um e8 mit 
hen, und bon wo aus rüdwärt® 


324 


Alles nur Möglichkeiten find, oder vielmehr, wenn allerdings aud) 
nach unferer Anfiht ein Mangel aller Theilnahme der Seele an 
den Wechfelwirkungen, durch melde ihr Körper entfteht, unmög- 
lich ift, fo find wir doch durch die Analogien der Erfahrung nicht 
befähigt, den Umfang zu fehägen, in welchem jene Theilnahme 
wirklich ftattfindet. In dem ausgebildeten Körper ift die Macht 
der Seele über die Geftaltbildung eine jehr geringe, und felbft 
fo weit fie ftattfindet, ſcheint fie nur mittelbar fih durch eine 
Abänderung der Berrihtungen zu äußern, auf weldhe, wie auf 
Herzihlag Athmung und Verdauung oder auf einzelne Mustel- 
gruppen, der Wechſel der Gemüthszuftände oder die Uebung ge= 
wiffer Bewegungen näher oder entfernter Einfluß hat. Die 
Wirkungen der Seele find deshalb meift über den ganzen Körper 
verbreitet und ändern mehr feine Haltung, als feine Geftalt. 
Geben wir gern zu, daß die Veredlung bes geiftigen Lebens zu⸗ 
legt auch die körperlichen Formen veredelt, feine Berwilderung fie 
verwilbern läßt, jo möchten wir hierauf aud den Einfluß ber 
Seele beſchränken. Er entwidelt bis zu gewiſſem Maße Schön- 
heit und Häßlichkeit Der Geftalt durch leiſe Veränderungen, welche 
er den an ſich fchon feſtſtehenden Proportionen einprägt; daß aber 
die erfte Bildung der organifchen Form in überwiegendem Maße 
aus ber geftaltenden Kraft der Seele hervorgegangen fei, ift eine 
poetifche Lieblingsmeinung Vieler, für welde die zahlreichen BVei- 
fpiele der Nichtübereinftimmung zwiſchen den geiftigen Anlagen 
und dem körperlichen Baue nicht vorhanden find. 











325 


Zweites Kapitel. 
Bon dem Site ber Seele. 





Bedeutung der Trage. — Beſchränkter Wirkungskreis ber Seel. — Gebirnbau — 
Art der Entftehung von Bewegungen. — Bebingungen ber räumlichen Anfchauung. 
— Bedeutung der unverzweigten NRervenfafern. — Allgegenwart der Seele im 
Körper. 


In dem Begriffe der Seele, welchen wir bisher benußt ha= 
ben, dem eines untheilbaren Wejens, defjen Natur zur Entwid- 
lung von Borftellungen Gefühlen und Strebungen fähig tft, Tiegt 
nichts, was auf Raum und räumliche Beziehungen hindeutete, 
Aber die Gegenwirtungen, in welde die Seele zu den Maſſen 
des Körpers tritt, erregen das natürliche Verlangen, nicht nur 
die Möglichkeit und Art dieſes Wechfeleinfluffes im Allgemeinen, 
fondern auch die gegenfeitige Stellung beider wirkſamen Glieder 
dieſes Verhältniffes mit jener räumlichen Anſchaulichkeit vorftellen 
zu Können, welche unfere Beobachtung der Natur zwar nicht bie 
Sache eigentlich erflärend, aber wohl unfere Borftellungen über 
fie aufflärend, überall begleitet. Man wird nad) dem Site der 
Seele fragen. 

Der Sinn diefer Frage ift einfach; laſſen wir dahin geftellt, 
ob es möglich fei, dem untheilbaren Wefen eines wahrhaft Seien- 
den irgendwie räumliche Ausdehnung in dem Sinne zuzufchreiben, 
in welchem wir fie den materiellen Stoffen beilegen zu können 
glauben, jo werden doch alle Meinungen darin ſich vereinigen 
dürfen, daß auch dem unausgevehnten Wejen ein Ort im Raume 
zulommen fünne. Da wird e8 vorhanden fein, bi8 wohin alle 
Eindrüde des ihm Fremden fi fortpflanzen müfjen, um es mit 
ihrer Wirkſamkeit zu erreichen, und von wo aus rüdwärts alle 





326 


die Anregungen kommen, durch welche e8 unmittelbar feine Um— 
gebung, mittelbar durch diefe Die weitere Welt in Bewegung fett. 
Diefer Punkt des Raumes ift der Ort, an weldem wir un Die 
unräumliche Welt des wahrhaften Seins hinabfteigen müfjen, um 
das wirkende und leidende Weſen zu finden; und in diefem Sinne 
wird jede Anficht einen Si der Seele fuchen dürfen, auch wenn 
fie ihr außer dem Orte nicht zugleich Die Ausdehnung einer räum- 
lihen Geftalt zugeftehen zu dürfen glaubt. 

Aber unfere Begriffe über die Wechſelwirkung der Dinge 
unter einander laffen in Bezug auf die räumliche Erſcheinung 
mehrere Möglichkeiten zu. Wir fönnen ung denfen, daß ein Weſen 
mit der Gefammtheit der übrigen Welt nicht nur überhaupt in 
Beziehung ftehe, jondern mit jedem Theile derſelben in gleich 
inniger unabgeftufter Beziehung. Nicht nur mit wenigen wird 
ed dann unmittelbare Wechfelwirkungen austaufchen, um durch 
beren Vermittlung hindurch erft die übrigen zu beherrichen, fon- 
dern mit allen zugleich ſteht e8 in jener lebendigen Verbindung, 
welche die Zuftände des einen unmittelbar auf die des andern 
wirten läßt. Drüden räumliche Lagen und Orte die Enge oder 
Lockerheit diefer inneren Verbindungen aus, fo wird dieſes Weſen 
nicht einen begrenzten Sig im Raume haben, fondern allen 
Theilen der Welt innerlich gleich nahe, wird e8 äußerlich in ihr 
allgegenwärtig zu fein fcheinen. So ftellen wir uns das Dafein 
Gottes vor. Er, der Schöpfer des Ganzen, ift jedem fcheinbar 
verlorenen Punkte des Gefchaffenen gleich nahe; feine Kraft bat 
nicht einen Weg zurüdzulegen, um zu erreichen, worauf fie wir: 
fen will, und die Zuftände der Dinge brauchen ihn nicht aufzu- 
fuchen, um feiner Borfehung ſich anzuvertrauen, von der fie über- 
all gleih innig umſchloſſen find. Aber wir faſſen doch Diefe 
Allgegenwart nicht fo, daß wir dem Weſen Gottes die unermeß⸗ 
liche Ausdehnung felbft zuſchrieben, die feine Macht beberricht; 
mit richtiger Enthaltſamkeit von diefer finnlichen Anjchaulichfeit 
denken wir ihn als das überfinnlich geftaltlofe Wirken, für welches 
dieſe Unermeßlichleit eben nicht8 ift, weder eine Schranke feiner 








327 


unmittelbaren Gegenwart, noch eine Eigenfhaft, die der Fülle 
feines Weſens etwas hinzufegte. 

Die Naturwifjenihaft bat und am einen zweiten denfbaren 
Tall gemöhnt, den von Wefen, welche zwar mit der Gejammtheit 
aller ihres Gleichen ummittelbar, aber mit den verichiedenen Doc 
in abgeftufter Innigfeit der Beziehungen in Wechſelwirkung ftehen. 
So erſtreckt fi Die anziehende Kraft jedes gravitirenden Theil- 
chens auf alle andern und bis in jede unendliche Entfernung hin- 
aus unmittelbar; aber Die Größe der Kraft nimmt mit der wach⸗ 
fenden Entfernung ab. Und auch jene molecularen Wirffamteiten, 
beren Erfolg ſchon bei den geringften merflihen Abftänden der 
wechſelwirkenden Elemente für unfere Wahrnehmung verſchwindet, 
laſſen wir doch ins Unendliche hinaus mit raſch beichleunigter 
Abnahme reihen; ſchon in geringften Entfernungen mag ihre 
Stärke ſich dem Verſchwinden nähern, aber e8 kann feinen abſo— 
Iuten Werth der Entfernung geben, welcher fie völlig vernichtete. 
Ueber die Räumlichkeit fo wirkender Wefen find verichiedene Vor- 
ftellungen gleich zuläſſig. Man kann ſie allgegenwärtig im Raume 
nennen, denn in der That bedarf ihre Wirkſamkeit feiner fort- 
leitenden Vermittlung, um jeden Punkt des Raumes zu erreichen. 
Man Tann ihnen ebenfo wohl einen beichränkten Ort von punkt⸗ 
förmiger Kleinheit zuichreiben, wenn man die Abftufung ihrer 
Wirkſamkeit beventt. Dann werben fie an der Stelle des Rau⸗ 
mes fih zu befinden feinen, auf deffen berührende Umgebung 
fie das Marimum ihrer Kraft äußern; fie werden Dagegen ben 
übrigen unendlichen Raum nur mit abnehmender Macht zu be- 
herrſchen ſcheinen, ohne in ihm vorhanden zu fein. Dieſe dop⸗ 
pelte Möglichleit zeigt, daß die Frage nur ein irriges Intereſſe 
hat, ob in dem Falle ſolches Wirkens dem Wefen eine endliche 
oder unendliche Ausdehnung zukomme; ihm felbit wird gar fein 
Prädicat räumlicher Größe beigelegt. Wir dachten Gott nicht 
ebenjo groß als die Welt, die er beherrſcht; wir denken auch dieſe 
wirkenden Subftanzen weder unendlich klein, wie Die geometrischen 
Bunkte, von denen ihre Wirkung ausgeht, noch unendlich groß wie 





328 


die Weite, iiber die fie ſich erftredt. Sie felbit find, mas fie find, 
überfinnliche Weſen; nichts ift weiter über fie geſagt, als daß 
nah dem Sinne, der ihnen im Ganzen der Welt zufommt, in- 
nerhalb der väumlichen Ericheinung der Dinge ihre Kraft von 
einer beftimmten Stelle auszugehen und abnehmen die entfernten 
zu erreichen fcheinen muß. 

Man fann eine dritte Annahme verfuchen, nach welcher ein 
Weſen feine unmittelbare und unabgeftufte Wirkſamkeit auf ein 
beftimmte8 ausgebehntes Raumgebiet erftredte, mit allen aber, 
was jenfeit der Grenzen dieſes Gebietes läge, nur in mittelbarer 
Wechſelwirkung ftände. Aber diefe Annahme wirde eine falfche 
Borausfegung zu vermeiden haben. In dem leeren Raume 
Tiegt fein denfbarer Grund dafür, daß die Kraft eines Weſens 
fih nur bis zu einer Kugeloberflähe von beftimmten Halbmeffer 
verbreiten, über diefe Grenze hinaus aber erlöſchen jollte. Wenn 
irgend eine Entfernung vor irgend einer andern den Vorzug vor: 
aus haben fol, diefe einihränfende Macht zu üben, jo kann fie 
ihn nur dem Realen verdanken, mit welchem bis zu ihr hin der 
Raum angefüllt ift, über fie hinaus nicht mehr. Ohnehin darf 
jo eine Kraft nicht wie ein Etwas vorgeftellt werden, das von dem 
wirkenden Element immer ausginge, auch dann, wenn ein zweites 
nicht vorhanden wäre, auf das fie wirken Könnte; fie entfteht in je 
dem Augenblide des Wirkens zwifchen den beiden Elementen, zwi⸗ 
hen welchen eine Wechſelwirkung um ihrer qualitativen Natur willen 
unvermeidlich ift. Sie wird deshalb überall jo meit in den Raum 
hineinreihen, als in ihm Elemente anzutreffen find, Denen ihre 
innere Berwandtfchaft diefe Nothwendigfeit des Wirkens auferlegt; 
und man Tann deshalb nie jagen, ein Element entziehe ſich durch 
zu große räumliche Entfernung dem Einfluß einer Kraft, der es 
im Uebrigen um feiner Natur willen zu gehordhen verpflichtet wäre, 
Mit andern Worten: e8 kann feine Kraft geben, deren Wirkfam- 
feit von Haus aus fi auf ein endliches Raumgebiet, dann aber 
auch auf Alles das erftredte, was innerhalb deſſelben anzutreffen 
wäre; wohl aber ift an einem Clement eine Kraft denfbar, Die 




















329 


fih nur auf eine gewiſſe Art oder einen gewiſſen Kreis anderer 
Elemente befhränft und gleichgiltig vorübergeht an allen denen, 
Die nicht zu dieſer Art oder zu dieſem Kreiſe gehören. 

Ich ſchalte noch einmal die eindringliche Wiederholung einer 
Behauptung ein, die allem Früheren zu Grunde lag; es ift durch⸗ 
aus nothwendig, den oft gehörten Sat, ein Ding wirfe nır ba, 
wo e8 fei, in dem entgegengefegten umzulehren: es fei da, mo es 
wirke. Es ift durchaus ein Irrthum zu glauben, e8 heiße tiber- 
haupt etwas, wenn wir fagen, ein Ding fei an einem Orte und 
erlange in Folge deſſen die Fähigkeit zu beſtimmter Richtung und 
Ausdehnung feines Wirkens. Schon die gemöhnlichfte Ueberle— 
gung des alltäglichen Lebens bejtimmt den Ort eines Dinges nur 
nach feinen Wirkungen; dort ift ein Körper, von wo die Lichtfirah- 
len ausgehen, die er nach verfchiedenen Seiten endet; dort ift er, 
bon wo er der Hand, die ihn zu bewegen ftrebt, wiberftehenven 
Drud entgegenftellt; dort endlich, von wo er auf andere Körper 
anziehend feithaltend oder zurüditogend einwirkt. Und auch Dies 
ift nicht jo zu verſtehen, als feien alle diefe Wirkungen nur für ung 
Erfenntnifgründe, durch welche wir des Körpers Sein an feinem 
Orte gewahr würden, während dies Sein felbft eine von den 
Wirkungen, die e8 Fenntlich machen, unabhängige Bedeutung hätte. 
Es ift vielmehr weder zu jagen noch einzujehen, warum kon 
einem Dinge, das gar nicht wirkte, mit größerem Rechte ein Sein 
an diefem, als ein Sein an jedem andern Orte behauptet wer⸗ 
den dürfte, oder wodurch ſich der Zuftand eines Dinges, welches 
ohne alle Wirkffamteit an einem bejtimmten Orte blos wäre, von 
dem Zuſtand untericheiden könnte, in welchem es fich befinden 
wiürbe, wenn es an irgend einem beliebigen andern Orte fid 
aufbielte. | 

Unter diefer Borausfegung laſſen ſich die Vorftellungen feft- 
ftellen, die wir uns von dem angeführten dritten Fall bilden 
önnen. Iſt ein Weſen da, wo es wirkt, hängt e8 aber in 
feinem Wirken nur von den innerlihen Beziehungen, die zwijchen 
ihm und anderen Elementen ftattfinden, nit von dem leeren 





330 


Raume und feinen Orten und Entfernungen ab, jo Können wir 
noch weiter binzufügen: es ift überall da, mo es wirkt, und 
fein Ort ift Hein ober groß, ftetig ober discontinuirlich, je nach⸗ 
dem diefe andern Elemente im Raume vertbeilt find, mit denen 
e8 in dieſer unmittelbaren Gemeinſchaft der Wechſelwirkung ftebt. 
Welches aber auch und wie geftaltet der Ort eines wirkenden 
Weſens fein mag, er ift nie eine Eigenfhaft des Weſens 
felbft; Dies wird nicht groß mit feiner Größe, nicht Hein mit 
feiner Kleinheit, nicht ausgedehnt, weil er ausgedehnt ift, nicht 
vielfach und tbeilbar, wenn er vielfach oder zerftreut iſt. Neb- 
men wir an, um diefe Anfchauungen zu verdeutlichen, ein wir: 
kendes Element a ſtehe in Wechſelwirkung mit allen Elementen 
der Art b und diefe Wechſelwirkung fei unabhängig von ben 
Entfernungen, in melden fi in der Welt die einzelnen b vor- 
finden, fo würde a einen fo vielfadhen Ort im Raume haben, 
wie viele Elemente b in dem unendlichen Raume zerftreut find; 
an jedem biefer Orte würde a eben fo vorhanden fein wie an 
jedem andern, ohne daß deshalb die Einheit und Untheilbarkeit 
feines Weſens litte. Es fchadet der Denkbarkeit diefer Vorſtel⸗ 
lungsweiſe Nichts, daß wir in der Weltordnung für fie feinen 
Tall der Anwendung wiffen. Nehmen wir ferner an, a ftebe in 
unmittelbarer Wechſelwirkung mit einer beftunmten Anzahl b von 
Elementen, gleihartigen oder verfchtevenartigen, jo wird der Ort 
des a überall fein, wo eines diefer Elemente ſich findet. Dächten 
wir fie alle auf der Oberfläche einer Kugel vereinigt, jo würde 
der metaphufiiche Ort des a diefe krumme Oberfläche fein, und 
zwar jeder ihrer Punkte, der von einem der b realen Elemente 
befegt wäre. Wir würden nicht eigentlich Recht haben, aber wir 
fönnten unferer Einbildungsfraft das Bild verftatten, a befinde 
fih im Mittelpunkt der Kugel und übe von da eine Kraft aus, 
deren Wirkungsſphäre durch den endlichen Halbmefjer der Kugel 
beftimmt und begrenzt fei; wir würden durch diefe Wendung des 
Ausdruckes uns die bleibende untheilbare Einheit des a anfchau- 
liher machen, ohne fie im Grunde noch ficherer zu machen, 








331 


als fie ohnehin bleiben würde. Man würde fi endlich vor- 
ftellen innen, die Elemente b, mit weldhen a in unmittelbarer 
Wechſelwirkung fteht, feien im Naume zerftreut und zwifchen 
ihnen andere Elemente der Art c gelagert, mit melden bem a 
burd feine Natur Teine wirfungserzeugende Beziehung zufomme; 
dann wird a einen vielpunktigen Dbiscontinuirliden Ort im 
Raume haben, over an vielen Punkten zugleich fein und es 
würde jeßt, um ber Zwiſchenſchaltung der Punkte willen, an denen 
a nicht ift, unferer Phantafie zwar ſchwerer fallen, die Anfchau- 
ung der Einheit des a fetzuhalten, ohne daß deshalb in dem 
Sachverhalt ſelbſt eine größere Schwierigkeit derſelben läge. 


Wenden wir dieſe allgemeinen Betrachtungen auf den beſon⸗ 
dern Fall an, der uns beſchäftigt, ſo wird nur der glückliche Glaube 
an die Offenbarungen der Hellſeherinnen das unmittelbare Macht⸗ 
gebiet der Seele ins Unendliche noch bemerkbar reichen laſſen; die 
Erfahrung des wachen Lebens hat nie darein Zweifel geſetzt, daß 
vor Allem der Umriß unſeres Körpers den Bezirk abgrenzt, in 
welchem die Seele ſelbſt thätig iſt und von deſſen Zuſtänden ſie 
leidet. Wir empfinden nur, was den Körper erſchüttert, wir be⸗ 
wegen nur ihn; durch ſeine Vermittlung wirkt die Außenwelt auf 
uns und wir auf ſie. Aber die mannigfachſten Beobachtungen 
haben uns ebenſo gewiß gelehrt, daß ſelbſt in dem Körper der 
Schauplatz ſeiner unmittelbaren Wechſelwirkungen mit der Seele 
noch enger zu begrenzen iſt. Verloren iſt für die Seele jeder 
Zuſtand des Körpers, der nicht einen Theil des Nervenſyſtems 
zu erregen vermag, verloren für den Körper jede Bewegung der 
Seele, für welche der Uebergang aus dieſem Syſtem in bie folg- 
famen Werkzeuge der Glieder verhindert if. So tritt die große 
Maſſe des Leibes doch nur als ein mittelbar beherrichtes Gebiet 
der Außenwelt dem Nervengeflehte als dem eigentlichen Site ber 
Seele gegenüber. Aber auch in dieſem lehrt die‘ Beobachtung 
einen Unterſchied zwiſchen zuleitenden Theilen, die den Austauſch 
der Erregungen vermitteln und anderen wefentlicheren, in denen 


332 


bie Wechſelwirkung felbft vollzogen wird, Trennt ein einfacher 
Schnitt einen fenfiblen Nerven in feinem Verlauf zum Gehirn, 
fo find die Eindrüde, die ſein an ber Oberfläche des Körpers 
haftendes Ende num noch von außen aufnimmt, für die Seele 
verloren; trennt ein gleiher Schnitt einen motorifchen Nerven, To 
geht dev Willenseinfluß der Seele nicht mehr auf Die Glieder über, zu 
deren Muskeln der durchſchnittene Nero verlief. Nicht mit jedem 
Theile des Nervenſyſtems fteht daher die Seele in unmittelbarer 
Wechſelwirkung; nur die Erregungen der Gentralorgane können e8 
fein, von denen fie in der That bewegt wird und welche fie umgekehrt 
durch ihre eigne Kraft hervorruft; der gefammte Verlauf der Nerven 
ift nur ein Mittel, diefem engeren Bezirke wahrhafter MWechfelmir- 
fung äußere Eindrüde, die an ſich fir Die Seele unerreihbaren, an- 
zunähern und ihre eignen Strebungen, die an fih machtloſen, auf 
die ausführenden Glieder überzuleiten. Die Fortjegung diefer Be- 
obachtungen, zu denen Berfuche und Krankheitsfälle Gelegenheit 
geben, verengt das Gebiet der Seele noch mehr; fie lehrt erfen- 
nen, daß eine Trennung zwiſchen Gehirn und Rüdenmarf die Em- 
pfänglichleit des Bewußtſeins für die Eindrüde, die dem lebtern 
Organe zufommen, und ebenfo die Herrihaft der Seele über die 
Glieder aufhebt, Die von ihm ihre zuleitenden Nerven erhalten. 

Allerdings führen die enthaupteten Rümpfe namentlich Talt- 
blütiger Thiere auf Äußere Reize noch Bewegungen aus, deren 
zweckmäßige Zufammenftimmung Bielen von nicht blos phufilchen 
Urſachen abhängen zu können ſchien. Doc auch dieſe Bewegun- 
gen geſchehen nur, fo lange das Rückenmark und der Zuſammen⸗ 
hang der zu bewegenden Glieder mit ihm unverlegt ift; fie wür— 
den daher höchftens bemeilen, daß der unmittelbare Einfluß der 
Seele oder ihr Sit nicht auf das Gehirn ſich beſchränkt, fondern 
auch über dieſen andern Theil der Centralorgane ausdehnt. Allein 
daß die Unterbrehung der Verbindung zwiſchen Rückenmark und 
Gehirn die Bewegungen der von dem eriten allein abhängenden 
Theile dem Bewußtfein ſowohl als dem Willen entzieht, ift eine 
gewiffe Thatſache; daß Dagegen die Bewegungen enthaupteter 











— 8333 


Rümpfe unmittelbar, oder in welcher Weiſe ſie etwa mittelbar 
von phyſiſchen Bedingungen abhängen, iſt ungewiß. Ueberlaſſen 
wir deshalb ſpäterer Gelegenheit die Ueberlegung dieſer Erſchei⸗ 
nungen und halten wir vorläufig daran feſt, daß Eindrücke, die 
unſer Bewußtſein nicht empfängt, nicht ohne andern Beweis als 
Zuſtände unſerer Seele, Wirkungen, die wir weder wollen noch 
in ihrem Geſchehen wahrnehmen, nicht ohne andern Beweis für 
Thätigkeiten der Seele gelten können. Unter dieſer Vorausſetzung 
beſchraͤnkt ſich allerdings der Sit der Seele auf das Gehirn. Im 
dieſem ſelbſt endlich haben wir Grund, verſchiedene Theile von 
verſchiedenem pſychiſchen Werth zu unterſcheiden; aber Die größeren 
und wohl unüberwindliden Schwierigfeiten der Unterjuchung ge- 
ftatten hier nicht mehr, die eigentlicheren Organe der Seele von 
dem umgebenden Apparat blos zuleitender und bimmegleitender 
Werkzeuge genau abzutrennen. Ziehen wir das Ergebniß dieſer 
Betrachtungen, fo finden wir, daß die erfte der oben verzeichneten 
Borftellungsweifen auf das Verhältniß zwifchen Seele und Kör- 
per unanwendbar ift: die Seele ift nicht fo in ihrem Leib all- 
gegenwärtig, wie wir und Gott in der Welt allgegenwärtig den⸗ 
fen; fie fteht in unmittelbarer Wechſelwirkung nur mit dem Ges 
bien; bier aljo bat fie in der Bedeutung, die diefem Worte zu 
geben ift, ihren Sie. 

Sehen wir num zu, ob zur nähern Beltimmung diefed Or- 
tes die zweite Auffaſſungsweiſe tauglidyer if. Bon einem einzigen 
Punkte aus, an welchem ihre Wirkſamkeit ein Marimum: ift, 
würde nad ihr die Seele ihren Einfluß mit abnehmender Stärke 
über die entfernteren Theile des Körpers gleich unmittelbar aus- 
dehnen. Wollte man diefe Abnahme der Kraft fi zwar raid, 
aber doch nod mit fo gemäßigter Beichleunigung erfolgen vorftel- 
len, daß ihre Wirkungen in irgend wahrnehmbarer Entfernung von 
jenem Punkte des Maximum nod merklich blieben, fo würde fich 
feine Erſcheinung finden, welche Diefer Annahme günftig wäre. 
Die zuleitende VBerrichtung der fenfiblen, die wegleitende der mo- 
torifchen Nerven hört ftet8 auf, wie nahe auch immer an ben 


334 


Gentralorganen ihr Zufammenbang mit diefen unterbrochen wird, 
und niemals findet fih die Spur einer auch nur foweit unmit- 
telbar in die Ferne reichenden Wirkung der Seele, daß durch 
fie Der geringe Abſtand überflogen wiirde, den ein feiner Schnitt 
zwiichen zwei nädftbenachbarte Elemente eines Nerven gebracht 
bat. Nur in der befonderen Form würde Daher diefe zweite Bor- 
ftellungsweife hier anwendbar fein, in welcher wir fie allerdings 
auf den größten Theil des gemöhnlichen Verhaltens der Körper an⸗ 
wenden; To außerordentlich fchnell müßte mit der Entfernung 
von dem Punkte der größten Wirfung dieſe Wirkung felbft ab- 
nehmen, daß fie in merflichen Abftänden nicht mehr wahrnehmbar 
würde. So wie ein Körper die Lichtitrablen erſt Dann reflectirt 
und vom Stoß erſt dann in Bewegung gefegt wird, wenn beide 
ihn an feinem Orte berührt haben, ebenfo würde Die Seele nur 
mit den Elementen verkehren, deren Einwirkungen fi bis auf 
unwahrnehmbar Heine Abftände dem Punkte ihrer größten Wir- 
fung näherten, einem Bunte, den wir eben deshalb nahezu als 
den einzigen Ort ber unmittelbaren Wirkſamkeit der Seele, oder 
als "ihren ausſchließlichen Sit bezeichnen dürften. 

Dies ift nun die Vorſtellung, die man feit alter Zeit mit 
Borliebe ausgebildet hat. Der Bau des Nervenfyftens im Großen 
begünftigte fie. Sichtlih ift der Verlauf der Nerven beftimmt, 
Eindrüde einem Orte im Gehirn anzunähern, um fie dort erft 
zur Wechſelwirkung mit der Seele zu bringen, und die motorischen 
führen Anregungen, die der Wille nur dort wirflih auf Maſſen 
überträgt, den Musleln zu, Die Durch ihre räumliche Entfernung 
dem unmittelbaren Einfluß feines Antriebs entzogen find. Mau 
hoffte eine Fortfegung deffelben Baues in dem Gehirn felbft zu 
finden, einen folden Schlußpunkt des ganzen Nervenſyſtems, in 
welden alle zuleitenden Fäden zufammenliefen und aus welchem 
alle hinmegleitenden Kanäle der Wirkungen ausſtrahlten. Dieſen 
Punft wiirde man mit voller Befriedigung als den Sit der Seele 
anerkannt haben. Aber die Anatomie bat ihn bisher nicht fin- 
den Können, und es ift keine Hoffnung, daß fie ihn fpäter finden 





335 


werde. Neben einander ftreichen die Faſern vorbei, durchkreuzen 
fih und verflechten fi; aber fe verjchmelzen nicht untereinander 
zu einem gemeinfamen Schlußgliede; nicht einmal eine gemeinfame 
Endrichtung nehmen fie an, mit der fie einem ſolchen Punkte ſich 
näberten. Auch in dem Syſtem der Ganglienzellen, vundlider 
Bläschen, welche das gefaferte Mark in größter Menge von außen 
umgeben und zwifchen feine Züge eingeftreut find, fehlt jede An- 
deutung einer Centralifation. Sie ftehen durch feine Verbindungs- 
fäden unter einander in Berbindung; aber wir wiſſen weder, ob 
die Berfettung eine allgemeine ift, noch welche Bedeutung den 
Ganglienzellen überhaupt für die Aufnahme Erregung und Um— 
formung der im gefaferten Mark geichebenden Erregungen zu- 
kommt. 

Wer dennoch die Hoffnung hegte, daß geſchärftere Unter— 
ſuchung dieſen beſchränkten Sitz der Seele finden werde, müßte 
ſich ohnehin zugeſtehen, daß man ihn unter falſcher Form geſucht 
hat. Wie fein auch die einzelne Nervenfaſer iſt, eine gemeinſame 
Durchſchnittsſtelle aller könnte doch nie ein untheilbarer Punkt, 
fondern müßte ein kubiſcher Raum von ſehr wahrnehmbarer Größe 
feines Durchmefferd jein. Diefen Raum müßte die Seele mit 
unmittelbarer Wirkſamkeit beherrichen; innerhalb beffelben würden 
wir eine Yortjegung gejonderter Nervenfäden nicht erwarten; ihre 
Iſolirung hätte nur die Aufgabe, die phuftichen Vorgänge, die in 
ihnen fi ereignen, ohne gegenfeitige Vermiſchung bis zu dem 
Wirkungskreiſe der Seele zu bringen. Haben fie diefen erreicht, 
fo ift ihre fernere Auseinanderhaltung unndtbig; denn in ber 
Seele ſelbſt gibt es doch ſchließlich leine Scheidewände, welche bie 
einzelnen Eindrücke ſonderten, und ſie muß es verſtehen, die vielen 
verſchiedenen ohne gegenſeitige Trübung in der Einheit ihres We- 
ſens zu beherbergen. Jenen kubiſchen Raum, den Sig ber Seele, 
würbe man fidh daher entweder ausgefüllt durch ein ungefafertes, 
irgendwie bomogened Parenchym denken, durch welches hindurch 
alle Erregungen der Nerven ſich allſeitig verbreiten, oder als einen 
Höhlenraum, an deſſen Wandungen und innerhalb der Entfernung, 


336 


bis zu welcher die unmittelbare Wirkſamkeit der Seele reicht, Die 
fämmtlihen Nervenfafern oder eine hinreichende Anzahl Abgeorb- 
neter berfelben nur vorüberzugehen, aber nicht zu endigen brauch⸗ 
ten. In der That hat man häufig Die leßgenannte Borftellung 
gewählt und in der vierten Hirnhöhle den Sit der Seele, freilid 
ohne die nöthige Beftätigung durch anatomiſche Thatſachen, zu 
finden geglaubt. 


I) führe dieſe Möoglichteiten, denen fi) noch mande andere 


beifügen ließe, theil8 in der Ueberzeugung von dem Nugen auf, 
den allemal die Ausarbeitung jeder Anfiht bis zu vollftändiger 
Klarheit gewährt, theils in der anderen Ueberzeugung, daß aller: 
dings die Anatomie zu einem völlig entjcheidenden Endurtheil über 
fie noch nicht befähigt if. An fi bat Feine dieſer Vermuthun⸗ 
gen einen ſehr großen Werth; man wird leicht finden, daß jede 
bon ihnen, auch wenn fie thatfächlich richtig wäre, doch ihrem Be- 
griffe nad eine Zurüdführung auf die Dritte der oben verzeid- 
neten Borftellungsweifen nothwendig machen würde. Denn mas 
hieße es Doch zulett, daß Die Seele in einem beftimmten Raume 
enthalten ſei und in Folge deffen nur mit dem wechſelwirkte, was 
biefen Ort berührt? Sie kann nicht einen beftimmten leeren 
Raum einen andern leeren Raum vorziehen, um in ihm recht⸗ 
mäßiger ihren Ort zu haben, als in diefem; daß fie an einem 
beftimmten Orte fei, bedeutet ja, wie wir gejehen haben, nichts 
Anderes, als daß fie nur mit den realen Elementen, die ſich an 
diefem Orte finden, in unmittelbarer Wechſelwirkung zu ftehen 
durch ihre Natur genöthigt wäre. Dieſe Wechſelwirkung, indem 
fie gefhieht, macht eigentlich erft jenen Raum zum Orte ber 
Seele, und wenn es, wie ohne Zweifel vorauszufegen ift, viele 
Elemente find, mit denen die Seele in diejer wechlelfeitigen Be- 
ziehung fteht, jo ift auch ihr Ort ebenfo vielfach. Nur aus Leicht 
begreiflihem Bedürfniß der Anfchaulichkeit, aber ohne Nöthigung 
durch Die Natur der Sache, ſucht dann zu diefen vielen Orten 
unfere Phantafte noch einen geometriſchen Mittelpunft ihrer Ver⸗ 
theilung und mödte dieſen dann gern als den eigentlichften Sit 





337 


der Seele anſehen; aber fie würde nicht angeben Können, in wel- 
her innigeren Beziehung die Seele zu ihm ftände, als zu jenen, in 
denen fie wirft. Ob daher die vielen Orte diefer Wirkſamkeit fich 
im Gehirn nahe zufammendrängen, ohne andere Orte der Un- 
wirfamfeit einzufchließen, ob fie alſo einen auch anſchaulich als 
Einheit ſich darftellenden Sit der Seele bilben, oder ob fie zer- 
ſtreut eine Bielheit von Punkten bleiben: dies ift eine anato- 
mifche Frage nad der Anordnung der wechſelwirkenden Elemente, 
deren Beantwortung man ber Erfahrung überlaffen kann. Wie 
die Antwort auch ausfallen mag, fie ändert die allgemeinen Bor: 
ftellungen nicht, die wir gewonnen haben. 

Noch einer Bermuthung erwähne ich, um hiermit abzufchlie- 
en, der Vorftellung nämlich von einer beweglichen Seele, deren 
Ort innerhalb der Gentralorgane wechſele. Sie ſcheint mir von 
geringem Bortheil. Damit die Seele an den beftimmten Punkt 
fih hinbewegen könne, an welchem e8 eine ankommende Erregumg 
aufzufafen gibt, müßte fie doch von der Richtung bereits Kunde 
erhalten haben, von welcher ber die Erregung zu erwarten ift. 
Um alfo zu diefer Bewegung nach der eben jetzt gereizten Nerven- 
fafer und nad Feiner andern Richtung hin beftimmt zu werben, 
müßte fie ſchon aus der Terne irgendiwie von den inneren Zu⸗ 
ftänden derfelben auf andere Weile beeinflußt worden fein, als 
von den Zuftänden der anderen, in denen jegt eben eine Erregung 
nit anlommt. Die Bewegung der Seele könnte mithin nicht 
als Mittel zur erftien Ermöglihung einer Wechjelwirkung mit dem 
erregten Element, ſondern nur als Beihilfe zur Verftärkung einer 
ſchon eingetretenen dienen. Noch unflarer bliebe, mie die Seele 
e8 begönne, um ihre Richtung zum dem motorifchen Element zu 
nehmen, dem ſie felhft ihr eigne Erregung erft mittheilen will. 


Eine Schwierigkeit, die man bereit8 empfunden haben wird, 


nöthigt und noch zu einer ferneren auch fonft ge la 
Loge I. 4. Aufl. 





338 


Umformung der gewonnenen Anfihten. Daß die Seele mit einer 
beichräntten Anzahl der Nervenelemente ausichlieglih in unmittel- 
barer Wechſelwirkung ftehe, bleibt jo lange unwahrſcheinlich, als 
wir in der Natur diefer bevorzugten Elemente feinen Unterfchieb 
von der Natur aller der übrigen finden künnen, mit denen bie 
Seele in gleiher Beziehung nit ſteht. Nun ift es allerdings 
eine in der Phyſiologie häufig vorgetragene Anficht, daß die Vker⸗ 
rihtung des Centralnervenmarks wejentlich verſchieden von den 
Functionen der Nerven und auch verfchieden fei von den Thätig- 
feiten derjenigen Gehirntheile, die jelbft nur als in die Schädelhöhle 
hinein verlängerte Fortſetzungen der Nerven zu betrachten wären. 
Diefe Annahme würde die Borausfegung einer irgend wie auch 
bevorzugten Natur der Elemente einfließen, welche dieſen bevor⸗ 
zugten Berrichtungen dienen, obgleich eine unmittelbare Beftätigung 
für diefe Folgerung durch anatomiſche Beobachtung fehlt. Aber 
gleichviel, wie es ſich hiermit verhalten mag: aus allgemeineren 
Gründen finden wir die bisher gemachte Vorausfegung unzuläng- 
th, daß alle Nöthigung und Befähigung zur Wechſelwirkung 
zwijchen zwei Elementen auf einer beftimmten Beziehung zwifchen 
dem beruhe, was wir ihre Natuven oder den qualitativen Inhalt 
ihres Wejend nennen. Was das eine Element von dem andern 
erfährt, wird nicht allein von dem abhängen, was biefe8 andere 
beftändig ift, fondern aud won dem veränderliden Zuſtande, in 
welchen es ſich eben befindet; daß überhaupt ein Element mit 
dem andern zu wechſelwirken genöthigt ift, auch dieſer wirkſame 
Zufammenhang findet vielleicht nicht immer zwiſchen den conſtan⸗ 
ten Naturen beider, fondern nur in einzelnen Wugenbliden zwi- 
hen beftimmten Zuftänden beider ftatt; oder wenn für alle Zeit 
und für alle Zuftände beide in dieſer Weile verleitet find, fo 
liegt der Grund ihres Füreinanderſeins nicht in dem, was fie 
beide ſind, fondern darin, daß fie vermöge deſſen, was fie find, 
Zuſtände erfahren Können, welde nad dem Sinn und Plan ber 
Weltordnung als erregender Grund und nachfolgende Erregung 
zufammengebören. Ich verzichte Darauf, dieſen Gedanken in feine 








339 


metaphuftichen Zuſammenhänge bier zu verfolgen und ziehe vor, 
ihm einen deutlichen Ausdrud in engerer Beziehung zu unferem 
beſonderen Gegenftand zu geben: die Seele wird nicht in aus- 
ſchließlicher und dann unabläffiger Wechfelmirfung mit einer be- 
fonderen Art von Nervenelementen und allen beliebigen Zuſtänden 
diefer Elemente ftehen; fondern fie wird zuerft nur veizbar für 
gewiſſe Arten des Gefchehens fein, auf jene Art und Zahl von 
Nervenelementen aber ihre Wirkſamkeit und ihre Empfänglichleit 
beshalb beichränfen, weil nur in dieſen jenes Geſchehen verwirk⸗ 
licht wird. Und nun bleibt dahingeftellt, ob dieſe Elemente ihre 
eigenthlimliche Natur, oder ob ohne folde Eigenthümlichleit bie 
Gunſt ihrer Stellung zwiſchen andern fie ausichlieglich zu Schau- 
pläßen dieſes Geſchehens macht. In dem letztern alle wiirde 
es einer ſpecifiſchen Verſchiedenheit zwiſchen den Elementen der 
Centralorgane und denen der Nerven nicht bedürfen; die Eigen⸗ 
thümlichleit der Structur würde die erſteren ausſchließlich zum 
Sitze der Seele machen, weil ſie allein die Vorgänge möglich 
machte, für welche dieſe die angedeutete ſympathiſche Reizbarkeit 
beſitzt. 

Es bleibt mir zu zeigen, daß die eben vorgetragene Anſicht 
ihre Entſtehung nicht allein den Ueberlegungen über den Sitz 
der Seele verdankt, daß ſie vielmehr unabhängig hiervon auch in 
der Betrachtung von pfychiſchen Ereigniſſen wieder entſteht, welche 
auf den erſten Blick keineswegs mit ihr verträglich ſcheinen. 

Zu den gewöhnlichſten Vorſtellungen über die Entſtehung 
der willkürlichen Bewegungen gehört die, daß im Gehirn die Ur⸗ 
fprünge der motorifhen Nerven wie eine Claviatur nebeneinander 
ausgebreitet Tiegen, dem bewegenden Einfluß der Seele geöffnet. 
Aber möge diefe Elaviatur immer vorhanden fein: Die Seele ift 
unfäbig auf ihr gu fpielen. Sie hat fein Wiffen von der gegen- 
feitigen Lage dieſer Taften, und Feine Kenntniß davon, daß Diele 
und nicht eine andere Tafte der beftimmten Bemwegungsabficht ent= 
Ipreche, welche fie hegt, jo wie etwa der Clavierſpieler gelernt Bat, 
die Tafte, die er ſieht, mit der gefchriebenen Rote in Beziehung 

22* 


340 


zu feten. Und müßte fie felbft dies Alles, was follte e8 ihr 
nügen? Wie finge fie e8 doch an, nun ihre Wirkſamkeit auf dieſe 
und nicht auf jene Taſte überzutragen? Kann doch der Spieler 
dies nur vermöge eben dieſer noch unerflärten Folgſamkeit feiner 
beweglichen Finger, die dahin greifen, wohin fein Wille fie weit; 
und er würde e8 nicht Können, wenn er auch dieſen Uebergang 
feines beftimmten Wollens auf die ihm entiprechenden Nerven- 
fäden felbft erft durch feine Einficht vermitteln follte. Die Seele 
fann, wie wir gefehen haben, nicht8 Anderes thun, als einen in- 
neren Zuſtand in fi erzeugen oder erleiden, an welchen ohne ihr 
Zuthun der Naturlauf die Entftehung einer körperlichen Berände- 
rung gefnüpft bat. Nur durch das, was er qualitativ ift, kann 
dieſer Zuſtand fih von andern unterjcheiden; und von diefer Qua⸗ 
lität muß nicht nur die Größe und Art, fondern aud der Ort 
ber Wirkung abhängen, die der Naturlauf an ihn knüpft. Freude 
und Schmerz enthalten beide weder eine Kenntniß gewiffer Ner- 
ven und Musfeln, noch einen Trieb zu deren Bewegung; aber 
fie find verſchiedenartige Erjhlitterungen des Gemüthes, und um 
dieſes inneren Unterſchiedes willen folgt dem einen das Lachen, 
dem andern das Weinen. Weder bewußt noch unbewußt bat 
hier Die Seele um der Freude willen ihren Einfluß dahin, um bes 
Schmerzes willen dorthin gerichtet, fondern ohne al ihr Zuthun 
bat der einen Art der Erregung diefe, der andern jene Bewegung, 
der einen aljo eine Wirkung in diefen, der anderen eine — 
zum Theil in andern Muskeln geantwortet. 

Soll denn num in der That, wird man fragen, die Seele 
ihre inneren Zuftände fo gewiffermaßen nur klagend ind Blaue 
binausrufen, und erwarten, daß die geeignete Abhilfe blos durch 
den verſchiedenartigen Ton ihrer Aeußerung zu Stande kommen 
werde, ohne daß fie felber befühle, was eigentlich geſchehen Toll? 
Gewiß ift diefe Zumuthung, die wir der Phantafie ernftlich ma⸗ 
hen müffen, ungewöhnlich genug; aber Doc wird fie ſich als eine 
ausführbare erweifen laſſen. Bon den unzähligen Schallwellen, 
welche bie Luft durchkreuzen, wird jede ohne Zweifel in einer ge=. 





341 


fpannten Platte, einer Fenſterſcheibe, melde fie trifft, irgend 
welche Erfchütterungen hervorbringen; aber nur eine von ihnen 
wird Die Platte zum Mittönen bringen, nur die nämlich, deren 
Schwingungen regelmäßig zu wiederholen die Platte duch ihre 
eigne Structur und Spannung befähigt if. Wenn e8 gilt, aus 
einer flüffigen Miſchung verichiedener Stoffe einen einzelnen auszu- 
ideiden, bringen wir das Mittel, dad zu feiner Fällung dienen 
fol, nur überhaupt hinein und wir haben nicht nöthig, nun diefem 
noch ſelbſt eine beftimmte Richtung zu geben und mit ihm den 
überall zerftreuten Theilchen des auszufcheidenden Stoffes nachzu- 
gehen; indem es ſich durch die ganze Flüſſigkeit verbreitet, geht 
e8 von felbft theilnahmlos an denen allen vorüber, zu denen e8 feine 
Wahlverwandtſchaft befist, und findet mit völliger Sicherheit überall 
Die Theile desjenigen auf, mit dem es fich zu einem Nieberichlage 
verbinden Tann. Nach der Ausfällung dieſes einen wird ein zmei- 
te8 Reagens aus derfelben Flüffigfeit einen andern Stoff aus- 
icheiden, überall indem das, mas durch feine qualitative Natur 
aufeinander bezogen ift, fi zur Wechſelwirkung zufammenfindet 
und auf Heine Entfernungen felbft gegenfeitig fih anzieht, nie⸗ 
mals fo, Daß dem einen von Anfang an eine beftimmte Richtung 
inwohnte und fein Erfolg fich verſchieden geftaltete nach der 
Natur deffen, was e8 in dieſer Richtung anträfe. Läge der Seele 
in der That die ganze Claviatur der motorischen Nervenenden 
geordnet vor, jo könnte die Art ihres Einfluffes auf fie feine an- 
dere fein. Sie würde nit in jevem Falle einen übrigens gleich: 
artigen Stoß ausführen, dem fie nur eine beftimmte Nichtung 
gäbe, und ber num blos deswegen, weil er in diefer Richtung auf 
dieſes, nicht auf jenes Nervenende träfe, auch nur diefe, nicht eine 
andere Bewegung erzeugen müßte; fie Tann für jede beabfichtigte 
Bewegung vielmehr nur einen eigentbümlichen qualitativen Zuftand, 
einen Ton von beftimmter Höhe in jenem Gleihniß, hervorbrin- 
gen und von der Wahlverwandtichaft, welche zwiſchen dieſem Zu- 
ftand und der eigenthümlichen Leiftungsfähigfeit eines beftimmten 
Nervenurfprungs obmaltet, wird erſt Die räumliche Richtung ab- 


4 


842 


hängen, welde der Einfluß der Seele nimmt, und welde er nur 
täufchend von Anfang an ſchon inne zu halten fchien. 

Nichts kann dieſes Verhalten fo einfach Mar machen, als Die 
Erinnerung an die mimifhen Bewegungen. In dem Geſichtsaus— 
druck erfcheinen in unendlich feinen Abftufungen und Miſchungen 
die in unfern Stimmungen einander durchkreuzenden Gefühle 
verförpert. Kaum wird Jemand geneigt fein, Died unerſchöpflich 
harakteriftiiche Spiel Eleiner Bewegungen und Spannungen von 
einer bemußten oder unbewußten Thätigkeit der Seele abzuleiten, 
Die eine große Anzahl Nervenurfprünge aufgefucht habe, um jebem 
bon ihnen eine den bier gemijchten Elementen der Luft und Un- 
luft entſprechende Anregung mitzutbeilen. Weiß die Seele doc 
ohnehin nicht, aus welchem Grunde die Thräne befjer der Trauer 
als der Luft und das Laden diefer befler als jener entipräde. 
Ohne Zweifel hat fie bier gar nicht gefucht und nicht gefunden; 
wie vielmehr jeder einzelne Gemüthszuftand als eine Erſchütterung 
der Seele feinen Weg zu beſtimmten Organen feines Ausbrudes 
nimmt, weil diefe allein eben von biefer Erfchlitterung miterregt 
werben, jo findet auch jene Miſchung der Gefühle von felbft ihren 
verwidelten Weg zu ven Theilen, in denen fie ihre Teibliche Re- 
fonanz erhalten fol. Aber dies Verhalten ift nicht auf dieſe eine 
Klaffe der Bewegungen beſchränkt. Auch jeder anderen willkür⸗ 
ih von und ausgeführten Bewegung geht als ihr wahrer er- 
zeugender Anfangspunft eine Vorſtellung jener eigenthümlichen 
Mopdification des Gemeingefühls voran, die mit der geſchehenden 
Bewegung, wie frühere Erfahrungen ums gelehrt, verfnüpft war. 
Wir beugen den Arm nicht, indem wir feinen einzelnen Nerven 
beftunmte Anftöße zumeflen, fondern indem wir das Bild jenes 
Gefühles in und wieder erzeugen, das wir in biefer Stellung bes 
Armes, bei diefer Faltung der Haut, bei dieſem Spannungsgrade 
der Muskeln hatten; wir finden uns Dagegen ungeſchickt, eine 
Bewegung nachzuahmen, die wir zwar deutlich jehen, ohne aber 
ung fogleih in die eigenthümliche Empfindung bineinfühlen zu 
önnen, die ihre wirkliche Ausführung und gewähren würde. 





A eo pn 


843 


Vergeblich würden wir num verfuchen, von der Verbreitungs- 
weife dieſer geiftigen Zuftände über die Eörperlichen Organe und 
von der Art, in welder fie bier in einzelnen die ihnen ent- 
ſprechende Reſonanz hervorrufen, eine noch meiter ausmalenbe 
anſchauliche Borftellung zu geben. Wir müfjen vielmehr, wenn, 
wie wir hoffen, die angeführten Vergleiche den Gedanken, ben 
wir hegen, klarer gemacht haben, ſelbſt diefe Vergleiche wieder 
zu vergefien bitten. Denn eine nothwendige und unvermeidliche 
Geltung Können wir nur dem allgemeinen Sate beilegen, daß 
jede erregende Wirkung der Seele auf den Körper von ber quali- 
tativen Beftimmtheit eines geiftigen Zuftandes ausgeht und erft 
um ihretwillen eine Iocale Richtung nach einem beftimmten Or- 
gane nimmt; jebe weitere Ausführung oder Verbildlichung dieſes 
Borganges dagegen müfjen wir ablehnen. Denn allgemeine Be- 
trachtungen, wie fie und bier möglich find, werben doch bie 
Bedürfniſſe der Seele in ihrem Verkehr mit dem Körper nie fo 
pollftändig und genau errathen, daß wir aus unferer Einfiht in 
das, was zwedmäßig fein würde, die vorhandenen Einrichtungen 
im Boraus zu beftimmen vermöchten. Erft der wirkliche Befund 
des Thatſächlichen pflegt uns hinterher auch die Zweckmäßigkeit 
einfehen zu lafjen, die in ihm Liegt, und macht uns aufmerkfam 
auf Bebürfniffe, Die dann, nachdem wir fie aus den Anftalten 
zu ihrer Befriedigung Tennen gelernt haben, uns freilich als 
dringliche und unabweisbare ericheinen, ohne body vorher von und 
um mindeſten geahnt worden zu fein. 


Ein Gegenftüd der vorigen Betrachtung veranlaßt die Auf⸗ 
gabe des Bewußtſeins, eine große Anzahl von Empfindungen 
nicht allein in ihrem qualitativen Inhalt wahrzunehmen, fondern 
außerdem in beftimmter räumlicher Anordnung fie unter einander 
zu verbinden. Diefe Leiftung ſchien nothwendig vorauszufegen, 
daß die einzelnen Eindrüde in derfelben gegenfeitigen Lage, in 


344 


welder fie den Körper berührten, auch zu der Seele fortgepflang: 
werden, und daß an dem Site ber lebteren ſich die iſolirten 
Nervenfäden, deren jeder nur einen einzigen Eindrud leitet, in 
derjelben regelmäßigen Nebeneinanderordnung endigen, in welcher 
fie in dem Sinnedorgan die ankommenden Reize aufnehmen. 
Aber eine genauere Betrachtung wird uns bald lehren, daß dieſe 
Borausfegung zu einer wirklichen Erflärung unferer räumlichen 
Anfchauungen nicht dienen würde. 

Sollen wir zunächſt ausdrücklich erinnern, oder Dürfen wir 
dies al8 zugeftanden annehmen, daß von den Gegenftänden nicht 
räumliche ausgedehnte Bilder, ihnen ähnlih und fie dedend, ſich 
ablöſen, um in die Seele einzutreten? Und daß, wenn dies wirk⸗ 
lich geihähe, auß der Gegenwart dieſer Bilder innerhalb der Seele 
ihr Wahrgenommenmwerden noch jo wenig erflärlih würde, wie 
aus dem vorherigen Daſein der Gegenftände außerhalb der Seele? 
Sollen wir binzufügen, daß ja Doc dies, was wir ein Bild des 
Gegenftandes in unferem Auge nennen, nichts ift, al8 die That- 
fache, daß in unferem Sinneswerkzeug die neben einander Liegen- 
den Nervenenden in derjelben Ordnung von verfchiedenfarbigen 
Lichtftrahlen getroffen werben, in welcher dieſe Strahlen von ben 
Gegenftänden felbft ausgehen? Daß endlich diefe Thatſache eines 
geordneten Nebeneinanderfeind verſchiedener Erregungen in ver- 
ſchiedenen Nervenfaſern doch noch nicht die Wahrnehmung dieſes 
Borganges, jondern nur der wahrzunehmende Borgang felbft ift, 
deſſen Möglichkeit, in feiner ganzen inneren Ordnung zum Be 
wußtfein zu kommen, eben den Gegenftand unferer Trage aus- 
maht? Wir wollen die VBorausfegung machen, daß uns dies 
wenigftens zugeftanden ſei. Möge nım entweder, wie e8 Einigen 
wahricheinlich dünkt, diefes Bild im Auge ohne Verlegung feiner 
Zeichnung dur die Sehnerven bis zu dem Gehirn an den Ort 
ber Seele fortgepflanzt werben, oder möge dieſe jelbft, wie es 
Anderen denfbarer fcheint, unmittelbar in beiden Augen gegen- 
wärtig fein: auf welche Weife kann dann in beiden Fällen bie 
beftimmte Lage der verfchiedenartig gereizten Nervenenden, mithin 





345 


die gegemfeitige Lage der Eindrüde für fie ein Gegenftand bes 
Bewußtfeind werden ? Und wäre die Seele felbft, damit wir das 
Aeußerſte zugeben, ein ausgedehnte Weſen, ben Umfang ber 
Augen und die Ausbreitung der Haut mit ihrer Gegenwart 
füllend, fo daß jeder Farbenpunkt, der die Neghaut, jeder Drud, 
der die Oberfläche des Körpers trifft, zugleih auch eine räumlich 
beftimmte Stelle der Seele träfe: wie würde ſie ſelbſt dann inne 
werben, Daß es jet dieſe Stelle ihrer eignen Ausdehnung fei, 
welche der Reiz berührt babe, und nicht jene? in einem andern 
Augenblide aber jene und nicht Diefe ? 

Wollen wir nicht ein unmittelbar fertige8 und unerflärbares 
Wiſſen der Seele von ihrem eignen Umfange oder von ber Ge- 
ftalt des Körpers vorausfegen, jo werben wir zuzugeben haben, 
daß irgendwo der Zeitpunkt kommen muß, in welchem die räum- 
lihe Lage der wahrzunehmenden Bildpunkte, jo lange und fo 
ſorgſam fie aud von dem Sinnesorgan feitgebalten worden fein 
mag, dennoch bei ihrem Webergang in das Bewußtſein gänzlich 
verſchwinden muß, um in biefem völlig von Neuem nicht als 
räumliche Lage, fondern als Anfchauung einer foldhen wieder ge- 
boren zu werben. Die Nothwendigfeit dieſer Annahme ift in 
feiner Weife von der Borftellung, die wir und von der räumlichen 
oder unräumlichen Natur der Seele machen, fondern einzig von 
dem Begriff des Bewußtſeins abhängig, welches wir Diefer wie 
auch immer befchaffenen Natur zufchreiben. Möchte die Seele 
immerhin ſelbſt fih im Raume ausbreiten und als eine feine 
Duchduftung den Körper bis in feine letzten Enden durchdringen: 
ihr Willen und Wahrnehmen wird Doc ſtets eine intenfive 
Thätigfeit fein, die wir nicht felbft wieder ftoffartig ausgebreitet 
denken können. In dem Bewußtfein hören alle jene Scheivewände 
auf, welche in dem körperlichen Sinnedorgan die einzelnen Ein- 
brüde von einander trennten; in ihm Tann jelbft jene Mannig- 
faltigfeit der örtlichen Lage nicht mehr vorkommen, durch melde 
etwa an der außgebehnten Subftanz der Seele die ihr eingeprägten 
Eindrüde ſich noch unterjchteden; feine unräumliche Einheit ift 





346 


nur noch empfänglich für qualitative Verſchiedenheiten der Er⸗ 
regungen, und alle jene farbigen Punkte des Auges, alle Drud- 
punkte ber gereizten Haut können zunächſt in ihm nur jo ortlos 
zufammen fein, wie die gleichzeitigen und doch unterjheibbaren 
Zöne einer Harmonie. 

Soll die Seele dies Mannigfache in cine räumlide An- 
ſchauung wieder auseinanderordnen, jo bedarf fle zweierlei. Sie 
muß zuerit in der Natur ihres Weſens eine Nöthigung, Fähig- 
feit und Drang zugleich, befigen, Raumvorſtellungen überhaupt 
zu bilden und das Vielfache ihrer Empfindung gerade in dieſer 
Form der Verbindung und Sonderung aus und an einander zu 
rüden. Vielleicht vermag die Philofophie einen höheren Grund 
dafür zu finden, daß die Seele oder daß wenigflend bie menſch⸗ 
liche Seele diefe Form der Anſchauung aus fi entwideln muß; 
vielleiht vermag fie es auch nicht; wir jebenfall® ſetzen dieſe 
Vähigfeit als eine gegebene Thatjache voraus und unfere Be— 
trachtungen haben nicht die Abficht, fte felbft, fondern nur ihre 
mögliche Anwendung zu erflären. Damit e8 nämlich zu dieſer 
Anwendung fommen könne, damit die Seele in ihrer allgemeinen 
Raumanſchauung, mit welder fie jedem möglichen Inhalt ber 
Wahrnehmung ganz gleihmäßig entgegenlommt, jedem einzelnen 
Eindrude feinen beftimmten Plat anzuweiſen im Stande fei, 
dazu bedarf fie offenbar eines Anftoßes, der von den anzuorb- 
nenden Eindrüden felbft herkommt, und durch welchen dieſe ihre 
gegenjeitige Lagerung im Raume verlangen. Dieſes zweite Be⸗ 
dürfniß allein ift e8, deſſen Befriedigung hier den Gegenftand 
unferer Frage bildet; nur hierauf hat die Weberzeugung Bezug, 
welche wir ausſprachen, daß der zwingende Grund, um beSwillen 
die Seele jedem Eindrud feine beftimmte Rage in dem Raume 
anmeift, melden fte vorftellt, nicht in der Lage felbft Liegt, melde 
dev Eindrud im Sinnesorgan hat, denn diefe räumlichen Ber- 
hältnifje des Wahrzunehmenden Können nicht wie fie find, nicht als 
väumlihe in das Bewußtſein übergeben; daß vielmehr jener. 
Grund einzig in einer qualitativen Eigenfchaft irgend welcher 


847 


Art Tiegen kann, welde ber Eindruck um der eigenthümlichen 
Natur des Ortes willen, an welchem er den Körper berührt, zu 
feiner übrigen qualitativen Beftimmtbeit hinzu erwirbt. Nur für 
ſolche Unterfchiede iſt das Bewußtſein zugänglich, und fie werben 
ihn als Merkmale oder als Rocalzeihen dienen, nad deren An- 
leitung es in ber Wieberaußbreitung der Eindrüde zu einem 
räumlichen Bilde verfährt, zu unmittelbarer Nähe diejenigen zu- 
fammenftellend, deren Localzeihen näcftverwandte Glieder einer 
abgeftuften Reihe find, andere um beftimmte Entfernungen aus- 
einanderrüdend, deren Merkmale eine größere Verſchiedenheit 
darbieten. 

So lange dieſe Kennzeichen fehlten, würde der Eindruck zwar 
ſeinem Inhalte nach wahrnehmbar, aber nicht an eine beſtimmte 
Stelle des Raumes localiſtrbar fein. Kann doch jede Farbe nach 
und nad an jeder beliebigen Stelle unſeres Gefichtöfeldes erſchei⸗ 
nen, jeder ftärlere und ſchwächere Drud auf jeden Theil unferer 
Körperoberfläche wirken; durch feinen unmittelbaren Inhalt, fo 
und nicht anders gefärbt zu fein oder diefen beftimmten Grab ber 
Stärke zu befigen, Tann deshalb fein Eindrud einen beftunmten 
Drt in unferer Raumanfhauung verlangen. Neben diefem In- 
halt vielmehr und ohne ihn zu flören, muß in jeder Erregung 
eine charakteriſtiſche Nebenbeftunmung vorhanden fein, welche aus⸗ 
Ichließlich dem Punkte entipricht, in welchem der Reiz die empfäng- 
liche Fläche des Sinnedorganes traf, und welche anders fein wiirde, 
wenn der gleiche Reiz eine andere Stelle de8 Organs berührt 
hätte. Jeder einzelne der Seele zugeführte localiſirbare Eindrud 
beſteht daher in einer feften Afjociation zweier Elemente; das eine 
von ihnen ift jener phyſiſche Vorgang, welder das Bewußtſein 
zur Erzeugung einer beftimmten Empfindungsqualität, zum Sehen 
diefer Barbe, zum Fühlen dieſes Wärmegrades nöthigt; das an- 
dere ift der befondere Nebenvorgang, der fiir allerlei Empfin- 
dungsinhalt derjelbe, für jeden einzelnen Ort feiner Entjtehung 
verjchieden ift. Nicht deshalb alfo, weil ein Eimdbrud irgendwo 
entftand, wird er von der Seele, als wüßte fie von felbft davon, 


348 


auf diefe Stelle feines Urſprungs wieder zurüdbezogen, jondern 
nur deöwegen, weil in ihm fich dieſes qualitative Merkzeichen 
feiner relativen Lage zu andern erhalten bat. 

Man wird finden, wie dieſes Verhalten dem entfpricht, was 
wir über das Zuftandefommen der Bewegungen früher äußerten. 
Wie dort die Seele nicht gleichartige Anftöße nach beftimmten 
Richtungen ded Raumes ausfandte, fondern qualitative innere 
Zuftände erzeugte, denen fie überlaflen mußte, nah Maßgabe 
ihrer Eigenthlimlichfeit ihre Richtung zu finden: fo nimmt fie 
bier nicht die räumlichen Lagen der Reize als foldhe fertig auf, 
fondern verlangt innere Unterfchiede zwifchen ihnen, um fie über- 
haupt räumlich zu trennen, und meßbare Größen diefer Unter- 
ſchiede, um fie an beftimmte Stellen des Raumes auseinander 
zu rüden. Diefe Einrihtung nun balten wir für die nothmwen- 
dige Grundlage aller unferer Raumvorftellungen, welder unferer 
Sinne fie auch vermitteln möge; aber wir müfjen den fpectelleren 
Unterfuchungen der mebicinifchen Biychologie den Nachweis über⸗ 
laflen, in welcher Form in jedem einzelnen Falle diefen allge- 
meinen Anforderungen genügt jei. 


So lange man glaubt, daß die räumlichen Berhältnifie der 
Eindrüde als foldhe fertig in die Seele übergehen, wird man 
natürlich im Interefje der Seele jeden derſelben in einer ifolirten 
Faſer zu der Seele geleitet und zugleih bis zu dem Sitze der 
Seele die gegenfeitige Tage der Faſern volllommen unverſchoben 
denken müſſen. Daß man mit alle dem zulegt doch nichts er- 
reiht, bedenkt man gewöhnlich zu ſpät; denn bie bloße Thatfache, 
daß ber eine Eindrud aus dieſer bier, der andere aus jener dort 
gelegenen Bahn kommt, würde der Seele für ihre Raumanſchauung 
nur etwas nügen, wenn fie entweder mit einem neuen Auge 
und einer neuen unerllärten Wahrnehmungskraft die Richtung 
beider Bahnen und die Größe des Winkels zwifchen ihnen ſehen 


349 


könnte, oder wenn fie im Stande wäre, auch blind dem Reize 
abzumerfen, aus welcher Gegend er komme. Das erſte kann fie 
nicht, das zweite wiirde fie nur köönnen, wenn eben der Reiz in 
feinem Inhalt oder neben demfelben ein wahrnehmbares Zeichen 
feines Urfprungs an fi träge, und fo würde dieſe Meinung doch 
am Ende auf die Borftellung von den Rocalzeihen zurückkommen, 
von der wir ausgingen. Hängt Dagegen die Beurtheilung des 
Urfprunges der Eindrüde nicht mehr von der Richtung ihres An- 
drängens zur Seele, fondern von dem qualitativen Nebeneindrud 
ab, den ſie al8 Erinnerung an ihren Ausgangsort bewahrt haben, 
fo iſt e8 nun nicht mehr in pſychiſchem Intereſſe nothwendig, daß 
in dem Zwiſchenraum zwiſchen Sinmesorgan und Seele ihre rela- 
tive Lage beibehalten und jeder von ihnen in einem befonderen 
Kanale zu ihr hingeleitet werde. Wenn wir eine Bibliothek in 
einem neuen Xocale in derjelben Ordnung aufzuftellen wünſchen, 
welche fie in ihrem früheren hatte, jo plagen wir ung nicht damit 
ab, auch unterwegs diefe Ordnung feſtzuhalten; wir zertören fie 
vielmehr und fchichten einftweilen zufammen, was ohne gegenjei- 
tige Beihädigung zur Bequemlichleit des Transportes vereinigt 
werben kann, und einer ganz fremben Berfon fünnen wir es 
üüberlaffen, in dem neuen Locale die alte Ordnung wieder herzu- 
ftellen, indem fie ſich nach den aufgellebten Etiketten richtet, die 
jedem Bande feine Stelle bezeichnen. Ganz ebenfo wird bei dem 
Uebergang der Nerveneindrüde in das Bemwußtfein die räumliche 
Ordnung derjelben jedenfalls zerftört und es ift fein Grund vor- 
handen, warum dies nicht ſchon früher innerhalb der Nerven 
ſelbſt gefcheben könnte. Denn nur darauf kommt es an, daß jeder 
Eindrud jo lange von andern tfolirt gehalten wird, bis er feine 
Iocale Etikette erhalten hat; nachdem dies einmal geſchehen ift, 
bleibt für den Dienft der Seele fein Bedürfniß weiterer Son- 
derung. So padt man viele Briefe zufammen, und am Empfang 
ort läßt fih der Ort ihres Abganges aus dem aufgebrücdten 
Stempel gleich gut erkennen, welches auch die Art ihrer Beför— 
derung gewefen fein mag. Nur dann würde jened Bedürfniß 


350 


fortbeftehen, wenn die Natur der Nervenproceffe die gleichzeitige 
Leitung verfchiedener Eindrücke mit ihren Localzeichen nicht ohne 
wechfeljeitige Störung durch dieſelbe Faſer möglich machte. 

Es iſt möglich, daß diefer letztere Fall ftattfindet, und in ber 
That deutet man auf dieſe Weife ganz gewöhnlich den tjolirten 
Berlauf der Nervenprimitivfafern, ohne Verſchmelzung mit andern 
und ohne Theilung ihres einfachen Eylinders. Aber die Deutung 
anatomiſcher Thatſachen ift zuweilen mehr eine hergebrachte Ge- 
wohnbeit als eine bewiefene Wahrheit. So jehr die Iſolirung 
ber Faſern eine gejonderte Leitung der Eindrüde vermitteln zu 
follen ſcheint, jo finden wir fie doch auch im folhen Fällen ange- 
wandt, in denen wir an biefen Zweck kaum benten können. Ein 
Muskel, deffen ſämmtliche Bündel normal ſich ſtets nur zugleich 
zu verfürzen beftimmt find, erhält doch ebenfalls mehrere Nerven- 
fäden, und aud fie verlaufen unverſchmolzen zum Rückenmark, 
obgleih nie ein Ball eintreten zu Können fcheint, in welchem es 
für die beabfichtigte Function förderlich wäre, daß die Erregung 
jedes einzelnen von ihnen fich gefondert von denen der übrigen 
fortpflanzte. Der Geruchsnerv zerfällt, wie alle anderen Sinnes- 
nerven, in eine große Anzahl feiner Fäden und doch ift er kaum 
dazu beftimmt ober fähig, eine diefer Anzahl entſprechende Biel- 
heit von Gerüchen gleichzeitig und ohne Vermiſchung ihrer Eigen- 
tblimlichleiten aufzunehmen. Ein Gleiches gilt vom Geſchmacks⸗ 
nerven, defien Wahrnehmungen verichiedener Eindrücke niemals 
eine Deutlichkeit befigen, zu deren Herftellung eine Menge gefon- 
derter Leitungswege der Mühe werth geweien wäre. Sch glaube 
nicht, daß man aus folden Thatſachen einen anderen Schluß 
ziehen Tann, als diefen, daß die Anwendung der ifolirten Nerven: 
fofer, deren Durchmeſſer wir überall nur zwiſchen ſehr engen 
Grenzen ſchwanken ſehen, für den Organismus aus einem fehr 
allgemeinen Grunde nothwendig ift. Bielleiht Tann überhaupt 
jener phyſiſche Vorgang, auf welchem die Thätigleit der Nerven 
beruht, worin er num auch beftehen möge, nur in Fäden von be- 
ftimmter Dicke und beſchränktem Querſchnitt ſich entwideln. Fügen 





351 


wir dann die Bermuthung Binzu, daß die Größe dieſes Vor⸗ 
ganges innerhalb eines einzelnen dieſer chlindrifchen Elemente 
gleichfalls nur eine beichränfte fein kann, fo würde Daraus Die 
Nothwendigkeit folgen, durch eine größere Anzahl von Yafern, die 
denfelben Einbrud leiteten, die Stärke defjelben bis zu dem Maße 
zu erhöhen, welches feine weitere Benutzung für die Zwecke des 
Lebens verlangt. Sehen wir doch diefelbe Einrichtung auch außer: 
halb des Nervenſyſtems in dem Tleifche der Musteln, deſſen Zer⸗ 
fällung in eine außerorbentlihe Anzahl feinfter Fäden müßig 
ſcheinen würde ohne die Annahme, daß auch hier Die Zuſammen⸗ 
ziehungsfähigfeit nur fo dünnen Eylindern überhaupt möglich war, 
fo daß die große Anzahl vereinigter Faſern die verlangte Stärke 
der mechaniſchen Wirkung beftreiten mußte. “Die allgemeine Ber- 
wendung der Zellenform zu dem Aufbau des Pflanzenkörpers ift 
eine ähnliche Thatfache; auch fie deutet an, daß jene eigenthlim- 
liche Gattung hemifcher Vorgänge, welche das Pflanzenleben be- 
darf, nur in biefen räumlich beichränkten Gebilden möglich ift, 
in denen eine halbflüffige Saftlugel von geringem Durchmeſſer 
mit ihrer ganzen Maſſe innerhalb des Wirfungskreifes der Mole⸗ 
cularkräfte Liegt, welche von ber feiten Umhüllungshaut auf fie 
ausgeübt werden. Doc wie die auch fein mag: jedenfalls kön⸗ 
nen wir bie Bildung langgeftredter und unverzweigter Faſern als 
eine jehr allgemeine Gewohnheit des organischen Geftaltungstrie- 
bes bezeichnen. Nachdem fie aber aus irgend einem Grunde ein- 
mal in die beftändigen Berfahrungsweifen befjelben aufgenommen 
ift, wird fie natürlich mit Vortheil auch für die Iſolirung ein- 
zelner Erregungsbahnen, wo ein befonderer Zweck eine foldje ver⸗ 
Yangt, verwendet werben können, ohne deshalb doch in allen Fäl- 
len ausschließlich nur diefer Abſicht zu dienen. 


Die Aufmerkfamkeit endlich, die wir jo lange diefer ganzen 
Trage gewidmet haben, möchte ich ausdrücklich noch gegen bie Ge— 


352 


ringſchätzung rechtfertigen, mit welder entgegengefegte Anfichten 
ihre Verhandlung überhaupt für überflüffig halten. Ueberflüſſig 
kann es uns nicht jcheinen, auf eine Neugier einzugeben, die un- 
bermeidlich Doch wieder in Jedem fich einjtellen wird, jo oft fie 
auch, durch hohe Worte eingefchlichtert, verſtummt fein mag, und 
ohne deren klare Befriedigung die Vorftellung, melde wir über 
das Wechjelverhältniß zwifchen Leib und Seele uns ausbilden, 
ftet8 ihres natürlichften Anknüpfungspunktes beraubt haltlos im 
Leeren ſchweben wird. Nur den Inhalt unferer Antwort, nicht 
das Beftreben eine zu geben, Tünnen wir dem Tadel und Wider- 
ſpruch überlafien. Er wird ihn veichlih und in verſchiedenen 
Formen bon jener Anfiht ernten, welche die Seele mit gleicher 
allgegenwärtiger Wirkſamkeit durch den ganzen Körper ausgegoſ⸗ 
fen denft, an Ort und Stelle die Eindrüde aufnehmend, wie fie 
geſchehen, und die Anregungen ertbeilend, die ihren Zwecken ent- 
ſprechen. Wenn indeflen die Tauglichkeit einer Vorftellungsweife 
an ihrer Webereinftiummung mit den Tchatfachen der Beobachtung 
abgemefjen werben darf, fo glaube ich nicht, daß wir den Angriff 
biefer Gegnerin zu ſcheuen haben. Bedarf fie jenes Schlußpunk⸗ 
te8 des ganzen Nervengewölbes nicht, welchen die Anatomie nicht 
finden konnte, fo hat fie Dagegen noch nie überzeugend nachzuwei⸗ 
fen gewußt, wozu fie überhaupt noch des Nervenſyſtems felbft be- 
Darf, welches die Beobachtung nun einmal findet: es ift ihr nicht 
gelungen zu zeigen, wie dieſe iiberall verbreitete Seele dazu komme, 
ihre einzelnen Eindrüde auf beftimmte Raumpunfte zu beziehen, 
und fi ein Bild des Körpers zu entwerfen, durch den fie ergof- 
fen ift; fie hat endlich nie den Widerſpruch der Erfahrung befei- 
tigen können, welche uns nun einmal lehrt, daß nur nach vollen- 
beter Fortleitung zu den Gentralorganen die Erregungen des Kör⸗ 
pers fir das Bewußtſein, nur nach vwollendeter Leitung in ent- 
gegengefegter Richtung die Antriebe der Seele für den Körper 
vorhanden find. Weit mehr im Kampf gegen die Thatfachen der 
Beobachtung als durch fie unterftüßt, ſucht dieſe Anficht nur die 
vorgefaßte Meinung von der nothwendigen Einheit des Körpers 





853 


und der Seele durchzufegen und im Gefühl des Werthes dieſer 
höheren Auffaffung wendet fie jelten andere Waffen, als die des 
Spotted, gegen die Borftellungsweife, die wir bisher vertheidigten. 
Alſo aus Leib und Seele, wird fie uns einwerfen, foll wie aus 
zwei getrennten Beftandftüden unfere Perſonlichkeit beftehen? Und 
an einem einzelnen Punkte fol, wie ein menſchlicher Richter, die 
Seele auf hohem Throne figen, den Parteien und Zeugen zu- 
hörend, die ihr melden, mas in ihrem Körper gefchah, und was 
fie unmittelbar wahrzunehmen nicht im Stande war? Man wird 
leicht fi diefe Einreden weiter ausmalen, aber man wird zugleich 
bemerken, daß fie felbft ſchon bis hierher zu viel ausmalten; 
denn in der That zu diefem Alfo Haben wir feine Beranlaffung 
gegeben. Natürlich nicht aus Leib und Seele laſſen wir unjere 
Perfönlichleit zufammengefegt fein, fondern überall, wo wir in 
firengem Sinne des Wortes unjer wahres Weſen ſuchen, find wir 
uns bewußt geweſen, es ausfchließlih in der Seele zu finden, 
und nie haben wir den Körper für mehr, als für das vertrau- 
tefte Stüd der Außenwelt gehalten, das eine höhere Macht uns 
inniger zum Eigenthum gegeben bat, als unfere eigne Arbeit 
jemals Fremdes und anzufchließen vermag. Und an jenem Sie 
der Seele, was können wir zulegt Unpafjendes finden, wenn wir 
in aller Stille den hohen Thron und das ganze Genrebild der 
Gerichtsverhandlung bei Seite räumen, Zuthaten, die nur die ge⸗ 
fällige Phantafte der Gegner uns ſchenkte? Da es nım doch ein- 
mal nicht fo ift, daß unfere Seele allwiſſend die Ereigniffe in der 
Entfernung wahrnähme oder allmächtig in bie Weite hinaus wirkte, 
was verlieren wir doch, wenn wir dieſe Thatſache aufrichtig zu⸗ 
geben und den Umkreis der unmittelbaren Wechſelwirkungen zwiſchen 
Körper und Seele auf einen Theil der Centralorgane befchränfen ? 
Wenn die Seele die Leifeften Erzitterungen des Leibes durch mit- 
telbare Fortpflanzung berfelben in fi aufnimmt und mit den 
zarteften Abwechſelungen der Empfindungen und Geflihle begleitet; 
wenn umgelehrt das Getriebe bes Körpers jede flüchtige Erre⸗ 
gung, welde die Seele einem feiner Punkte an zu aus⸗ 
Zope I. 4. Aufl. 


4 


354 


drucksvoller Bewegung ausgejtaltet: was vermiflen wir dann 
eigentlih? Und was würden wir im Grunde gewonnen haben 
durch Die entgegengefete Meberzeugung, daß die Seele felbft fich 
mitfrämmt in dem gekrümmten Yeigefinger, durch den wir Se- 
mand Ioden, oder fi mitballt in der ballenden Fauſt, durch Die 
wir ihn hernach nieverichlagen ? 


Drittes Kapitel. 


Formen der Wechſelwirkung zwiſchen Leib und Seele. 





Organ ber Seele. — Organ ber Raumanfhauung. — Korperliche Begründung ber 
Gefühle. — Höhere Autelligenz, fittliche8 und äſthetiſches Urtheil. — Organ des 
Gedächtniſſes. — Schlaf und Bewußtloſigkeit. — Einfluß Förperlicher Zuflände auf 
den Borftellungslauf. — Gentralorgan ber Bewegung. — Reflexbewegungen. — 
Angeüdte Rücdwirkungsformen. — Theilbarkeit ber Seele. — Phrenologie — 
Hemmung bed Geiſtes durch die Verbindung mit bem Körper. 


Wenn man den Aufforderungen des Materialismus zu ent- 
gehen fucht, und doch die offenbare Thatfache nicht leugnen kann, 
baß die Möglichkeit der Ausübung geiftiger Fähigkeiten in hohem 
Grade von dem unverjehrten Zufammenbang und dem unverlet- 
ten Bau des Gehirns abhängig ift: fo pflegt man gemöhnlich zu 
dem Ausweg zu flüchten, diefen weſentlichen Körpertbeil doch nur 
als das Organ der Seele zu betrachten. Sie felbft fahre fort, 
als das überfinnliche einfache Wefen zu beſtehen, ausgeftattet mit 
Fähigkeiten, die wir kennen gelernt haben; nur zur Ausübung 
berfelben bebürfe fie der Werkzeuge, welche die Organifation ihr 
in dem Baue bed Gehirns vorbereitet Darbiete. 

Ich babe ſchon öfter meine Ueberzeugung ausgefprodhen, daß 
unfere Kenntniß des geiftigen Lebens Feine Fortſchritte machen 
wird, fo Lange man glauben wird, mit einer jo ſehr gedankenloſen 
Borftellung, wie es dieſe von den Drganen der Seele ift, etwas 
geleiftet zu haben. Nicht einmal den Materinlismus wird man 











355 


durch fie an Klarheit libertreffen. Denn abgeſehen von der all» 
gemeinen Unbegreiflichleit, wie e8 ibm überhaupt gelingen könne, 
geiftige Wirkungen an körperliche Mafjen zu Inüpfen, ift ev darin 
wenigften® klar, daß er das Gehirn als das Handelnde, Deufen 
und Empfinden Fühlen und Wollen unmittelbar als die Leiftun- 
gen dieſes Handelnden bezeichnet. Dies einfache Verhältniß ver: 
ftehen wir; was es Dagegen heißen folle, daß nicht das Gehirn 
felbit, fondern die Seele durch das Gehirn fühle denke oder wolle, 
das bedarf offenbar einer Aufflärung; denn jedes ſolche Durch 
ift für einen wifjenfchaftlic erzogenen Berftand ein Räthjel, wel⸗ 
ches gelöft fein will, während Die Schwärmerei höherer Anfichten 
der Dinge fat immer in der Unflarheit folder Bermittlungs- 
verhältnifje die Löſung aller Räthſel jelbft zu finden glaubt. Wo 
bon einem Werkzeug die Rede ift, da werben wir uns immer 
fragen müſſen, Durch welchen Mangel feiner eignen Kraft der⸗ 
jenige, der fich befjelben bedienen foll, zu feiner Benutzung ge⸗ 
nöthigt wird; durch welche Vorzüge ferner dies zur Hilfe gezo: 
gene Mittel die Mängel der benutzenden Kraft fo ausgleichen 
kann, daß fie fähig wird zu einer Leiftung, welche ohne dies ihr 
unausführbar geweſen wäre; auf melde Weile endlich der Ge- 
brauchende ſich des Werkzeuges zu bemächtigen und es für bie 
Zwede feiner Abſicht fruchtbar zu handhaben verftehen wird. 
Diefe Fragen hat man fich felten vorgelegt, und wenn wir die 
große Menge der Organe des Vorftellend des Dentens des Wollens 
überbliden, bon denen man fo oft leichtbin, freilich ohne fie 
näher zu ſchildern, geiprochen bat, jo können wir nicht zweifeln, 
daß viele unter ihnen find, welche der Seele gerade das möglich, 
maden follen, wozu ſie feiner fremden Hilfe bebarf, viele ferner, 
die das gar nicht leiften Könnten, wozu man fie beruft, manche 
endlich, von denen man nicht begriffe, wie ibre an ſich viel- 
leicht nliglihe Einrihtung jemals zur Verfügung der Seele ge- 
bracht werden könnte. 

Die geringere Sorgfalt, welche man bisher auf die Ber: 
dentlihung deſſen verwandt hat, was man eigentlich von dem 

23* 


356 


Körper für die Aufgaben dev Seele an Unterftügung und Hilfe: 
leiftung zu erwarten und zu verlangen berechtigt ift, bat ber 
richtigen Deutung der Centralorgane immer als eine befondere 
Schwierigfeit entgegengeftanden. Und wir werben nicht im Stande 
fein, diefe Hinderniffe einer gedeihlichen Unterfuhung ſchnell bin- 
wegzuräumen. Denn wie leiht wir auch Einiges ausſcheiden 
fönnen, was wir nur als eingeborene Thätigleit der Seele be- 
trachten dürfen und wofür nad einem Organ zu fuchen thöricht 
fein würde, fo können wir nur felten den ganzen Umfang der 
fleinen Beihilfen überfehen, bie einer Fähigkeit doch nöthig find, 
um ihre Ausübung in Webereinftinnnung mit der äußeren Welt 
zu lenfen, von welder die Seele nur durch die Bermittlung 
förperlicher Werkzeuge Kunde bat. So Tann es mittelbar doch 
leibliche Organe geben für Verrihtungen, die ihrem wefentlichen 
Charakter nach aller körperlichen Unterftügung unfähig und unbe⸗ 
dürftig find. Nur wenig werden wir baber im Stande fein, aus 
unferer Kenntniß des geiftigen Lebens heraus im Voraus bie 
Werkzeuge vollftändig zu beitimmen, welche die Organifation zu 
feinem Dienfte ftelen muß. Aber nachdem fo oft von den ver- 
fchiedenften Seiten her die mannigfachſten Anläufe zur Erflärung 
des vorhandenen Baues gemacht worden find, reizt und Doc 
dieſer Verſuch, nicht jo ſehr um der Aufichlüffe willen, die wir 
von ihm über die Beltimmung der einzelnen Gebirntheile zu er- 
halten hofften, al8 um der Beranlaffung willen, Die er ung 
gibt, die äußerft mannigfachen Formen des wechjelfeitigen Ein- 
flufles zwiſchen Körper und Seele zu durchmuſtern. 


Ich babe kaum nöthig, von dem Anfange des geiftigen Le 
bens, von der Empfindung, noch einmal ausführlicher zu ſprechen. 
Nichts ſcheint der Körper für fie leiften zu können, als daß er. 
die äußeren Eindrüde aufnimmt und fie in einer fiir die leichte 
und genaue Fortleitung günftigen Zorn dem Wirkungsfreife ber 








357 


Seele räumlich nähert. Welches auch die phyſiſchen Vorgänge 
fein mögen, welche die Sinnesnerven durchkreiſen: ihre Umfegung 
in die Empfindungen der Yarbe des Toned oder des Geruches 
kann nie durch ein neues zwilchen fie und die Seele eingefcho- 
benes Organ erleichtert werden. Denn alle Arbeit eines folchen 
würde doch immer nur die eine Form nervöſer Erregung in eine 
andere verwandeln können, aber niemals die Kluft verkleinern, 
die zwiſchen allen phyſiſchen Bewegungen als folden und den 
Empfindungen felbft al8 Zuſtänden des Bewußtſeins beftchen 
bliebe. Und eben fo wenig werben alle jene Aeuferungen des 
beziehenden Wiflens, welche fi auf eine Vergleichung der gege- 
benen Empfindungsinhalte beſchränken, einer Krperlichen Unter- 
ftüßung bebürftig oder fähig fein. Um die größere oder geringere 
Berwandtichaft zweier Farben oder Töne, oder die Unterſchiede in 
der Stärke der Eindrüde zu beurtheilen, bedarf das Bewußtſein 
Nichts, als dieſe Elemente felbit, die es vergleichen fol, und außer 
ihnen nur jene Fähigkeit des beziehenden Uebergehens, die wir 
unter allen Leiftungen des geiftigen Lebens am wenigiten auf 
phyſiſche Wirkungen zurüdführbar gefunden haben. So Iange 
daher nicht andere Aufgaben binzutreten, würden wir leine Ber- 
anlaffung haben, ein Gentralorgan der Sinnlichkeit zu erwarten, 
bon deſſen vorgängiger Verarbeitung der Eindrüde die Seele in 
ihrer eignen Verwerthung derſelben abhängig wäre; nur zulet- 
tender Kanäle würde fie bedürfen, welche die einzelnen Reize ihr 
zuführen und fie befähigen, ihre Empfindungen in einer Reihen- 
folge zu entwideln, welche den Abwechfelungen in dem Thatbe⸗ 
ftande der Außenwelt entfpriht. Aber zwei andere Aufgaben 
laſſen fih neben dieſer einfacheren unterfcheiden: die räumliche 
Anordnung der Sinnedeindrüde in unferer Auſchauung, umd Die 
Wahrnehmung der Gefühlswerthe, welche theils den einzelnen, 
theil® beftimmten Verbindungen mehrerer von ihnen zulommen. 
Für beide Leiftungen bebarf die Seele körperlicher Beihilfe, 
Wir haben gefehen, auf welche Vorausfegung die Möglid- 
feit einer räumlichen Anſchauung mit Nothwendigkeit zurückführt: 


358 


jedem einzelnen Eindrude, jedem Farbenpunkt der Netzhaut, jedem 
Berührungsgefühle der Haut mußte ein eigenthlimlicher Neben- 
eindrud hinzugefügt werden, welcher, ohne den Inbalt diefer Em⸗ 
pfindung zu ändern, nur als Localzeihen die Stelle ihres Ur⸗ 
fprunges bezeugt. Diefer nothwendigen Forderung fügen wir 
jegt eine Bermuthung über die Form hinzu, in welder wir 
glauben, daß fie wenigſtens für den Gefichtsfinn erfüllt fei. Nur 
eine fehr Heine Stelle in der Mitte der Netzhaut gewährt uns 
vollkommen ſcharfe Wahrnehmungen; undeutlich erfcheinen alle 
Gegenftände, deren Bilder neben dieſer Stelle auf die feitlichen 
Gegenden der Netzhaut fallen. Allein jeder ftärkere Einbrud, 
welcher einen von diefen minder benorzugten Orten trifft, erweckt 
unmwilltürlich eine Bewegung des Auges, durch welche wir ihm 
unjern vollen Blick zuwenden, und jo das Bild, welches er er- 
zeugte, auf jene Stelle des deutlichſten Sehens überführen. Aber 
nach feiner befonderen Lage wird jeder diefer feitlichen Punkte der 
Netzhaut eine ihm allein eigenthümliche Größe und Richtung ber 
Bewegung des Auges erfordern, damit den Strahlen, die früher 
auf ibm fich zu einem unbeutlicheren Bilde vereinigten, dieſe 
Stelle der deutlichſten Wahrnehmung als auffangende Fläche un⸗ 
tergeichoben werde. Die Erfüllung diefer Forderung fegt voraus, 
daß jede der einzelnen Fafern, Deren Enden in der Netzhaut bie 
Lichteindrlide aufnehmen, in einer ihr allein eigenthümlichen Art 
und Größe ihre Erregungen auf die verfdjievenen motorifchen 
Nervenfäden übertragen könne, von deren mannigfach abgeftuften 
Zuſammenwirken die Weite und Richtung der Angenbemegungen 
abhängen. 

Geftatten wir und nun die Vermuthung, daß eine jolde 
Wechſelwirkung zwifchen ben reizaufnehmenven und den bemegung- 
erzeugenden Nerven der Augen filr die Begründung der Raum- 
anſchauungen benutt fei, jo würde die vielfache und reichgeglie⸗ 
berte Verflechtung der Fäden beider Gattungen, wie wir fie für 
diefen Zweck vorausfegen müßten, uns ganz das Bild eines eigen- 
tbümlihen Gentralorgans der räumliden Anſchauung 








‚859 


gewähren. Jede einzelne gereizte Stelle ver Nethaut würde dann 
vermöge ber befonderen Art, in welcher die von ihr entipringende 
Safer mit den motorifhen Fäden verbunden ift, einen ihr aus— 
Ichlieglich zugehörigen Bewegungsantrieb in Diefem Organe erzeu- 
gen, von welchem bie Seele auch dann, wenn ihm Ferne wirkliche 
Bewegung bed Auges nachfolgt, einen irgendwie geftalteten Ein- 
drud erfahren kann. Dieſer Eindrud endlich, der nicht nothwen⸗ 
big felbit ein vom Bewußtſein wahrgenommener Vorgang zu fein 
braucht, fondern zu jenen unbewußten Zuftänden gehören Tann, 
deren Einfluß auf die Seele dennoch groß ift: dieſer Eindrud 
würde das Localzeichen fein, nad; beffen Anleitung die Seele dem 
Farbenpunkte, mit welchen er verbunden ift, feine Lage zu allen 
übrigen, mithin feine fefte Stelle in dem Raume ihrer Anfchauung 
zumeift. Wir müfjen es den ausführlichen Unterfuchungen ber 
mebicinifchen Pſychologie überlafien, theils die zahlreichen Schwie- 
rigfeiten hinmwegzuräumen, die im Einzelnen diefer vermidelte Zu- 
fammenhang .Darbietet, theils nachzuweiſen, daß in der That ein 
Syſtem folder Bewegungsantriebe alle jene Feinheit und Biel- 
feitigfeit der Abftufung und der Verwandtſchaft zwiſchen den ein- 
zelnen Localzeichen darbieten würde, wie fie Die Schärfe unferer 
räumlichen Gefihtsmahrnehmungen vorausfegt. Unſere Abjicht 
fonnte bier nur die fein, an dem Beifpiele dieſer Anficht, deren 
Inhalt bei aller Wahrjcheinlichfeit, welche er für und befitt, doc 
nicht Thatfache, fondern Vermuthung ift, ein Bild der Vorftellung 
zu geben, Die wir uns auf dieſe oder andere Weiſe im Wejent- 
lichen immer ähnlich von der Begründung unferer räumlichen An- 
ſchauung werden machen müfjen. Welche andere Vorſtellungsweiſe 
man aud immer im Einzelnen zulegt vorziehen möchte, ınan wird 
nicht von der Nothwendigkeit abkommen, für dieſe Leiftung unferer 
geiftigen Thätigfeit ein vorarbeitendes Gentralorgan anzunehmen, 
und wir tragen Tein Bedenken zuzugeftehen, daß wir einen be= 
trächtlichen Maſſenantheil des Gehirns allein für dieſen Zmwed 
beſtimmt glauben. 


360 


Die Gefühle der Luft und Unluft, melde theils die 
einzelnen Empfindungen begleiten, theil® aus der vergleichenden 
Zufammenfaffung mehrerer entftehen, ſehen wir zu auffällig nad 
dem Stande des körperlichen Befindens ſchwanken, als daß wir 
ihren Urfprung ganz allein in ber werthempfindenden Thätigleit 
ber Seele fuchen möchten. In jehr vielen Fällen allerdings än- 
dern krankhafte Verſtimmungen nit nur das Gefühl, fondern 
auch den Inhalt der Empfindung, an die es fi knüpft; es iſt 
nicht derſelbe Geſchmack, den der Kranke widrig und der Gefunde 
angenehm findet; und in folden Fällen könnten wir vermuthen, 
daß Die Seele über den Einvrud, den ihr der Sinnesnerv wirk⸗ 
lich zuführt, immer nad denfelben Gefegen ihrer eignen Natur 
urtheilt, ohne dazu nody der maßgebenden Dazwiſchenkunft eines 
förperliden Organs zu bebürfen. Aber häufig bleibt doch auch 
der Inhalt der Wahrnehmung unverändert und doch wechſelt die 
Größe und Art des Gefühles, melde er erweckt. Gewiß wird 
nun au bier oft die Lebhaftigleit der Theilnahme, die wir ihm 
zuwenden, durch den allgemeinen Charakter der eben vorhandenen 
Gemüthsftimmung, die aus rein geiftigen Anläfjen entftanden fen 
ann, bald erhöht, bald herabgefegt, und zu denjelben Harmonien 
der Töne, zu denfelben Zufammenftellungen der Farben fühlen wir 
und wahrſcheinlich nur aus folden Gründen bald mehr bald we⸗ 
niger wahlverwandt geftimmt. Dennoch bleibt fowohl in Bezug 
auf die Stärfe als auf die Färbung unferer Gefühle eine Ber- 
änderlichfeit unſeres Ergriffenwerdens übrig, welche wir mit Wahr- 
ſcheinlichkeit nur Davon ableiten Finnen, daß die Vebereinftimmung 
oder der Widerftreit, in welchem fich die Erregungen der Nerven 
mit den Bedingungen unfere® Lebens befinden, erft an einer be= 
fonderen Nachwirkung gemefjen wird, welche nicht immer der wirt: 
lich erlittenen Störung oder Förderung richtig entfprechend erfolgt. 

Nah der Einathmung von Aether oder Chloroform erliſcht 
nicht immer mit dem Gefühl zugleih das Bewußtfein; es ift im 
Anfange den Beläubten zuweilen möglich, mit ziemlicher Genauig- 
feit die einzelnen Vorgänge einer chirurgifchen Operation mwahr- 





361 


zunehmen, welder fie unterworfen werben; aber fie fühlen den 
Schmerz derſelben nit. Auch in anderen Berftimmungen des 
Nerveniyitems fühlen wir uns zuweilen von der eigenthümlichen 
Affectlofigkeit unferer Eindrücke beängftigt, die. mit aller Deut- 
lichleit aufgefaßt uns doch kaum als unfere eignen Zuſtände er- 
feinen; fo wenig find fie von dem Gefühle des Ergriffenfeins 
begleitet, welches im gefunden Leben jebe unferer Empfindungen 
in angemeflenem Grade mit fi führt. Hier ſcheint es nun, als 
wenn zwar Die Leitung der Äußeren Reize bis zu jenem Punkte 
ununterbroden wäre, wo fie durch Wechſelwirkung mit der Seele 
in bewußte gleichgiltige Wahrnehmungen umgefegt werben, aber 
als wenn zugleich ihre Fortpflanzung bis zu einem anderen Punkte 
geheınmt wäre, an welden anjchlagend fie jene eigenthümliche 
Reſonanz ermweden müßten, deren Rückwirkung in der Seele erft 
das begleitende Gefühl erwedt. Die genauere Unterfuchung würde 
jedoch nach den Thatſachen, welde die Erfahrung bisher Tennen 
gelehrt bat, die Frage nicht völlig entfcheiven Können, ob wir in 
der That in diefem Sinne ein eigenthümliches Centralorgan des 
Gefühles anzımehmen haben, oder ob nicht eine andere Form 
körperlicher Mitwirkung die vorkommenden Eriheinungen ebenfalls 
erflären würde. 

Aber nicht ohne Interefje würde eine Nachforſchung nach den 
Grenzen fein, innerhalb welcher überhaupt die Gefühle dieſer Mit- 
wirkung bebirfen. Beruht das Wohlgefallen an den confontrenden 
Accorden der Töne auf einer Bergleihung der entjtandenen Ton⸗ 
empfindungen allein, fo daß Die Seele ſelbſt, jedes Körpers 
entledigt, noch fortfahren würde, Diefelben Accorde ſchön zu finden, 
falls es möglich wäre, ihr die erneuerte Empfindung derſelben 
zu verichaffen? Oder fühlt die Seele in diefem MWohlgefallen 
nur die gimftige Nebenwirkung, welche gerade diefe Verbindung 
von Tönen auf einen anderen Theil ihrer leiblichen Organifation 
ansübt, fo daß ihr Genuß nur von eimem nebenberlaufenden 
Nuten, nicht von den eignen inneren Berwandtichaften biefer Ton⸗ 
gruppe berrührte und mithin unmöglich würde, wenn mit ber 


362 


Brperlihen Grundlage auch die Möglichkeit, ihr wohlzuthun, hin⸗ 
wegfiele? Diefe ragen find unlösbar fiir jegt und ftatt ihrer 
Beantwortung, deren Werth für die Auffafjung bes ganzen gei- 
ſtigen Lebens fchon dieſes eine Beifpiel binlänglich erkennen Läft, 
miüffen wir uns vorläufig mit der Ueberzeugung begnügen, daß 
die Lebhaftigfeit und Wärme unferer Gefühle und damit Die ganze 
Geftaltung unferer Gemüthäwelt von dem Einfluffe der leiblichen 
DOrganifation jedenfalls in hohem Grade abhängig ift. 


Durch die genaue Weberlieferung der äußeren Eindrücke durch 
bie Lebhaftigkeit der Geflihle, welche fich am jede einzelne Empfin- 
dung und an ihre Berbindungen mit andern knüpfen, durch alle 
diefe Leiftungen arbeiten die körperlichen Organe aud jenen höhe⸗ 
ren Thätigleiten des Geiſtes vor, durch welche feine verftändige 
und vernünftige Erkenntniß das Ganze einer geordneten Welt- 
auffaffung hervorbringt. Aber in dieſer Vorbereitung des Ma⸗ 
terial8, an welchem die Seele die Kräfte ihres beziehenden Wif- 
ſens ausüben foll, jcheint auch der einzige Beitrag zu befteben, 
den die Berrichtungen des Körpers fir dieſe höheren Aufgaben 
des Seelenlebens darbieten können; ihre fung felbft wird ber 
eignen Thätigleit des Geiſtes überlaſſen bleiben. Spricht man 
bon Organen des Berftandes oder ber Vernunft, von 
Werkzeugen bes Denkens und der Beurtheilung, fo geftehen wir, 
weder von dem Bedürfniß, welches zu folden Annahmen führen 
Ünnte, noch von der Art des Nutzens eine Ahnung zu baben, 
welchen das Vorhandenſein aller diefer Inftruumentation für das 
höhere geiftige Xeben gewähren könnte. Keine jener beziehenden 
Thätigfetten, aus deren unerſchöpflich mannigfacher Wiederholung 
alle unfere Erfenntniß hervorgeht, wird im Mindeſten durch bie 
Mitwirkung einer körperlichen Kraft beförbert werben können; 
aber die Möglichkeit einer jeden wird davon abhängen, daß ihr 
die Beziehungspunfte, welche fie vergleichen fol, das Material 





363 


ihrer Arbeit durch die Sinne und folglich durch die Beihilfe der 
körperlichen Verrichtungen pafjend und richtig dargeboten werbe, 
So hängt die Blüthe des geiftigen Lebens, was nie geleugnet 
worden ift, durch taufend Wurzeln mittelbar mit dem Boden des 
leiblichen Dafeins zufammen ; aber außer der allgemeinen Nah⸗ 
rung, welde er barbietet, treibt der Boden nicht noch ein bes 
fondere8 Organ in die Höhe, deſſen die Pflanze fich bedienen 
müßte, um zu blüben. 

Wenden wir uns ferner zu der fittlihen Beurtheilung 
von Handlungen, jo Binnen wir zugeben, daß aud fie mittelbar 
ſehr gemwichtig mit beftimmt wird durch Die Genauigfeit, mit mwel- 
her unfere finnlihe Auffafjung einen Thatbeſtand barftellt, und 
duch die Lebhaftigkeit, mit welcher nach der beftänbigen ober 
augenblidlichen Stimmung unferes körperlichen Befindens ſich theil® 
andere Vorſtellungen umflchtiger oder verworrener an dieſen That⸗ 
beftand anknüpfen, theild Gefühle feinen Werth meflend ſich ent- 
wideln. Aber dennoch wird feine Erregung eines Törperlichen 
Drganes der Seele in dem weſentlichſten Punkte, in der Fällung 
des moralifchen Urtheiles felbit beiftehen können; die Mithilfe der 
Nerven wird ſtets nur den angenehmen oder unangenehmen Ge- 
fühlswerth der betrachteten Handlung für das perjönliche Leben 
des Beurtheilenden, aber niemals die von aller perfönlichen Luft 
und Unluſt entblößte Beurtheilung ihrer fittlihen Güte oder 
Schlechtigkeit begründen Binnen. Wie wenig wir deshalb auch leug⸗ 


nen können, daß in mur zu hohem Maße jene Einwirkungen ber 


törperlichen Thätigkeiten in Wirklichkeit unfer moralifches Urtheil 
lenken und verbüftern, fo haben wir body nirgend Grund, dieſem 
zu feiner eigenthümlichen Leiftung die gefährliche Hilfe eines eignen 
leiblichen Organs aufzubringen. Und ebenfo mag ein großer 
Theil des Eindrudes, den uns ſchöne Gegenftände erweden, auf 
einer gefälligen und übereinftimmenden Erregung unjerer Nerven 
beruben. Aber wer in dem äftbetifhen Gefühle neben dem ge⸗ 
wiß nicht fehlenden Antheil perſönlichen Wohlgefühles noch eine 
unabhängige Verehrung und Werthihägung des Schönen fieht, 


364 


wird nun auch dieſes Mehr einzig der Seele zurechnen müſſen. 
Der Schauer ber Erhabenheit, das Lachen tiber komiſche Vorfälle, 
fie werben beide gewiß nicht durch eine Webertragung der phufi= 
fen Erregungen unferer Augen an die Nerven der Haut ober 
bes Zwerchfelles erzeugt, fondern dadurch, daß der Inhalt bes 
Geſehenen in eine Welt der Gedanken aufgenommen und in dem 
Werthe erkannt wird, den er in dem vernünftigen Zufammen- 
hange der Dinge bat. An die geiftige Stimmung, die hieraus 
fi entwidelt, bat der Mechanismus unferes Lebens jenen kör⸗ 
perlihen Ausdruck geknüpft, aber ber Törperlidhe Eindruck würde 
für fi ohne jenes Verſtändniß deffen, was er Darbietet, niemals 
diefe Stimmung erzeugen. Wie groß daher auch und wie biel- 
geftaltig die Mitwirkung der Törperliden Functionen fir das 
höhere Geiftesleben fein mag, fo befteht fie doch gewiß nicht darin, 
daß diefem befondere Werkeuge für das Eigenthimlichfte feiner 
Leiftungen zugeordnet wären, fondern nur darin, daß zur Ber- 
wirflihung mander mittelbar nothwendigen Vorbebingungen bie- 
fer Leiftungen die ungeſchmälerte Thätigkeit vielfacher vorbereiten- 
der Drgane erforderlich ift. 


Zu diejen Borbedingungen gehört nit nur die Zuleitung 
augenblicklich einwirkender Eindrücke, fondern auch Die Feſthaltung 
vergangener, ihr Wiedererſcheinen im Bewußtſein, jener ganze be⸗ 
wegliche Ablauf der Vorſtellungen, durch deſſen Zuſammenhang 
unſer Leben Einheit, unſere Handlungen beſtändige Ziele errei— 
chen. Haben wir eben die höheren Thätigleiten des Geiſtes un⸗ 
abhängig von dem Körper zu faſſen geſucht, ſo würden ſie in eine 
gleich tiefe Abhängigkeit zurüdfallen, wenn die Erhaltung dieſer 
Grundlage, aus welder fie auftauchen, den phufiichen Gegenwir⸗ 
ungen des Drganismus überlaffen wäre. Je nachdem das Or⸗ 
gan des Gedächtniſſes mehr oder weniger treu und dauer⸗ 
haft den Gewinn des früheren Lebens fefthielte, je gelenkiger und 





865 


elaftifcher die nervöſen Erzitterungen verliefen, durch welche die im 
Gehirn erhaltenen Nachbilder vergangener Eindrücke einander 
wechjelfeitig beleben: um fo reiner und reicher oder um fo mehr 
verbüftert und eng würde in jedem Augenblid unfer Bewußtſein 
von dem Zuſammenhang unſeres Lebens, unferer Pflichten und 
Hoffnumgen fein. Oder vielmehr Tem folder Zuſammenhang 
wiürbe überhaupt ftattfinden, ſondern vereinzelt wiirde in jedem 
Augenblid die Seele die Vorftellung, das Gefühl oder die Stre- 
bung entfalten, welche ihr die eben wieder erwachende Körperliche 
Anregung geböte; ohne die eigne Fähigkeit, auch in ihrem In⸗ 
nern jelbft das Vergangene zu dem Gegenwärtigen aufbewahren 
berüberzuziehen, Tunte fie ſelbſt durch den Heinften Zeitraum 
hindurch die Stetigfeit eines einzigen Gedankens nicht erzeugen, 
defien ganzer Sinn erft durch die Aufeinanderfolge mehrerer Vor⸗ 
ftellungen vollftändig würde. In der That nun bängt ohne 
Zweifel au unfer Borftellungslauf mittelbar in großer Ausbeh- 
nung von der beftändigen Einwirkung der körperlichen Vorgänge 
ab; der Annahme eines befonderen Gedächtnigorganes jedoch, auch) 
wenn es nur als unterſtützendes Hilfsmittel für die eigne Er- 
innerungsfäbigteit der Seele gelten follte, ftehen größere Schwie- 
rigleiten entgegen, al8 man gemeinhin anzunehmen pflegt. ‘Dem 
Einwurf, daß die Maſſe des Gehirns, ohnehin nicht beftändig, 
fondern einer langſamen Erneuerung gewiß unterworfen, nicht 
obne Verwirrung die eingeprägten Nachbilder unzäbliger Eindrüde 
zu ſpäterem Wiedergebraud aufbewahren könne, begegnet man zwar 
ſcheinbar, aber doch nicht triftig mit dem Hinweis auf die un- 
zähligen Wellenbewegungen der Töne und ber farbigen Lichter, 
Die ohne gegenfeitige Störung denſelben Luftraum gleichzeitig 
durchkreuzen können. 

Wenn unfer Blid eine kurze Zeit unverwandt auf Die Sonne 
gerichtet war, dann bleibt von ihr uns ein ſcharf umfchriebenes 
kreisförmiges Nachbild auch bei gefchloffenem Auge zurüd; denn 
während der ganzen kurzen Dauer jenes Blickes wurden diefelben 
nebeneinanderliegenden Punkte der Neghaut von den Strahlen 





366 


getroffen; in demfelben Kreife aneinanderftoßender Nervenfafern 
zittert die Nachwirkung fort, und fo erhält uns die gegenfeitige 
Lage der gereizten Theile die runde Geftalt und die Größe bes 
Bildes. Sehen wir dagegen die Geftalt eines Menſchen auf ums 
zulommen, fo dehnt mit jedem Schritte ihrer Annäherung ihr 
Bild auf unferer Neshaut fich vergrößernd aus; Taum ein ein- 
ziger Punkt der ganzen Geftalt bildet fih im nächſten Augenblid 
auf derfelben Stelle des Auges ab, auf welcher e8 im vorigen 
geſchah; nicht ein einziges Nachbild, fondern unzählige von einander 
verſchiedene würden uns zurückbleiben, wenn in der That umfere 
Nervenorgane jeden Eindrud eines Augenblides in dauernden 
Spuren firirten. Und nichts wilrden wir gewinnen, wenn wir 
meinten, daß erft eine größere Anzahl diefer momentanen Er⸗ 
vegungen ſich zu einem bejtänbigen bleibenden Nachbilde zufam- 
menſetzten; denn welches deutliche Bild könnte aus einer Anhäu- 
fung vieler entftehen, die unter einander zwar in ihren Zügen 
ähnlich, in ihrer Größe aber fo verichieven wären, daß jebes mit 
feinen Rändern über das andere herborragte und alle mithin ein- 
ander mit ungleihartigen Punkten ihrer Zeichnung beiten? Be- 
obachten wir, wie ganz unter denfelben Berhältnifien Die verſchie⸗ 
denen ſich in einander fchiebenden Farbenſpectra des Prisma zu 
eintönigem Grau verihmelgen, jo werden wir gewiß nicht anneb- 
men können, daß die Wahrnehmungen des Auges auf dieſem 
Wege bleibende Einvrüde erzeugen, die den Nachbildern ähnlich 
Form und Farbe gejehener Geftalten aufbewahren. Und doch 
haben wir bisher dieſe Geftalten noch als unveränderlich in ihren 
Umriſſen vorausgefegt. Aber wir fehen denfelben Menfchen viel- 
feiht in taufend verſchiedenen Stellungen und Bewegungen feiner 
Glieder; welches von all den unzähligen Bildern, bie er fo im 
unfer Auge warf, ift dasjenige, welches das Gehirn feftbalten 
wird? Oder follen wir annehmen, daß fle alle aufbewahrt wer- 
den? Und wenn wir ung vielleiht auch dazu entichlöffen, um 
welchen Preis würden wir zulegt dieſe Körperliche Verfeftigung der 
Eindrüde erfauft haben? Doch wohl nur um den Preis der An- 














367 


nahme, daß bei der Kleinheit des Gehirns, welche nicht geftattet, 
für jedes dieſer zahlloſen Bilder ein eignes Maflentheilden vor⸗ 
auszuſetzen, dem es inwohne, jedes einzelne einfache Atom eine 
unendliche Menge verfchiedener Einbrüde ohne gegenfeitige Stö- 
rung berfelben müſſe in ſich beherbergen können. Daſſelbe Atom, 
welches in dem Bilde eines Baumes einen grünen Punkt vertritt, 
wirbe in dem einer Blume einen xothen, in dem bes Himmels 
einen blauen, in dem jeder einzelnen Menjchengeftalt wieber 
einen anders gefärbten vertreten, und ohne zu wiſſen, wie es 
zugehen jollte, müßten wir ferner vorausfegen, daß Die Wiederer- 
wedung eines einzelnen won biefen Eindrücken in dem einen Die- 
fer Atome ſtets im dem andern Atom aud nur den beitimmten 
andern Eindruck weckte, ber mit dem vorigen felber zu ber Ein- 
beit eines zufanmengebörigen Bildes ftimmt. 

Eine foldde Vorſtellungsweiſe würde nur vervielfältigt Dies 
felbe Annahme enthalten, welche wir ein Mal machen. Wenn 
jede8 einzelne Atom der Gehirnmaſſe zur unverwmorrenen Aufbe- 
wahrung unzähliger Eindrücke fähig iſt, warum follte die Seele 
allein, ein einfaches Weſen gleich jenem, dazu unfähig jein? Wa- 
rum follte fie allein das Vermögen des Gedächtnifſes und ber 
Erinnerung nit am fich ſelbſt, nicht ohne Die Unterſtützung eines 
törperlihen Organs befiten können, ba wir doch jedem Theile 
dieſes vorausgefegten Organs baffelbe Vermögen unmittelbar und 
ohne die Zwiſchenſchiebung eines neuen Werkzeuges zuerkennen 
müfjen? In der That aber müſſen wir vielmehr behaupten, daß 
nur der ungetheilten Einheit der Seele, nicht einer Mehrheit zu- 
ſammenwirkender Gehirntheilchen die Aufbewahrung und Wieber- 
bringung der Eindrücke möglih if. Denn jelbft die Bilder 
finnlider Wahrnehmungen, welche unferem Gedächtniß zurückblei⸗ 
ben, find nicht im eigentlichen Sinne Bilder, nicht Zeichnungen 
bon unverändberlicher Größe Zahl und Stellung ihrer einzelnen 
Theile; nur das allgemeine Schema vielmehr, die Methode ber 
Berzeihnung, den Sinn des inneren Zuſammenhanges mannig- 
faltiger Merkmale hält unfere Seele feft und erzengt daraus in 





368 


den einzelnen Augenbliden der Erinnerung die beſtimmten Bilder 
wieder, und nicht immer das Bild einer folden Stellung Lage 
oder Bewegung der Geftalt, welche fie früher ſchon mahrnahm, 
und von ber ein verfeftigter Eindrud ihr zurlidgeblieben fein 
Könnte, ſondern der Erfahrung vorgreifend bringt fie mit gleicher 
Deutlichleit bekannte Figuren in nie beobachteten Verfchiebungen 
ihrer Umriſſe zur Anſchauung. Aber diefe Aufbewahrung nicht 
jowohl der mannigfachen Beſtandtheile felbft, als vielmehr der 
Regel, nach der fie zuſammengeſetzt find, ift eine Handlung bes 
beziebenden Wiſſens, eine Leiftung ber Seele; jeve Annahme 
eines Gedächtnißorgans wirde nur dahin führen, außer dem: 
jenigen Gedächtniß, welches wir unferer Seele felbft dann noch 
würden züfchreiben müſſen, auch die einzelnen Gehirnatome als 
‘ Seelen zu betrachten, deren Erinnerungstraft die unfere unterftütte. 
Und in diefer ganzen Betrachtung haben wir noch völlig abge- 
fehen von jenen mittelbar erzeugten allgemeineren Borftellungen 
unfere8 Denkens, die nicht Bilder eines Gegenftandes, ſondern 
Ausprüde innerer Beziehungen find; der Verſuch, auch ihre Feſt⸗ 
haltung auf Törperliche Nachbilder zurückzuführen, würde nur die 
Nothwendigkeit beftätigen, das Gebähtnig zu den urfprünglichften 
Leiftungen der eignen Natur der Seele zu zählen. 

Aber beweifen nicht zahlreiche und ganz alltägliche Erfah⸗ 
rungen, daß dieſe Weberlegung, welche aus dem Begriffe des Bor- 
ftellens und Erinnerns die Unmöglichkeit feiner leiblichen Begriün- 
Dung zu erweifen juchte, dennoch zu einem falichen Ergebniß ge- 
kommen ift? Sind nicht für dieſe Begrimdbung Beweiſes genug 
der gewöhnliche Schlaf, die Bemwußtlofigkeit und die zahlreichen 
Störungen der Erinnerung in Krankheiten? Zeigen dieſe Erſchei⸗ 
nungen nicht alle, daß jene Leiftungen des geiftigen Lebens nur 
fo lange ausführbar find, als die körperliche Gefunpheit ihre 
Werkzeuge unverjehrt erhält? Sp überredend jedoch dieſe Folge- 
rung fih ausnimmt, fo ift fie dennoch willkürlich und bat eine 
andere Deutung ber Thatſachen gegen fich. 

Wenn in einem vielfach zujammengefegten Syſteme von 





369 


Elementen die Störung des einen Theiles eine beitimmte Ber- 
richtung aufbebt, fo kaun e8 fein, daß dieſe Verrichtung auf die- 
ſem Theile als auf ihrem einzigen bewirtenden Grunde beruhte, 
und nun wegfällt, weil das hinwegfiel, wovon fte erzeugt wurbe; 
doch ift ebenſo möglich, daß fie in ihrer Erzeugung gar nicht ab- 
bängig war von dem geftörten Theil, durch die Störung deſſelben aber 
wie durch ein poſitives Hemmniß verhindert wird. Die legte SDeu- 
tung bier vorzuziehen, werben wir allerdings zunädhft durch unſere 
Anfiht von der Natur des Bemußtjeind überhaupt geneigt ge= 
macht; denn völlig unbegreiflich ſchiene e8 Doch, wie ein körperliches 
Organ ed anfangen follte, der Seele die Fähigkeit des Bewußt- 
ſeins mitzutheilen, wenn fie dieſelbe nit in ihrer eignen Natur 
befäße. Aber auch die Thatfachen der Beobachtung ſprechen zum 
Theil deutlih für unfere Auffaffung, und nirgends entſchieden 
gegen fie. Den gewöhnlichen Schlaf von einer Erihöpfung ber 
Sentralorgane abzuleiten, die zur weiteren Erzeugung des Be- 
wußtſeins unfähig geworden wären, ift im höchſten Grade un⸗ 
wahrſcheinlich für Jeden, der ſich erinnert, wie raſch in gefunden 
Körpern, und wo die Gewöhnung daran vorhanden ift, der Schlum- 
mer unmittelbar auf den lebhafteften Gebrauch aller geiftigen Fä⸗ 
higkeiten folgen Tann, und wie wenig, wenn er zufällig unter- 
brochen wird, dieſe oder die ihnen zu Grunde gelegte Kraft ber 
Centralorgane ſich wirklich erfchäpft zeigt. Viel überredender ftel- 
Yen fih die allmählich wachſenden Gefühle der Ermübung als 
Reize dar, die durch ihre abipannende Unluft die Freude und 
Theilnahme an der Fortführung des Gedankenganges ſchmälern; 
und eben fo gibt der ſchlaftrunken Erwachende faum fo jehr Das 
Bild eines Erſchöpften, deſſen Kräfte ſich wieder ſammeln, al8 den 
eines Gebundenen, von dem Hemmungen allmählich fich löſen. Brin- 
gen ſehr heftige Körperfchmerzen plögliche Bewußtloſigkeit hervor, 
fo mag man in diefem Falle wohl an eine fchnelle Lähmung 
eined Organs glauben, auf welcher der Wegfall feiner Leiftung, 
des Bewußtſeins, beruhe; entfteht dieſelbe Ohnmacht aus einer 


Ueberraſchung des Gemüthes dur traurige —— , jo weiß 
Lobe I. 4. Aufl. 


370 


ih nit, warum nicht unmittelbar diefer innere Aufruhr der 
Seele als ein Hinderniß gelten foll, welches ihr die Fortſetzung 
des Bewußtſeins augenblidlih unmöglich macht und zugleich bie 
gewohnte Folgfamleit der Eörperlichen Thätigfeiten gegen ihre Herr- 
[haft mit aufhebt. Können wir nun bier den geiftigen Schmerz 
als den hemmenden Reiz anfehen, welder die ftetS vorhandene 
Vähigfeit des Bewußtſeins an ihrer Aeußerung hindert, warum 
fol nit in dem vorigen Falle der Körperliche Schmerz dieſelbe 
Wirkung haben? Auch er ift ja nicht blos die leibliche Störung, 
bon welcher er ausgeht, fondern als Gefühl ift er ein Zuſtand 
des Bewußtſeins, und zwar ein folder Zuftand, von deſſen ge- 
vingeren Graden wir wirklich noch in uns felbft beobachten kön- 
nen, wie fehr fie Die Fortfegung jedes Gedankenganges durch ihren 
übermwältigenden Eindrud und durch die Abfpannung des Intere- 
ſes für alles Andere beeinträchtigen. Wir müffen endlich hinzu— 
fügen, daß Teinesmeges alle Einflüffe, weldhe der Körper auf die 
Seele vielleicht mit großer Gewalt ausübt, ſtets von der Art fein 
müffen, daß fie in unferem Bewußtſein deutliche Wahrnehmungen und 
Gefühle veranlaffen; vielmehr wie Die Brperlichen Reize in der Em⸗ 
pfindung eine Aeußerung des Bemußtfeins hervorrufen, ebenſowohl 
kann ihre Wirkung die entgegengefette fein, und das Bewußtſein kann 
plöglich ſchwinden unter einem Eindrude, der entweder ganz verborgen 
bleibt, oder von der fliehenden Befinnung nur noch unter der Form 
wenig lebhafter frembartiger unfagbarer Gefühle empfunden wird. 

Wir können nicht finden, daß die mannigfadhen Arten ber 
Bemußtlofigfeit noch eine andere Erklärung bedürfen, als biefe; 
nit das Bewußtſein braucht erzeugt zu werden durch ein Organ, 
mit deflen Beihädigung es verginge; aber e8 Tann als eine ein- 
geborene Fähigfeit der Seele von unzähligen Seiten ber durch 
Eindrüde gehemmt werden, welche den inneren Zuftand der Seele 
ungünftig verändern. Weit dunkler find jene halben Störungen 
bes Gedächtnifjes, welche der Wiedererinnerung einzelne Theile des 
Erlebten unzugänglid machen, und von denen wir manche ficht- 
lich verfälfchte Erzählungen aus früherer Zeit befiten, mande 








371 


unbezweifelbare Beifpiele der gewöhnlichften Erfahrung entnehmen 
können. Wir halten Das Bekenntniß nicht zurüd, daß bier 
Vieles unenträthjelt bleibt und in den einzelnen Fällen immer 
bleiben wird; aber wir nehmen von biefen Thatfachen nicht den 
Eindruck mit, daß fie für eine fpecielle Körperliche Begründung 
unferer Erinnerung ſprächen. 

Betrachten wir au nur den Gedankenlauf unfere8 gefun- 
den Zuftandes, fo müfjen wir geftehen, daß uns fehr häufig die 
Triebfedern, welde die eine Vorftellung in unfer Bewußtſein 
zurüdführten und die Gründe, aus denen eine andere fo lange in 
ihm fehlte, ganz bunfel bleiben; wir ahnen, baß der Wechiel un- 
ferer Gedanken nicht blos durch die Verknüpfung der Vorftellungen 
unter einander gelenkt wird, welche wir beobachtend noch ziemlich 
verfolgen Können, fondern daß er in hohem Grade von jenen 
andern weit unbeutlicheren Afjociationen bedingt wird, welche fich 
in jedem Augenblide zwiſchen dem vorhandenen Borftellungsfreife 
und bem gleichzeitigen Gemeingefühl unferer körperlichen und gei- 
fligen Stimmung bilden. Krankheit und Fortſchritt im Lebensalter 
ändern allmählich oder plöglich dieſes Lebensgefühl; in manchen Ge- 
dankenkreis der Jugend findet ſich Daher das Alter nicht mehr zurück; 
denn wenn es aud den Thatbeſtand der Vorftellungen in einigem 
Umfang wieder erzeugt, fo fehlt doch jest dem Inhalte derfelben die 
unwiederholbare Stimmung, Die weiter führen follte; in die Träume 
der Krankheit weiß ebenfo der Genejene ſich nicht zurüdzuverfegen, 
denn mit dem flechen Gemeingefühl, weldes er überwunden hat, 
fehlt ihm der Schlüffel zu dem Wege, der zu ihnen führte; fo 
feßt endlich ein erneuerter Krankheitsanfall die irren Träume 
des vorigen fort, indem er ihren Anfangspunft, die Störung des 
Gemeingefühles, wieder erzeugt; fo fühlen wir uns überhaupt 
zumeilen im Leben, und befonder8 wenn große Erſchütterungen 
des Gemüthes unfer ganzes Wefen aufgeregt, plöglic von lang- 
entwöhnten Träumen, von Erinnerungen und Stimmungen über: 
fallen, denen wir in ber Geſchichte unferes Lebens kaum noch 


eine beftimmte Stelle zu geben wifjen. 
247 





372 


Jene auffälligen Störungen des Gedächtnifſes, mie fte ſchwere 
Krankheiten oder Berlegungen erzeugen, fcheinen mir feine weſent— 
lich anderen Räthſel darzubieten, als diefe Zufälle des verhält- 
nigmäßig gejunden Lebens; überall würde es darauf ankommen 
zu zeigen, von welcher Seite her ein hemmender Drud auf die 
Verbindung ausgeübt wird, durch welche die eben einmwirkenden 
Eindrüde im gefunden Zuftande die mit ihnen afjociirten Erin- 
nerungen wieder emporheben würden. Wir können kaum hoffen, 
daß in irgend einem einzelnen Falle uns dieſer Nachweis voll- 
kommen gelingen werde; am wenigften aber möchten wir Died an 
den vorhandenen zahlreihen Geſchichten verſuchen, in denen wir 
zu oft und zu kenntlich den vielfachen Irrthümern und Lücken 
begegnen, welche das Vorurtheil des Beobachter oder feine Un- 
aufmerkſamkeit auf ibm unmwichtig erjcheinende Züge verurſachen. 
In vielen folder Erzählungen fehen wir die Störung der Erin- 
nerung aus der Berkehrtheit des ſprachlichen Ausdruckes gefolgert. 
Aber mit diefer Erſcheinung betreten wir ein bon dem borigen 
ganz verichievenes Gebiet, in welchem die Seele nicht mehr bei 
ſich allein bleibt, ſondern körperliche Mittel der Aeuferung zu 
verwenden ſucht. Dieſe Herrihaft über Stimm- und Sprad- 
werkzeuge ift gewiß nur durch ein Gentralorgen möglich, in 
welchem die bewegenden Nerven in folder Weiſe angeordnet 
und verflodten find, daß der im Bewußtſein ſchwebenden Laut- 
vorftellung die gleichzeitige Erregung ber zu ihrem Ausſprechen 
mitwirfenden Faſern geftattet if. Sind die VBermuthungen zu- 
läffig, welche wir früher über die Entftehungsweife der Bewe⸗— 
gungen ausbrüdten, jo würden wir leicht begreifen, daß manche 
krankhafte Berftimmung dieſes Centralorganes die richtige Ueber: 
tragung jener Erregung verhindern fann. Dann würde der Kranfe 
mit dem ungetrübten Bemwußtfein des Lautes, den er bilden will, 
doch zum Ausſprechen eined andern genöthigt, oder zu jedem 
Ausdrud überhaupt unfähig fein. Diefelbe VBeranlaffung, ein zu- 
fammenordnendes Centralorgan vorauszufegen, welche wir bier 
bei der Sprache finden, haben wir jedoch in Bezug auf alle Be- 











373 


wegungen überhaupt, und es ift Zeit, unfere Vorftellungen über 
ihre Erzeugung bier zum Abſchluß zu bringen. 


Daß die Seele weder von den Mitteln der Bewegung, von 
Muskeln und Nerven, nod von der Art ihrer möglichen Benugung, 
bon ber Natur des Anſtoßes, welcher den letzteren mitzutheilen 
tft, oder der Zuſammenziehungsfähigkeit der erfteren eine un- 
mittelbare Kenntniß befitt, haben wir früher gefehen. Sie kann 
nichts thun als gemiffe innere Zuftände in fich erzeugen, und 
erwarten, daß an diefe der Zuſammenhang der Organifation die 
Entftehung einer beftimmten Bewegung Inüpfen werde. Nicht fie 
felbft ift die Werkführerin, fondern auf ihr unbelannte Weiſe voll- 
zieht der Mechanismus des Lebens ihr Gebot. Aber dieſe Ge- 
bote wenigftend müßte fle zu geben im Stande fein, fie müßte 
in fih nicht nur einen Grund finden, eine beftimmte Bewegung 
zu wollen, fondern auch jenen inneren Zuftand in fich erzeugen 
fönnen, bon meldem die Entftehung derjelben abhängt. Wäre 
nun die Seele in einen Körper eingeſchloſſen, der nie von felbft fich 
bemegte, wie würde fie auf den Gedanken fommen, daß er beweg⸗ 
ih fei, daß Bewegungen nüßen, daß diefe Bewegung von dieſem, 
jene von jenem inneren Zuftande ihres eignen Wejend erzeugt 
werden könne? Offenbar ift e8 nicht allein nothwendig, daß der 
Körper durch eigne Reize ſich von felbit bewege, damit die Seele 
feine Beränderlichleit bemerfe und e8 Tennen lerne, welchen Ein- 
drud überhaupt Bewegungen ihr verichaffen, fondern gleich nöthig 
auch, daß der Äußere Reiz mit mechaniſcher Sicherheit von felbft 
in dem Körper Diejenigen Bewegungen anvege, die unter den bor= 
handenen Umftänden zur Bertheidigung des Lebens, zur Aus- 
gleihung einer Störung, zur Beiriedigung eines Bedürfniſſes 
zwedmäßig find. Unkundig an fi aller dieſer Verhältniſſe, würde 
die Seele das Richtige nicht errathen, und felbft die Erfahrung. 
würde ihr ein zweckmäßiges Verhalten, wenn nicht ein Keim we⸗ 


_ 314 __ 


nigften8 dazu ihr fertig gejchenft wäre, entweder niemals oder erſt 
dann lehren, wenn eine lange Reihe von Mißgeſchick vielleicht das 
Beftehen der Organifation überhaupt untergraben hätte. ‘Denn 
gewiß würde e8 um die Erhaltung derfelben übel ftehen, wenn 
der Scharffinn der Seele in jevem Augenblide die Mittel ent- 
deden und anwenden jollte, drohenden Störungen zu entgehen; 
fie wird nur gefihert fein, wenn in gewiſſer Ausdehnung wenig⸗ 
ftend auch ohne die Mitwirkung der Seele die zweckmäßige Hanb- 
lung von dem Eindrude der Umftände felbft als nothmwendige 
Folge ausgelöft wird. 

Unfähig zur erften Erfindung wird die Seele dagegen wohl 
fähig fein zur Vervollkommnung dieſes Mechanismus; indem fie 
beobachtet, auf welchen Reiz welche Bewegung mit weldem gün- 
figen Erfolge und mit welchem unmittelbaren Eindrud für fie 
feröft folgt, wird fie in einem fpäteren Falle nicht mehr den 
wirklichen Eingriff des Reizes abzuwarten brauden. Sein der 
Erinnerung wieberfehrendes oder aus der Ferne wahrgenommenes 
Bild, ſelbſt das Bild nicht defjelben, ſondern eines ähnlichen Reizes 
wird in der Eeele die Borftellung jenes Eindrudes und damit 
auch einen unwillkürlichen Trieb zur Wiebererzeugung jener Be: 
wegung erweden. Wenn daher zunächſt die Seele nur als ohn⸗ 
mächtiger Beobachter den zwedmäßigen Wirkungen zuſah, buch 
welche der organiſche Mechanismus die Sicherheit ihres Wohn- 
fige8 vertheidigte, fo dankt fie ihm doc fpäter dafür, indem fie 
ihre mannigfachen Fähigfeiten, Vergangenes in der Erinnerung 
aufzubewahren, Zufünftiges aus früheren Analogien zu erwarten, 
das gemeinfame Achnlihe aus oberflächlicher Verſchiedenheit her⸗ 
vorzuheben, unwillkürliche Wirkungen durch Rüdficht auf den er- 
zielten Erfolg zu verbeffern, nun der Verfeinerung und Vervoll- 
kommnung jener gewiß ſchon Fünftlichen, aber den Bedürfniſſen des 
vollen Xebens noch nicht entſprechenden Verkettung zwiſchen Reizen 
und Rüdwirkungen widmet. Die Langfamleit, mit welder das 
menſchliche Kind allmählich zur Herrichaft über feine Glieder 
kommt, in Verbindung mit der äußerft feinen individuellen Aus- 


875 


prägung dieſer Herrſchaft, die ihm doch im Fortſchritt der Bil- 
dung möglich ift, zeigt und, wie bedeutend bier der mithelfende 
und veredelnde Einfluß der Seele eingreift: der äußerſt Furze 
Zeitraum dagegen, den das neugeborene Thier meift bedarf, um 
die Bewegungsarten feiner Gattung völlig zu erlernen, und die 
oft komiſche Gleichförmigkeit, mit welcher die jungen Geſchöpfe 
ohne individuelle Unterſchiede die Sonderbarleiten derjelben ent- 
wideln, Dies lehrt uns, wie bier umgelehrt eine feftere, früh und 
füher wirkende Verbindung zwiſchen den Eindrüden bes Gemein- 
gefühles und den Bewegungen hergeftellt ift. 

Beobachten wir die [pielenden zwedlofen Bewegungen junger 
Thiere und der Kinder, jo muß uns auffallen, wie felten und 
foft nie ohne befondere Krankheit fi unter ihnen einzelne, zu- 
fammenbanglofe', unzweckmäßige Zudungen einfinden. Und doch 
hätte man ſolche erwarten können bei der unzähligen Menge zu— 
fälliger Eindrüde, welche die Muskeln und die motoriichen Nerven 
in jedem Punkte ihres Verlaufe treffen können. Aber fie treten 
nicht auf; vielmehr verrathen felbft die zögerndften und ungeſchick— 
teften Bewegungen, welche wir wirklich beobachten, dod immer 
ſchon Die gleichzeitige und zwedmäßige Wirkſamkeit zufanmenge- 
höriger Musfelgruppen. Wir können es al8 eine Thatfache ber 
Beobachtung ausſprechen, daß in dem jungen Organismus fchon 
den zufälligen Reizen, worin fie auch beftehen mögen, bie verein- 
zelte und zufammenhanglofe Anregung einzelner Bewegungsbrud- 
ftüde ſchwer, die Herborrufung zufammtenftimmender Bewegungs⸗ 
gruppen leicht gemadt if. Das erſte vielleicht, aber nicht das 
zweite ift denfbar ohne ein Centralorgan, in welchem die einzel- 
nen motoriſchen Nervenfäden fo zufanmengelagert und verflochten 
find, daß ein einziger Reiz, welcher einen beftimmten Punkt deſ⸗ 
felben trifft, auf einmal eine Mehrheit von Faſern zu überein- 
ftimmender Bewegung erregt. Theils das Gehirn, theild ſchon 
das Rückenmark hat ohne Zweifel unter andern Aufgaben aud 
die eines ſolchen Centralorganes, und obgleich wir ben beftimm- 
teren Bau deflelben blos aus den Bebirfniffen des Lebens nicht 





376 


vorauszufagen unternehmen möchten, Können wir doch einen Zug 
defjelben mit hinveichender Wahrjcheinlichfeit vermuthen, nämlich 
die beftändige Mitverflehtung zuleitender jenfibler Fafern in das 
Gewebe der motoriichen. 

Die erfte Aufgabe eines motorifchen Centralorganes wiirde 
darin beftehen, überhaupt Die Bewegungen des Körpers, die der 
Eigenthümlichfeit feiner Gattung gemäß in dem Baue der Glieder 
möglich gemacht find, zu wirklicher Ausführung zu bringen. Es 
würde bierzu hinreichen, daß innere Reize, wäre es felbft nur ber 
des Blutlaufs, die Elemente des Gentralorganes abwechſelnd oder 
dauernd zur Thätigleit erregten, und wir würden Dann mit me- 
hanifher Sicherheit und Regelmäßigkeit jene Elemente aller Be- 
wegung, das Schreiten Schwimmen liegen und ähnliche, erfol- 
gen feben. Allein alle dieſe Bewegungsfähigfeiten find dem Thiere 
doch zum Gebraude in einer widerftehenden Welt gegeben und 
es muß eine Möglichkeit vorhanden fein, aud ihre eingelnften 
Abſchnitte ſchon in Webereinftimmung mit den veränderlichen 
äußeren Umftänden -abzuändern, unter denen fie ausgelibt werden 
follen. Iſt e8 nun ausfchlieglich das Gefhäft eigenthihnlicher fen- 
fibler Faſern, von dem veränderlihen Zuſtande der einzelnen 
Theile Eindrüde aufzunehmen und zu leiten, fo werben wir aud 
in jenem Gentralorgane eine mannigfache Begegnung fenfibler 
Faden mit motorifhen erwarten müfjen. Jedes beginnende Un- 
gleihgemicht des Körpers wird dann durch den neuen Eindrud, 
den e8 durch die erfteren auf die leßteren überträgt, eine paffende 
Rückwirkung zur Herftellung des Gleichgewichtes, jedes Hinderniß 
den Anfang wenigftens zu einer zwedmäßigen Umgehung hervor⸗ 
rufen. Denſelben Zufammenbang werden wir ferner da benutzt 
finden, wo ein von außen kommender ungewöhnlicher Reiz eine 
beftimmte Bewegung theil® zur Abwehr, theil® zur Benutzung 
feines Eindrudes verlangt. Auch hier werben wir es fir Die 
Sicherung des Lebens als die nüglichfte Einrichtung vorausfegen 
önnen, daß, ohne die liberlegende Anordnung der Seele abzu- 
warten, der Reiz unmittelbar mit mechanischer Nothwendigkeit die 





877 


zwedmäßige Rüdwirkung auslöſt. Zahlreiche Bewegungen dieſer 
Art beobachten wir theils an unferem eignen Körper, wie bie 
convulfivifchen Explofionen des Huſtens des Niefens des Er- 
brechens, durch welche ohne unfere Kenntniß des Herganges die 
Entfernung jchäblicher Reize bewirkt wird, theils hat man fie an 
dem Rumpfe gelöpfter Thiere, alfo unter Umftänden mahrgenom- 
men, unter denen die natürlichſte VBorausfegung gegen die Mit- 
betheiligung der Seele ſpricht. 

So lange num diefe Bewegungen im Uebrigen das Gepräge 
mechaniſcher Wirkungen nicht verleugnen, fo lange fie alſo nicht 
ohne äußere oder nachweisbare innere phyſiſche Anregungen ent- 
ftehen und ohne Rüdficht auf Diejenigen äußeren Umſtände, welche 
fih nicht Durch phyſiſche Eindrüde gelten machen können, auf 
gleihe Reize immer in gleicher Weife erfolgen: jo lange würde 
alle zwedmäßige Mannigfaltigfeit ihrer Zufammenfegung in der 
That feinen Grund enthalten, auf eine verborgene Mitwirkung 
der Seele zu fchließen. Aber manches Andere kann diefen Schluß 
zu empfehlen fdheinen, ohne ihn doc wirklich zu berechtigen. Es 
ift nicht unwahrſcheinlich, ſondern hat im Gegentheil die Wahr- 
ſcheinlichkeit für fih, daß für Die Form, welche die erregte Be- 
wegung annehmen wird, nicht blos der Ort fondern aud bie 
Art des hervorrufenden Reizes mitbedingend ifl. Hierauf ift 
wenig bisher geachtet worden; man hat ſich begnügt, die That- 
ſache zu beobachten, daß zum Beiſpiel in einem enthaupteten 
Froſche Die Reizung einer beſtimmten Hauptftelle eine Bewegung 
des Beines nad; diefer Stelle bin zur Folge babe, und daraus 
bat ſich die BVorftellung entwidelt, daß der fenfible Nerv eines 
beftimmten Hauptpunktes feine Erregungen, welcher Art fie fein 
mögen, immer in gleicher Weife auf motorifche Nerven übertrage, 
mithin eine ftet8 gleiche Bewegung zur Folge habe. Gegen 
wir Dagegen voraus, was möglich ift, daß dieſe Mebertragung 
anders, theil8 in anderem Maße, theils auf andere motorifche 
Faſern geſchehe, wenn die mitzutheilende Erregung eine andere ift, 
fo würde bereitö hierdurch in dieſe Reflerbemegungen, wie man 





378 


fie zu nennen pflegt, der Schein einer zwedmäßig wählenden Will- 
für Tommen, obne daß doch in ber That eine Mitwirkung ber 
Seele in ihnen vorhanden wäre. 

In fo weit würde nun die Harmonie der Bewegungen auf 
der Zweckmäßigkeit der beftändigen Bildung des Centralorganes 
beruhen. Aber die befannten Erſcheinungen der Uebung und Ges 
wöhnung, die Erfahrungen, daß Bewegungen und zur zweiten 
Natur werben können, deren erfte Ausführung uns große Schwie- 
vigfeiten darbot, überzeugen uns, daß die erfte Bildung der Or- 
gane im Laufe des Lebens zu noch größerer Trefflichfeit entwidelt 
werden kann. Denn die Wahrnehmung, wie häufig ſich einzelne 
Züge erworbener Anmuth und Feinheit der Eörperlihen Haltung 
und Bewegung forterben, läßt uns darauf fchließen, daß die An= 
übung nicht erfolge, ohne in den leiblihen Organen eigenthim- 
liche phyſiſche Veränderungen hervorzubringen und zurüdzulafien. 
Manche zweckmäßige Rücdwirkung, die an und für fi) nicht durch 
die beftändigen Grundzüge der Organifation an einen beftimmten 
äußeren Reiz gebunden war, kann dieſe anerzogene Dispofition 
des Nervenſyſtems ‚nun doch auf ihn folgen laſſen; dann ent- 
widelt das Organ eine Intelligenz des Wirkens, die nicht fein 
urſprüngliches Eigenthbum und auch nicht die unmittelbare That 
einer noch in ihm lebenden Seele, fondern nur der Gewinn an 
phyſiſcher Gewohnheit ift, welden es feinem früheren Verlehr 
mit der Seele verdankt. ‘Denn lernen allerdings konnte es dieſe 
Formen des Rückwirkens nicht aus fich jelbit, fondern nur dadurch, 
daß an den Reiz, den e8 empfing, Die dazwiſchentretende Ueber⸗ 
legung der Seele die Rückwirkung knüpfte; aber mas die körper⸗ 
liche Organijation nicht erfinden Tonnte, das Tann fie doch feft- 
halten, nachdem eine wiederkehrende Uebung für fie den Zufam- 
menhang zwijchen dem gejchehenen Eindrud und der folgenden 
Beränderung durch zurüdgelafiene materielle Spuren zu einer 
phyſiſchen Nothwendigfeit ausgeprägt bat. Sehen wir daher den 
Rumpf geföpfter Thiere auf einen Äußeren Reiz zuweilen durch 
eine Form ber Bewegung antworten, welche aus dem phufiichen 











379 


Eindrude, den der Reiz in diefem Augenblide dem Nervenſyſtem 
wirklich mittheilt, nicht binlänglich erklärbar fcheint, fo ift es 
dennoch nicht nöthig, in dem Rumpfſtück einen mitabgetrennten 
Seelentheil anzunehmen, deſſen Heberlegung zu dem wahrgenom- 
menen Reize die nöthigen Vermittlungsgliever bis zur hinläng- 
lihen Begründung der zwedmäßigen Bewegung ergänzte. 
Welches auch immer die Thatſachen der Beobachtung fein 
möchten, wir könnten uns zu ihrer Erklärung nicht dieſe Ber- 
muthung erlauben, deren innere Unmöglichleit uns deutlich ift. 
Bon einer theilbaren Seele mag man mit einem Scheine der 
Verſtändlichkeit noch fprechen, wenn man nur an Die noch unent- 
widelte Anlage zum geiftigen Leben denkt, die wie ein homogenes 
Ganze fih durch den Körper auszudehnen fchiene; fol aber das 
im Leben bereit8 ausgebildete Bewußtjein mit feinen Erinnerun- 
gen, Erfahrungen und den durch dieſe gewonnenen Fertigkeiten 
und Kenntniffen der Gegenftand der Theilung fein, fo würden 
wir kaum mit dieſer Forderung und auch nur fo weit Far wer- 
den, daß wir uns vorftellen könnten, was wir eigentlich verlangen. 
Und doch würde nur eine Theilbarkeit der letztern Art dieſe 
Erjheinungen erflären; denn die Fähigleit, den Umftänden ge- 
mäß zu handeln, würde dem Topflofen Rumpfe durch eine noch 
aller Erfahrung entbehrende Intelligenz nicht um das Geringfte 
Yeichter verſchafft als durch einen rein phyſiſchen Mechanismus 
der erften Bildung. Nur zwei Anftchten fcheinen jenen Beobad- 
tungen gegenüber möglid. Entweder wir jehen die Zwedmäßig- 
feit folder Bewegungen, wie fie der kopfloſe Rumpf Taltblütiger 
Thiere häufig ausführt, zwar als Erzeugniffe der Intelligenz an, 
aber nicht einer in ihm noch gegenwärtigen, -[ondern der Intelli⸗ 
genz jener einen Seele des Thieres, mit deren Site diefer Rumpf 
früher zufammenhing, und deren Weberlegung in feinen Gentral- 
organen Gewohnheiten zwedmäßigen Wirkens begründete, welche 
fortdauern, auch nachdem der Zuſammenhang zwiſchen ihm und 
ber Seele aufgehoben ifl. Oder wenn wir, mit Unrecht wie mir 
ſcheint, dem Eindrude voller Xebendigfeit nadhgebend, den jene 


{| 


380 


Bewegungen allerdingd erweden, fie nicht mehr von einem Echo, 
fondern nur von unmittelbarer Gegenwart: einer Intelligenz ab- 
leiten zu dürfen glauben: fo fteht nicht8 im Wege, in dem Rüden- 
mark eine Mehrheit individueller Wejen von feelifher Natur an⸗ 
zunehmen, deren jedes feine Intelligenz für fih haben möchte. 
Während des Lebens würde die eine Seele, meldhe wir Die bes 
Thiered nennen, durch ihre bevorzugte Stellung oder die größere 
Kraft ihrer Natur alle diefe Theilfeelen beherrſchen und alle 
würden durch die Verbindung, in der fie unter einander fiehen, 
an den Erlebniffen des ganzen Thieres Theil nehmen und von 
feinen Erfahrungen Nuten ziehen. Fällt am entbaupteten Thiere 
der Einfluß feiner Hauptjeele weg, fo werden Die Seelen der Theile 
noch immer fi) den Reizen gemäß äußern können, die ihre Kör⸗ 
pergebiete treffen, und die früheren Erfahrungen, die freilich jede 
von ihnen nur im Zufammenbange mit dem Kopf und feinen 
Sinnesorganen machen konnte, die fie aber einmal gemadt in 
der Erinnerung fefthält, werben ſie noch jett befähigen, ſich in 
ihren Handlungen den äußeren Umftänden mit Zregnßigtei zu 
accommodiren. 


Mit der Annahme dieſes Centralorganes für die Regelung 
der Bewegungen glauben wir die Reihe der Hilfen erſchöpft zu 
haben, welche wir unmittelbar von dem Baue des Körpers für 
die Leiſtungen der Seele verlangen müſſen. Sie ſind alle darauf 
gerichtet, einestheils die Verknüpfung äußerer Eindrücke zu einer 
räumlichen Ordnung der Anſchauung, anderſeits die Ausgeſtaltung 
innerer Zuſtände in einen zweckmäßigen Zuſammenhang räum⸗ 
licher Bewegungen möglich zu machen; alle jene umfaſſende 
Arbeit dagegen, durch welche die Intelligenz den Inhalt der ſinn⸗ 
lichen Eindrücke zur Einheit einer vernünftigen Weltauffaffung 
gliebert, haben wir der körperloſen Thätigleit der Seele allein 
überlaffen müflen. Biel einfacher fcheinen daher die Aufgaben, 


881 


die wir dem Gehirn ftellen, als die mannigfachen Leiftungen, 
welche bie Phrenologie von ihm erwartet, indem fie fir viele ber 
verwideltften Aeußerungen des Geiftes eigenthümliche Organe 
ſucht und zu finden glaubt. Wie unſicher auch dieſe Beſtrebungen 
fein mögen, der unbefangene Eindruck der Beobachtung läßt fie 
doch nicht als ganz grundloß ericheinen, und nicht jeder Einwurf, 
welder ihnen gemacht wird, trifft fie mit Recht. Gewiß ift bie 
Annahme nicht nothwendig, daß alle an ſich gleihartigen Seelen 
ihren individuellen Charakter erſt durch die befondere Ausbildung 
ihrer leiblichen Organe erhalten, Nichts hindert vielmehr die 
Ueberzeugung, daß durch eine urfprünglidhe Eigenthümlichkeit jede 
einzelne von Anfang an zu einer ihr allein angehörigen Entwid- 
lung der allgemeinen Yähigfeiten beftimmt fei, welche fie als bie 
gemeinfamen Grundlagen alle geiftigen Lebens mit allen übrigen 
theilt. Wenn wir dagegen Anjtoß daran nehmen, auch nur einen 
andern Theil der Vorbeſtimmung zu dem eigenthiimlidden Cha- 
talter der Perfönlichleit in dem körperlichen Baue zuzugeftehen, 
fo vergeffen wir, daß alle ſolche Bemühung, das geiftige Leben 
von leiblicher Bedingtheit fern zu halten, doch an andern nicht 
zu leugnenden Thatfachen ohnehin fcheitert. Weder unfer Ge= 
ſchlecht, noch unfere Nation, nicht die Zeit unferer Geburt noch 
die gejellichaftliche Stellung unferes Lebens, nicht unfere Armuth 
oder die Vortheile des Reichthums haben wir uns felber gewählt 
oder gegeben; fo lange wir an ſolchen Berhältniffen fo oft Die 
Hoffnungen geiftiger Entwidlung zu Grunde geben jehen, haben 
wir wenig Veranlaffung, die Abhängigfeit des Geiftes von feinem 
Körper mit befonderer Heftigfeit zu beftreiten. So gewiß der Ma- 
terialismus für eine höhere und zufriedenftellende Weltanficht Feine 
Ausfiht gibt, jo wenig räumt doch Die Behauptung einer jelbft- 
ftändigen Seele die dunklen Räthſel fogleich hinweg, welche ber 
Weltlauf und die Schickſale des Lebens uns oft fo ernft und 
brüdend entgegenhalten. 

Aber die Annahme befonderer, an verſchiedene Gegenden Des 
Gehirns vertheilter Organe für einzelne höhere Geiſtesvermögen 


382 


hat doch wenig Wahrjcheinlichfeit. Theils würden wir uns von 
der Art ihres Nutzens keine Borftellung machen Tönnen, theils die 
gegenfeitige Wechſelwirkung, die zwilchen allen Thätigfeiten der 
Seele beftändig ftattfindet, durch fie nicht begünſtigt finden; endlich 
wenn wir auf Erflärung verzichteten, würde felbft die bloße Samm- 
Yung thatjächlicher Beweife für den Zufammenhang einer gewiſſen 
Gebirnbildung mit beftimmten geiftigen Verrichtungen beſondere 
Schwierigleiten darbieten. Sie würde in dem Unterfuchenden jene 
vollftändige und durchdringende Menſchenkenntniß vorausfeten, für 
welche nicht nur jede verborgene Neigung eines individuellen Cha- 
rakters völlig Durchfichtig wäre, fondern ebenfo Har auch das noch 
weit verborgenere Gewebe der Gründe, aus weldem fie als ein 
nun fertiges Ergebniß hervorging. Denn ohne Zweifel wird auf 
die Geftalt, welche der abgefchloffene Charakter eines Menſchen 
dem Beobachter darbietet, nicht die angeborne Anlage allein, fon- 
dern auch die Reibenfolge und Eigenthümlichleit der äußeren Um- 
gebungen, in denen er ſich bildete, einen mitbeftimmenven Einfluß 
ausgeübt haben. Kaum der Erwähnung aber bedarf e8, wie 
ſchwer die Rüdvertheilung der gefundenen Züge auf Diefe ver- 
ſchiedenartigen Urſachen fein muß, und wie nahe die Gefahr Liegt, 
Erzeugniffe der Erziehung, des Lebensganges und der Krankheit 
al8 unmittelbare Folgen einer körperlichen Organbilbung zu 
deuten. Höchſtens bei jenen Talenten, deren Vorhandenſein Teicht 
nachweisbar ift, die durch Vererbung häufig fi fortpflanzen und 
durch Hebung kaum in merklidem Grade erfeßt werden Fönnen, 
wo fie fehlen, dürfte e8 einer vorurtheilslofen Beobachtung Leichter 
gelingen, ihre Beziehung irgend welcher Art zu beftimmten Ausbil- 
dungsformen bes Gehirns und feiner knöchernen Hülle feftzuftellen. 
So laſſen fi fir Ortfinn und Farbenfinn, fir mufilelifche An- 
Tage, vielleicht fire mathematifche Befähigung überhaupt und für bie 
erfinderifche Geſchicklichkeit der Hand Körperliche Grundlagen finden, 
während für die feineren Eigentblimlichleiten der geiftigen Indi⸗ 
pidualität wir biefe Erwartung nur wenig hegen. 

Und dennoch mögen auch fie in hohem Maße von dem Ein: 


383 


fluß des körperlichen Lebens abhängen, obwohl in einer anderen 
Weiſe, als daß jeder einzelnen derfelben ein beſonderes Organ 
zugeordnet wäre. Die ungeheuren Berfchiedenheiten in der Höhe 
und Eigenthümlichkeit der geiftigen Ausbildung, wie fie das menfch- 
liche Geſchlecht mehr als irgend eine Gattung der Thiere dar- 
bietet, fcheinen am meiften aus den Unterſchieden eines allgemei- 
neren pſychiſchen Naturells berborzugehen, das in naher Bezieh- 
ung zu dem fteht, was wir mit dem Namen des Temperamentes 
zu bezeichnen pflegen. Geiftige Fähigkeiten haben in allen Indi— 
viduen einen unfcheinbaren Keim, und wie raſch auch in einzelnen 
ihre Kraft berbortritt, fo entwideln fie fich doch überall durch bie 
Aufbewahrung und Summirung ihrer einzelnen Leiftungen, deren 
jede zum Mittel fir die Ausführung einer fpäteren größeren wird. 
Richt nur von der Schärfe des urſprünglichen Eindrudes der 
Wahrnehmungen, fondern hauptſächlich von der Lebhaftigleit des 
Gefühlsantheils, welcher fih an fie nüpft, von der Regſamkeit 
des organifchen Lebens und der Beweglichfeit des mit feinen Ver- 
änderungen wechſelnden Gemeingefühles, von der Mannigfaltigfeit 
der Stimmungen und dem Keihthum der inneren Erregungen, 
bon denen einzelne Borftellungsreihen angeregt, andere abgebrochen, 
der Uebergang von der- einen zur anderen mit größerer oder ge- 
ringerer Geſchwindigkeit bewirkt wird: von allen diefen Einflüffen 
hängt ohne Zweifel nicht nur Die Schnelligkeit oder das Zögern 
der geiftigen Entwidlung überhaupt, fondern auch manche bleibende 
Eigenthümlichfeit der Richtung ab, welche ihr Verlauf annimmt. 
Zum großen Theil werden diefe Einwirkungen des Körpers nicht 
durch befondere Organe, fondern durch feinen ganzen Bau über: 
haupt vermittelt; die verichievene Kräftigfeit der Conftitution wird 
dem Dichten und Trachten des Gemüthes auch im Ganzen einen 
eigenthinmlich gefärbten Hintergrund geben, und der cdhemifchen 
Miſchung des Blutes, von defien Reizkraft die Thätigkeit der 
Nerven erregt wird, würden wir, hierin auch durch Erfahrungen 
in Krankheiten unterftügt, einen beträchtlichen Einfluß auf Höhe 
und Richtung der geiftigen Regſamkeit einräumen müfjen. 


384 


Doch mag zu einem andern Theile die Bildung der Central- 
organe auch hierauf Bezug haben. Hauptjächlic die Hemifphären 
des großen Gehirns ſehen wir in der auffteigenden Thierreihe 
mit der größeren geiftigen Entwidlung der Gattungen an Maffe 
gewinnen, und zahlreiche Erfahrungen laſſen kaum zweifelhaft, 
daß in dem Menſchen, in weldem ihre Ausbildung die umfang- 
veichite ift, Die Größe des geiftigen Lebens von ihrem mehr ober 
minder vollkommenen Baue abhängt. Aber diefe Gehirntheile 
baben nicht das Ausjehen einer Reihe von einzelnen in fi ab- 
gefchloffenen Organen; aus einer großen Menge von Fafern mit 
zwiichengejchalteten Ganglienzellen zuſammengeſetzt, befigen fie eine 
weit gleichförmigere umd monotonere Structur, als die zu ſehr 
eigenthümlichen Formen ausgeprägten inneren und unteren Theile 
des Gehirns, über und um welche fie ſich als eine dicke durch 
vielfache Furchungen gezeichnete Hüllenfhicht wölben. Es ift feine 
erweisliche Thatfache, aber es gilt uns für eine glaubhafte Ver— 
mutbung, daß dieſe beftimmter geftalteten Gegenden des Gehirns 
Die Organe bes geiftigen Lebens einjchliegen, deren nothwendige 
Annahme wir früher begründeten, und denen eine unveränderliche 
befondere Form des Wirkens eigenthümlich ift; daß dagegen die 
äußere Maſſe der Hemiſphären einen Apparat von allgemeinerem 
Nuten bilde, dazu beftimmt, theild die Wiedererzeugung ber 
nervöſen Kraft zu vermitteln, welde in jenen Organen thätig 
ift, theils die Reizbarkeit derfelben zur regeln, theils endlich, wie 
wir bei der Betrachtung der Gefühle andeuteten, eine Art ber 
Refonanz zu gewähren, durch welche dem wahrgenommenen In= 
halt eine gewiſſe Größe de8 Gefühlsantheiles, dem fich bilben- 
den Willensanftoß eine beitimmte Stärke bewegender Kraft mit- 
getheilt würde. Nur in diefem Sinne einer mittelbaren und 
doch jehr mächtigen Einwirkung auf das geiftige Leben möchten 
wir diefen Theilen des Gehirns den Namen eines Drganes der 
Intelligenz des Gemüthes oder des Willens zugefteben. 

So haben wir die verfchtevenen Formen gefchilvert, in denen 
ber Körper ſich als beförderndes und helfendes Mittel der geiftigen 








385 


gen Ausbildung bewährt. Nur dieſe eine Seite der Sache pflegt 
die naturwiſſenſchaftliche Unterſuchung hervorzuheben; veligiöfe 
Ueberlegungen allein führen gewöhnlich auf die andere: ſie erzeu⸗ 
gen in uns die Neigung, den Körper auch in gewiſſem Umfange 
als eine Schranke zu betrachten, welche die freie Entfaltung der 
Seele hindere. Nichts ſteht der Möglichkeit dieſer neuen Anſicht 
entgegen; ſo wie wir ungewöhnliche Schwankungen des leiblichen 
Lebens in Krankheiten die Thätigkeit des Geiſtes hemmen ſehen, 
jo kann auch die beftändige gefunde Berbindung zwifchen beiden 
eine zurüdhaltende Wirkung auf die Entwidlung des Innern aus- 
üben. Die Erfahrung zeigt uns jedoch nur ärmliche Thatfachen, 
die hierauf hindeuteten, und nirgend ſehen wir in Zörperlichen 
Krankheiten, durch welche jenes Band zwiſchen den beiden Natu⸗ 
ven in und etwa gelodert würde, einen unerwarteten und neuen 
Aufſchwung des Seelenlebens eintreten. Die Berufung auf die 
Wunder des Sommambulismus und des Hellfehend wird dieſe 
Behauptung nicht entlräften. Nachdem num fo oft ſchon diefe Er- 
iheinungen die Aufmerkſamkeit erweckt und getäufcht haben, nad}: 
dem fo viel hellgefehen worden ift ohne den minbeften bleibenben 
Gewinn für den Fortſchritt der Menſchheit: nad diefen Erfah⸗ 
rungen follte man vermuthen, daß auch Die Theilnahme für dieſe 
Dinge nun hellfehend geworben fei und in ihnen das erkannt 
habe, was fie find: eigenthümliche Steigerumgen krankhafter Bor- 
gänge, denen verwandte von geringerer Heftigfeit Die alltägliche 
Erfahrung darbietet. Schon der gewöhnliche Rauſch zeigt und 
jene einfeitige Belebung bes Bewußtſeins, dem die klare und zu= 
fammenfafjende Weberficht feines Inhaltes und der äußeren Um- 
gebungen abhanden kommt, während allerhand Triebe zu patheti- 
ſchem rhythmiſchem Gebahren, die Luft und mit ihr die Yertigfeit 
zu manderlei Wagniffen bervortreten, was Alles in dem Nücd- 
ternen theils die geringere Lebhaftigfeit feiner Nervenwirkungen 
und die niedrigere Stimmung feine Gemeingefühles theils die 
ſchüchterne Rückſicht auf Schielichleit und Herkommen zurüdhielt. 
Und ebenfo mag im Schlafe eine befonders er Borftellungs- 
Zope 1. 4, Aufl. 


4 


386 


reihe, die ſich wach erhält, während die unzähligen zerftreuenden 
Eindrüde der Außenwelt hinwegfallen, zuweilen leichter ihren 
Schluß finden und der Schlafmandelnde in feinem halbaufermed- 
ten Bemwußtfein die Löſung einer Aufgabe vollbringen, die dem 
Wachenden mißlang. Aber wir vergeflen dabei nicht, daß es 
doch eigentlich die Kräfte die Kenntniffe kurz der ganze Erwerb 
bes wachen Lebens war, was auch den Schlafenden zu diefer Lei- 
ftung befähigte. Mit den finfenden Bemwußtfein der Gefahr wächſt 
die Kühnheit des Wagenden, mit dem Wegfall der Rüdficht auf 
die Umgebung die Dreiftigfeit des Verfuchenden, mit der Abhal⸗ 
tung aller Störung. die innere Sammlung und der Zufammen- 
Hang der Kräfte, ohne daß im Grunde Neues und Ungeahntes 
an die Stelle des fonjt Gewöhnlichen tritt. So ift dies menſch- 
liche Leben, welches wir beobachten, ausnahmslos an die Wechfel- 
wirkung mit dem Körper gefnüpft, die größere Schönheit der Ent- 
widlung aber, zu welder die Seele, befreit von biefem Bande, 
fih erheben mag, werden wir nicht woreilig vor feiner Serrei- 
Bung errathen. 


Biertes Kapitel. 
Das Leben der Materie. 


Die beftändige Täuſchung ber Sinnlichkeit. — Unmöglichkeit be Abbildes der Dinge in 
unferer Wahrnehmung. — Eigner und höherer Werth ber Sinnlichkeit. — Die innere 
Regſamkeit der Dinge. — Die Materie Erfeheinung eines Ueberfinnlichen. — Ueber 
bie Möglichkeit ausgebehnter Weſen. — Die allgemeine Befeelung ber Welt. — Der 
Gegenſatz zwifchen Körper und Seele nicht zurüdigenommen. — Berechtigung ber 
Vielheit gegen bie Einheit, 


Wie viele Einwürfe mögen im Stillen jeden Schritt unferer 
bisherigen Darftellung begleitet haben! nicht folche allein, die von 
den einzelnen Schwierigfeiten der mannigfadhen bon uns durch⸗ 
eilten Fragen Beranlafjung zu Gegenreden nahmen, denen nicht 
wir, fondern nur die ausgedehnteren Unterfuchungen ber Wiffen- 














387 


ſchaft Antwort geben Könnten; vielmehr eine zufammenhängende 
Empörung des Gemüthes müfjen wir erwarten über die Kälte 
einer Anficht, welche alle Schönheit und Lebendigkeit der Geftal- 
ten in einen ftarren phyſiſch-pfychiſchen Mechanismus verwandele. 
Gegen die jchöpferifche, aus fich ſelbſt quellende Entwidlung des 
körperlichen Lebens, gegen die Durchgeiftigung des Leibes, gegen 
die Wahrheit der Empfindung und die Willkürlichkeit der Be- 
wegung haben wir mande Angriffe richten müffen, und in ber 
That haben wir damit faft alle jene Züge in Frage geftellt, in 
denen das unbefangene Gefühl den Kern aller Poeſie des leben: 
digen Dafeins zu befigen glaubt. Befremdlich Tann und daher 
die Standhaftigkeit nicht fein, mit welcher die MWeltanficht des 
Gemüthes als eine höhere Auffafjung der Dinge auch den über: 
zeugendften Daritellungen von unferer Eeite wiberftehen wird; um 
jo nöthiger ift deshalb der Berfuch, die Harmlofigkeit unferer An⸗ 
fit zu zeigen, die, wo fie und zwingt, Meinungen aufzuopfern, 
mit denen wir einen Theil unſeres Selbft aufzugeben glauben, 
Doch durch das, was fie uns dafür zurückgibt, die verlorene Be- 
friedigung wieder möglich macht. 

Die Empfindung gilt dem unbefangenen Bewußtſein überall 
als die Wahrnehmung einer vollen außer ihm vorhandenen Wirk: 
lichkeit. Bon ihrem eignen Glanze beleuchtet Liegt die Welt um 
uns, und Töne und Düfte durchkreuzen außer und den unermeß=. 
lihen Raum, der in den eignen Farben der Dinge fpielt. Ge— 
gen biefe ftet8 vorhandene Fülle ſchließen unfere Sinne bald fid 
ab und beichränfen uns auf den Verlauf unferes inneren Lebens, 
bald öffnen fie fih wie Pforten dem anfommenden Reize, um 
ihn fo, wie er ift, in der ganzen Anmuth oder Häßlichkeit feines 
Weſens in ſich aufzunehmen. Kein Zweifel trübt die Zuverſicht⸗ 
lichkeit dieſes Glaubens, und felbft die Täufchungen der Sinne, 
verſchwindend gegen die Ueberzabl in fi zufammenftimmenber 
Erfahrungen, erichüttern die Gewißheit nicht, daß wir hier über- 
al in eine vorhandene Welt bineinbliden, die fo, wie fie und er- 
ſcheint, auch dann zu fein nicht aufhört, wenn unjere wanbel- 

25 * 


388 


bare Aufmerkſamkeit fih von ihr abmwendet. Der Glanz ber 
Sterne, den der Wachende fah, wird, jo bofft er, auch über dem 
Schlafenden fortglänzen; Töne und Düfte, ungenofjen zwar und 
ungebört, werden duften und Flingen, nad wie vor; nichts von 
der finnlichen Welt wird untergegangen fein außer der zufälligen 
Wahrnehmung, die vorher von ihr dem Bewußtfein zu Theil 
wurde. Und dieſes volllommene Zutrauen zu dem wahrhaften 
Dafein ihrer Anſchauungen befigt die Sinnlichkeit nicht nur harm⸗ 
los, fondern ein tiefes Bedürfniß bewegt fie zugleich zur lebhaf⸗ 
ten Abwehr jedes Angriffes, der die volle Wirklichkeit ihrer Er⸗ 
iheinungen bedrohen möchte. Es ſoll die eigne Lieblichkeit des 
Gegenſtandes bleiben, die uns in der Süße des Gefchmades und 
des Duftes berührt, die eigne Seele der Dinge, die im Klange 
zu ung ſpricht; der Glanz der Farbe verbliche für uns in feinem 
Werthe, wenn wir feinen Schimmer nicht als die Offenbarung 
eines andern Weſens bewundern dürften, das, uns fremd, nun 
doch To durchſichtig für und wird, daß wir mitgenteßend in feine 
Natur und verfenfen und mit ihr verichmelzen Können. Der befte 
Theil der Bedeutſamkeit des Sinnlichen wiirde hinweg fallen, wenn 
diefe helle Wirklichkeit des Empfundenen und genommen würde; 
diefelbe Sehnfucht, Die auf höheren Stufen des geiftigen Lebens 
nah Ergänzung duch ein Anderes ftrebt, ſucht fchon bier in ber 
Sinnlichkeit diefen träumerifhen Genuß einer völligen Durchdrin⸗ 
gung mit fremden Wefen feitzuhalten. Und nicht nur haften fol 
in irgend einer Weife das Sinnliche an den Dingen felbit; derſelbe 
Zug jener Sehnfucht verlodt und vielmehr, die ſinnlichen Eigen- 
Ihaften als Thaten deſſen zu betrachten, an dem wir fie finden. 
Die Dinge find nicht allein farbig, jondern es ift ihr lebendiges 
thätiges Scheinen, das in den Farben uns anblidt; ihr Geſchmack, 
ihr Duft find an uns andrängende Handlungen, in denen ihr 
innerfted Weſen fi) dem unjeren nähert und und das aufichließt, 
was innerhalb der äußerlihen Raumgrenzen, die ihre Geftalten 
füllen, das eigentliche Reale ihres Dafeins bildet. 

Nicht überall freilich im täglichen Leben ift ung diefer Ernſt 





389 


der Empfindung gleich gegenwärtig; andere Zwecke mit der Man⸗ 
nigfaltigfeit der Meberlegungen, welche fie mit ſich führen, laſſen 
uns ohne Andacht über manche finnlihe Anihauung hinweggehen; 
was im Einzelnen uns bewegen würde, verſchwimmt für unferen 
zerftreuten Blick zu gleichgiltigem oder widerwärtigem Gefammt- 
eindrude; wir glauben chaotiſche unreine Maffen zu fehen, wo das 
bewaffnete Auge oft noch regelmäßige Kruftallifation und Spuren 
einer zierlihen Bildungsfraft entdedt. So werben die Farben uns 
gleichgiltig an den künſtlichen Formen unferer Geräthe; wenden 
wir aber unfern Blick auf die Feinften Theilchen des natürlichen 
Stoffes, den unfere Technik für die Beblirfniffe des Lebens in 
eine ihm gleichgiltige Geftalt gezwungen bat: wie tritt fogleich 
wieder die Macht des finnlihen Zaubers hervor in der fatten 
Tiefe und der leuchtenden Pracht der Farbe, in jenem wunder⸗ 
famen Spiel gebrochener Lichter, die irifirend um die feinften 
Ritzungen und Streifen der Oberflächen ſchweben! Dann fehen wir 
im Meinen bafjelbe ſchöne Geheimniß aufblühen, das in ben ge- 
ftaltlojen duftigen Faͤrbungen des Himmels und an den ſelbſt ge- 
beimnißvollen Geftalten der Blumen immer unfere Sinne ahnungs- 
vol erregte. Die manderlei Klänge, welche die Welt beleben, 
fegen fih wohl vor dem beichäftigten und unaufmerkfamen Ohr 
zu einem gleichgiltigen Geräufche zufammen; aber das nachdenk⸗ 
liche Lauſchen, das fie fondert, erkennt in den einzelnen Stimmen 
der Natur wieder jene Kundgebungen, durch die ein räthſelhaftes 
Innere der Dinge unüberjegber in jede andere Sprache und 
doch mit unmittelbarer Deutlichkeit zu uns ſpricht. Nur die zu- 
fälligen Verbindungen, in welche die Elemente des Sinnlichen für 
mande Gewohnheit unjerer Auffaffung gerathen, die willkürlichen 
Formen, in die wir die Dinge zum ‘Dienfte unferes Lebens zu- 
fammenjegen, lafjen die uriprünglicde Bedeutſamkeit der finnlichen 
Anſchauungen für uns zeitweis verfchwinden; aber fie wird über— 
al von neuem empfunden, wo wir dem Eindrude des Einfachen 
und bingeben oder ihn auffuhen, oder wo wir in vollendeter 
Kunft das verbinden, was durch die Wahlverwandtſchaft feiner 





390 


Natur verbunden zu werben verlangt. Dann erfennen wir den 
Anfpruch wieder an, den unfere Sinnlichkeit macht, uns den Ein- 
blid in das innerfte Lebendige Wejen einer fremden wahrhaften 
Wirklichkeit zu gewähren, die in ihrer Fremdheit bald verwandt 
bald feindjelig und gegenüberfteht. 

Und allen diefen Glauben ftrebt uns nun in der That die 
mechaniſche Naturanficht zu rauben, oder fie ſcheint es doch zu 
wollen. Sie lehrt uns, daß jede Empfindung nur das eigne 
Erzeugniß unferer Seele fei, angeregt zwar von äußeren Ein- 
drücken, aber weder diefen noch den Dingen ähnlich, von denen 
fie ausgingen. Weder finfter noch hell, weder laut nod fill, 
vielmehr völlig beziehungslos zu Licht und Klang Tiege die Welt 
um ung ber, ohne Duft und Geihmad die Dinge; felbft was 
auf das Unmiderleglicfte die Wirklichleit des Aeußeren zu be- 
zeugen ſchien, Härte Weichheit Widerftand der Dinge find zu 
Formen der Empfindung geworden, in denen nur eigue Zuftände 
unferes Innern zum Bewußtfein fommen. Nichts erfüllt in Wirk⸗ 
lichleit den Raum, als eine unbeftunmbare Unzählbarfeit von 
Atomen, in den mannigfaltigften Formen der Bewegung gegen 
einander jchwingend. Und weder diefe Atome noch jene Bewe— 
gungen find fo, wie fie find, Gegenftände unferer Beobachtung ; 
beide find bie nothwendigen Borausfegungen, auf welde nur bie 
Berechnung der Erſcheinungen, diefe aber nothwendig, zurück⸗ 
führt, Jene einfachen Elemente ſelbſt Können wir nicht ſchildern, 
da fie allen finnlichen Eigenfchaften, dem einzigen anſchaulichen 
Material unferer Schilderungen, fremd find; ihre Bewegungen 
können wir wohl verzeichnen, aber nie find fie in ihren wirklichen 
Formen Gegenftände unferer wirklihen Wahrnehmung. Unferem 
Bewußtfein wird in aller Wahmehmung unmittelbar Nichts zu 
Theil, als was es in fich felbft erzeugt hat; nur die fpätere 
Veberlegung der Bedingungen, unter denen unfere Empfindungen 
entftehen, leitet und allmählich zu der Annahme jener Urfachen 
zurüd, die für fi) der Beobachtung ftet8 entzogen bleiben. So 
ift denn das Reale der äußeren Welt von unferen Sinnen völlig 


391 


geſchieden, und die ganze Mannigfaltigfeit der Sinnenwelt eine 
Erſcheinung in uns felbft, die wir freilich rückwärts über Die 
Dinge ausbreiten, als fei fie ihre natürliche Geftalt und Beleuch— 
tung, die aber doch fo wenig an ihnen haftet oder aus ihnen 
hervorgeht, als etwa die Neflerionen, zu denen ung die Erfahrung 
veranlaßt, fertig ‚an den Gegenftänden hängen, an welche wir fie 
anfnlpfen. 

Vergeblich verſuchte man, gegen dieſe Xehre die Realität der 
finnlihen Erſcheinungen zu vertheidigen. Man mußte zugeben, 
daß jene Bewegungsformen, welche die Berehnung vorausgefett 
hatte, in der That die veranlaffenden Bedingungen unferer Em- 
pfindungen find, aber man vermißte und verlangte den Beweis, 
daR nicht das, was einerſeits freilich Erzeugniß unferer geiftigen 
Natur ift, anderſeits doch zugleich in der Außenwelt jelbft und 
in den Reizen vorhanden ſei, Die zu feiner Wiedergeburt im Be⸗ 
wußtfein treiben. Leuchtende Schwingungen des Aethers und 
tönende Schallwellen follten den Raum durchkreuzen und die me= 
chaniſche Bewegungsform nur das äußerliche Hilfsmittel fein, 
durch welches fie Auge und Ohr zur Nachbildung jener an fid 
vorbandenen finnlichen Inhalte erregen. Aber man hätte den 
Beweis des Gegentheile8 nicht von der mechaniſchen Phyſik er- 
werten jollen, da eine leichte Ueberlegung ihn vorher von felbit 
hätte darbieten können. Wir kennen nicht allein Farbe und Ton 
nur duch unfer Empfinden, fondern wir würden völlig unfähig 
fein zu jagen, was wir und unter ihnen noch vorftellen zu können 
meinten, ſobald fie nicht von uns oder von einem anderen Be- 
wußtfein mehr wahrgenommen würden. Sowie Geſchwindigkeit 
nur an der Bewegung haftet und nicht fiir fi etwas ift, das 
zur Bewegung noch hinzukommen könnte, fo haben alle finn- 
lichen Empfindungen nur den einen Ort ihrer Exiftenz, das Be- 
wußtſein, und nur die eine Art ihrer Eriftenz, ein Leiden oder eine 
Thätigkeit, ein Zuftand überhaupt dieſes Bewußtſeins zu fein. 
Noch ehe eine mechanische Theorie in den Berwegungsformen ber 
äußeren Elemente die Urfachen nachwies, von denen bie Ent- 


390 


Natur verbunden zu werden verlangt. Dann erfennen wir den 
Anſpruch wieder an, den unfere Sinnlichleit macht, uns den Ein- 
blid in das innerfte lebendige Wefen einer fremden wahrhaften 
Wirklichkeit zu gewähren, die in ihrer Fremdheit bald verwandt 
bald feindfelig uns gegenüberſteht. 

Und allen diefen Glauben ftrebt und nun in ber That die 
mechaniſche Naturanfiht zu rauben, oder fie fcheint es doch zu 
wollen. Sie lehrt uns, daß jede Empfindung nur das eigne 
Erzeugniß unferer Seele jet, angeregt zwar von äußeren Ein- 
brüden, aber weder biefen noch den Dingen ähnlich, von denen 
fie außgingen. Weder finfter noch hell, weder laut nod ſtill, 
vielmehr völlig beziehungslos zu Licht und Klang Tiege die Welt 
um uns ber, ohne Duft und Gefchmad die Dinge; felbit mas 
auf das Unmiderleglichfte Die Wirklichleit des Aeußeren zu be= 
zeugen ſchien, Härte Weichheit Widerſtand der Dinge find zu 
Formen der Empfindung geworden, in denen nur eigne Zuftände 
unſeres Innern zum Bewußtſein fommen. Nichts erfüllt in Wirk⸗ 
lichkeit den Raum, als eine unbeftinmmbare Unzählbarkeit von 
Atomen, in den mannigfaltigften Formen der Bewegung gegen 
einander ſchwingend. Und weder dieſe Atome noch jene Bewe— 
gungen ſind ſo, wie ſie ſind, Gegenſtände unſerer Beobachtung; 
beide ſind die nothwendigen Vorausſetzungen, auf welche nur die 
Berechnung der Erſcheinungen, dieſe aber nothwendig, zurück⸗ 
führt. Jene einfachen Elemente ſelbſt Kinnen wir nicht ſchildern, 
da fie allen finnlichen Eigenfchaften, dem einzigen anfchaulichen 
Material unferer Schilderungen, fremd find; ihre Bewegungen 
können wir wohl verzeichnen, aber nie find fie in ihren wirklichen 
Formen Gegenftände unferer wirflihen Wahrnehmung. Unferem 
Bemußtfein wird in aller Wahrnehmung unmittelbar Nichts zu 
Theil, als was es in fich felbft erzeugt hat; nur die Tpätere 
Ueberlegung der Bedingungen, unter denen unfere Empfindungen 
entftehen, leitet uns allmählich zu der Annahme jener Urſachen 
zurüd, die fiir fi) der Beobachtung ftet8 entzogen bleiben. So 
ift denn das Reale der äußeren Welt von unferen Sinnen völlig 











Tr) 


geihieden, und die ganze Mannigfaltigkeit der Sinnenwelt eine 
Erſcheinung in uns felbft, die wir freilich rückwärts über Die 
Dinge ausbreiten, als fei fle ihre natürliche Geftalt und Beleuch⸗ 
tung, die aber doch fo wenig an ihnen haftet oder aus ihnen 
hervorgeht, als etwa die Reflerionen, zu denen und Die Erfahrung 
veranlaßt, fertig an den Gegenftänden hängen, an welche mir fie 
anknüpfen. 

Vergeblich verfuchte man, gegen dieſe Lehre die Realität der 
finnlihen Erfheinungen zu vertbeidigen. Man mußte zugeben, 
Daß jene Berwegungsformen, welche die Berechnung vorausgefegt 
hatte, in der That die veranlafienden Bedingungen unferer Em= 
pfindungen find; aber man vermißte und verlangte den Beweis, 
Daß nicht Das, was einerſeits freilich Erzeugniß unferer geiftigen 
Natur ift, anderſeits doch zugleich in der Außenwelt ſelbſt und 
in den Reizen vorhanden fei, die zur feiner Wiedergeburt im Be- 
wußtfein treiben. Leuchtende Schwingungen des Aethers und 
tönende Schallwellen follten den Raum durchkreuzen und die me— 
chaniſche Bewegungsforn nur das Außerliche Hilfsmittel fein, 
durch welches fie Auge und Ohr zur Nachbildung jener an fid 
vorhandenen finnlihen Inhalte erregen. Aber man hätte den 
Beweis des Gegentheile8 nicht von der mechaniſchen Phyſik er- 
warten follen, da eine leichte Weberlegung ihn vorher von felbft 
hätte darbieten innen. Wir kennen nicht allein Farbe und Ton 
nur durch unfer Empfinden, fondern wir würden völlig unfähig 
fein zu fagen, was wir uns unter ihnen noch vorftellen zu können 
meinten, fobald fie nicht von und oder von einem anderen Be- 
wußtfein mehr wahrgenommen würden. Sowie Geſchwindigkeit 
nur an der Bewegung haftet und nicht fin fi etwas ift, das 
zur Bewegung noch hinzukommen Könnte, jo haben alle finn- 
lichen Empfindungen nur den einen Ort ihrer Exiftenz, das Be- 
wußtjein, und nur die eine Art ihrer Exiftenz, ein Leiden oder eine 
Thätigleit, ein Zuftand überhaupt dieſes Bewußtſeins zu fein. 
Noch ehe eine mechanische Theorie in den Bewegungsformen ber 
äußeren Elemente die Urfachen nachwies, von denen die Ent- 


392 


ftehung der Empfindungen in uns abhängt, hätte Die Reflerion ſich 
darüber Kar werden Können, daß fie auf alle Fälle nur als ſolche 
Zuſtände des geiftigen Weſens und feines Wiſſens denfbar find, 
und daß jeder Verſuch mißlingen muß, das was an dem Lichte 
leuchtet und in den Tönen Klingt, irgendwo außer den empfinben- 
den Weſen als für fi vorhandene Eigenfchaft der Dinge oder 
al8 ein Ereigniß zwiſchen ihnen feftzuhalten. Vergeblich ift eg, 
das Auge fonnenhaft zu nennen, als wäre das Licht, ehe es ge⸗ 
fehen wird, und als bebürfte das Auge einer befonderen geheimen 
Fähigkeit, das nachzuahmen, was es vielmehr jelbft erft erzeugt; 
fruchtlos ſcheitern alle myſtiſchen Beſtrebungen, durch eine ver- 
borgene Identität des Geiſtes und der ‘Dinge den finnliden Au⸗ 
ſchauungen eine Wirklichleit außer ung wiederzuverichaffen. Aber 
wie fruchtlos fie fein mögen, immer werben fte freilich von jener 
feltiamen Empfindfamleit erneuert werben, bie ihre vielleicht be⸗ 
rechtigten Wünſche nicht Durch thätige Hinwegräumung der Schwie⸗ 
tigleiten zu befriedigen, fondern nur durch die bequeme Hingabe 
an Das innerlid Wideriprechende zu täufchen verſteht. 


Sollen nun wirklich alle diefe Anfprüche aufgegeben werben, 
die dem unbefangenen Bewußtſein fo begründet fchienen ? Soll die 
ganze Pracht der Sinnlichkeit nichts fein, als eine Täuſchung 
unferes Inneren, das unfähig die wahre Natur der Dinge anzu⸗ 
hauen fih durch die Erzeugung eines Scheines tröftet, dem feine 
objective Geltung irgend einer Art zulommt? Wäre es wenigftend 
möglich, die finnlihen Empfindungen jo zu faflen, als überſetzten 
fie, der Bedeutung nach wiedererfennbar, die Eigenjchaften ber 
Dinge in eine Sprache, die dem Geifte geläufig iſt, ſo würden 
wir uns beruhigen und bie unvermeidlicde Trübung hinnehmen, 
die der Inbalt des Seienden bei feinem Uebergang in unfere 
Erkenntniß erlitte. Aber was haben Schwingungen bes Aethers 


393 


mit Licht, Verdichtungswellen der Luft mit Tönen zu thbun? So 
völlig unvergleichbar ift bier die phyſiſche Beranlaffung mit der 
Empfindung, die ihr folgt, daß wir in Diefer nicht einmal einen 
abgeſchwächten Widerhall jener finden, fondern ohne einen Schat- 
ten der Aehnlichkeit eine neue Erfcheinung in uns auftauchen 
ſehen. Wie ungefchidt ift daher die Sinnlichkeit zu ihrer Auf- 
gabe, die Natur der Dinge, oder doch wenigftend die wahre Außen- 
feite ihres Weſens wiederzugeben; wie völlig ſchwankend wird da⸗ 
durch auch die Hoffnung, daß die Erkenntniß ihr Inneres durch⸗ 
dringen werde! Ueberall in Irrthum eingefchloffen, Tönnen wir 
unfere finnlihe Wahrnehmung nur eine fortgefegte Sinnestäu- 
(dung nennen. 

Wenn diefe Klagen natürlich find, jo iſt es doch gewiß nicht 
der Geift der mechaniſchen Naturforfchung, der fie veranlagt hat. 
Indem die Phyſik von den unanſchaulichen Elementen ausgeht 
und die Mannigfaltigkeit ihrer Bewegungen verfolgt, indem ſie 
den Eindrud zu beftimmen fucht, den die Mebertragung dieſer 
Erſchütterungen auf die empfänglichen Nerven des Tebendigen Kör⸗ 
pers, von ihnen endlich auf die Seele hervorbringt, betrachtet fie 
dieſen Zufammenbang einfach als eine caufjale Kette von Vor⸗ 
gängen und findet es hier nicht wunderbarer als fonftwo, daß 
nad) ſo vielen Mitteilungen der Wirkung von einem Träger zum 
andern der letzte Erfolg, die Qualität der bewußten Empfin- 
dung jelbft, den erften veranlaffenden Urfachen völlig unähnlich 
if. Warum doc, würde fie und mit Recht fragen, verlangt ihr, 
daß es anders fei? Warınm fest ihr als eine Pflicht eurer Sinne 
voraus, Daß fie Die Dinge, von denen fie angeregt werben, fo 
darftellen follen, wie fie wirklich find, und nicht vielmehr eben fo, 
wie fte diefelben wirklich darftellen? Warum überhaupt follen fie 
nit den legten Erfolg zum Bewußtfein bringen, fondern viel⸗ 
mebr bie erſten Urſachen; und ift nicht der Glanz und der Ton, ben 
fie euch überliefern, eben indem er überliefert wird, fo gut wie 
die ungefehenen Dscillationen des Aether und der Luft eine 
Thatiache, Die gleiches Recht hat, wahrgenommen zu werben, wie 


394 


jene? Und wenn ihr bedauert, daß die Pracht der finnlichen Welt 
verloren gehen foll, was hindert euch doch, fie vielmehr feftzuhnl- 
ten und euch des Umftandes zu erfreuen, daß es Wefen in ber 
Welt gibt, deren Inneres durch den Andrang jener Berwegungs- 
formen zu fo ſchönen Rückwirkungen, zur Entfaltung einer hellen 
Farben» und Tonwelt fih anregen läßt? Was endlich nöthigt 
euch, in die meit minder erfreuliche Tiefe zu gehen, dieſen ſchönen 
Schein hinmwegzufcheuchen, und euch nad dem wahren Anblid des 
tragenden Gerippes zu fehnen, deſſen Starrheit feine weichen Um⸗ 
riffe verhüllen? 

In der That ift wohl Veranlaſſung Dazu, jene fo felbflver- 
ftändlich ſcheinende Vorausſetzung zu prüfen, als ſei Sinnlichkeit 
und alle Erkenntniß nur dazu vorhanden, Die Geftalten der Dinge, 
wie fle find, unferem Bewußtſein abzubilden. Man wird uns 
zweifelnd einwenden, wozu doch biefer Zweifel führen folle? ALS 
wenn nicht natürlih die Aufgabe des Erkennens eben im Er- 
kennen beftehen müßte? Aber diefer Einwurf wiederholt eben nur 
jene Mebereilung, die und Allen fo geläufig ift. Denn eine un- 
zweifelhafte Thatjache, von der unfere Betrachtung beginnen muß, 
befteht nur in der Wahrnehmung, daß in unferem Bewußtſein 
eine mannigfache Welt der Borftellungen vorhanden ift, in beren 
Erzeugung wir und von unbelannten außer uns gelegenen Be- 
dingungen abhängig finden. Geſetzlich in fi und mit dem Reiche 
diefer unbelannten Bedingungen verbunden, entwirft dieſes Spiel 
der Borftellungen übereinftimmend für die verſchiedenen Geifter 
das Bild einer gemeinichaftlichen Außenwelt, in welder ſie zum 
Wechſelverkehr des Handelns und der Mittheilung einander be 
gegnen. Für jeden Einzelnen hat daher das BVorftellen Die Auf: 
gabe, wahr zu fein, aber doch nur in dem Sinne, daß e8 Jedem 
die gleiche Welt vorhalte, die es Andern zeigt, und daß nicht eine 
individuelle Täufhung uns aus der Gemeinfhaft mit den übri- 
gen Geiftern ausſchließe, indem fte uns eine Neihe äußerer Be- 
ziehungspunkte vorſpiegelte, an denen wir nie mit der Thätigfeit 
dev Andern uns berühren Können, weil fie fir Niemand als fin 


895 


und vorhanden find. Unbeftimmt bleibt e8 dabei gänzlich, ob die 
Melt, deren Anfchauung wir übereinftimmend dur unfere Bor: 
ftellungen erhalten, für alle ein gleicher folgevechter Irrthum ift, 
oder ob das, was wir zu fehen glauben, in der That Die eigne 
Geſtalt der Außenwelt abbildet, von deren Einwirkungen wir ung 
abhängig fühlen. 

Theils diefe Gewöhnung des täglichen Lebens, theils das 
eigenthihnliche Interefje der Wiſſenſchaft, die freilich ausdrücklich 
das Erkennen der Dinge zur Aufgabe ihrer Unterſuchungen macht, 
haben in uns die Gewohnheit hervorgebracht, die Vortrefflichkeit 
unferer Borftellungen und Empfindungen nad der Genanigfeit 
zu mefjen, mit welcher fte abbilbend die Natur der Gegenftände 
wiederholen. Man vergißt dabei, daß der Lauf dieſer inneren 
Erſcheinungen in uns ganz ebenfomohl eine vollwichtige Thatſache 
ift, als Das Dafein deſſen, von dem fie herrühren; und nachdem 
man fih einmal gewöhnt bat, fie mit dem Namen des Erkennens 
zu belegen und ihnen ftillfchweigend dadurch die nothwendige Be- 
ziehung auf ein Aeußeres anzuheften, pflegt man nun Sein und 
Erkennen fo einander gegenüberzuftellen, als fei mit dem erften 
der eigentliche Effectivbeftand der Welt abgefchloffen und Liege dem 
legteren nur ob, gut oder fchlecht dieſe fertige Welt im Wiſſen 
noch einmal zu wiederholen. Aber diefe Thatfache, daß der Ein- 
fluß des Seienden und feiner Veränderungen in dem Innern der 
geiftigen Weſen dieſes Aufblühen einer Welt finnlicher Empfin- 
dungen veranlaßt, fteht nicht. als eine müßige Zugabe neben dem 
übrigen Zufammenbange der Dinge, als wäre der Sinn alles 
Seins und Geſchehens vollendet auch ohne fie; fie felbft ift viel- 
mehr eines der größten, ja das größte aller Ereigniffe iiberhaupt, 
neben deſſen Tiefe und Bedeutſamkeit alles Uebrige verſchwindet, 
was ſonſt zwiſchen den Beſtandtheilen der Welt ſich ereignen 
Bunte. Sowie wir jede Blüthe nach ihrem eignen Farbenglanz 
und Dufte ſchätzen, ohne zu verlangen, daß fie die Geftalt ihrer 
Wurzel abbildend wiederhole, fo müfjen wir auch dieſe innerliche 
Welt der Empfindungen nach ihrer eignen Schönheit und Be- 


I 


396 


deutung fehäken, ohne ihren Werth an der Treue zu meilen, mit 
der fie das Geringere wieberbringt, auf dem fie beruht. 

Denn in der That warum follten wir nicht dies ganze Ver⸗ 
hältniß umlehren, an welches uns eine undurchdachte Borftellungs- 
weife gewöhnt hat? Anftatt das Aeußere als den Zielpunkt auf- 
zuftellen, nach dem alle Sehnſucht unferes Empfindens ſich richten 
müßte, warum follen wir nicht vielmehr dieſe leuchtende und 
tönende Pracht der Sinnlichkeit als den Zweck auffaffen, zu deſſen 
Erfüllung alle jene Beranftaltungen der Außenwelt beftimmt find, 
über deren Berborgenfein wir uns beflagen? Die poetiſche Idee 
und ihre eigne bedeutſame Schönheit ift e8, was an dem Schau⸗ 
fpiel uns befriedigt, das wir auf der Bühne fi vor uns ent- 
wideln jehen; Niemand glaubt diefen Genuß zu ſteigern oder die 
noch tiefere Wahrheit zu finden, wenn er ſich in die Betrachtung 
der Mafchinerien verfenken könnte, welche dieſen Wechfel der ‘De: 
corationen und der Beleuchtung hervorbringen; Niemand, indem 
er den Sinn der geſprochenen Worte in fih aufnimmt, vermißt 
Die deutliche Erkenntniß der phyſiſchen Vorgänge, durch welche der 
Organismus der Darfteller jene tönenden Vibrationen der Stimme 
erzeugt ober die Bewegung der ausdrucksvollen Geberden ins 
Werk ſetzt. Der Lauf der Welt ift dieſes Schaufpiel; feine we: 
fentlihe Wahrheit ift der Sinn, der fih in ihm verftändlich für 
das Gemüth entfaltet; jenes Andere aber, was wir oft jo gern 
willen möchten umd worin wir in befangener Täuſchung erft das 
wahre Weſen der ‘Dinge fuchen, ift nichts als der Apparat, auf 
dem die allein werthvolle Wirklichkeit diefer ſchönen Erſcheinung 
beruht. Anftatt zu Hagen, daß die Sinnlichkeit Die wahren Eigen- 
ſchaften der Dinge außer uns nicht abbilvet, follten wir glücklich 
fein, daß fle etwas viel Größeres und Schönered an ihre Stelle 
jeßt; nicht gewinnen, fondern verlieren würden wir, wenn wir Die 
leuchtende Herrlichkeit der Farben und des Lichtes, die Kraft und 
Anmuth der Töne, die Süße des Duftes aufopfern müßten, um 
an der Stelle dieſer verihmwundenen Welt der mannigfachiten 
Schönheit und an der genaueften Anſchauung mehr ober minder 








397 


häufiger, nad) diejer oder jener Richtung gehender Schwingungen 
zu tröften. Iſt es doch außerdem uns möglich, in wiflenfchaft- 
licher Unterfuchung diefer Erkenntniß babhaft zu werden und jene 
farblofen Gründe der ſinnlichen Welt in der That noch zu er- 
veihen, über welche die wirkliche Empfindung diefen täufchenden 
oder, wie wir richtiger jagen würden, diefen verflärenden Schim- 
mer verbreitet. Sehen wir deshalb von der Klage ab, als ent- 
gehe unferer Wahrnehmung das wahre Wefen der Dinge; eben 
darin befteht es vielmehr, als was fie uns erſcheinen, und 
Alles was fie find, ehe fie uns ericheinen, das ift die ver⸗ 
mittelnde Vorbereitung für dieje endlihe Verwirklichung ihres 
Welens ſelbſt. Die Schönheit der Farben und der Töne, Wärme 
und Duft find ed, was an fi die Natur hervorzubringen und 
auszudrüden ringt und für ſich allein nicht zu erreichen ver: 
mag; fie bedarf dazu als des letzten und edelſten Werkzeuges 
eben des empfindenden Geiſtes, der allein im Stande ift, dem 
ftummen Streben Worte zu geben und in der Pracht der finn- 
lichen Anfhauung zu heller Wirflichleit zu beleben, was alle jene 
Bewegungen und Geberden der äußeren Welt fruchtlo8 zu jagen 
fi bemühten. _ 


Aber ‚wie groß auch die Bedeutung fein mag, die wir auf 
dieſe Weife der finnlichen Empfindung in dem Zuſammenhange 
der Welt zufchreiben: wir müſſen doch fürchten, Die alten Klagen 
nicht durch fie wöllig- zu beſchwichtigen. Denn zu einfeitig fällt 
ber Bortheil des Genuſſes der geiftigen Welt zu, und alle Natur 
ſteht ihm gegenüber nur noch als das Teblofe, wenn gleich be= 
wegliche Gerüft der Mittel da, durch welches die Schönheit der 
Sinnenwelt nur in einem Anderen, aber nicht in ihm felbft her⸗ 
vorgebracht wird. Sollen nun die Dinge nur dazu dienen, durch 
ihre Bewegungen felbft genußlos den Seelen Anregungen zu die- 
fem innerlichen Leben zuzuführen? Sol die eine Hälfte des Ge- 
Ichaffenen, die, welche wir unter dem Namen der materiellen Welt 
zufammenfaflen, durchaus nur zum Dienfte der anderen Hälfte, 


398 


bes Reiches der Geifter, vorhanden fein, und. haben wir nicht 
Recht mit der Sehnſucht, den ſchönen Glanz der Sinnlichkeit auch 
in demjenigen anzutreffen, von dem er doch immer fir uns aus- 
zugeben fcheint? Vielleicht würde nun dieſe Sehnſucht allein nicht 
hinreichen, um eine neue Geftaltung unferer Anſichten hinläng- 
ih zu begründen; nehmen wir jedod an, daß eine tiefer gehende 
Unterfuhung die Kraft dieſes Grundes ergänzte, jo würden wir 
Doch gewiß auch in den Dingen felbft die Wirklichfeit alles finn- 
lichen Imbaltes nur unter VBorausfegung der Bedingungen mög- 
Tih finden dürfen, unter denen fie uns überhaupt denkbar ift. 
Nur als Formen oder Zuſtände eines Anſchauens oder Wiffens 
laßt fi num der Inhalt der finmlichen Empfindung, Iaffen fich 
Licht und Farbe, Ton und Duft begreifen; jollen fie nicht allein 
Erſcheinungen in unferem Inneren fein, jondern auch den Dingen 
eigen, von benen fie auszugehen fcheinen, fo müſſen bie Dinge 
ſich ſelbſt erſcheinen fönnen und in ihrem eignen Empfinden fie 
in fich erzeugen. Zu diefer Folgerung, welche iiber alles Seiende 
die Helligfeit Lebendiger Beſeelung ausbreitet, müßte unfere Sehn- 
fucht entſchloſſen fortgeben; in ihr allein fände fie eine Möglich- 
feit, dem Sinnlichen eine Wirflichleit außer uns zu verfchaffen, in⸗ 
dem fie ihm eine Wirflichkeit im Innern der Dinge gäbe; fruchtlos 
dagegen würde jeder Verſuch fein, das was nur als innerer Zu- 
ftand irgend eines Empfindens denkbar tft, als eine äuferliche 
Eigenſchaft an empfindungslofe Dinge zu heften. 

So finden wir uns hier zu einem Gedanken zurlidgeführt, 
ben ſchon unſere erften Betrachtungen tiber die Natur der Seele 
uns nahe legten, zu jener Annahme eines boppelten Dafeins, 
das alle Materie führe, äußerlich mit den bekannten Eigenſchaften 
bes körperlichen Stoffes fi benehmend, innerlich von geiftiger 
Regſamkeit belebt. Wir wiefen damals die Anwendung dieſes 
Gedankens zurüd, welche das Ganze des lebendigen Leibes un- 
mittelbar zugleich als die empfindende Seele auffaflen, oder aus 
dem Zuſammenwirken vieler Elemente die Einheit unſeres Be⸗ 
wußtfeins erflären wollte; wir erkannten, daß die letztere nie als 








399 


das Ergebniß aus Wechfelwirkungen einer Vielbeit, fondern nur 
als Die Aeußerung eines untheilbaren Wejens denkbar fei, und 
daß die nöllige Verſchmelzung ber geiftigen Thätigleit mit dem 
Ganzen bes Körpers, das nicht von Ewigkeit beifammen war, 
fondern im Laufe des Wachsthums aus den verichiebenartigften 
Beiträgen der Außenwelt zufammentritt, gleich ſehr den allgemeinen 
Möglicgkeiten als den beftimmteften Thatiachen der Erfahrung 
widerſpreche. Auch jett Können wir nicht anders denken, und der 
Verſuch, Die Materie als befeelt zu faflen, muß nothmwendig mit 
dem anderen verbunden fein, die Geftalt, in welcher unſere un⸗ 
mittelbare Beobachtung dieſe Materie wahrzunehmen glaubt, die 
unendlich theilbare Ausdehnung, al8 einen Schein nachzınveifen, 
dem eine Mannigfaltigkeit untheilbarer, nur durch überfinnliche 
Eigenſchaften beftimmter Wefen zu Grunde Liegt. Manche bisher 
zerſtreut und ohne Abfchluß gebliebenen Fäden unferer Ueberlegun- 
gen laufen jegt zufammen und nähern ſich ihrem Ende; möge e8 
ung erlaubt fein, um zu ihrer völligen Vereinigung zu gelan- 
gen, die Aufmerkſamkeit nod einmal ausbrüdlicher auf jenen Be— 
geiff der Materie zu richten, den wir bisher gelten Tiefen, zu- 
frieden, feine Webergriffe in fremde Gebiete abzuwehren, und dem 
wir jegt endlich auch das zu entziehen fuchen müfjen, welches er 
eigenthümlich zu beherrihen fchien. Denn während frühere An- 
fihten aus den Wirkfamfeiten des Stoffes das geiftige Leben wie 
eine leichte und felbftverftänbliche Zugabe glaubten hervorgehen 
zu ſehen, ift es jeßt in der That unfere Abfiht, Die alleinige 
urfprüngliche Wirklichkeit der geiftigen Welt zu vertreten und zu 
zeigen, daß wohl die materielle Natur aus ihr, aber nicht fie 
aus dieſer begreifbar ift. 

In jenen allgemeinen Betrachtungen, die wir dem Bilde des 
Veiblichen Lebens vorausſchickten, haben wir uns überzeugt, daß 
eine Erklärung der mannigfachen Yormen und Ereigniffe, welche 
uns die Beobachtung im Großen darbietet, nur aus den Wechſel⸗ 
wirkungen vieler von einander geſchiedener und gegen einander 
felbftändiger Mittelpunkte aus⸗ und eingehender Kräfte möglich 


400 


ift. Beſtätigt Doc unmittelbar die Wahrnehmung des bewaffneten 
Auges in vielen Fällen dieſe innere Gliederung ſcheinbar gleidy- 
artiger Maſſen, und eine eindringendere Unterfuchung, welche alle 
bie räthſelhaften Erſcheinungen berüdfichtigte, Die uns ber feinere 
Bau au der unbelebten Körper und die von ihm abhängigen 
Eigenthümlichkeiten ihres Wirkens zeigen, würde fi unvermeid- 
lich Dazu genöthigt jehen, diefelbe Organifation der Materie aus 
einzelnen wirkſamen Theilen nody weit über die Grenzen mög- 
licher Wahrnehmung hinaus anzunehmen. Aber der legte Schritt, 
den unfichtbar Fleinen Atomen, auf welche wir jo geführt werben, 
jede räumliche Ausdehnung, Form und Größe abzufpredden, war 
doch dort nur eine mögliche, noch nicht eine nothwendige Verboll- 
ftändigung diefer Anſicht. Konnte man jedoch für die Bedürfniſſe 
der Phyſik diefe Trage unentjchieden laſſen, fo nöthigt uns bie 
Borftellung, welche geiftige8 Leben oder eine Analogie befjelben 
auch für die Materie retten möchte, eine beftimmte Antwort auf 
fie zu ſuchen. 

Bezeicnet nun die gewöhnliche Annahme die Materie als 
das Ausgedehnte, Undurchdringliche, Widerftandleiftende und Un- 
vergängliche, jo würden wir ihr zuerft einwerfen müffen, daß zu 
dieſen Eigenichaften und Handlungsweilen das Subject fehle: wir 
vermiſſen die Angabe deſſen, was bier ausgedehnt, undurchdring⸗ 
lich und umvergänglidh ſei, und mas dieſe verjchiebenen Eigen- 
Iheften, die ihrem eignen Begriffe nad in Feiner nothwendigen 
Berbindung ftehen, zufammen vorzufonmen nöthige. Beflert nun 
jene Annahme ihren Mangel durch das Zugeftändniß, daß ja 
allerdings das eigentlich Seiende in der Materie in einem un- 
jagbaren Ueberfinnlichen beftebe, aus deſſen Natur eben jene Eigen- 
ſchaften und ihre Verbindung nothwendig und beftändig folgen: fo 
würden wir ihr antworten müffen, daß mit dem Begriffe eines 
Seienden zwar die übrigen Prädicate, aber nicht das der Ausdeh⸗ 
nung vereinbar fei, durch welches Doch gerade am mwefentlichften Die 
Materie fi) von allem anderen Seienden zu unterjcheiden meine. 

Denn wer bon der Ausdehnung der Materie fpricht, iſt nicht 








401 


zufrieden damit, in jedem Punkte des Raumes, den er im Auge 
bat, die wirkende Herrichaft die Macht oder die geiftige Gegen- 
wart einer Subftanz anzutreffen, welche felbft doch nur an einem 
einzigen Punkte zugegen wäre; jeber Fleinfte Drt dieſes Raumes 
fol vielmehr von ihr ftetig ebenfo erfüllt fein, wie fie jenen be- 
vorzugten Punkt erfüllen würde. Und zugleich ift fir dieſe Anficht 
jeder einzelne Punkt jenes erfüllten Raumes auch für fich ein 
bleibender Mittelpunkt von Kräften, und der Wegfall aller übrigen 
würde ihn nicht Kindern können, der Natur des in ihm enthal- 
tenen Antheil8 an Realem gemäß feine Wirkungen fortzufegen. 
Sp kommt diefe Vorftellungsweife zu einer unendlichen Theilbar- 
keit des Ausgedehnten, aber eben damit vermag fie, wie mir fheint, 
die Borftellung eines wirklichen Getheiltſeins nicht von ihm abzu- 
halten. Denn das, was nad) feiner geſchehenen Abtrennung von 
einem Ganzen feine Wirkungen mit dem proportionalen Antheil 
von Stärke, der feiner Größe entipricht, ungeftört fortzufeßen ver- 
mag, eriftirte doch wohl ſchon in dem Ganzen als ein felbftän- 
diger Theil, mit andern gleich felbftändigen zwar zu einer geord⸗ 
neten Summe, aber nicht zu einer wahrhaften Weſenseinheit ver- 
bunden. Oder umgefehrt, mas im Stande ift, in eine Vielheit 
völlig ſelbſtändiger Theile zu zerfallen, einzelne ohne Aenderung 
feiner Natur aus ſich zu entlaffen, andere, die nie feine Theile 
waren, in fi aufzunehmen: das kann in folder Gleichgiltigfeit 
gegen Vermehrung und Verminderung nicht mehr als ein einziges 
in fi geſchloſſenes Wefen, fondern nur als eine Vereinigung ur- 
ſprünglich vieler gedacht werden. Wan mag dieſer äußeren BViel- 
fältigfeit immerhin eine innere Einheit des Vielen entgegenfeßen, 
men mag annehmen, daß alle diefe Theile durch Gleichheit ihres 
Weiens, durch gemeinfamen Sinn, durch ſolidariſche BVerpflich- 
tung zu einer gemeinfhaftlichen Entwidlung und Wirkungsmeife 
auf das Innigfte verbunden find: fobald wir abjehen von dem, 
was fie einft waren, und dem, was fie fein follen, fo lange wir 
nur ind Auge faffen, was ſie find, kann Feine diefer höheren Ein- 
beiten und darüber täufhen, daß fie zunächſt unmiderfprechlich 
Lotze I. 4. Aufl. 26 


e% 


402 


eine Bielheit bilden. Welche Nebengedanten man ſich auch immer 
über die Innerlichleit des Ausgevehnten machen möge: wir be= 
ftehen darauf, daß man ıim ihretwillen feine Aeußerlichkeit nicht 
bemäntele. Und dieſe Yeußerlichleit, eben das Ausgedehntſein, 
wird nie denkbar werden, ohne daß wir einzelne Punkte voraus- 
fegen, die unterfheibbar , die außer einander, die durch Entfer- 
nungen von einander getrennt find, die endlich durch die Wirkung 
ihrer Kräfte oder durch ihre gegenfeitigen Einflüffe iiberhaupt ein- 
ander die Drte beftimmen, welche fie einnehmen. Dieſe Unter- 
ſcheidbarkeit vieler Punlte ift nicht eine beiläufige Folge der Aus- 
behnung, fondern ſie ift das, worin ihr Begriff felbft beftebt; 
wer den Namen der Ausdehnung ausipricht, bezeichnet Damit eine 
Eigenſchaft, die nur gegenfeitige Beziehungen von Mannigfachem, 
nur Nichteinbeit, nur Wechfelwirkung einer Vielheit ausbrüdt. 

Jeder Berfuh, die Ausdehnung als Prädicat nicht eines 
Syſtems von Wejen, jondern eines einzelnen Elementes zu faflen, 
müßte nothwendig die andere Behauptung einfließen, daß im 
diefem Elemente die Theile, die auch in ihm untericheivbar fein 
müffen, damit es eine räumliche Größe darftelle, doch nie zu 
felbftändiger und freier Eriftenz trennbar feien. Aber unfere Er- 
fabrung befräftigt im Großen wenigftens durchaus die Trennbar- 
feit des Unterfcheidbaren; nur in den unfichtbar Heinen Dimen- 
fionen der Atome könnten wir hoffen, zugleich Ausdehnung und 
untheilbare Stetigfeit anzutreffen. Aber wir wirben wenig mit 
diefer letzten Vermuthung gewinnen. Denn worin würden wir 
dann den Grund ber beftimmten, weder größeren noch geringeren 
Ausdehnung fuchen, welche jeves Atom unveränderlich füllt? Wenn 
nicht in der Anzahl der Theilchen, die e8 einjchliegt, worin dann 
anders, als darin, daß die üiberfinnliche Natur defien, was bier 
wahr oder ſcheinbar fi ausbehnt, nur zur Erfüllung dieſes und 
feines größeren Raumes, nur zur Herftellung dieſer und feiner 
größeren unzerreißbaren Scheingeftalt ausreichte? So ift zulegt 
Doch auch für diefe Anficht die Größe der Ausdehnung nur Der 
räumliche Ausdruck für das Maß intenfiver Kraft, und es iſt 


403 


nicht eigentlih das Weſen, fondern feine Wirkſamkeit, welche den 
Kaum füllt. Gefteben wir darum lieber fogleih zu, daß Aus- 
dehnung jo wenig das Prädicat eines Weſens fein kann, als ein 
Strudel oder Wirbel die Bewegungsweife eines einzelnen Ele- 
mentes ift; beide laſſen fih nur als Formen der Beziehung zwi- 
chen vielen denfen. So werben wir genöthigt, jene Vorftellungs- 
weife feftzuhalten, die uns früher nur als eine mögliche erichien 
und die ausgedehnte Materie als ein Syſtem unausgedehnter 
Weſen zu faſſen, die Durch ihre Kräfte ſich ihre gegenfeitige Lage 
im Raume vorzeichnen, und indem fie der Verſchiebung unter 
einander wie dem Eindringen eines Fremden Widerftand Teiften, 
jene Erſcheinungen der Undurchdringlichkeit und der ftetigen Naum- 
erfüllung berborbringen. 

Die Neigung, die Ausdehnung unmittelbar als Eigenfchaft 
des Wirflichen zu denfen, beruht vielleicht auf einer Vorftellung, 
Die wir and unferer eignen Xebenserfahrung veritohlen in dieſen 
ganz anderen Gedankenkreis einführen. Jene Anfichten wenig- 
ſtens, welche die Ausdehnung der Materie nur als einen von 
vielen Ausdrücken deuten, in welchen ein viel allgemeineres Be⸗ 
ſtreben des fchaffenden Abfoluten, eine Sehnſucht nach Entfaltung 
und Ausbreitung ins Unendliche ſich kundgebe, verrathen in ber 
äfthetifchen Begeifterung für dieſe Form des Thuns ihre Erinne- 
rung an den Genuß, den die Freiheit ungemeflener Ausbreitung 
und Erweiterung unjeres Dafeins uns menfchlichen Weſen ver- 
ſchafft. Für uns ift der Raum der Umgebung zunädhft eine 
Schranke, eine Weite, die wir Durch Bewegung überwinden und 
aufzehren müſſen; für uns ift deshalb Bewegung gleichzeitig An- 
firengung und Genuß; jenes, weil wir fie nur durch den Me- 
hanismus unferer Glieder durchführen Tönnen, dieſes, weil die 
veränderte Stellung den Reiz neuer Anſchauungen und das Be⸗ 
wußtfein unferer Kraftübung erweckt, durch die wir fie errungen 
haben. Diefe Stimmung, dies Gemeingefühl gehobener Kraft 
und befriedigter Sehnfuht, das uns in der Durchwanderung 
großer Entfernungen belebt, tragen wir unvermerft auf den all- 

26* 


» 


404 


gemeinen Begriff der Bewegung über. Alle jene Phantafien, Die 
in der unenbliden Bewegung der Himmelstörper einen Gegen- 
ftand Ichwärmerifcher Verehrung fahen und in ihr das wahre 
Sein und die ewige Thätigfeit ded Ceienden fanden, meinten 
im Stillen, daß die Ueberwindung diefer ungeheuren Räume für 
jene Körper eine Leiftung fei, deren lebendigen Kraftaufwand fie 
felber empfänden; wie der Vogel ſich feines Fluges freut, jo ge- 
nöffen die Planeten felber den Schwung ihrer Bewegung, und 
wie jener mit ſcharfem Auge die fchöne Verſchiebung feiner Um- 
gebimgen überblidt, an ihr den durchmeſſenen Raum ſchätzend, ſo 
fei aud für diefe ein Bemußtfein von der Größe der überwun— 
denen Entfernungen in irgend einer Weile vorhanden. Es find 
ähnliche Nebengedanken, welche uns für die Exrpanfion des Abfo- 
Iuten und für die ftetige Ausdehnung ber Materie begeiftern; 
wir begleiten fie dabei mit einem Gefühl der Entlaflung von be= 
engendem Drude; und wie wir tiefemathmend in der Erweiterung 
unferer Bruft unmittelbar die Zunahme unferer Lebenskraft zu 
empfinden glauben, jo Liegt eine berworrene Erinnerung an das 
fühlbare Glüd folder thätigen Ausbreitung aud in der Vorftel- 
lung jener raumerfüllenden Thätigfeit, die wir der Materie zu- 
jhreiben. Und doch überzeugt uns eine einfache Betrachtung, daß 
von allen den Bedingungen, auf welden für uns Die Möglichfeit 
diefer Luft beruht, Feine fiir die unorganifirte Materie vorhanden 
ift; je urfprünglicher ihr die Ausdehnung zulommen fol, um fo 
weniger ift fie eine Leiftung fir fie, deren Ausführung eime Te 
bendige Anftrengung erforderte; und alle jene Expanfion des Ab- 
foluten Tann nicht als eine Luft der Befreiung und ber Ueber- 
windung von Schranfen, fondern nur al8 Zerfall in eine Biel- 
heit verichiedener Punkte gefaßt werden, auf deren Aufereinan- 
derfein alle Ausdehnung allein beruht. 

Bielleiht haben wir den Vorwurf zu beforgen, in dieſen Be- 
merfungen Nebenvorftellungen, die ſich als Zuthaten individueller 
Phantafie wohl zufällig bie und da einfchleichen, für wejentliche 
Beitandtbeile jener Anfiht von einer ausgedehnten Materie aus⸗ 





405 


gegeben zu haben. Aber zu viele Beispiele zeigen uns doch, wie 
häufig dieſe Tiebenswirdigen Erinnerungen an das volle menfd- 
lihe Dafein wirklich im Stillen Die Erwägungen Ienten, deren 
Zügel das reinfte und abftractefte Tpeculative Denken ganz feft allein 
zu führen glaubt; und in unferem Falle wüßte ich in der That 
nicht, wenn das Seiende nichts davon hätte, ausgedehnt zu fein, 
was uns dann noch veranlafien follte, jo hartnädig feiner inner- 
lichen Natur dieſe Eigenſchaft anhängen zu wollen und mit ftetiger 
Materie den Raum völlig auszuftopfen, den, für alle Erflärung 
der Erſcheinungen binreihend, überſinnliche Weſen mit ihren 
lebendigen Kräften beherrſchen könnten. Aber hinzufügen könnten 
wir im Gegentbeil, daß unferer Auffaflung möglich fein würde, 
was jener mißlingt;. indem jedes einzelne Weſen durch feine 
Wechfelwirkung mit den übrigen ſich jelbft und dieſen ihre Orte 
im Raume beftimmt, Wirkungen ausjendet und in fih aufnimmt, 
wird e8 von dieſer feiner Lage zu der Geſammtheit der anderen 
auch Eindrüde empfangen Können, die dem ftetig Ausgedehnten 
feine bloße Gegenwart und Ausbreitung im Raume nicht ver- 


Ihafft haben würde. 


Mit diefer Borausfegung unräumlicher Atome haben wir die 
einzige Schwierigfeit befeitigt, die uns hindern fonnte, jenem Ge⸗ 
danfen eines inneren geiftigen Lebens nachzuhängen, weldes alle 
Materie durchdringe. Die untheilbare Einheit jedes Diefer ein⸗ 
fachen Weſen geftattet ung, in ihm eine Zufammenfaflung der 
äußeren Eindrücke, die ihm zulommen, zu Formen der Empfindung 
und des Genufjes anzunehmen. Alles, was an dem Inhalte der 
Sinnlichkeit unfere Theilnahme erregte, Tann num in diefen Wefen 
eine Stätte objectiver Exiſtenz haben, und unzählige Ereigniffe, 
auf deren Borbandenfein uns nicht unjere unmittelbare Empfin- 
dung, fondern nur der Umweg wiffenfchaftlicher Unterfuchung führt, 
brauchen num nicht verloren zu geben, fondern Können im Innern 
ber Stoffe, an denen fie auftreten, zu mannigfacher ung unbe- 


4.06 


kannter Wärme und Schönheit der Wahrnehmung verwerthet wer⸗ 
den. Jeder Drud und jede Spannung, welde die Materie er- 
leidet, die Ruhe des ficheren Gleichgewichtes wie die Trennung 
früherer Zufammenhänge, alles dies gefchieht nicht nur, ſondern 
ift geſchehend zugleich der Gegenftand irgend eines Genuſſes; jedes 
einzelne Weſen, mit abgeftuften Wechfelwirkungen in das Ganze 
der Welt verflochten, ift, wie einer der größten Geifter ımferes 
Volkes es nannte, ein Spiegel des Univerfum, den Zufammen- 
bang des Weltalls von feinem Orte aus empfindend und die be= 
fondere Anfiht abbildend, melde er diefem Orte und dieſem 
Standpunkte gewährt. Kein Theil des Seienden ift mehr un- 
belebt und unbefeelt; nur ein Theil des Geſchehens, jene Be- 
wegungen, welche die Zujtände des einen mit denen des andern 
vermitteln, fchlingen fi als ein äußerliher Mechanismus durch 
die Fülle des Befeelten, und führen allem die Gelegenheiten und 
Anregungen zu wechfelnder Entfaltung des inneren Lebens zu. 
Wir zeichnen mit diefer Schilderung eine Auffaffung, fir 
welche wir, überzeugt von ihrer weſentlichen Wahrheit, doch kaum 
ein andered Zugeftändniß erwarten dürfen, als daß fie unter den 
Träumen, die unfere Phantafie fi) entwerfen Tann, einer von 
denen fei, bie nicht im Widerſpruch ˖mit dem Wirklichen ftehen. 
Aber eben fo wenig fei ihre Wahrfcheinlichkeit überredend, denn 
indem fie meine, eine ſchwärmeriſche Sehnſucht zu befriedigen, 
biete fie weit mehr, als Diefe gern annehmen möchte. Wer wiirde 
den Gedanken ertragen wollen, daß in jedem Staub, den unfer 
Fuß tritt, in dem profaifchen Stoffe des Tuches, das unfer Ge- 
wand bildet, in dem Material, welches unfere Technik zu man- 
cherlei Geräthen auf das Willkürlichſte formt, überall die Fülle 
bes feelenvollen Lebens vorhanden fei, das wir uns freilich gern 
in dem geheimnißvollen Umriſſe der Blume und vielleicht noch in 
der regelmäßigen ſchweigſamen Geftalt des Kruftalles ſchlummernd 
denfen? Allein mit diefem Einwurf wiirde man doch nur ben 
Irrthum wiederholen, mit dem, wie wir früher erwähnten, ſchon 
unfere finnlihe Anſchauung geringſchätzend über die Schönheit der 


407 


einfachen Beftandtheile Hinmegfieht, welche der Zufall ihr in 
ungünſtiger und verworrener Stellung und Miſchung vorführt. 
Jener Staub ift Staub nur für den, melden er beläftigt; die 
gleichgiltige Form des Geräthes fest den Werth der -einzelnen 
Elemente, aus denen e8 befteht, ebenjo wenig herab, als eine 
verkümmerte gefellichaftlihe Lage, melde alle Aeußerung bes 
geiftigen Lebens unterdrückt, die hohe Beſtimmung aufbebt, für 
welche auch dieſe niebergebrüdten Bruchitüde der Menjchheit 
dennoch berufen find. Wenn wir von dem göttlichen Urſprunge 
und dem himmliſchen Ziele der menſchlichen Seele ſprechen, haben 
wir mehr Urſache, einen befümmerten Blick auf dieſen Staub 
bes Geifterreich® zu werfen, deffen Leben uns häufig jo fruchtlos 
ſcheint und feine Aufgabe völlig verfehlend; weit weniger Grund 
würden wir haben, jenen unbeveutenden Beftandtheilen der Außen⸗ 
welt ihr inneres Leben zu leugnen, denn wie fie auch in ihren 
Zufammenbäufungen uns unſchön erjcheinen mögen, fie vollziehen 
wenigftens überall und ohne Mangel die Wirkungen, welche ihnen 
die allgemeine Ordnung als Yeußerungsweifen ihrer inneren Zu⸗ 
ftände geftattet hat. 

In der That nun beruht die Neigung, welche wir hier für 
die Borftellung einer durchgängigen Befeelung des Weltalls be- 
fennen, nicht auf dem Wunfche, jenen Glauben an die Verfchmel- 
zung unferer Seele mit dem Ganzen unferer leiblihen Drgani- 
fatton, den wir früher zurückwieſen, jest noch und anzueignen. 
Sie hängt überhaupt nicht mit Diefer engeren Frage nad dem 
Zufammenhange des Geiftigen und Körperlihen im uns zu— 
fammen, fondern geht aus einer allgemeineren Weberzeugung 
über das Wefen der Dinge hervor, deren Gründe vollftändig und 
geordnet zu entwideln die Aufgabe der ftrengeren Wiſſenſchaft 
bleiben muß. Diefe würde zu zeigen haben, wie undenfbar und 
widerfprechend im Grunde jene Vorftellung tft, mit der allerdings 
das gewöhnliche Leben und ſelbſt die berechnende Unterfuchung ver 
Welt fi zu behelfen weiß: die Vorftellung von einem Seienden, 
welches nie für fich felbft vorhanden wäre, in all feinem: Sein 


408 


nur den Sammelpuntt von Eindrüden bildete, die nicht zum 
Gegenftand feines eignen Genuſſes würden, oder den Ausgangs- 
punft von Wirkungen, die weder in feinem Wiffen noch in feinem 
Wollen begründet, erft für ein Anderes eine Anregung zu mannig- 
faltigem Thun enthielten. Bergeblid würden wir verſuchen, das 
Was dieſes Weſens durch irgend eine einfache und überfinnliche 
Dualität bezeichnet zu denken; wir würden uns überzeugen müffen, 
daß eben fo wie die finnlichen Qualitäten, deren objective Wirk⸗ 
lichkeit aufzugeben wir uns leichter entichlöffen, auch. alle jene 
überfinnlihen, bie wir ihnen als das Wahre gegenüberftellen 
möchten, ihr Dafein doch nicht minder nur in dem Bewußtſein 
deffen haben, ber fie denkt, und daß fie nie im Stande fein würben, 
den Duell ver Wirkfamleiten und Kräfte zu bezeichnen, die wir 
von den Dingen ausgehen jehen und für welde wir eine Be— 
gründung in dem Wejen derfelben fuchen müſſen. Jene Scheu, 
den einen Theil der Welt nur als das blinde und leblofe Mittel 
für die Zwecke des anderen Theiles anzufeben, jene Sehnfudt, 
das Glüd der Befeelung über Alles zu verbreiten und die überall 
in jedem Punkte ſich jelbft genießende Welt als eine vollkom— 
menere gegenüber dem zwiejpältigen Aufbau des Geiftigen über 
dem bewußtlojen Grunde zu rechtfertigen: dies Alles ift nur Die 
eine Reihe ber Beweggründe, melde und drängen, hinter der 
ruhigen Oberfläche der Materie, Hinter den flarren und gefeß- 
lichen Gewohnheiten ihres Wirkens die Wärme einer verborgenen 
geiftigen Regſamkeit zu ſuchen. Eine andere und bringendere 
Keihe von Motiven Tiegt in den inneren Widerfprücden, die uns 
den Begriff eines nur Seienden, aber nicht fich ſelbſt Befiten- 
den und Genießenden unmöglich machen und ung zu der Weber: 
zeugung nöthigen, daß lebendigen Wefen allein ein wahrhaftes 
Sein zufomme, und daß alle anderen Formen des Dafeins ihre 
Erklärung nur aus dem geiftigen Leben, nicht dieſes Die feinige 
aus ihm erhalten könne. 

So finden wir uns faſt am Ende unfered Weged auf Die 
Gedanken zurüdgeführt, die am Anfange der menfhliden Ent- 








409 


widlung in den mythologifchen Dichtungen das Gemüth bewegten. 
Und mit Abficht erinnern wir an dieſe Verwandtſchaft, die für bie 
wiſſenſchaftliche Sicherheit unferer Auffaffung wenig empfehlend 
ſcheint. Denn in der That haben wir mit diefer Behauptung 
einer durchaus befeelten Welt nur eine Ausficht bezeichnen wollen, 
die fidh bier vor und eröffnet und einen vworauseilenden Blid 
wohl, aber nicht einen wirflihen Gang in unendliche Fernen 
möglih macht. Wie gern wir diefen Blid im Gtillen feft- 
halten mögen, ihn in die wirkliche Wiffenfchaft einführen dürfen 
wir dennoch nicht; wir würden in der That nur zu baltlofen 
Träumen einer weniger maleriſchen Mythologie zurückkehren, wenn 
wir das auszuführen verſuchen wollten, was wir als die Wahr- 
heit der Sache allerdings uns denken: wenn wir zeigen wollten, 
wie die Geſetze der phyſiſchen Erfcheinungen aus der Natur der 
geiftigen Regfamleit hervorgehen, die im Inneren der Dinge ver- 
borgen ihr wahres Wefen und der einzige Duell aller ihrer Wirk— 
famteit if. Wohl hat ſchon das Alterthum von Liebe und Haß 
gefprochen, als den Gewalten, welche ‚die Stoffe bewegen und 
die Formen ihres gegenfeitigen Verhaltens beftimmen, und hat 
dadurch auf ein lebendige und verftändliches Motiv jene An- 
ziehungen und Abftoßungen zu begründen gefucht, die wir jett 
ohne Berftändniß ihres rundes nur thatfächlid an Die todte Maſſe 
geknüpft denken. Wohl müfjen wir im Allgemeinen zugeben und 
fefthalten, daß jede räumliche Bewegung der Stoffe fi als der 
natürliche Ausdrud der inneren Zuftände von Weſen deuten läßt, 
die mit einem Gefühle ihres Bebürfniffes, mit der Sehnſucht 
nach wahlverwandter Ergänzung, mit der Empfindung beginnen- 
ber Störung einander ſuchen oder fliehen: aber gewiß ſtehen wir 
nicht jo im Mittelpunkt der Welt und des ſchöpferiſchen Gedan— 
tens, der fih in ihr ausdrückt, daß wir jemald aus einer voll- 
ftändigen Erkenntniß des geiftigen Weſens, die und ja verfagt ift, 
die beftimmten Gefete der phufiichen Vorgänge als nothwendige 
Folgen abzuleiten vermöchten. Hier, wie fo oft für die Beichränft- 
heit des menjchlihen Standpunftes, ift der Weg des Erkennens 


410 


ein anderer als der, auf welchem die Natur der Sache fi ent- 
widelt; Nichts bleibt und übrig, als der Erfahrung die Gefete 
abzulaufchen, die ſich in den legten Verzweigungen der Wirklich- 
feit geltend erweifen, fiir das Ganze der finnlichen Welt aber und 
im Stillen das Verſtändniß zu bewahren, daß fle doch nur bie 
Berhüllung eines unendlichen geiftigen Lebens ift. 


Werfen wir num einen Blid auf die Vortheile, welche dieſe 
Umgeftaltung unferer Anfichten für die Auffaffung des Berbält- 
niffe8 zwiſchen Leib und Seele gewähren könnte, fo werben mir 
fie vielleicht geringer, vielleicht in anderer Richtung gelegen finden, 
als wir erwarteten. Wer Anftoß an der Möglichkeit einer Wechſel⸗ 
wirkung nahm, die zwifchen der Seele und dem anders gearteten 
Realen der Materie ftattfinden follte, wird feine Bedenken nun 
durch die Einficht befchwichtigen können, daß ja in ber That nicht 
verjchiedene Wefen einander hier gegenüberftehen, jondern daß 
die Seele als ein untheilbares Wefen, der Körper als eine zu- 
fammengeordnete Bielheit anderer, ihrer Natur nad verwandte 
und nun gleichartige Glieder dieſes Verhältniſſes find. Nicht auf 
den Körper, jofern er Materie ift, wirkt die Seele, fondern fie 
wirkt auf die mit ihr vergleichbaren überfinnlichen Wejen, die nur 
durch eine beftimmte Form ihrer Verknüpfung und den Anſchein 
der ausgedehnten Materie gewähren; nicht al8 Stoff und nit 
mit Werkzeugen des Stoffes itbt der Körper feinen Einfluß auf 
den Geift, fondern alle Anziehung und Abftogung aller Drud 
und Stoß find felbft in jener Natur, die uns aller Bejeelung 
ledig Icheint, felbft wo fie von Stoff zu Stoff wirken, nur der 
ericheinende Ausdrud einer geiftigen Wechſelwirkung, in der allein 
Leben und Thätigfeit if. Aber wir legen wenig Werth auf 
dieſen Vortheil, durch den nur eine eingebilbete Schwierigfeit 
entfernt, und das Unbegreifliche, wie überhaupt Eines auf das 
Andere wirken könne, ung nicht klarer wird. 








411 


Noch weniger Tann unfere Anficht jenen gefallen, denen ein 
völliges Sneinanderaufgehen von Körper und Seele der nothiwen- 
Dige und allein wünſchenswerthe Abſchluß aller unſerer Betrach- 
tungen ſchien. Denn fo fcharf wie jemals vorher fahren wir aud 
jeßt fort, die eine untbeilbare Seele, die wir die unfere nennen, 
dem befeelten Körper gegenüberzuftellen, und fo hartnädig wie 
früher müfjen wir den Körper felbft als ein Syitem von Theilen 
betrachten, aus deren zufammenmirkenden Thätigkeiten fein Leben 
hervorgeht, nur daß eine innerliche geiftige Regſamkeit jett jedes 
der Theilchen füllt, die unferer früheren Darftellung nur als 
Ausgangspuntte phnfiicher Kräfte von Bedeutung waren. So 
wenig ed uns früher möglich ſchien, aus der Durchkreuzung 
phnfiiher Wirkungen der Nerven die eigentbüimlichen Elemente des 
geiftigen Lebens zur erklären, ſo wenig reicht jetzt Die vergeiftigte 
Natur der Theile hin, um die Entftehung des einen Bewußt⸗ 
jeins in uns begreiflicher zu machen. Was aud immer jebed 
Atom eined Nerven innerlich in fich erleben mag, ob es unter 
dem Eindrud der äußeren Reize eine der unferigen ähnliche oder 
ihr unähnlihe Empfindung erzeugen, fie wie wir mit eimem 
Grade der Luft oder Unluft begleiten und ſich durch fie zu Stre- 
bungen hinreißen laſſen mag: all dieſes innere Leben ift für 
unfere eigne geiftige Entwidlung ohne alle Bedeutung, jo lange 
es ſich nicht äußert. Nur dadurch, daß jedes Atom der Nerven 
auf das ihm zunächft Tiegende feinen Eindruck überträgt, bis durch 
die gefchloffene Kette aller die Erregung auch unferer Seele üiber- 
Tiefert wird, nur hierdurch greifen die inneren Zuftände dieſer 
Elemente in die Geftaltung unſeres geiftigen Lebens mitbeftim- 
mend ein. Aber feines von ihnen tbeilt feinem Nachbar dieſe 
Zuftände fertig mit; keine Welle bevußter Empfindung, Teben- 
digen Gefühles und Strebens kann fi in der Bahn des Ner- 
ven fortbewegen, um durch bloßen Eintritt in unfere Seele nun 
unfere Empfindung, unfer Gefühl, unfer Wille zu werden; jedes 
einzelne Wefen kann das, mas fein eigner Zuftand fein foll, nur 
durch die Thätigkeit feiner eignen Natur in fich ſelbſt erzeugen, 


412 


und nicht8 wird barauf anlommen, ob der äußere Reiz, welder 
ed dazu anregt, dem zu erzeugenden Zuſtande ſelbſt fchon glich 
oder nicht. Wenn die Begeifterung für einen großen Gedanken 
rajc über eine Menge der Menjchen ſich verbreitet, fo geht fie 
nicht fertig von einem zum andern über, wie eine Luftart ober 
ein anftedendes Miasma, welches der eine Körper ausdünſtet und 
ber andere einathmet. Jede Seele muß durch ihre eigne Kraft 
fie von Neuem erzeugen und aus ihrem Innern heraus fidy für 
den Gegenftand entflammen, deſſen Bild und Vorſtellung felbit 
nur durch mannigfache Vermittlungen conventioneller Sprachlaute 
und aufflärender Erinnerungen von einem zum andern mittheil- 
ber ift. 

. Haben wir daber jhon längft die Möglichkeit zugegeben, 
bag in jedem Atom des Nerven ein dem ähnlicher Vorgang fich 
ereigne, welchen unſer eignes Innere in der bewußten Empfin- 
dung erfährt, jo müfjen wir doch zugleich Die andere Behauptung 
wiederholen, die wir hinzufügten, Die nämlich, daß für alle Ent- 
wicklung der Piychologie diefe Möglichkeit vollkommen gleichgiltig 
if. Für Die Erzeugung unferer Empfindung kommen die Nerven 
nur als Boten in Betracht, dazu beftimmt, eine Nachricht an 
ihren Empfänger zu befördern. Vielleicht kennen die Boten den 
Inhalt der Nachricht und überdenken ihn während des Weges 
mit gemüthlicher Theilnahme; aber in dem Empfänger wird Ber: 
ftändniß und Würdigung des Inhaltes, wenn beides ihm nicht 
aus feinem eignen Innern quillt, duch das Mitgefühl des Ueber⸗ 
veichenden nicht erzeugt, und nicht dadurch gemindert werben, 
daß eine völlig theilnahmloſe Hand ihm zuletzt gleichgiltig ihre 
Botſchaft überlieferte. Die Aufgabe, zu weldher fie berufen find, 
erfüllen daher die Nerven ganz ebenjo gut, wenn fie nur Bahnen 
für die Leitung eines rein phyſiſchen VBorganges find, der nur ein- 
mal, nur bei feinem Eindrud auf unfere Seele, eine Verwand⸗ 
ung in Empfindung erfährt, und der Wiſſenſchaft ift es, nicht 
ohne großen Bortheil für ihre Sicherheit, erlaubt, jede Rüdficht 
auf die unbekannte geiftige Regſamkeit bei Seite zu Yaffen, mit 





413 


welcher ihrerſeits die äfthetifche Anfiht der Natur alles Vorhan⸗ 
dene erfüllen Darf. 

In der That nur die Schönheit der lebendigen Geftalt wird 
und verftändlicher durch dieſe Borausfegung. Sie wiirde aller- 
dings auch für jene Anficht nicht dazuſein aufhören, für melde 
der Körper nur eine Summe unbelebter Theile wäre; fo wie wir 
in bem Faltenwurf des beweglichen Gewandes die Kraft und Größe, 
Anmuth und Zierlichkeit, wie den wechjelnden Reichthum ver 
ZT hätigleiten nadhempfinden, durch deren Spuren das geiftige Leben 
den jelbfilofen Stoff zu befeelen meiß, fo würde ber Körper, als 
eine noch folgjamere Hille und zu mannigfaltigerem Ausdrude 
geſchickt, und die fchöne und unbedingte Herrichaft der Seele über 
die finnlihen Mittel der Erſcheinung verrathen. Aber gewiß ge- 
winnt die Wärme diefer Schönheit, wenn wir das Ebenmaß ber 
menfchlichen Geftalt und die harmonische Lagerung ihrer Theile 
nit nur als die feine Berechnung eines in fi zufammenpaffen- 
den Werkzeuges, wenn wir die anmuthigen Berjchiebungen, durch 
welche im Wechfel der Stellungen jeder Theil, ſich ſpannend ober 
erſchlaffend, mit den übrigen ein neues Gleichgewicht ſucht, nicht 
nur als das Kunſtſtück einer ihre eignen Störungen ausgleichen- 
den Verrichtung zu faffen brauden; wenn wir vielmehr in jedem 
Punkte der Geftalt ein Gefühl ahnen Dürfen, in welchem er das 
Glück feiner eigenthümlichen Stellung und feiner mannigfadhen 
Beziehungen zur dent Ganzen genießt, oder wenn wir in jenem 
abgeftuften Nachhall leiſer Dehnungen und Stredungen, mit denen 
jede örtliche Bewegung fi über die Umriſſe des Körpers ver- 
breitet, ein Zeichen des feelenvollen Verſtändniſſes erbliden, mit 
welchem alle Theile zu dem gemeinfamen Genuffe ihrer jchönen 
Berkettung zuſammenſtimmen. 

Es ift das Bild einer gefelligen Ordnung vieler Wefen, 
unter welchem wir jett die lebendige Geftalt und ihr geiftiges 
Leben auffaffen. An einen bevorzugten Punkt der Organifation 
geftellt, ſammelt die beherrſchende Seele die unzähligen Eindrüde, 
die ihr eine Schaar weſentlich gleichartiger, aber durch Die gerin- 


414 


gere Bebentung ihrer Natur minder begünftigter Genoffen zuführt. 
In ihrem Innern begt fie das Empfangene und geftaltet e8 zu bewe- 
genden Antrieben, welche fie der bereitwilligen Kraft jener Gefähr- 
ten zur Entwidlung geordneter Rückwirkungen mittheilt. Ein allge- 
meines Verftändnif und Mitgefühl durchdringt diefe Vereinigung 
und fein Erlebniß des einen Theiles muß nothwendig verloren fein 
für den anderen, nur der eigne Plan des Ganzen kann die allſei⸗ 
tige Verbreitung der Wirkungen hemmen. Ich weiß nicht, in welchem 
Punkte die Befriedigung, die mir diefe Anficht zu gewähren ſcheint, 
durch die Annahme überboten werden könnte, welde Die völlige 
Berihmelzung der Seele mit der leiblichen Organifation verlangt, 
und den unmittelbaren Genuß, den die unjere jedem einzelnen Theile 
von ben Erlebniffen der übrigen verihafft, in ein unmittelbares 
Zuſammenfallen aller verwandeln möchte Wenn wir die Seele 
wie einen verſchwommenen Hauch duch den Umfang des Körpers 
ausgebreitet denfen, wenn wir fie unmittelbar mitleiden und mit- 
thun laſſen, was er in jevem Augenblide und an jedem einzel- 
nen Punkte feines Baues erfährt und leiftet: gewinnen wir da⸗ 
durch etwas, was uns die Borftellung einer mittelbaren Wechſel⸗ 
wirkung nicht gewähren könnte? Werben die Empfindungen uns 
weniger deutlich zu Theil, wenn wir ihre Erregung nur von Der 
legten Einwirkung eines phyſiſchen Nervenreizes auf die Natur 
einer untheilbaren Seele abhängig denen, und werben fie klarer 
baburch, daß mir jeden einzelnen Schritt der phuftichen Vermitt- 
Yung, durch welche fie uns überliefert werben, von einer geiftigen 
Thätigkeit begleitet fein Laffen, die do nie im Bewußtſein zum 
Borihein kommt? Sind unfere Bewegungen vielleiht in höhe— 
rem Sinne unfere eignen lebendigen Thaten, wenn unſer Wille 
mitläuft bis an das Ende der motorischen Nerven und vielleicht 
bis in die Fafern der Musteln, und bleiben fie nicht vielmehr 
eben fo wohl unfer Eigenthum, wenn nur einmal eine Regung 
der Seele nöthig war, um ben vorbereiteten Zuſammenhang 
bienfibarer Theile zur Thätigkeit aufzurufen? Was überhaupt 
jollte uns bewegen, dieſes Klare Bild einer geordneten Herrſchaft 





415 


des Einen über eine organifirte Bielheit in die trübe Vorftellung 
jener dumpfen Einheit Aller zu verwandeln, im welcher jede regel- 
mäßige Form der Wechſelwirkung, melde die Beobachtung uns 
fennen lehrt, nur noch eine unverftändliche Weitläuftigkeit zu fern 
Ihiene? Alles, was wir im Leben ſchätzen und woraus jeber 
eblere Genuß entipringt, ruht auf diefer Form der Verbindung 
eine? Mannigfachen; in unzähligen Individuen verförpert, führt 
das menſchliche Geſchlecht dieſes Reben beftändiger Wechſelwirkung 
der gegenſeitigen Theilnahme in Liebe und Haß, des beſtändigen 
Fortſchrittes, der den Gewinn des einen Theiles zum Mitgenuſſe 
der übrigen bringt. Jede Verſchmelzung der Vielen zu Einem 
ſetzt nur die Größe des Lebens und des Glückes herab, denn ſie 
vermindert die Anzahl der Weſen, deren jedes für ſich den Werth 
gegebener Verhältniſſe hätte genießen können. Ueberall iſt die 
Einheit, in die wir uns ſehnen mit einem Andern einzugehen, 
nur die vollftändige Gemeinſchaft der Mittheilung, der gegenſeitige 
Mitgenuß des fremden Weſens, aber nie jene trübe Vermiſchung, 
in der alle Freude der Vereinigung zu Grunde geht, weil fie mit 
dem Gegenſatz auch das Daſein deſſen aufhebt, was feine Ver⸗ 
ſöhnung empfinden konnte. 

Und wie wenig begünftigt endlich doch die unbefangene Be- 
obachtung den Traum von diefer Einheit! Aus zerftreuten Be- 
ftandtheilen der Außenwelt wird allmählich dieſer Bau des Kür- 
perd zujammengelefen, und in beftändigem Wechſel gibt er ihr 
Theile zurüd. Was ift alfo das, womit die Seele Eines fein 
Könnte? Verſchmilzt fie abwechjelnd mit dem ankommenden Erjag 
des Leibes und fcheidet filh aus von dem zerfallenden Reſte, worin 
ann dann jene Einheit anders beftehen, als in Wechjelmirkungen, 
die fich entjpinnen und wieder erlöfchen, je nachdem der Naturlauf 
neue Elemente zu der Gejellung der übrigen hinzutreten läßt, 
andere aus ihren Beziehungen verdrängt? Wie das Reiſegewühl 
der Menſchen ift dieſes Leben der Theile. Wir wiſſen nicht, wo⸗ 
her fie kommen und nicht wohin fie gehen; fremd gerathen fie 
zufammen und für kurze Zeit bildet fich zwiſchen ihnen ein ges 


416 


felliger Verkehr, dem gemeinfamen Zwecke der Reife in allgemei- 
nen Regeln des Verhaltens entiprechend, umd jeder ſammelt in 
fi Die Anregungen, die das mittheilende Wiffen des Anderen 
ibm gewährte. So mögen wir wohl jedes Atom des Körpers 
als ben Sit einer eignen geiftigen Regſamleit denen; aber wir 
fennen fie nicht; wir wiffen nichts won ihrer früheren Geſchichte, 
und nidht8 von der Entfaltung, die ihr vielleicht die Zukunft bringt; 
für einen vorübergehenden Zeitraum in den regelmäßigen Strudel 
unferes lebendigen Körpers hineingezogen, mag jedes Element 
feine eignen inneren Zuftände durch neue Erfahrungen bereichern 
und unferer Entwidlung durch die vermittelnde Fortpflanzung der 
Erregungen dienen, welche die Außenwelt ihm mittheilt; aber fein 
inneres Lebens ift doch nie das unfere, und wenn dieſe Vereini⸗ 
gung der verjchiedenen Weſen zu Grunde gebt, auf denen unfere 
lebendige Geftalt beruht, dann haben wir wohl alle zufammen 
etwas Gemeinfames erlebt, aber doch nur als urjprünglich ver- 
ſchiedene Weſen, die aus einer vorübergehenden Berührung fid 
wieder trennen. 


Fünftes Kapitel. 


Bon den erfien und legten Dingen bes Seelenleben®. 





Beſchränktheit ber Erkenntniß. — Tragen über bie Urgeſchichte. — Unſelbſtändigkeit 
alles Mechanismuß. — Die Naturnothwendigkeit unb bie unenblidde Subflanz. — 
Möglichkeit des Wirkens überhaupt. — Urſprung beſtimmter Geſetze bei Wirkens. 
— Unſterblichkeit. — Entftehung ber Seelen, 

Aber woher kamen am Aufang der Geſchichte zu dieſem 
Spiele des bejeelten Lebens jene Wefen zufammen, um in folder 
Bereinigung zu Trägern jo ſchöner Entwidlungen zu werden? 
Und wie wiederholt ſich in ber Fortpflanzung der Gefchlechter 
dieſes Wunder, welches jede Seele ihren Körper finden, jede be 
ginnende leibliche Organifation den belebenden Hauch ihres Geiftes 


417 


empfangen läßt? Welche Schidfale endlich ftehen nach der Auf- 
löſung diefer Gemeinſchaft den einzelnen Weſen bevor, und am 
meiften jener einen Seele, deren Beftimmung zu unendlicher Ent- 
faltung durch die Bedeutung deſſen verbürgt ſcheint, was fie in 
diefem leiblichen Leben begonnen und errungen bat? 

Zu dieſen Fragen führt unvermeidlich unfere Betrachtung 
ung zulegt zurück; und je fchärfer wir das Bild der gegenfeitigen 
Beziehungen zwiichen Körper und Seele zu zeichnen verſucht haben, 
um fo mehr müflen wir und aufgeforvert fühlen, durch eine Auf: 
klaͤrung über den Urſprung dieſes Zufammenbanges und den Sinn 
feiner endlichen Auflöfung einen Abſchluß unferer Auffafjungen 
zu fuchen. Aber follen wir uns gegenfeitig täufchen? Ich, in= 
dem ich vorgäbe, eine Löſung dieſer Räthfel zu kennen, und wer 
mir bis hierher gefolgt, dadurch, daß er fich ftellte fie mir zuzu- 
trauen? Nicht einmal des Nüdblides auf die erfolglofen An- 
firengungen von Jahrhunderten bedarf ed, fondern nur einer ein- 
fachen Erinnerung an die Mittel, die menſchlicher Erfenntniß ge- 
geben find, um die Hoffnungslofigleit jedes Unternehmens zu 
empfinden, da8 über diefe erften und letzten Dinge die Klarheit 
anſchaulicher Erkenntniß zu verbreiten juchte Keinen Augenblid 
mögen wir und daher dem trügerifchen Traume bingeben, als 
tönne e8 je gelingen, in fichere Erlenntniß zu verwandeln, was 
nur al8 gläubige Ahnung da8 Gebiet menfchlicher Erfahrung zu 
umgeben beftimmt if. Aber eine Aufgabe bleibt uns dennoch. 
Denn fo fehr wir und verfügen, Bilder deſſen zu entwerfen, was 
über die Grenzen diefeg Gebietes Hinausliegt, fo müſſen wir doch 
zufeben, ob die Betrachtungen, die-wir innerhalb befjelben an- 
gefnüpft haben, wenigſtens die Möglichleit eines befriedigenven 
Abichlufjes in unerreihbarer Gerne übrig Yaflen, oder ob das, 
was wir zu wiſſen überzeugt find, felbft die Hoffnung einer fol- 
hen Ergänzung abjchneidet. Wohl werden der menſchlichen Ein- 
fiht umausfüllbare Lücken übrig bleiben, aber fie kann nicht, ohne 
ſich jelbft aufzugeben, an das glauben wollen, deſſen Unverein- 

Zope I. 4. Aufl. 27 - 


418 


barkeit mit der nothwendigen Geltung ihrer eignen Grundfäße 
fie begreift. 

Zur Erwägung diefer legten Yragen finden wir ‚die Bor- 
ſtellungsweiſen unzulänglih, in denen wir uns bisher bewegt 
haben. Denn fie alle jegten den Zuſammenhang der Wirflichkeit 
als eine fertige, gegebene Thatfache voraus und bemühten fich 
nur um die Auffindung der allgemeinen Gefege, nad denen bie- 
fer vorhandene Weltlauf feine einzelnen Ereigniffe auseinander 
entwidelt. So galten fie alle nur der Erhaltung und der Fort⸗ 
fegung eines Erſcheinungskreiſes, deſſen erjte Entftehung und enb- 
liches Ziel fie abfichtli aus dem Bereiche ihrer Unterjuchungen 
ausſchloſſen. Und in der That, fo wie wir aus dem fichtbaren 
Bau der fertigen Maſchine die Wirkungen, welche fie Teiften Tann, 
und die Reihenfolge derſelben beredinen, ohne in diefer Beur⸗ 
theilung wefentlich geförbert zu werden durch die Kenntniß ihres 
Urfprunges und des Herganges ihrer Erbauung: ebenfo vermögen 
wir die Erhaltung der Welt und den Rhythmus ihrer Ereigniffe 
aus ihrem gegenwärtigen Beſtande zu verftehen, auch ohne bie 
Geſchichte der Schöpfung zu kennen, aus der fie entiprang. Aber 
allerdings nur um den Preis, daß wir für jeben einzelnen Augen⸗ 
bli€ den Grund der beftimmten Geftalt, mit welcher die Exeig- 
niffe ihn füllen, in dem vorhergehenden Augenblid als vorhan- 
bene Thatſache vorausſetzen. So ſchieben wir nur das Räthſel 
Schritt für Schritt zurück, um endlich ber dem Geſtändniß an⸗ 
zulangen, daß der erfte Uriprung von Allem uns unverftänbfich 
bleibt, und daß wir in allem Weltlauf höchſtens Abwechſelungen 
der Entwidlung, aber nie die Entflehung jener erften Anorb- 
nung begreifen, 'auf welcher die Möglichkeit all dieſes Wechſels 
auf einmal beruht. 

Man täuſcht fih, wenn man glaubt, die Wiffenichaft ver- 
"möge irgendwo dieſe Schranfen zu überfchreiten. Nachdem bie 
Borftellung von der Bildung des Planetenfyftems aus einem feu⸗ 
rigen Nebel, eine geniale Anficht über Ereigniffe einer Vorzeit, 
die aller Erfahrung entzogen ift, in den Beftand der allgemeinen 





419 


Bildung übergegangen ift, jo meint man wohl, nun doch einmal 
endlich eine jchöne Ordnung der Erſcheinungen, zwar nicht aus 
Nichts, aber doch wenigſtens aus einem formlofen Urgrunde über- 
zeugend entwidelt zu haben. Aber man vergißt, daß die Ge- 
ſchichte dieſes Feuerballs, den man ſo ſcharffinnig in ferne fpä- 
teren Geftaltungen verfolgt, nothwendig auch rückwärts fich in eine 
unenblihe Vergangenheit verlängert. Der allmählich erfaltende 
und fich verdichtende muß eine Zeit erlebt haben, da feine Tem- 
peratur noch höher, feine Ausdehnung größer war; wo liegt num 
der Anfangsaugenblid der Verdichtungsbewegung, in deren Fort- 
fegung begriffen jene Vermuthung ihn aufgreift? Und moher 
ftammt die urſprüngliche Richtung und Geſchwindigkeit der Dre= 
hung, in welcher wir alle feine Theilchen übereinſtimmend bemegt 
vorausſetzen müſſen? Auch diefe Formloſigkeit war mithin Doc 
nicht der Anfang der Welt; fie war nur einer jener mittleren 
Punkte, in welchen frühere Formen der Ereigniſſe für Die An- 
ſchauung fih in eine unfdeinbare Einfachheit zufammengezogen 
haben; aber durch diefen Punkt hindurch gehen die Stoffe, Die 
Kräfte und Bewegungen der Wirklichleit unverloren und’ unab- 
gebrochen fort, um jenfeit8 wieder in die Mannigfaltigfeit einer 
neuen Entwidlung ſich auszubreiten. So Liegt für alle Orbnung 
der Ereigniffe der Grund immer in einer früheren Ordnung, und 
wie mannigfadh diefe Melodie des Werdens bald in größeren 
Reichthum anſchwillt, bald in unfcheinbare Keimgeftalt fich zufam- 
menziebt: fie hat doch für uns nicht Anfang noch Ende, und alle 
unfere Wiffenihaft Himmt nur auf und ab an dieſem Unend⸗ 
lichen, den inneren Zufammenhang einzelner Streden nad all- 
gemeinen Geſetzen begreifend, aber überall unfähig, den erften 
Urſprung des Ganzen oder das Biel zu fehen, dem feine Ent- 
widlung zuftrebt. 

Und welche Lehre ziehen wir aus dem Bewußtſein dieſer 
Beſchränktheit? Keine andere gewiß, als für uns felbft die Mab- 
nung, mit unparteiifcher Geduld zu erwarten, wie weit und bie 
Fortſchritte der Wiffenihaft in Vergangenheit und Zukunft führen 

27% 


420 


werben; für die Wiffenfchaft jelhft aber den Wunſch, daß fie mit 
unbefangener Genauigkeit fortarbeiten möge, ohne durch Vorliebe 
für ein beftimmtes Ergebniß ihrer Unterſuchungen fih mißleiten 
zu laflen. Denn was fie uns auch lehren möge: an das Ende 
der Dinge wird fie und doch nicht führen, und Die Bebürfnifie 
unfered Gemüthes werben nie durch bie Enthüllung einer zeit- 
lichen Borgefchichte unferes Daſeins, fondern nur durch die Er- 
fenntniß der ewigen Verknüpfung befriedigt werden, die zu allen 
Zeiten die veränderliche Welt der Ericheinungen mit der Welt 
des wahrhaft Seienven zufammenhält. Beſäßen wir diefe Er⸗ 
fenntniß, wie wenig würden wir gewinnen, wenn es und nun 
gelänge, jene Fragen nad) der erften Entftehung des menfchlichen 
Geſchlechtes ſicher zu beantworten, auf welche wir leivenfchaftlich 
oft fo übergroßen Werth legen! Vielleicht vermehrt eines Tages 
ein unerwartetes Glück die unzulänglien Ausgangspunkte der 
Forſchung und befähigt und zu einer Entſcheidung, die Niemand 
jeßt zu geben vermag. Gefegt nun, dieſe beffere Kunde ftellte 
für uns Die Annahme ſicher, an der fo Vieler Herzen hängen, 
die Annahme, daß mit blimder innerer Nothwendigkeit das noch 
formlofe Chaos des Weltanfanges fih in ftetiger Berbolllonnn- 
nung bis zur unvermeiblichen Erzeugung der Menfchheit verflärt 
babe: ſchlöſſe fi dann für die Wiſſenſchaft der Ausblid in un- 
endliche Fernen, den fie zu fliehen ſcheint? Wenn fie e8 num 
begreiflich machen Könnte, wie aus dem feurigen Dunſtball zuerft 
die Feſte der Erdrinde und der Himmel des Luftkreiſes ſich ſchie— 
den, wie jeder Schritt diefer Sonderung den Wahlverwandtichaften 
der Elemente Gelegenheit zu neuen Wirkungen gab, wie dann 
unter den günftigen Umftänden, welche bie blinde Nothwendigfeit 
dieſes Naturlaufes berbeiführte, der erſte Keim einer Pflanze, 
eines Thieres entftand, noch einfach und unauögebilbet von Um- 
riffen und wenig zu beveutfamer Entfaltung geſchickt, wie endlich 
unter glüdlichen Bedingungen, zu deren Herftellung doch Diefes 
arme Leben ſchon mittbätig war, allmählid das organiſche Da⸗ 
fein ſich veredelte, niedere Gattungen im Laufe ungezäblter Jahr: 


421 


hunderte fi) in höhere entwidelten, bis zuletzt die Menjchheit, 
nicht nad dem Bilde Gottes, fondern als das letzte Glied in 
biefer Kette nothmwendiger Ereignifje hervorging: wenn dies Alles 
die Wiſſenſchaft begreiflih machen Könnte, was würde fie Damit 
mehr geleiftet haben, als daß fie das Wunder der unmittelbaren 
Schöpfung auf einen noch früheren Punkt der Vorzeit zurückge— 
[hoben Hätte, in welchem die unendliche Weisheit in dies un— 
ſcheinbare Chaos die unermeßliche Fähigkeit zu jo georpneter Ent- 
widlung legte? Mit der ganzen Reihenfolge abgeftufter Bil- 
dungsepochen, durch welche hindurch fie den formlofen Urgrund 
fih ausgeftalten Tieße, würde fie nur den Glanz und die Man- 
nigfaltigleit der Scenen vermehren, in deren äußerlichen Pomp 
unfere Phantafte bewundernd ſich vertiefen Könnte; aber fie wiirde 
das Ganze des wunderbaren Schaufpieles nicht zureichender erflärt 
haben, als jener fich ſelbſt beſcheidende Glaube, für melchen bie 
Entftehung der lebendigen Geſchlechter nur aus dem unmittel- 
baren Schöpferwillen Gottes begreiflich ſcheint. Diefe Dihge find 
es, deren Enticheidung wir, fo weit die Wiſſenſchaft fie je wird 
geben Können, getroft von ihrer unbefangenen Wahrbeitsliebe er- 
warten müffen; welchen Weg ber Schöpfung Gott gewählt haben 
mag, feiner wird die Abhängigfeit der Welt von ihm lockerer wer- 
ben laſſen, feiner fie fefter an ihn Fnüpfen Finnen. 

Aber diefe Geduld der Erwartung pflegen wir ſehr wenig 
zu befiten; mit dem leidenſchaftlichſten Eifer ftehen vielmehr jene 
“beiden Auffaffungen der Wirklichkeit einander gegenüber, von denen 
die eine den Weltlauf in reinen Mechanismus zu verwandeln 
firebt, die andere, indem fie an die unmittelbare Wirkſamkeit einer 
göttlichen regierenden Weisheit glaubt, vielleicht Hinter ihrem eige- 
nen Sinne noch zurückbleibt. Denn darin finde ic das Halbe 
und Unzulängliche diefer Meinung, daß fie meift erft durch Die 
Betrachtung des Lebendigen und des GSeelenlebend fih zu dem 
Belenntniß einer höheren, die zerftreuten Ereigniffe zu dem Ganzen 
eines MWeltlaufes verbindenden Macht aufregen läßt. Aud ihr 
ſcheint e8 doch möglich, daß die regelmäßige Ordnung der äußern 


422 


Welt auf der blinden Nothwendigkeit eines ſich ſelbſt genügenden 
Mechanismus berube: nur die befondere BVortrefflichleit des Leben- 
Digen umd die zweckmäßige Harmonie feines Dafeins nöthige ung, 
bier über die gewohnten Erflärungsgründe binaus zu der An- 
nahme einer ſchöpferiſchen und erhaltenden Weisheit zu flüchten. 
Diefes Zugeſtändniß kommt mir zu fpät; nicht dadurch gewinnen 
wir etwas, daß wir einen Theil der Wirklichkeit, als zu erhaben 
für eine Entftehung durch mechaniſche Cauſalität, dem Gebote ber 
allgemeinen Naturorbnung entziehen; vielmehr unter dieſen anderen 
Gedanten müflen wir und beugen, daß alle jene unerjchlitterliche 
Nothiwendigkeit, mit welcher das Ganze des mechaniſchen Welt- 
laufes jelbftändig für ſich feftzuftehen ſcheint, ein ganz eitler Traum 
ift, und daß feine einzige Wechſelwirkung zu Stande kommt ohne 
die Mitwirkung jenes höheren Grundes, den wir übel berathen 
nur für die Entftehung einzelner bevorzugter Erſcheinungen zu 
bebürfen meinen. 


Es iſt ein feltfamer und Doch begreiflicher Stolz unferer natur: 
wiſſenſchaftlichen Aufklärung, zur erflärenden Naderzeugung ber 
Wirflichfeit Teine anderen Vorausſetzungen nötbig zu haben, als 
irgend einen urfprünglichen Thatbeftand an Stoffen und Kräften 
und bie unverrüdte Geltung eines Kreiſes allgemeiner, in ihren 
Geboten ſich ftet8 gleicher Naturgefete. Seltfam, weil es zulekt 
Do in der That gar Bieles ift, was auf Diefem Wege voraus- 
gefegt werben muß, und weil man erwarten Tonnte, daß es dem 
zufammenfafjenden Geifte der menſchlichen Vernunft zufagender 
fein müßte, die Einheit eines fchaffenden Grundes anzuerkennen, 
als ſich Die zerftreute Mannigfaltigkeit nur thatſächlich vorhandener 
Dinge und Bewegungen zum Ausgangspunkt aller Erklärung auf- 
drängen zu laſſen. Aber begreiflih dennoch; denn um den Preis 
dieſes einmaligen Opfers wiirde ja num ber endliche Verſtand bie 
Befriedigung genießen, fih nie mehr durch die übermächtige Be- 


423 


deutung und Schönheit irgend einer einzelnen Erſcheinung impo- 
niven zu laſſen; wie wunderbar und tieffinnig ihn irgend ein 
Gebilde der Natur anbliden möchte, in jenen allgemeinen Gefegen, 
welche er völlig zu durchſchauen vermag, befäße er das Mittel, 
fih eined unbequemen Eindrudes zu ermehren, und indem er nach⸗ 
wiefe, wie für ihn ganz und gar verftändlich auch dieſe Erjchei- 
nung nur eine beiläufige Folge eines wohlbefannten Naturlaufes 
fei, würde e8 ihm gelungen fein, das zu feiner eigenen Endlid- 
feit berabzuziehen, wa8 dem unbefangenen Gemüth freilich ſtets 
nur als das Erzeugniß einer unendlichen Weisheit denkbar ift. 

In diefen Neigungen und Gewohnheiten wird die natur- 
wiſſenſchaftliche Bildung fchwer zu erſchüttern fein, und am wenig- 
ften durch die Gründe, welche ihr gewöhnlich der Glaube an ein 
höheres zweckmäßiges Walten in dem Naturlaufe entgegenzufeßen 
pflegt. Denn wie lebhaft auch eine unbefangene Beobachtung 
diefen Glauben erweden mag, fo daß es gleich thöricht und Tang- 
weilig feinen kann, ohne ihn die Ordnung der Natur verftehen 
zu wollen, fo wird ftet8 jene mechanische Auffaffung mit Recht 
einwenden, daß doch auf ihren Weg immer in dev Erflärung des 
Einzelnen auch diejenigen einlenfen, denen im Ganzen und Großen 
die Herrichaft einer zweckmäßig wirkenden Macht außer Frage fteht. 
Befriedigt werden doch auch fie erſt dann fein, wenn fie für jeden 
Erfolg, weldien jene Macht gebietet, auch Schritt für Schritt Die 
vollziehenden Mittel gefunden haben, durch deren nothmwendigen 
und blinden Cauſalzuſammenhang die verlangte Wirkung entftehen 
muß. Nie werben auch fie im Ernſte glauben, daß innerhalb 
des Naturlaufes, wie er vor unferen Sinnen liegt, jene zweck⸗ 
mäßige Kraft neue Anfänge des Wirkens ſchaffe, die nicht rück— 
wärt8 weiter verfolgt, fi immer wieder al8 bie nothwendigen 
Folgen eines früheren Zuftandes der Dinge erfennen ließen. Ver- 
wandelt fih nun fo auch für jene gläubigere Anficht der Lauf 
der Begebenheiten doch wieder in den ununterbrochenen Zufam- 
menhang eines Mechanismus, fo hebt die naturwiſſenſchaftliche 
Betrachtung den letztern allein hervor und läßt den Gedanken an 


au 
424 


die freie Wirkſamkeit der zweckſetzenden Kraft fallen, für welche fie 
einen angebbaren Wirkungskreis nicht zu finden wüßte Gie 
würde zugeben können, daß der erite Urfprung des Ganzen, befien 
innere Verhältniſſe allein fie unterſucht, auf eine göttliche Weis- 
heit zurüdflihren möge, aber fie würde die Thatfachen vermiffen, 
welche innerhalb des Gebietes der Erfahrung eine fortvauernde 
Abhängigfeit des Gefchaffenen von der erhaltenden Vorſicht feines 
Urbeberd zu einer nothwendigen Borausfegung der Erflärung 
machten. Zu unbefangen und felbftvertrauend hebt der Glaube 
an dieſes Tebendige Eingreifen der zweckmäßig wirkenden Vernunft 
nur die ſchönen Seiten des Dafeins hervor und vergißt einfl- 
weilen die Schatten; indem er die unendlide Harmonie der or⸗ 
ganiſchen Körper und ihren forgfältigen Bau für die Zwecke des 
geiftigen Lebens bewundert, gebenft er nicht der bitteren Confe- 
quenz, mit welder bafjelbe organiſche Leben Höflichkeit und 
Krankheit von Geſchlecht zu Gejchlecht überliefert, nicht der man- 
nigfaltigen Störungen, welde die Erreichung felbft beicheidener 
menſchlicher Ziele hindern. Wie wenig kann daher diefe Auf- 
faſſung der Welt, für welche Die Gegenwart bes Uebels ein viel- 
leicht nicht unlösbares, aber ungelöftes Räthſel ift, durch ihren 
Angriff eine Gemohnbeit der Betrachtung zu überwältigen hoffen, 
die in der Beobachtung unzählige einzelne Beftätigungen findet 
und unzugänglid ift für das Gefühl des allgemeinen Mangels, 
bon dem wir fie gebrüdt glauben! 

Und felbit jenes Zugeſtändniß, welches fie uns vielleicht 
maden wird, daß diefe Welt blinder Nothwendigleit aus ber 
MWeisheit eines höchſten Urheberd einft mwenigftens entiprang, iſt 
fie genöthigt e8 zu machen? Ohne Zweifel kann fie uns ein- 
wenden, daß felbft die beftehende Zweckmäßigkeit der vorhandenen 
Bildung fih unter der Herrichaft der allgemeinen Gejege aus 
dem ungeorbneten Zuftand eines urfprünglichen Chaos mußte ent⸗ 
wideln können. Denn Alles, was ein principlofer Wirbel zu- 
fammenführte in unzwedmäßiger Zufammenjegung und ohne jenes 
innere Gleichgewicht der Beſtandtheile und Kräfte, welches dem 


425 


Gewordenen ein längeres Beftehen im Kampfe mit dem fortwo- 
genden äußeren Naturlaufe hätte fihern können: alle das ift 
eben Yängft zu Grunde gegangen. Neben und nad unzähligen 
mißglüdten Bildungen, welche vielleiht die Vorzeit in raſchem 
Wechſel des Entftehens und Bergehens gefüllt haben, ift allmählich 
ber Naturlauf in ein engered Bett zufammengegangen und gerettet 
hat fih nur jene Auswahl der Geſchöpfe, denen eine glüdliche 
Zuſammenfügung ihrer Beftandtheile die Möglichkeit eine Be⸗ 
ſtehens gegen den Andrang der umgebenden Reize und die Fähig- 
feit der Fortpflanzung auf unbelannte Zeit hinaus verliehen hat. 
Für wie wenig wahrfcheinlich wir nun immer dieſe Anficht hal- 
ten mögen, wir würden fie doch kaum dem entreißen können, dem 
fie genügt, und wir können felbft den Reiz nicht hinwegläugnen, 
welchen für den wiſſenſchaftlichen Scharffinn immer der Verſuch 
haben wird, aus dem formlofen Chaos durcheinandergährender 
Bewegungen die Nothwendigkeit einer allmählichen Sichtung und 
Die von felbft erfolgende Bildung beftändiger Ablaufsformen der 
Erſcheinungen zu entwideln. 

Aber jever folche Verſuch beruht auf der einen Vorausſetzung, 
daß eine allgemeine Gefeglichleit mit immer gleichem Gebote den 
einzelnen Stoffen jener urfprünglichen Unordnung Form und Größe 
ihrer Wechſelwirkungen vorzeichne und fie Dadurch zwinge, Ver⸗ 
bindungen aufzugeben, denen kein Gleichgewicht möglich ift, und 
andere einzugeben, in denen fie ruhen oder eine beftändige Form 
der Bewegung bewahren können. Und diefe Borausfegung iſt es 
nun, deren Zuläſſigkeit wir prüfen müſſen; mit ihr allein ſteht 
und fällt die ftolzge Sicherheit dieſer mechaniichen Weltauffaſſung. 
Diefe Berehrung eines allwaltenden Naturgeſetzes, als des ein- 
zigen Bandes, welches alle zerftreuten Elemente des Weltlaufes 
. zu wechjelfeitigen Wirkungen zufammenvränge und bie Geftalt 
ihrer Erfolge beftimme, ift fie felbft ein möglicher Gedanke und 
ann fie den letzten Abſchluß für unfere Naturanfiht gewähren, 
für deren Ausbildung im Einzelnen wir felbft ihr überall ge- 
huldigt haben? 


426 


Nehmen wir an, daß zwei Elemente urjprünglid vorhanden 
find, nicht erzeugt von irgendwen, nicht aus irgend einer gemein- 
famen Quelle hervorgegangen, fondern in unvordenfliher Wirk⸗ 
Yichfeit von Ewigkeit beftehend, aber fo beftebend, daß feine an- 
dere Gemeinſamkeit als bie Des gleichzeitigen ‘Dafeind fie um- 
ſchließt: wie vermöchte Überhaupt der Einfluß des einen überzugehen 
auf das andere, da jedes wie in einer Welt für fi ift, und 
zwifchen ihnen Nichts? Wie wird durch dieſes Nichts hindurch, 
in welchem feine Wege der Vermittlung laufen, die Wirkjamleit 
des einen ſich hinfinden zu dem andern? Und wenn wir nun 
annähmen, daß durch einen gemeinfamen Raum hindurch die Thä⸗— 
tigfeit jedes Elementes wie eine ablösbare Atmofphäre ſich be— 
ftändig ausbreitete, gleich dem ausftrahlenden Lichte wirkſam, wo 
fie fände, worauf fie wirken könnte, und erfolglos ins Leere ver: 
ſchwimmend, wo Nichts fi ihr darböte: was würden wir ge- 
wonnen haben? Wir würden unfere eigene Vorftellung nicht 
verftehen, weder wie die Wirkung die Grenzen befien verlaffen 
könnte, welches fie herborbringt, noch wie fie eine Zeit lang 
ſchwebend zwiſchen ihrem Urheber und dem, was fie treffen fol, 
im Leeren fi aufhielte, noch endlich, wie fie jenes zulegt errei⸗ 
hend, eine umgeftaltende Kraft auf feine Zuftände auszuüben 
vermöchte. Denn fo wenig der Raum ein Hinderniß des gegen- 
feitigen Wirkens für das fein wide, was in ihm von einander 
entfernt doch durch eine innere Beziehung verbunden wäre, fo 
wenig wird die räumliche Berührung die Nothmwenbigleit einer 
Wechſelwirkung herbeiführen, oder ihre Möglichkeit erflären zwifchen 
Wefen, deren jedes nur auf ſich felbft beruhend durch die unaus- 
füllbare luft innerlicher Gleichgiltigfeit auch dann noch von dem 
andern geſchieden bliebe. Nur der gedankenloſen alltäglichen Mei- 
nung fcheint der Uebergang der Wirkungen von einem zum andern 
Elemente Mar; fie glaubt ihn mit völliger Anfchaulichleit in den 
äußeren Bewegungen wahrzunehmen, die ihn begleiten; für jede 
tiefer gehende Forſchung wird e8 mehr und mehr zum Raͤthſel, 
wie der Zuſtand des einen Weſens eine verbindlide Nöthigung 


427 


für ein anderes enthalten inne, nun auch feine eigenen inneren 
Zuftände abzuändern. So wie wir früher unfern Willen nicht 
in feiner Strömung in die beweglichen Glieder verfolgen fonnten, 
fondern zugeben mußten, daß alles Wollen eingefchloffen in den 
wollenden Geift bleibe und daß eine umbegreiflihde Macht ihm 
das Bollbringen folgen lafje: eben jo werben alle Kräfte, die wir 
in irgend einer Form dem einen Element inwohnend denen, un- 
zureichend fein, die Ausübung eines Einfluffes über das zu be- 
gründen, in welchem fie nicht wohnen. Kann num jener Gedanke 
des allgemeinen Naturlaufes, den unfere früheren Betrachtungen 
bier berbeizogen, kann die Borftellung eines Reiches ewig und 
allgemein geltender Gefete dieſe Lücke füllen und die ſpröde Ber- 
einzelung der gefchiedenen Elemente zu dem gediegenen Ganzen 
einer wechſelwirkenden Welt verichmelzen ? 

Sie kann es ohne Zweifel nicht; denn wie bermöchten Ge- 
feße, wie eine Nothwendigfeit, die für beftimmte Fälle beftimmte 
Erfolge vorfchriebe, überhaupt fir fich felbft zu exiftiren? Nichts 
fann fein außer dem GSeienden und feinen inneren Zuftänden, 
und nicht zwiſchen den Weſen kann als ein fiir fich beſtehender 
fie verbindender Hintergrund, als eine wirkfame fte leitende Macht 
eine allgemeine Ordnung ausgegofien fein, dem borangehend was 
fie ordnen fol. Blicken wir auf unfer menjchliches Leben zurück, 
fo finden wir die Gefete unſeres gejelligen Dafeins nicht neben 
uns und nicht zwifchen uns in einer unabhängigen Wirklichkeit 
beftehen, nicht als Mächte, die durch ihr Dafein von außen und 
zwingen und leiten Könnten; fie exiftiren nur in dem Bewußtſein 
der Einzelnen, die ſich ihnen unterworfen fühlen; fie fommen zur 
Geltung und Verwirklichung nur durch die Handlungen der leben⸗ 
digen Individuen; fie find nicht als bie in dem Innern vieler 
MWejen übereinſtimmend entwidelte Richtung ihres Wollens, bie 
dem fpäteren zuſammenfaſſenden Blicke der Beobachtung als eine 
höhere von außen Yeitende Macht erfcheint, weil fie in ihrer ges 
meinfamen Geltung fiir viele Einzelne nicht mehr ausſchließlich 
als das Erzeugniß eines Einzigen fi barftellt. Die Gefege ber 


428 


Natur mögen den Einrichtungen des menjchlichen Geiſtes über⸗ 
legen fein; können diefe Widerfpruch und Unfolgfamfeit erfahren, 
jo gebieten jene uneingefchränft und ungehemmt; dennoch wird Die 
Natur nicht das an fi) Widerfprechende vermögen und dem eime 
felbftändige Eriftenz verleihen, was nur an dem Seienden und in 
ihm zu fein im Stande ift. Eine weitverbreitete Gewöhnung ber 
Borftellung und des Sprachgebrauches, unſchädlich für Die Beur- 
tbeilung der gewöhnlichen Vorkommniſſe des Lebens, auf deren 
Beranlaffung fie entftanden ift, pflegt uns in biefen Weberlegungen 
zu täuſchen. Wir ſprechen nun einmal von Beziehungen, die 
zwifchen den Dingen obwalten, von Berhältniffen, in welche fie 
eintreten, bon einer Ordnung, die fie umfaßt, von Gejegen end⸗ 
ih, deren Wirkſamlkeit zwifchen ihnen bin und her fpielt, und 
wir bemerken wenig mehr, welchen Widerſpruch dieſe Begriffe ein- 
ſchließen von Berhältniffen, die für fi) bereit lägen, bevor Die 
Dinge kämen, um in fie einzutreten, von einer Ordnung, Die vor 
dem Georbneten beftände, um es aufzunehmen, von Beziehungen 
endlich, die wie baltbare Fäden, deren Stoff wir doch nicht an- 
zugeben müßten, über den Abgrund hinmweggeipannt wären, ber 
ein Weſen vom andern trennt. Wir bedenken nicht, daß alle 
Berhältnifie und Beziehungen wahrhaftes Daſein zunächſt nur in 
ber Einheit des beobachtenden Bewußtſeins haben, das von einem 
Element zum andern übergehend, die getrennten durch feine zu- 
fammenfaffende Thätigkeit umfpinnt, und daß jede wirffame Orb- 
nung, jedes Geſetz, welches wir unabhängig von unferem Wiffen 
zwifchen den Dingen ung vorftellen möchten, in ganz gleicher Weiſe 
nur Dafein haben kann in der Einheit des Einen, welde fie 
alle verbindet. Nicht der nichtige Schatten einer Naturorbnung, 
jondern nur die volle Wirflichleit eines unendlichen lebendigen 
Weſens, deſſen innerlich gehegte Theile alle endlichen Dinge find, 
kann die Mannigfaltigkeit der Welt jo verknüpfen, daß die Wedh- 
ſelwirkungen über die Kluft Hinüberreichen, welde die einzelnen 
felbftändigen Elemente von einander ewig ſcheiden würde. Denn 
von dem einen ausgehend, verfinft num die Wirkung nicht in ein 








429 


Nichts, das zwifchen ihm und dem andern läge, fondern wie in 
allem Sein das wahrhaft Seiende daſſelbe Eine ift, jo wirft in 
aller Wechſelwirkung das unendliche Welen nur auf fich ſelbſt, 
und feine Thätigfeit verläßt nie ben ftetigen Boden des Seins. 
Was in dem einen feiner Theile fich regt, ift nicht abgeichloffen 
in diefem und fremd für die übrigen; der einzelne Zuftand hat 
nicht einen unfagbaren Weg zurücdzulegen, um ein anderes Ele- 
ment zu fuchen, dem er ſich mittheile, und bat nicht eine gleich 
unbegreiflihe Gewalt auszuüben, um dies gleichgiltige Andere zu 
nöthigen, an ihm Theil zu nehmen; jede Erregung des Einzelnen 
ift zugleich eine Erregung des ganzen Unenblidhen, das auch im 
ihm den lebendigen Grund feines Wefens bildet, und jedes ver- 
mag deshalb mit feiner Wirkung überzugreifen in Anderes, in 
welchem berfelbe Grund lebt; er ift e8, welcher aus ber Einheit 
feiner eignen Natur dem endlichen Ereigniß bier feinen Nach⸗ 
Hang dort nachfolgen läßt. Nicht ein Endliches überhaupt wirkt 
aus fi, als aus dieſem Endlichen heraus, auf das andere; jede 
Erregung des Einzelnen vielmehr, indem fie den ewigen Grund 
bewegt, der in ihm, wie in allen, das Weſen feines endlichen 
Scheines ift, vermag nur durch diefe Stetigfeit der Wefendgemein- 
haft hindurch auf das ſcheinbar Entfernte überzumirken. 

Zu dieſer Anerkennung einer unendlihen Subftanz, die an 
der Stelle eines wejenlofen und unwirklichen Geſetzes durch ihre 
wejenhafte Wirklichkeit Die Dinge verbindet, nöthigt uns nicht 
allein die Bewunderung einzelner Ereignißfreife, deren befonbere 
Bedeutung uns überwältigt, fondern jedes noch jo ärmliche Bei- 
fpiel irgend einer Wechſelwirkung, jeder einzelne Fall von Cau⸗ 
falität zwingt und, um die Möglichkeit eines Veberganges des 
Einflufjes zu begreifen, an die Stelle eines bloßen Naturzufam- 
menhanges ein ſelbſt fubftantielle8 Unendliche zu fegen, in welchem 
das in der Erfcheinung geſchiedene Mannigfache nicht mehr ge- 
ſchieden iſt. Nicht zwifchen den Beitanbtheilen des lebendigen 
Körpers allein, nicht zwiſchen Körper und Seele vorzugsweis konn⸗ 
ten wir ein ſolches Band fuchen, als bebürften wir deſſelben nicht 





430 


überall; inbem wir vielmehr alles Gefchehen, welden Namen es 
tragen mag, nur als die innerliche Regſamkeit eines einzigen 
Unendlichen betrachten, wird uns ber weitere Verlauf unferer 
Anfiht von jener wieverauflebenden Mythologie entfernen, welche, 
wie die alten Sagen, einigen vornehmen Erfcheinungen ihre be- 
fonderen Genien zuerfennt und die Übrige gemeine Wirflichleit für 
ſich ſelbſt forgen läßt. 

Denn nicht nur ein Band iſt dies allgemeine Weſen, nicht 
nur eine gleichgiltige Brücke, welche dem Uebergang der Wir- 
kungen bon einem Element zum andern nırr überhaupt den gang- 
baren Weg bereitet: fondern die beftinmmende Macht ift es zu- 
gleich, die jedem Borangang die Geftalt und Größe feiner Folge, 
jedem einzelnen Weſen den Umkreis feiner möglichen Thätigkeit, 
jeder einzelnen Yeußerung berfelben ihre befondere Form vorzeichnet. 
Man täufcht fi Darin, daß man die Wirkungsweiſen, welche die 
Dinge gegen einander beobachten, als ganz jelbftverftändliche Fol- 
gen aus den beftimmten Eigenfchaften, welche num eimmal ihre 
Natur ausmachen, und aus dem Miteinfluß der jedesmal ge- 
gebenen Umſtände ableiten zu Einnen glaubt. Eine aufrichtige Be- 
trachtung führt ung vielmehr zu dem Geftänbniß, daß aus dieſen 
Borberfägen allein, mie wir auch ihren Inhalt zergliedern und 
wieder verfnüpfen, die Wirkungen, welche bie Erfahrung uns that⸗ 
fachlich zeigt, al& nothwendige Schlußfäte nicht hervorgehen, ſon⸗ 
bern Daß eine unbefannte Macht, wie Rückſicht nehmend auf 
Etwas, was wir in jenen Borbebingungen nicht antreffen, an 
ihre Geftalt die beftimmte Geftalt der Folge gefnüpft hat. Das 
Unendliche ift dieſe verborgene Macht, und das, worauf ed Rüd- 
fit nimmt in diefer Beſtimmung der Folgen, ift feine eigne 
gemeinfame Gegenwart in allen endlichen Elementen, durch welche 
Die Welt zur Einheit eines Weſens verbunden ift, und um beren 
willen der Lauf ihrer Ereigniffe zur Einheit eines zuſammen⸗ 
hängenden Ausbrudes fir den Inhalt dieſes Weſens verknüpft 
werben muß. Nur jo viel und nur eine ſolche Fähigkeit des 
Wirkens wird deshalb jedes Endliche befiten, wie viel und welche 


431 


das Unendliche ihm als feinen Beitrag zu der Verwirklichung des 
Ganzen zugefteht. 


Aber wir müffen weitläuftiger fein und uns erlauben, ben 
widerfpruchlofen Zuſammenhang der Anficht, in deren Darftellung 
wir begriffen find, mit den ſcheinbar entgegengefeßten Voraus⸗ 
fegungen zu erläutern, denen unfere eigne Betrachtung der ein- 
zelnen Erfcheinungen früher gefolgt ift. 

In jedem endlichen Dinge, fofern wir es als Erzeugniß bes 
unendlichen Einen faflen, werden wir einen gewiflen Thatbeftand 
von Merkmalen als die eigenthümliche Form bezeichnen künnen, 
in welde in ihm zum Unterfchiede von anderem Endlicden jenes 
Eine ausgeprägt if. Wir Können nicht meinen, daß in irgend 
einer diefer beftimmten Formen, durch welche das eine Endliche 
dieſes, das andere ein anderes ift, fi das volle Wefen des Un⸗ 
endlichen erſchöpfe, weldes ihnen allen der gemeinſame Grund 
ihres Dafeins ift; aber ebenfo wenig birfen wir doch glauben, 
daß ber untheilbare Inhalt deflelben, in unzählige Bruchftüde zer- 
fallend, in jedem einzelnen Dinge nur mit einem Theile feiner 
Fülle gegenwärtig fei. ALS wir die lebendige Thätigfeit der menfch- 
lihen Seele überlegten, führte unfere Betrachtung uns zu einer 
ähnlichen Forderung, wie diefe ift, welde wir uns bier ftellen 
müfjen, und die Erinnerung an Die leichtere Faßlichkeit jenes ein- 
zelnen Beifpiel3 Tann uns jet in der allgemeineren Auffafjung 
deſſelben Verhältniſſes unterſtützen. Wenn die Seele Vorſtellungen 
bildet, ohne noch eine Spur des Gefühles oder des Wollens zu 
entfalten, glauben wir ſie doch ſchon in dieſer einſeitigen Weiſe 
ihrer Thätigkeit nicht nur mit einem Theile ihres Weſens gegen⸗ 
wärtig, während ihre übrigen Fähigkeiten in gleichgiltiger Theil- 
nahmlofigkeit ſchlummerten. Diefelbe ganze Natur vielmehr, die 
unter dem Einfluffe anderer Anregungen Gefühle der Luft und 
Unluft, begehrende und abftoßende Strebungen entwideln wire, 


4323 


meinten wir mit der vollen Fülle ihres Weſens ſchon an der Er- 
zeugung der Borftellungen mitbetheiligt. Aber fie erjchöpft fih im 
Borftellen fo wenig als in irgend einer andern einzelnen Form 
ihrer Aeußerung; in allen vo vorhanden und mitthätig, findet 
fie doch in jeder nur einen einfeitigen und partiellen Ausdruck, 
und binter jedem Thun, das fie in einem einzelnen Augenblide 
entwidelt, bleibt überall ein reicheres uud umfafjenderes Vermögen 
unaufgeichloffen und verborgen zurüd. Aber eben dieſes ganze 
Weſen der Seele, durch alle mannigfachen Formen ihres Aeußerns 
gemeinfam und gleihmäßig fich hindurchziehend, ift das vermit- 
telnde Glied, durch welches die Wechſelwirkung der verſchiedenen 
inneren Zuftände möglich und die Geftalt ihres Erfolges beftimmt 
wird. Nicht aus irgend einer Berwidlung der Borftellungen ſahen 
wir an fi ſchon das Gefühl als nothwendige und felbftverftänd- 
liche Folge bervorquellen, fondern es entftand, weil ſchon in der 
vorſtellenden Thätigleit jene ganze Seele lebendig wirkſam war, in 
deren Natur auch das Gefühl begründet Ing, unangeregt damals 
aber vorbereitet zum Hervortreten unter Bedingungen, deren einige 
der Lauf der Vorſtellungen ſelbſt herbeiführt. 

Mit dieſem untheilbaren Weſen der Seele nun vergleichen 
wir jenes Unendliche, die Subſtanz aller Dinge; mit den einzel⸗ 
nen Formen bes geiftigen Thuns diefe endlichen Dinge felbft, die 
ſcheinbaren Elemente der Welt, in deren verichievenartige Geftal- 
ten jenes ſich ausgeprägt hat. Dann wird, wie in der Seele 
die Wechſelwirkung der inneren Zuſtände, jo in dem Weltlauf 
die Wechſelwirkung der Dinge nicht nur in ihrer Möglichkeit über⸗ 
haupt, fondern auch in der Geftalt ihres Erfolges von diefer We- 
ſensgemeinſchaft abhängen, welde fie alle verfnüpft. Was jedes 
einzelne Element leiftet, das vermag es nicht, fofern es dieſes 
Einzelne ift, fondern nur fofern es dies Einzelne als Erſcheinung 
dieſes Allgemeinen ift; nicht fchon Deshalb, weil e8 fo und nicht 
anders geformt ift und diefe, feine andern Merkmale einfchließt, 
bringt es felbftverftändlich Diefe und feine andere Wirkung hervor, 
fondern nur weil in diefer feiner Form dieſes Unendliche rubt, 


433 


deſſen inhaltvolle Natur die Merkmale zuſammenhält, bereit, durch 
feine Kraft fie zu vertheidigen oder ihrer Veränderung eine Folge 
zu geben. So wirkt alles Endliche im Grunde nur durch das, 
was ed im Berborgenen Befjeres ift, als es ſcheint, durch Die 
mejenhafte Macht des Unendlichen, die auch in ihm Tiegt; nicht 
jener Hülle beftimmter einzelner Eigenichaften, fondern nur biefem 
Kerne, fofern er in fie fih hüllt, gehört alle Kraft und Yähig- 
feit des Wirkend. Bezeichnen wir nun mit dem Namen der Na- 
tur eines Dinges diefe verſchmolzene und in Eins gebildete Zwei- 
heit des unendlichen Wefens, welches in ihm dieſe einzelne Form 
des Dafeind angenommen bat, oder der endlichen Form, die mit 
dem Unendlichen fih erfüllt hat: fo werben wir Recht haben, 
von diefer Natur des Dinges alle Weifen feines Berhaltens als 
nun nothwendige Folgen abzuleiten. Denn Die eigne innere 
Wahrheit und Folgerichtigfeit wird das Unendliche nöthigen, mit 
jeder beftimmten endlichen Form, welche es ſich gibt, auch die 
unveränberlie Wirkungsweiſe fich feftzufegen, die e8 in ihr 
ausitben will, entſprechend dem Sinne, in welchem e8 überhaupt 
Diefe einzelne Form als wefentlichen Theil jeiner Ericheinung 
ſchöpferiſch geftaltete. Aber der gewöhnliche Hang der Wiſſenſchaft 
drängt zu einem andern Spracdhgebraud; eben jenen Thatbeftand 
der Merkmale, die alle machtlos find ohne das lebendige Weſen, 
welches hinter ihnen fteht, dieſe endliche Hülle des wahrhaft 
Seienden pflegt man am meiften als die Natur eines Dinges zu 
bezeichnen und wenig mehr ift von dem die Rebe, was wir allein 
als den baltbaren und wirlungsfähigen Kern dieſes Scheines be- 
trachten Können. Aus diefer nur halben Natur der Dinge glaubt 
man ihr Verhalten als notbwendige Folge entwideln zu fünnen; 
nit nur die Möglichlert eines übergehenden Einflufjes überhaupt 
meint man zu verftehen, fondern in einem Kreife allgemeiner ſich 
von jelbft verftehender Wahrheiten au das Mittel zu befigen, 
die jebesmalige Geftalt eines Erfolges aus den gegebenen Um— 
ftänden und den beftändigen Eigenfchaften der Dinge zu ent- 


wideln. 
Loge I. 4. Aufl. 28 


434 


Und hierbei überfieht man eben, daß der Eindrud von Selbft- 
verftändlichkeit, melden fo viele Zufammenhänge von Urſache und 
Wirkung uns erweden, doch nit von einer uns begreifliden 
inneren Nothwendigfeit, fondern nur von der allgemeinen und 
überwältigenden Wirflichleit diefer Verknüpfungen herrührt, bie 
als überall wiederkehrende thatſächliche Welteinrichtungen uns 
mit dem Scheine täuſchen, nicht blos Thatſachen der Erfahrung, 
ſondern denknothwendige Verhältniſſe zu ſein. 

Nachdem wir durch Erfahrung belehrt find, daß die wäg- 
bare Menge des Stoffes in allen feinen Verwandlungen unver- 
ändert bleibt, wächft diefe iiberrafchende Beobachtung für uns bis 
zu dem erhabenen Eindruck einer unvordenfliden Nothwendigkeit 
an, und wir bilden uns num ein, daß ein nothwendiger Vernunft⸗ 
fag von der Beharrlichfeit der Subftanz uns dieſe Thatfache auch 
vor der Erfahrung hätte lehren lönnen. Nachdem wir beobachtet 
haben, daß die einmal angefangene Bewegung um fo länger fort- 
dauert, je gründlicher man ihre Hinderniſſe hinwegräumt: num 
plöglich überfommt uns die Ahnung, Daß ihre ewige Fortdauer, 
wo fie nicht gehemmt werde, das nothmwendige Verhalten fei, und 
doch fcheitern mir immer, wenn wir biefe vorgeblich denfnothwen- 
Dige Wahrheit aus Gründen des reinen Denkens bemeifen wollen. 
Nachdem wir endlich gefehen haben, daß der ftoßenbe Körper ben 
geftoßenen in Bewegung jet, ſcheint und wohl die Bertheilung 
ber Gefchwindigfeiten und die Mittbeilung der Bewegung über- 
haupt ein ganz natürlich zu erwartende Ereigniß, und erft bei 
dem Berfuche, den Grund diefer Erwartung beftimmt auszu- 
Iprechen, finden wir, daß wir feinen wiſſen. Daß jede phufiiche 
Kraft mit der wachſenden Entfernung der wirkenden Wefen von 
einander abnimmt: wir glauben gar nicht mehr, es anders 
denken zu Können, und doch wiffen wir, wenn wir aufrichtig fein 
wollen, feinen Grund, warum nicht im Öegentheil die Anziehung 
in größerer Nähe geringer fein follte, da fie ja leicht in dem— 
jelben Maße abnehmen fönnte, in welchem fie bereit8 befriebigt 
ift. Und zulegt, wie naiv legen wir doch den Körpern, wenn 





435 


ihre chemiſche Gegenwirkung zu erflären ift, eine Verwandtſchaft 
bei, nit al8 wenn wir fie aus der übrigen Natur der Körper 
ableiten könnten, fondern bier recht eigentlich al8 die Fähigfeit zu 
einer Leiftung, welche zu ihrer Natur nur binzulommt. Aller 
dings werben wir in dieſem alle die Unfertigfeit unferer Erfah- 
rungserfenntniß anflagen; nicht "völlig befannt fei und eben bie 
Natur der verichtedenen Elemente; wäre fie e8, jo wiirde man in 
ihr aud die Erflärung für ihre chemiſchen Verwandtſchaften fin- 
den. Dies mag vielleicht möglich fein, aber gewiß nur fo, daß 
die allgemeinen Regeln, nach denen wir aus der beffer bekannten 
Natur der Elemente auf ihren Chemismus Ichlöffen, ſelbſt ſchon 
eine Menge jener Cauſalzuſammenhänge vorausfegten, Die und 
nur al8 unmwiderrufene Thatiachen der wirflihen Welteinrihtung 
erweislich, aber nicht als Nothwendigkeiten begreiflich find. 

Aus folhen Urthatfachen, nachdem wir ihre Bedeutung und 
den Sinn, in weldem fie fi) entwideln wollen, fennen gelernt 
baben, vermögen wir dann allerdings die Mannigfaltigfeit ihrer 
einzelnen Folgen abzuleiten, aber fie ſelbſt jehen wir nicht aus 
der bloßen Betrachtung der gegebenen Dinge ein, fondern würden 
fie erft begreifen, wenn wir wüßten, was das Unendliche mit 
diefen Dingen im Sinne hatte, da es fie ſchuf. Wer fich ver- 
mißt, aus jener unvollftändigen Natur des Endlichen allein Die 
Gefeglichfeit der Ereigniffe aufzumweifen, unternimmt die hoffnungs- 
Iofe Arbeit, eine Theorie über Bewegungen von Schatten zu 
gründen ohne Rückſicht auf die Bewegung der Körper, bon denen 
diefe geworfen werden. Denn in der That, fo wie wir nicht aus 
der Geſchwindigkeit, mit der zwei Schatten aufeinander zuftreben, 
fondern nur aus der Elafticität der Körper, denen fie ent|prechen, 
die Schnelligfeit ermitteln Können, mit welder fie aus ihrer Be- 
rührung zurückzuprallen ſcheinen werden: jo hängt alles das, mas 
die Dinge leiften, nicht von ihren erkennbaren Eigenſchaften allein, 
fondern von der Elafticität und Lebendigkeit des Unbedingten ab, 
welches als einziges zufammenfafjendes und wirkungsfähiges We- 
jen dieſen Schein der Eigenihaften um fi wirft. Nur dann, 

28 * 


436 


wenn wir auch Diefe innere Natur der Dinge durchſchauen und 
fagen Einnten, was eigentlich das Unendliche mit diefer Mannig- 
faltigfeit der Erſcheinungen und ihrer unermeßlichen Verwicklung 
beabfichtigt, nur dann würden wir aus dieſem Zwecke heraus 
auch die allgemeinen Gefete des Wirkens verftehen, die es in 
diefem Ericheinen fich worgefchrieben bat, und wilrden im Stande 
fein, fie nicht blos als Thatfachen hinzunehmen, fondern als Die 
eigne Folgerichtigfeit des Unendlichen zu begreifen. 

Da dies nun nicht ift, mögen wir ben Sprachgebrauch der 
Naturwiſſenſchaft nicht tabeln, fo lange er nur Sprachgebrauch 
für die laufende Unterfuchung, nicht Ausbrud fir den Sinn der 
vollendeten fein fol. Denn verwertben Finnen wir allerdings Die 
Mitwirkung des Unendlihen für die Durchführung der Erflärun- 
gen im Einzelnen nit. Eben fo wie wir im Leben das ftille 
Bewußtſein ftetig fefthalten, daß jeder unferer Augenblide in der 
Hand Gottes fteht, ohne daß wir Doch feinen Namen in der Be— 
urtheilung jedes Fleinen Ereignifjes mißbrauchen möchten, deſſen 
beſondere Abhängigfeit von feinem Willen wir ja nicht verftehen : 
ebenfo werden wir einmal und bleibend die Ueberzeugung faffen, 
daß jeder Schritt des Naturlaufes nur gethan wird durch Die 
wirfende und geftaltende Kraft des Unendlichen; aber in der Er- 
Täuterung der einzelnen Erfcheinungen werben mir dieſe Ueber- 
zeugung nicht beftändig wiederholen. Denn eben in dieſem Ein- 
zelnen ift das Unendliche nur noch in Geftalt jener abgeleiteten 
Principien thätig, in die es fich felbft verwandelt hat, in Geftalt 
jener Stoffe Kräfte und Wirkungen, die e8 gejchaffen, denen es 
ihre Form und ihre Gefege vorgezeichnet, die es enblih zu dem 
zufammenhängenden Ganzen eines mechaniſchen Naturlaufes ver- 
flodten bat. Führen wir in diefem Sinne alles Gefchehen der 
Natur auf mechanifche Verkettung zuräd, jo handeln wir nun in 
dem eignen Sinne des Unendlichen und ehren fein Gebot; nicht 
ähm gegenüber ftellen wir als eine unabhängige, feindliche, von 
ihm zu überwindende Macht den Mechanismus, fondern wir fehen 
in diefem nur die eigne Wirkſamkeit des Unendlihen, Die, welche 








437 


es in der Welt der Erfcheinungen überall als die verwirklichende 
Hand zur Erfüllung feiner Zwecke anerkannt wiffen will. So 
kann die Naturwiſſenſchaft allerdings das Unendliche zu entbehren 
fheinen, weil fie nicht von ihm fpricht, und die Oberflächlichkeit 
unferer phyſikaliſchen Zeitbildung kann glauben e8 entbehren zu 
önnen, weil fie, befhäftigt mit den Kleinen Uebergängen von End- 
lichem zu Enblicdem, die Anfänge des Gewebes aus den Augen 
verliert, in deſſen Mafchen fie wohnt; in der That aber wird 
jede aufrichtige Meberlegung zu dem erniten Bemwußtfein der völli⸗ 
gen Unfelbftändigfeit alles Naturlaufes zurüdgeführt werben, und 
fie wird da, mo fie auf Fragen ftößt, wie die, melde und zu 
diefer Erläuterung veranlaßten, aud den offenen Ausdruck dieſer 
Meberzeugung nicht zurückhalten können. 


Wenden wir und nun zu diefen Fragen zurüd, um nicht zu 
lange in dem Gebiete allgemeiner Betrachtungen zu verweilen, fo 
geben ung zunächft die Zweifel über das endlihe Schickſal der 
Seele und die -Bemühungen, zu einer Entſcheidung derſelben zu 
gelangen, ein Beifpiel der fruchtlofen Beftrebungen, welde wir 
tabelten. Auf drei Wegen ſucht man das Biel, die Gewißheit 
der Unfterblichkeit, zu erreichen. Denn außer jenen zahlreichen 
Analogien Vergleichen und Bildern, mit denen fidy die zweifelnde 
Phantafie immer zunächſt zu behelfen pflegt, und welche wohl die 
Stimmung des Gemüthes für die Aufnahme einer Wahrheit 
günftig vorbereiten, aber nie diefe ſelbſt beweifen können, fucht 
man theils aus der eignen Natur ber Dinge die Unfterblichfeit 
als unvermeidlich, theil8 aus Gründen der Gerechtigkeit fie als 
nothwendige® Zugeſtändniß der Weltregierung darzuftellen. Es 
ift nicht unfere Abficht, die zahlreichen Neflerionen der legten Art 
bier zu wiederholen; nur die Behauptung möchten wir hinzufü— 
gen, daß nur aus ihrem Kreife, niemals dagegen aus jenen ſchein⸗ 
bar ftrengeren Unterſuchungen, welche die Natur der Dinge zum 


438 


Ausgang nehmen, das Gemüth Die Gründe entlehnen wird, auf 
welche e8 mit einigem Vertrauen zu ihrer Haltbarkeit feinen Glau- 
ben an ewige Fortdauer ftüßen möchte. Es gibt nicht eine folche 
Natur der Dinge, die wie ein unvordenkliches Schidfal aller 
Wirklichkeit als eine unvermeidlich zu befolgende Reihe von Ge- 
feßen voranginge; es gibt nicht einen ſolchen Inbegriff des an 
fi Möglihen und Nothmwendigen, auf welden die melterichaffende 
Kraft Hinbliden müßte, um zu erfahren, innerhalb welder Gren- 
zen ihr die Verwirklichung ihrer Abfichten erlaubt fei, und melde 
Berpflichtungen folgerichtiger Entwidlung fie mit jeder Stiftung 
irgend eines Keime übernehmen müſſe; e8 gibt endlich nicht ein 
ſolches ewiges und vorweltliches Geburtsredht der Dinge oder Sub- 
ftanzen, auf das fie ſich ftüßen könnten, um zu verlangen, daß 
jede Macht, von welder fie zum Dienfte einer Weltbildung be- 
rufen wirden, ihre Privilegien achte und fie nur fo verwende, 
wie e8 ihrer angeſtammten Würde angemefjen ſei. Alles, das 
Dafein jener Dinge, die Eigentbümlichleiten ihrer Natur und Die 
Rechte, die dieſer zuzukommen fcheinen, Alles ift auf einmal und 
gleich unbefchränft nur Geſchöpf jener ſchaffenden Kraft felbft; nur 
fo viel und ſolches ift überhaupt in der Welt, als das Unendliche 
zur Bermirflihung feines Willens nicht ſowohl bedarf als viel- 
mehr zuläßt; nur die Rechte befitt jedes, die dieſer ſchöpferiſche 
Wille ihm gab, nur innerhalb derjenigen Geſetze fcheinen alle 
feine Wirfungen und alle feine Schidfale ſich mit felbftändiger 
Nothwendigkeit zu bewegen, innerhalb deren die eigne Yolgerich- 
tigleit des ewig Einen jedem einzelnen feiner Erzeugniffe zu blei- 
ben gebot. Nur wenn wir in dem fchöpferiichen Mittelpunfte 
der Welt ftehend, den Gedanken völlig durchſchauten, aus dem fie 
entiprungen ift, Könnten wir rückwärts aus ihm die Schidfale des 
Einzelnen vorausfagen, das zu feiner Verwirklichung berufen ift; 
wir können es nicht von unſerem menſchlichen Standpunfte, der 
uns nur dem Gefchaffenen unmittelbar, aber nicht dem Schöpfer 
und feinen Abſichten gegenüberftellt. Beſitzt unfer Geift, wie wir 
mit Recht glauben, einen Schag ihm angeborner denknothwendi⸗ 


439 


ger Wahrheit, jo fündigen wir gewiß gegen den Sinn diefer 
Wahrheit zuerft und am meiften, wenn wir ihr einen andern 
Urſprung zufchreiben, als den, auch ihren Inhalt nur jener ſchöpfe— 
rifhen Macht zu verbanten; fie wird uns leiten, das Endliche in 
dem Sinne des Ganzen zu verknüpfen, dem es dient, aber fie 
Tann die legte Beſtimmung aller Dinge nicht unabhängig von ber 
Kenntniß des höchſten Zweckes begreifen wollen, von welchem 
allein doch diefe Beſtimmung abhängt. 

Daß wir Die Seele als den fubftantiellen und dauernden 
Träger der Erſcheinungen unferes inneren Lebens anſehen müfjen, 
davon allein haben unfere Betrachtungen uns überzeugen können. 
Aber daß die Seele darum, weil fie für diefe Erſcheinungen die 
bleibende Subftanz fei, auch eine ewige und unvertilgbare Dauer 
als das Vorrecht ihrer Natur befigen müſſe: von der Sicherheit 
dieſes Schlufje8 wird das unbefangene Gemüth ſich nie überzeugt 
fühlen. Berlangt man das Zugeftändniß von uns, daß jede 
Subſtanz ihrem Begriffe nach notbwendig unzerftörbar fei, fo 
mögen wir die Richtigleit dieſes Begriffes zugeben, aber wir mer: 
den Dann die Seele nicht mehr zu dem rechnen, was in feinen Um⸗ 
fang fällt. Nichts berechtigt ung zu der Annahme, was einmal 
jet, müffe nothwendig immer fein, und Entftehen und Vergehen 
bezweifeln wir nur deshalb zuweilen in feiner Möglichfeit, weil 
wir mit der gewohnten Neugierde unſeres Denkens eine Anſchau⸗ 
ung ſeines Herganges haben möchten. Sind wir endlich durch 
den Zufammenhang unferer übrigen Anfichten jo jehr darauf hin⸗ 
gewiejen, in allem Endlichen nur Gejchöpfe des Emwigen zu fehen, 
jo können noch weniger die Schidjale dieſes Einzelnen andere fein, 
als das Ganze fie ihnen gebietet. Das wird ewig dauern, was 
um feines Werthes und feines Sinnes willen ein beſtändiges 
Glied der Weltordnung fein muß; das Alles wird zu Grunde 
gehen, dem dieſer erhaltende Werth gebricht. Kein anderes höch— 
fte8 Geſetz unferer Schieffale können wir auffinden als dieſes, aber 
eben biefes iſt unanwendbar in unfern menfchlichen Händen. Wir 
fönnen uns nicht vermeſſen wollen, zu beftimmen und zu richten, 


440 


welche geiftige Entwidlung durch die ewige Bedeutung, zu welcher 
fte fi erhoben hat, die Unfterblichkeit fich erwerbe, welcher an⸗ 
dern fie verfagt bleibe. Weder ob alle Thierfeelen vergänglid, 
noch ob alle Seelen der Menfchen unvergänglidh find, dürfen wir 
enticheiden wollen, fondern müſſen uns auf den Glauben zurüd- 
ziehen, daß jedem Wefen geichehen werde nad, feinen Recht. 
Und eben fo wie die Fortdauer nach dem Tode, ift das Da- 
fein der Eeele vor der Geburt diefes irdiſchen Lebens fein Gegen- 
ftand unſerer menſchlichen Kenntniß. Wer der Unfterblichleit der 
Zukunft gegenüber eine unendliche Borgefchichte unferer Seele zu 
bedürfen meint, wird in feinem Glauben und in der Phantafie, 
mit welder er dieſen in unferer Erinnerung leeren Zeitraum 
ausfült, kaum von der Wiffenfchaft beläftigt werden Tünnen. 
Aber die Erfahruug unfere® gegenwärtigen Lebens enthält nur 
wenige Spuren, welde ein dazu geneigte8 Gemüth auf dieſes 
Bordafein unſeres Weſens zurüddenten möchte; die Träume der 
Geelenwanderung, zu denen fait unvermeidlich unfere Borftellung 
genöthigt fein würde, find bisher Träume der Einbildungstraft 
geblieben und noch nie hat man erfolgreih ihnen eine höhere 
fittliche Bedeutung für die Ordnung der Welt zu geben vermocht; 
endlich zwingt Teine Nothwendigkeit unferer Vernunft, den Ge- 
danken einer Entftehung der Seele zu fliehen. Der organifche 
Leib, in jeiner Bildung begriffen, erzeugt fie freilich nicht aus 
füch ſelbſt; aber diefer Lebendige Leib ift jelbft nicht ein innerlich 
zufammenbanglojes Gewirr von Atomen, das nur ein allgemeines 
Geſetz in einer übrigens leeren Welt zu beſtimmter Entwidlung 
triebe. Wie vielmehr jeder Hleinfte phyſiſche Vorgang, welcher 
zwifchen zwei Elementen ſich zu ereignen fcheint, zugleich ein 
Geſchehen in dem Innern des Ewigen ift, auf deſſen beftändiger 
Gegenwart alle Möglichkeit des Wirkens beruht: ebenſo ift auch 
diefe ftillfortichreitende Bildung des organifchen Keimes Tein 
vereinjamtes in ſich felbft abgeichlofienes Ereigniß, fondern eine 
Entwidlung des Unenblichen jelbfl. Bon ihm gehegt, von ihm in 
fein eigne8 inneres Weſen aufgenommen, erregt dieſes Ereigniß 


441 


des Naturlaufes dort die ſchöpferiſche Kraft zu neuer Entfaltung, 
und fo, wie unjere menſchliche Seele die äußeren Reize in fich 
aufnimmt und durch die Erzeugung einer Empfindung beant- 
wortet, fo läßt die folgerichtige Einheit des unendlichen Weſens 
durch dies eine innerlihe Creigniß der phyſiſchen Entwidlung 
Dazu ſich erregen, aus ſich jelbft auch die Seele hinzu zu er- 
zeugen, Die dem werdenden Organismus gebührt. 

Es iſt mehr Einheit und Einfachheit in diefem Vorgange, 
als in der Vorftellung, die wir von ihm zu geben vermögen. 
Nicht wie in dem Beifpiel des Verhältniffes zwiſchen unferer end⸗ 
lichen Seele und den Keizen, die uns fremd find, ift auch für 
das Unendliche jenes Ereigniß des Naturlaufes ein von außen 
fommender Reiz, der einen Weg zurüdzulegen hätte, um den 
Mittelpunkt zu finden, aus welchem er die neue Entwidlung her⸗ 
vorloden fol; jeder einzelne Vorgang der Natur gefhieht in dem 
Unenblichen, jeder ift diefem Mittelpunkt gleih nahe und nahe 
zu aller Zeit. Und nicht aus diefem Mittelpunkt der ſchaffenden 
Kraft entfteht wieder die Seele als ein neues, zweites Element, 
das einen Weg zurüdzulegen hätte, um äußerlich dem Körper fich 
zu verbinden, ben es auffuchte; ungefchieden der Zeit und dem 
Raume nach entfalten fich dieſe beiden Schöpfungen, in deren 
gleichzeitiger Entwidlung das Unendliche nur die innere Wahrheit 
feines eignen Weſens ausdrüdt. Weder aus dem Körper entiteht 
die Seele, noch aus Nichts; aus der Subftanz des Unendlichen 
geht fie mit gleicher Wefenhaftigkeit hervor, wie aus demfelben 
Duell alle Wirflichfeit der Natur entfprang. Und weder zufällig 
fommt zu diefem Körper diefe Seele, noch ift e8 das Verdienſt 
des Peibes, durch feine Organifation die Eeele ſich zu fchaffen, 
die der möglichen Form feiner Tebendigen Thätigfeit entſpricht; 
auch nicht willfürlih wird das Unendliche vorher fertige Geifter 
an die beginnenden Keime vertheilen; fondern wie es mit felbit- 
gewählter Confequenz jede körperliche Organifation die noth- 
wendige Folge ihrer Erzeuger fein läßt, fo wird es auch in ber 
Schöpfung der Seelen einem felbftgegebenen Gefege folgen, durch 





442 


welches auch ihre aufeinanderfolgenden Geſchlechter in die Abftu- 
fungen einer innerlichen Verwandtſchaft verflochten werben. Nicht 
durch Theilung wird die Seele der Eltern fich zerfplittern in die 
Seelen der Kinder, aber die Ahnung bleibt uns, daß die fchaf- 
fende Hand des Unendlichen das geijtige Bild der Erzeuger in 
biefen wiebererzeuge und auch innerlich die Wefen fi nabe ftehen 
laſſe, welche fie am nächſten für das äußerliche Leben mit ein- 
ander verkettet bat. 

Nur die Ahnung davon bleibt uns; mit taufend Beilpielen 
belehrt uns auch hier die Erfahrung von der Unerforfchlickeit die⸗ 
jer Wege Gottes. Mit treuer und befcheidener Beobachtung ge- 
winnen wir vielleicht einen hie und da erweiterten Ausblid auf 
die Richtung, welche fie nehmen, aber nie werden wir im Stande 
fein, den Lauf diefer geiftigen Weltordnung mit derjelben An- 
näberung an die Wahrheit zu überfehen, die unferer Auffaffung 
der natürlichen Erfheinungen gewährt ift. Und Alles, was wir 
noch hoffen dürfen an Zuwachs ber Erfenntniß zu erreichen, das 
werden wir nur von einem gefammelten Bemwußtfein über unfere 
Beitimmung, nicht von der Betrachtung unferer allgemeinen gei- 
figen Natur erwarten müflen. Nur die Einfiht in das, was 
fein ſoll, wird und auch die eröffnen in das, was ift; denn feinen 
Thatbeftand, feine Einrichtung der Dinge, Teinen Lauf des Schick⸗ 
ſals wird es in der Welt geben fünnen, unabhängig von dem 
Ziele und dem Sinne des Ganzen, aus welchem jeder Theil nicht 
allein fein Dafein, ſondern aud die wirkungsfähige Natur em⸗ 
pfangen hat, auf welde er ftolz ift. 


Schluß. 


Ih möchte nicht ſagen, daß es ein Gipfel von hoher Aus- 
fit jet, auf welchen unfere Betrachtung durch einen langen und 
doch für die Mannigfaltigfeit der Umgebung vielleicht zu kurzen 
Weg geführt hat; aber die Höhe haben wir jevenfall$ erreicht, 
die unjern Kräften verftattet ift, und zurlidblidenb mögen wir 
jegt wohl der Zweifel gedenken, aus deren Mitte wir ausgingen, 
und des veränderten Bildes, welches uns jett die durchwandelte 
Gegend gewährt. ALS wir den Streit der verjchievenen Natur- 
anfichten überdachten, war es bejonders jenes Element einer dunk⸗ 
len und flarren Naturnothwendigleit, gegen welches der unab- 
läffige Kampf des menfchlihen Gemüthes gerichtet war, um end- 
lich in einer blinden Hingabe an die Verehrung dieſes blinden 
Waltens zu endigen, die mehr aus Entjagung als aus Weber- 
zeugung herborzugehen ſchien. Haben wir nun einen Weg ge= 
funden, die zwiefpältigen Gedanken, die dort ſich ftritten, zur Ver: 
ſöhnung zu bringen, und melden Werth müfjen wir auf die 
einzelnen Punkte der Anficht legen, die ſich und allmähli in der 
Hinwegräumung jener drängenden Schwierigkeiten gebildet bat? 
Dieje Fragen mit aufrichtiger Selbftprüfung noch einmal zufam- 
menfafjend zu beantworten, wird Niemand fich erlaffen, den die 
Gewohnheit wiffenfchaftlicher Unterfuhung gelehrt hat, wie bleich 


444 


nah dem Abfchluß derſelben jo häufig der Glanz der rettenden 
Gedanken fi ausnimmt, die jo blendend waren in dem Augen- 
blick, als fie neu entftanden den Schwierigfeiten entgegeniprangen. 
Sie waren angeftrahlt damals von dem hoffnungsvollen Feuer 
ber Arbeit und glänzten in ihm weit mehr al8 von dem eignen 
Fichte. Vielleicht entgehen wir aud bier dieſem Geſchicke nicht; 
vielleicht aber bleibt und auch etwas zurlid als ein feftzubaltender 
Gewinn, den wir aus diefer allgemeinen Weberfiht der Bebing- 
ungen alle8 Lebens zu der befonderen Betrachtung der menſchlichen 
Dinge mit hinübernehmen. 

Den Glauben an perjönliche Naturgeifter, in denen die my— 
thifche Weltauffafjung die Schönheit und Bedeutung einzelner Er- 
ſcheinungen zu lebendigem Genuß verdichtete, haben wir ſtillſchwei⸗ 
gend aufgegeben. Seine Erfahrung beftätigte diefen Traum; aber 
ale Erfahrung war zugleih unfähig, einen anderen Traum zu 
widerlegen, in welchem das Gemüth, nach innerlicher Lebendigkeit 
der Natur begierig, die verlorene Befriedigung in anderer Weife 
wieder gewinnen konnte, Denn Nichts hielt und ab und Bieles 
ermahnte ung, in jenen einfachen Wefen, aus deren Zufammen- 
ſetzung für uns felbft der Schein der Teblofen Materie hervorgeht, 
ein innere8 Leben zu vermuthen, fähig, in den mannigfachften 
Formen des Gefühles die Eigenthümlichkeit jeder Lage zu genießen, 
in welche der wechielnde Naturlauf fle warf, oder eine beftändigere 
Bildung fie fefthielt. Nur verallgemeinert wurde durch dieſe Auf- 
faffung der Selbfigenuß der Natur; nicht ein bevorzugter Theil 
der Wirflichleit hat feine Genien, während blind und leblos der 
andere Tiegt, fondern Alles Tonnte diefe Wärme der Empfindung 
durchdringen. Und nicht beichränft mehr auf die Formen des 
menſchlichen Seelenlebens wiederholt überall diefe innere Regſam⸗ 
feit uns das Belannte; völlig andere, uns unfagbare, nur in 
träumerifcher Ahnung uns von fern vorjhmebende Arten des Ge- 
nufje8 und der Empfindung können wir in dieſe Natur verfireut 
denfen, ben befonderen Lagen der einfachen Wefen fo entfprechend, 
daß kein Ereigniß des mannigfachen Naturlaufes von diefer Ver⸗ 


445 


. 


klärung in Bewußtjein und Selbfigenuß mehr ausgeſchloſſen ift. 
Aber wir mögen weit weniger die Vortheile dieſer Auffafjung 
ſchildern, die bei der geringeren plaftifhen Anſchaulichkeit der gei- 
ftigen Wefen, von denen fie ſpricht, um fo mehr fi dem mufi- 
kaliſchen Hange unferer Bildung empfehlen würde: dies wollen wir 
vielmehr hervorheben, daß fie zwar vielleicht nicht ein Teerer Traum 
ift, aber weitab Tiegt von ben ernften und wichtigen Veberzeu- 
gungen, auf welche wir unfere Betrachtung der menſchlichen Bil- 
dung gründen möchten. Welche Anficht über das innere Leben 
der Natur jedem Zeitalter die herrichende war, davon bat der 
Fortſchritt der menſchlichen Entwidlung nur fo lange abgehangen, 
als es noch fraglich fein Konnte, ob regelloje Freiheit und Will- 
für von Genien und Dämonen oder die unbedingte Folgerichtig- 
feit allgemeiner Gefeße die äußere Welt, den Schauplak und den 
Gegenftand unfere8 Handelns, beherrſche. Nachdem diefer Streit 
entſchieden ift, wird die zartfühlende Phantafie, mit welcher wir 
bie Seele der Natur zu belaufchen juchen, den Fortſchritt unferer 
Eultur weniger begünftigen, als die Härte des Gemüthes, welche 
die Dinge der Natur zunächſt für das nimmt, wofür fie ſich geben: 
für blinde, finmme, einer nothmendigen Ordnung untermworfene 
Erzeugniffe, die ihr inneres Leben für fi haben mögen, für uns 
aber ein Reich benußbarer Sachen bilden. Ohne deshalb der 
Einbildungskraft die Verfolgung jener Gedanken zu verargen, 
müfjen wir doch behaupten, daß nicht in ihnen, fondern in ber 
Profa des alltäglichen Scheines die wichtigere Grundlage unferer 
geiftigen Entwidlung liegt. 

Jenen perfönlichen Naturgeiftern gegenüber konnte Die My- 
tbologie niemald den Gedanken einer unvorbenflihen Nothwen⸗ 
digkeit unterdrüden, in deren zielfegenden Schranken fi alle 
Lebendigfeit ber Göttermelt bewegt. Aber je bereiter wir die Al- 
gegenmwärtigfeit diefer notwendigen Ordnung überall zugaben, um 
fo entfchiedener haben wir uns der Auffaflung widerſetzt, welche 
in ihr ein vorweltliches Schickſal ſah, im Gegenſatz zu ber ſchöpfe— 
riſchen Kraft, der dieſe beitimmte Wirflichleit ihre Formen ver- 


446 


dankt. Es ift nicht fo, wie die Mythologie in dunklen Bilbern 
lehrte, daß Dieje Lichte Götterwelt, welche die Orbnung ber vor- 
handenen Welt beberrfcht, nur die Nachfolgerin einer früheren, 
finfteren und büfteren Gottheit fei, deren unbegreiflihes Walten 
die Grundzüge der Wirklichkeit beftimmt babe, in deren Genuß 
und Berfchönerung jene thätig fei. Dies war vielmehr der feftefte 
Theil unferer Weberzeugung, daß jedes höchſte, ftarrfte, allgemeinfte 
und notbwendigfte Gefeß, welches die Welt und irgendwo auf: 
zeigte, nur die felbftgemählte Bedingung fei, die das eine jchöpfe- 
riſche Unendliche feiner ewigen Entfaltung zu Grunde gelegt habe. 
So führte uns unfere Betrachtung von felbft in das Gebiet jener 
andern Anfichten iiber, welche die belebenden und befeelenden Triebe 
der Erjcheinungen nur als unzählig verſchiedene Ausdrücke jenes 
einen Gedankens verehren, der, unausfprehbar an fi, die Fülle 
der Weltfeele bilbet. 

Indem wir anerlannten, daß nur das tft, was in dem ber- 
nünftigen Zuſammenhange der ewigen Idee feine Stelle hat, 
nur das fidh ereignet, was in dem Sinne ihrer Entwidlung Liegt, 
daß alles Enbliche überhaupt den erflärenden Grund des Triebes, 
bon dem e8 bewegt wird, nur in dem Gedanken ber Weltfeele 
befige, den e8 verkörpert: fo haben wir in diefen Behauptungen 
die wefentlichen Lehren jener Weltanficht ung bewahrt. Und wenn 
wir den Begriff der Triebe unzulänglid für die einzelnen Unter- 
fuhungen fanden und für ihn den ununterbrochenen Caufalzufam- 
menbang einer mechaniſchen Berwirflihung einfegten, fo wiber- 
Iprechen mir damit dem Geifte jener Anficht nicht mehr, feitvem 
wir alle Gefete dieſes Mechanismus nur als den eignen Willen 
der MWeltfeele, alle Verbindungen und Trennungen der wirffamen 
Mittel nur als ihre eignen Handlungen, ihre innerlihen Wir- 
fungen in ſich felbft, erfannt haben. Aber dennoch, welche Be- 
friedigung könnte diefe Anficht gewähren, wenn fie nicht vermöchte, 
die beiden großen Gegenfäße, die zuſammen erft die Welt voll- 
enden, die Natur und das Reich des Sittlichen, zu vereinigen ? 
Und Können wir leugnen, daß alle jene Lehren und an bie Stelle 


447 


der Weltjeele doch nur eine Naturfeele jegen? Ein Wefen, in 
deſſen Einem unendlichen Geftaltungstriebe ſich die unzähligen 
einzelnen Triebe ber endlichen Erfcheinungen wie farbige Strahlen 
zur Einheit des weißen Lichtes vereinigen? Wo aber Tiegt in 
dieſem Wefen der Grund zur Entwidlung ber fittlichen Welt, wo 
das, woraus der Unterſchied von Gut und Böſe hervorginge? 
Wollen wir nicht, in den alten Gegenfag zurüdfallend, entweber 
auf eine unvordenklich gegebene Natur die fittliche Welt äußerlich 
gründen, ober in einem höchſten Wefen, da8 wir Eines nennen, 
doch unvermittelt neben einander die zwei gefchievenen Wurzeln 
beider vorausſetzen, jo bleibt feine andere Wahl, als entweder 
das Gute mit in den Kreis der Naturerfcheinungen, oder die 
Natur in die Berwirflihung des Guten einzufchließen. Keinen 
Augenblid kann e8 mix zweifelhaft ſcheinen, daß nur bie letztere 
Wahl uns erlaubt ift: alles Sein, alles, was Form und Geftalt, 
Ding und Ereigniß beißt, diefer ganze Inbegriff der Natur Tann 
nur als die VBorbedingung für die Wirklichkeit des Guten gelten, 
Tann, fo wie er ift, nur deshalb fein, weil nur fo fi in ihm 
der unendliche Werth des Guten feine Ericheinung gab. Aber 
diefe entichievene Weberzeugung bezeichnet nur ein letztes und 
äußerftes Biel, welches unferen Gedanken ihre Richtung geben 
mag; fie bezeichnet nicht eine Erkenntniß, die deswegen, weil fie 
in eine beweisbare Lehre ſich ausführen ließe, den Namen einer 
Wiffenihaft verdiente. Eine unausfüllbare oder bisher wenig- 
ſtens niemals ausgefüllte Kluft ſcheidet für unfere menjchliche 
Bernunft die Welt der Werthe von der Welt der Geital- 
ten, und wie lebhaft unfer empfängliches Gemüth mit zurüd- 
gehender Bewegung des Denkens aus den vorhandenen Yormen 
ber Natur den Werth ihrer fittlichen Bedeutung herausfühlen mag: 
eben jo wenig vermögen wir vorwärts fchreitend aus dem Be⸗ 
wußtfein der höchften Werthe die Nothmendigfeit zu erweifen, mit 
welcher fie in diefe und in feine anderen Yormen der Natur 
ſich geftalten mußten. Mit ver fefteften Ueberzeugung von dem 
Borhandenfein diefer ungefchiedenen Einheit zwifchen beiden ver- 


448 


einigen wir den bewußteften Glauben an die Unmöglichkeit ihrer 
Erfenntnif. 

Wie leicht Fönnten wir dieſes Zugeſtändniß durch Verhüllung 
des Thatbeftandes umgehen! Denn wie frudtbar ift doch darin 
unfere fpeculative Wiſſenſchaft gewejen, durch immer neue Namen 
und Bilder fi die Bitterfeit des Belenntniffes zu erfparen, daß 
auch fie doch hier nur die Aufgabe kennt, die dem unbefangenen 
menfhlihen Gemüth nie unbefannt war, daß «aber die Löſung 
ihr jo unmöglich ift, wie jenem. Wenn es fi fragt, wie aus 
der Hand deſſelben Gottes, der die innerliche Heiligfeit der fitt- 
lichen Welt gründete, dieſes Spiel der Planeten, diefe Schönheit 
der Erbe mit der fröhlichen Formenfülle ihrer Pflanzen und Thiere 
und mit der flarren Nothwendigkeit des Darunter verhüllten Me- 
hanismus hervorgehen konnte: wie leicht ift e8 do dann und 
zugleih wie ärmlid, von einem realen und idealen Factor in 
Gott, von einem Weberwiegen des blinden oder des bemußten 
Wirkens in feiner Thätigfeit zu ſprechen und jenem die noch immer 
in ihren Formen unerflärte Natur, diefem die gleich flüchtig ge= 
zeichneten Umrifje des geiftigen Dafeins zuzurechnen. Wie leicht, 
in Gott etwa® zu fehen, was noch nicht Gott jelbft ift, einen 
dunflen Grund in ihm, ber zu dem ftoffartigen Stamme ber 
Natur auswachſe, überwölbt von der Tichteren Entwidlung des 
Anderen, was in Gott mehr Ex felbit wäre. Mit fo Fümmer- 
lihen Behelfen täufht man den Ernft der Frage hinweg und 
jagt weniger, als ber beſcheidene Ausdruck des natürlichen Ge- 
müthes, welches einfach in einer unerforichlichen Weisheit Gottes 
den Grund aller envlichen Geftaltungen fieht. 

Dafjelbe Belenntniß der wiſſenſchaftlichen Undurchführbarkeit 
eined darum nicht minder fiheren Glaubens haben wir in un— 
jerer Beziehung zu der letzten großen Naturanfiht, der mecha⸗ 
nifchen, abzulegen. Wir haben fie rückhaltlos zugegeben, fo weit 
irgend es ſich um die Unterfuchung der Berhältnifie von Endlichem 
zu Endlidem, um die Entftehung und Benwirflihung irgend 
welcher Wechſelwirkungen handelte; wir haben ebenfo entichieden 


449 


ihre Berechtigung geleugnet, wo fie nicht als formelles Mittel 
der Unterfjuhung, ſondern al8 abſchließende Weltanficht ſich gel⸗ 
ten zu machen verjuchte. Aber indem wir die felbftändige Wirf- 
lichfeit eines mechaniſchen Naturlaufes Yeugneten, Finnen wir doch 
die Ableitung feiner einzelnen Geſetze aus dem höchſten Zwecke 
der Welt nicht vollzichen, fondern müfjen e8 dem langſamen Fort- 
jhritte der Wiſſenſchaft überlaffen zu zeigen, was in Diefem Ver— 
ſuche ausfithrbar fein mag, und was der menjhlihen Erfenntnif 
ſtets verjagt bleiben wird. Nur Dies war und möglich anzuden- 
ten, wie wenig jener Charakter der Aeußerlichkeit, den man fo 
oft der mechanischen Auffaffung zum Vorwurfe macht, mit dem 
Geiſte dieſer Anficht nothmendig zufammenhängt. E8 ift ihr nicht 
verjagt, in ben wirffamen Elementen, aus deren veränverlicher 
Zufammenfegung fie den Wechfel der Naturerfheinungen begrün- 
det, innere Zuftände und eine verborgene Regſamkeit ihres Lebens 
anzunehmen, die fie fteigern mag bis zu dem Glauben an ein 
dem unferigen verwandtes Spiel geiftiger Erregungen. Nicht 
nothwendig muß für fie die bunte Fülle der Erfheinungen zu 
dem geiftlofen Spiel eined Austaufhes von Bewegungen, einer 
immer neuen und immer gleich beveutungslofen Bertheilung von 
Geſchwindigkeiten, einer raftlofen Veränderung der Lage und Ber: 
bindung ber Theilden verarmen: alle dieſe Wechfelfälle Des äuße- 
ren Naturlaufes kann auch fie nur für die Summe der Veran— 
Yafjungen anfeben, durch welche nad unwandelbaren Gefegen cin 
innerer Naturlauf, die unermeßlihe Mannigfaltigkeit der Gefühle 
in dem Innern der Wefen ermedt wird. Nur dieſe äußere Ge— 
Ihichte freilich zieht Die mechanische Naturwiſſenſchaft in Betracht 
und überläßt die innere, welche fie erfahrungsmäßig nicht ver- 
folgen kann, der Geſchäftigkeit unferer Phantaſie. Aber fie glaubt 
dafür auch in jener Welt der Bewegungen nicht die wahrhafte 
Wirklichkeit, nicht jenes Letzte zu befigen, worauf e8 in allem Da⸗ 
fein anfam, in aller Schöpfung e8 abgefehen war, ſondern aller 
Mehanismus gilt au ihr für nichts weiter als für die Samm- 


Yung aller Bermittlungsformen, in denen Gottes . beſchloſſen 
Lohze I. 4. Aufl. 


450 


hat, das unbefannte Innere der gefchaffenen Weſen auf einander 
wirken zu laffen und alle ihre Zuftände zu dem unüberfehbaren 
Aufommenhange einer Weltgefchichte zu verbinden. Es ift das 
Reich der Mittel, defjen Organifation diefe Anfiht zu verftehen 
glaubt, nicht das Reich der Zwecke, denen fie dienen. Wie wir 
in unferem eignen Leben bie phyſiſchen Bewegungen der äußeren 
Natur dazu verwendet jehen, als anregende Reize das viel Höhere 
in uns felbft, die bewußte Empfindung, zu erregen, fo, meinen 
wir, fei in aller Welt all jenes mechaniſche Geſchehen nur das 
äußerlihe Gewebe gejeglih einanderburchkreuzender Reize, bes 
ftimmt, in unzähligen Punkten, in dem Inneren zahllofer Wefen, 


das wahre Geſchehen eines geiftigeren Lebens zu entzünden. 


Legen wir aber Gewicht auf dieſe Unfelbftändigfeit des Na- 
turlaufes, fo daß die Bergötterung des Mechanismus, die man 
dennod vieleiht und vorwirft, nur darin befteht, daß wir ihn 
nicht als ein auf fich "beruhendes Schidfal, fondern nur als Er- 
zeugniß der göttlihen Weisheit begreifen: fo müſſen wir ander— 
ſeits für ihn auch die Anerkennung feiner ſchrankenloſen Gültigkeit 
verlangen. Wir glauben gezeigt zu haben, wie in den meiften 
der Fälle, in welchen cine mehr gefühloolle al8 klare Naturan- 
fiht, von feiner Starrheit bebrüdt, zu anderen höheren Kräften 
und Potenzen flüchtet, uns theils die Erfahrung die Fortdauer 
der mechanischen Bedingtheit oft auf das Bitterfte eindringlich 
macht, theils unfer Gefühl ſelbſt feinen wahren BVortheil von den 
Annahmen haben würde, die e8 mit dem heimlichen Bewußtfein 
ihrer Nichtübereinftimmung mit dem ©egebenen magen Tönnte. 
Wir haben mit der Stetigfeit und dem feften Zufammenhange 
des mechaniſchen Weltbaues felbft die Freiheit formell nicht un- 
vereinbar gefunden, welche wir ung zu erhalten füglih wünſchen 
können; nur die Unentſchiedenheit dariiber, ob auch nur in diefem 
Valle das, was wir annähmen, dem richtig verftandenen Zwecke 
feiner Annahme entſprechen möge, Bat uns zögern laſſen, neben 
der Möglichkeit der Freiheit von ihrer Wirklichkeit zu fprechen und 
auch ihrem Begriffe feine beftimmte Stelle in dem Ganzen des 





.. = mn 0 2 


451 


mechaniſchen Univerfum zu geben. Ye weiter wir jedoch auf Die 
fen Wege und von ber fümmerlichen Engberzigfeit jener Anfichten 
früherer Zeiten entfernen, denen Mechanismus nichts war, als 
eine endlofe Mittheilung gegenfeitiger Stöße, um fo mehr müffen 
wir jeden Verſuch zurüdweifen, nun dennoch diefem allgemeinen 
Geſetze aller Vermittlung des endlichen Geſchehens einzelne Theile 
der endlichen Wirklichkeit entzichen zu wollen. Nirgends ift der 
Mehanismus das Weſen der Sache; aber nirgends gibt fih das 
Weſen eine andere Form des endlichen Dafeins, al8 durch ihn; 
fo mie wir nicht andere Götter haben neben Gott, fo bedürfen wir 
außer diefer allgemeinen Wirfungsform der Natur nicht anderer. 

Wir verfiehen wohl den Grund jener geringihägigen Ab- 
neigung, mit welcher fo viele Gemüther ſich gegen dieſe Aner- 
fennung fträuben. Uns allen fcheint zuweilen die Welt der Ge— 
ftalten zu fchr die Welt der Werthe, das Reich der Mittel zu 
ſehr das Reich der Zwecke zu verhüllen; wir fehnen uns nad) 
jener Einheit des wahrbafteften Scins, in welcher Ideen Wirk- 
lichkeit haben, ohne an die Vermittlung der Werkzeuge, das höchfte 
Glück Beſtand hat, ohne an die taufend Bedingungen beftimmter 
Lagen gebunden zu fein, in welcher ein unmittelbares Verftänd- 
niß der Geifter alle äufßerlihen Wege der Wechſelwirkung über: 
flüffig macht, in welcher endlich Schöpfer und Gefchaffenes in eine 
Gemeinfamfeit de8 Lebens verfhmelzen, für deren ahnungsvolle 
Tiefe kaum die edelfte Myſtik genügende Ausdrüde darböte. Im 
Aufblid zu ſolchem Legten und Höchſten peinigt uns dieſe Welt 
des Widerftandes, der Mittelbarkeit, der bedingenden Umftände, 
der Verzögerung; e8 beunruhigt und, die Schönheit der natür- 
lihen Geftalten nicht ans Einem Hauche ſchöpferiſcher Lebenskraft 
begreifen zu follen, fondern fie auf dem Ummege zahlloſer Wechiel- 
wirkungen des Vielen berubend zu denken; es quält uns endlich, 
jelbft in unferer geiftigen Entwidlung uns gebunden zu wiffen 
an das Imeinandergreifen von Kräften, deren allgemeine Gefeß- 
mäßigkeit frembdartig ber Wärme unferer Beftrebungen gegenüber 
ſteht. Aber fo wenig wir die Wahrbeit der Einheit leugnen 

29* 


452 


wollen, welche jene muftifche Entzüdung des Gemüthes zu ſchauen 
glaubt, eben fo gewiß Liegt dies unſer irdiſches Leben nicht in 
ihrem Gebiete, jondern in dem Bereiche ber Zweiheit und des 
Gegenfages. Weder mit unferem Erkennen noch mit unferem 
Handeln ftehen wir in jenem ftillen Mittelpunkte der Welt, jon- 
dern in den äuferften Verzweigungen ihres Baues, die laut find 
von dem Getriebe der Bermittlungen; und die ungeduldige Sehn- 
ſucht, die in jenen zurüdftrebt, möge ſich hüten, daß fie nicht den 
Ernft und die Schwere der Bedingungen geringihäge, unter deren 
Gebot ein unmwiderrufliher Rathſchluß unfer endliches Leben ge- 
ftellt hat. Sind es höhere Anfichten der ‘Dinge, von denen dieſe 
Sehnſucht ausgeht, jo ſchweben fie eben wie entfernte Wollen, glän= 
zend allerdings von edlen Ahnungen beleuchtet, in einer ficheren 
Höhe über al den dornigen Berwidlungen, welche unfere Stellung 
hier unten darbietet; einen Weg durd) das Geftrüpp bindurd zeigen 
fie nicht, fondern nur einen der Reſignation darüber hinaus. 
Aber das Leben des menſchlichen Geſchlechtes beftcht nicht allein 
in der Sehnſucht nad) dem Ziel und in dem ſchwärmeriſchen Bor- 
traum feiner Anfchauung, fondern in der Arbeit der Wanderung zu 
ihm. Wollen wir diefe Aufgabe mit jelbftbemußter Bejonnenbeit 
Yöfen, fo fünnen wir nie zu eifrig fein in der Erforfyung der Be- 
dingungen, die auch der Entfaltung unferes geiftigen Lebens in der 
Natur des Schauplages geftellt find, der uns einjchließt, und in 
dem Zuſammenhang der Gejhichte, von dem wir dahingezogen 
werden. Wie in dem großen Weltbau der fchöpferifche Geift ſich 
unverrüdbare Gefege gab, nad denen er das Reich der Erſchei— 
nungen bewegt, die Fülle des höchſten Gutes in die Unzählbar- 
feit der Geftalten und Ereignifje zerftreuend und aus ihnen fte 
wieder zu dem Glüde bes Bewußtſeins und des Genuffes ver- 
dichtend: fo wird der Menfch diefelben Gefege anerfennend, die 
gegebene Wirflichfeit in Erfenntniß ihres Werthes, den Werth 
feiner Ideale in eine von ihm ausgehende Reihe äufßerlicher Ge- 
ftaltungen entwideln müfjen. Zu diefer Arbeit find wir beftimmt, 
und der ehrwürdigſte Zug in der Geſchichte unferes Gefchlechtes 








453 


ift die unverfiegbare Ausdauer, mit welcher die hervorragendſten 
Geifter aller Zeiten fi der Vervolllommnung der äußerlichen 
Lebensverhältnifje, der Ueberwindung der Natur, dem Fortſchritte 
jeder nüglihen Kunft, der Beredlung der gefelligen Formen wid- 
meten, obwohl fie es wußten, daß der wahre Genuß des Daſeins 
doch nur in jenen ftillen Augenbliden des Alleinfeins mit Gott 
Tiegt, in denen jedes menſchliche Tagwerk, alle Eultur und Civili- 
fation, der Ernft und die Laft des lauten Lebens zu dem Bilde 
einer nur vorläufigen Uebung von Kräften ohne bleibendes Er- 
gebnig zuſammenſchwinden. In diefer Regfamfeit einer nicht ins 
Unbeftimmte irrenden Freiheit, welche die Frucht wollte ohne das 
langjame Wahsthum der Pflanze, fondern mit Bewußtſein an 
die feften Schranken einer ihm heiligen Nothmwendigfeit fi bin= 
dend und den Spuren folgend, Die fie ihm vorzeichnet, wird der 
Menſch das fein, was eine alte Ahnung ihn vor allen Geſchöpfen 
fein läßt: das vollfommene Abbild der großen Wirklichkeit, die 
Heine Welt, der Mikrokosmus. 





Drud von I. B. Hirſchfeld in Leipzig. 


9 1236 





Digitized by Google 


Digitized by Google 


Digitized by Google 


Digitized by Google 


U. C. BERKELEY LIBRARIES 





IA | 
| 
I 
I 
\ 
N 
|| 


C0L 513770? 








“ir — — u — 
u — — — — 


9 an | ST