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Mikrokosmus.
Ideen zur Naturgeſchichte und Geſchichte
der Menſchheit.
-Berfuh einer Anthropologie
von
Hermann Kotze.
Erster Band.
1. Der Leib. 2. Die Seele. 3. Das Leben.
Berlag von S. Hirzel
1884,
3/7636
Das Recht ber Ueberfegung ift vorbehalten.
Den treuen Freunden
Wilhelm Baum
und
Heinrich Ritter.
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Zwiſchen den Bedürfniſſen des Gemüthes und den Er-
gebnifjen menjchliher Wiſſenſchaft ift ein alter nie gejchlich-
teter Zwiſt. Jene hohen Träume des Herzens aufzugeben,
die den Zufammenhang der Welt anders und fchöner geital-
tet wiſſen möchten, als der unbefangene Blick der Beobach⸗
tung ibn zu ſehen vermag: dieſe Entjagung ift zu allen Zei⸗
ten al8 der Anfang jeglicher Einficht gefordert worden. Und
gewiß ift das, was man fo gern als höhere Anficht der Dinge
dem gemeinen Erkennen gegenüberjtellt, am bäufigften doch
nur eine fehnfüchtige Ahnung, wohl fundig der Schranken,
denen fie entfliehen, aber nur wenig des Zieles, das fie er-
reichen möchte. Denn aus dem beften Theile unſeres Wefens
entiprungen, empfangen doch jene Anfichten ihre beftimmtere
Färbung von ſehr verfehiedenartigen Einflüffen. Genährt an
mancherlei Zweifeln und Nachgevanfen über die Schickſale des
Lebens und über den Inbalt eines doch immer befchräntten
Erfabrungskreifes, verleugnen fie weder die Eindrücke überlie-
ferter Bildung und augenblidlicher Zeitrichtungen, noch find
fie feldft unabhängig von dem natürlichen Wechfel der Stim-
mungen, bie andere find in der Jugend, andere nach der Auf-
fammlung mannigfaltiger Erfahrungen. Dan Tann nicht
ernjtlich hoffen, dag eine fo unklare und unrubige Bewe⸗
N
VI
gung des Gemüthes den Zuſammenhang der Dinge rich-
tiger zeichnen werbe, als die bejonnene Unterfuchung, mit
der in der Wifjenichaft Das Allen gemeinfame Denken befchäf-
tigt ift. Dürfen wir dem menjchlichen Herzen nicht gebieten,
jeine fehnfüchtigen ragen zu unterbrüden, fo wirb es gleich-
wohl ihre Beantwortung als eine nebenher reifende Frucht
jener Erfenntniß erwarten müſſen, bie nicht von denſelben
Tragen, jondern von leivenfchaftsloferen und darum klareren
Anfängen ausging.
Aber das wachſende Selbftgefühl der Wiſſenſchaft, die
nach Jahrhunderten des Schwankens einzelne Gebiete der Er-
ſcheinungen zweifellofen Gefegen unterworfen jieht, droht die⸗
ſes richtigere Verhältniß zwiichen Gemüth und Erfennen in
‚eine neue unwahre Stellung zu verfchieben. Man begnügt
fih damit nicht, am Anfange der Unterfuchung fich der zu-
dringlichen Fragen zu erwehren, mit denen unfere Wünfche
Träume und Hoffnungen das beginnende Werk zu verwirren
bereit find: man leugnet zugleich die Verpflichtung, im Laufe
der Forſchung fich jemals zu ihnen zurüdzumenden. in rei-
ner Dienjt der Wahrheit um der Wahrheit willen, babe die
Wiſſenſchaft nicht zu forgen, ob fie die felbftfüchtigen Wünſche
des Gemüthes befriebigen oder verlegen werde. Und von der
Berzagtheit werdet fich auch hier das menschliche Herz zum Trotze.
Nachdem es einmal den Stolz der unbefangenen und rüd-
fiht8lofen Unterfuchung gefoftet Hat, wirft e8 fich in jenen
falfchen und fo gebrechlichen Heroismus, der dem entfagt zu
haben fih rühmt, dem nie entfagt werben darf, und fchäkt,
in maßlofem Vertrauen auf keineswegs unbeftreitbare Voraus⸗
jegungen, die Wahrheit feiner neuen Weltanfiht nach dem
Grade der Feindfeligkeit, mit welchem fie Alles beleidigt, was
das lebendige Gemüth außerhalb der Wilfenichaft für unan-
taſtbar achtet. |
Diefe Vergötterung der Wahrheit fcheint mir weder als
unabhängige Schätung ihres Werthes gerecht, noch vortheil-
vo
baft für den Zweck zu bewirkenver Veberzeugung, den bie
Wiſſenſchaft Doch ſtets verfolgen muß.
Könnte e8 der menſchlichen Forſchung nur darauf anlom-
men, den Beitand der vorhandenen Welt erkennend abzubil-
den, welchen Werth hätte dann doch ihre ganze Mühe, die
mit der öden Wiederholung fchlöffe, daß, was außerhalb der
Seele vorhanden war, nun nachgebilvet in ihr noch einmal
vorkäͤme? Welche Bedeutung hätte das leere Spiel diefer Ver-
boppelung, welche Pflicht der denkende Geift, ein Spiegel zu
fein für das was nicht denkt, wäre nicht die Auffindung ber
Wahrheit überall zugleich die Erzeugung eines Gutes, deſſen
Werth die Mühe feiner Gewinnung rechtfertigt? Der Ein-
zelne, in die Theilung der geiftigen Arbeit verſtrickt, welche der
wachjende Umfang der Wiffenfchaft unvermeidlich berbeiführt,
mag für Augenblide den Zuſammenhang feiner engbegrenzten Be-
ſchäftigung mit den großen Zwecken des menjchlichen Lebens ver-
geſſen; es mag ihm fcheinen, als fet die Förderung des Wiſſens
um des Wiſſens willen an fich ein verſtändliches und würdiges
Ziel menfchlicher Beitrebungen. Aber alle feine Bemühungen
haben zulett Doch nur die Bedeutung, zufammtengefaßt mit denen
unzähliger Andern, ein Bild der Welt zu entwerfen, das ung
ausdeutet, was wir als den wahren Sinn des Daſeins zu
ehren, was wir zu thun, was zu hoffen haben. Jene ſtrenge
Unbefangenheit der Forſchung aber, die ohne alle Rückſicht
auf dieſe Fragen zu dem Aufbau des Wiſſens mitwirkt, iſt
nur eine weiſe Enthaltſamkeit, die eine ſpäte aber volle Be—
antwortung derſelben von dem vereinigten Ergebniffe der Un-
terfuchungen erwartet und diefe der verfrühten und einfeitigen
Aufklärung vorzieht, mit welcher untergeoronete und zufällige
Standpunkte unjer Verlangen unzureichend befchwichtigen. Den
unrubigen Fragen baber, wie fie unzufammenbängend die Be-
brängniß bes Lebens erzeugt, mag die Wifjenfchaft eine augen-
blicliche Antwort vorenthalten; fie mag auf den Fortſchritt
der Forſchung verweilen, der manche Schwierigkeit in Nichte
nn — —— — — — — — — ·— —
VIII
auflöſen wird, ohne die neuen Verwirrungen zu verſchulden,
in welche die vereinzelten Beantwortungen zudringlicher Zwei⸗
fel uns ſtets zu verwickeln pflegen. Aber das Ganze der
Wahrheit dürfen wir nicht als eine abgeſchloſſene Glorie für
ſich betrachten, von der keine nothwendige Beziehung mehr zu
den Bewegungen des Gemüthes hinüberliefe, aus denen doch
ſtets der erſte Antrieb zu ihrer Entdeckung hervorging. So
oft vielmehr eine Umwälzung der Wiſſenſchaft alte Auffaſſungs⸗
weiſen verdrängt hat, wird die neue Geſtaltung der Anſichten
ſich durch die bleibende oder wachſende Befriedigung rechtfer⸗
tigen müſſen, die ſie den unabweisbaren Anforderungen unſe⸗
res Gemüthes zu gewähren vermag.
Ihre eigenen Zwecke müſſen jedoch die Wiſſenſchaft nicht
minder beſtimmen, eine ſolche Verſtändigung zu ſuchen. Denn
ſie ſelbſt, welchen andern Ort des Daſeins hätte ſie, als die
Ueberzeugung derer, die von ihrer Wahrheit durchdrungen
ſind? Aber ſie wird nie dieſe Ueberzeugung bewirken, wenn
ſie vergißt, daß alle Bereiche ihrer Forſchung, alle Gebiete der
geiſtigen und natürlichen Welt, vor jedem Anfange einer geord⸗
neten Unterſuchung längſt von unſern Hoffnungen Ahnun⸗
gen und Wünſchen überzogen und in Beſitz genommen ſind.
Ueberall zu ſpät kommend, findet fie nirgends eine völlig un⸗
befangene Empfänglichleit; fie findet überall vielmehr bereits
befeftigt jene Weltanficht des Gemüthes vor, die mit dem gan-
zen Gewicht, welches fie ihrem Urfprunge aus der lebendigiten
Sehnsucht des Geiftes verdankt, ſich hemmend an den Gang
ihrer Beweife hängen wird. Und wo eine wideriwillige Ueber⸗
zeugung im Einzelnen dennoch erzivungen wird, da wird fie
ebenfo leicht wieder im Ganzen durch die Erinnerung vereitelt,
dag ja die Macht jener erften Grundſätze, Durch deren Folgen
die Wiffenfchaft uns bezwingen will, zulegt auch nur auf
einem unmittelbaren Glauben an ihre Wahrheit beruht. Mit
demfelben Slauben meint man viel vichtiger fogleich jenes
Weltbild felbft feithalten zu müſſen, deſſen Zuſammenklang mit
IX
der Stimme unferer Wünfche feine Wahrheit zu befräftigen
fcheint. Und fo läßt man das Ganze der Wiſſenſchaft als ein
Irrſal dahingeftellt fein, in welches die Erkenntniß, abgelöft
von ihrem Zuſammenhange mit dem ganzen lebenpigen Geifte,
auf nicht weiter angebbare Weife fich verwickelt babe.
Man Tann im Glauben an die Welt des Gemüthes nicht
ſchwärmen, ohne bei jevem Schritte des wirklichen Lebens die
Vortheile der Wiſſenſchaft zu benugen und ihre Wahrheit ſtill⸗
fchweigend Dadurch anzuerkennen; man kann ebenfo wenig der
Wiſſenſchaft leben, ohne Luft und Laſt des Dafeins zu em-
pfinden und ſich von einer Weitorbnung anderer Art überall
umfpannt zu fühlen, über welche jene kaum kärgliche Erläu-
terungen gibt. Was liegt näher als die Ausflucht, ſich an
beide Welten zu vertbeilen, beiden angehören zu wollen, obne
fie doch zu vereinigen? in ber Wiſſenſchaft den Grundſätzen
des Erkennens bis in ihre äußerſten Exrgebniffe zu folgen und
im Leben fich von ven bergebrachten Gewöhnungen bes Glau-
bens und Handelns nach ganz anderen Richtungen treiben zu
laffen ? i
Daß dieſe Zwiefpältigfeit der Ueberzeugung häufig die
einzige Löſung tft, die man findet, ift nicht befremdlich; trau-
tiger, wenn fie als die wahre Faſſung unferer Stellung zur
Welt empfohlen würde. Die Unvollkommenheit menschlichen
Willens kann uns wohl am Ende unferer Bemühungen zu
bem Geſtändniſſe nöthigen, daß die Ergebniffe des Erkennens
und bes Glaubens fich zu keinem Tüdenlojen Weltbaue vers
einigen; aber nie können wir tbeilnahmlos aufehen, wie das
Erkennen dur feinen Widerſpruch die Grundlagen des Glau⸗
bens unterhöhlt, oder dieſer kühl im Ganzen das ablehnt,
was bie Wifjenfchaft eifrig im Einzelnen geftaltet hat. Im⸗
mer von neuem müffen wir vielmehr den ausprüdlichen Ver-
fuch wiederholen, beiden ihre Rechte zu wahren und zu zeigen,
wie wenig unauflöglih der Widerſpruch ift, in welchen fie
unentwirrbar verwidelt erfcheinen.
x
Der Uebermuth der philoſophiſchen Forſchung und die
raftlofen Fortſchritte der Naturwifjenfchaft haben von verichie-
denen Seiten ber jenes Weltbild zu zerjtören gefucht, in wel-
hen das menfchliche Gemüth die Befriedigung feiner Sehn-
ſucht fand. Die Beunrubigungen jedoch, welche die Angriffe
der Philofophie erzeugten, hat unfere Zeit durch das wird
famfte Mittel überwunden, durch die völlige Theilnahmlofig-
feit, mit der fie fich von den kaum mehr beachteten Anjtren-
gungen der Speculation abwendet. Sie hat ficb nicht eben-
jo Teicht der weit zudringlicheren Beredſamkeit der Natur-
wiffenschaften entziehen können, deren Behauptungen jeden
Augenblick die Erfahrungen des alitäglichiten Lebens beitä-
tigten. Diefer übermächtige Einfluß, den die wahrhaft
großartige Entwicdlung der Naturkenntniß auf alle Beftre-
bungen unferes Jahrhunderts äußert, ruft unfehlbar einen
ebenfo anwachſenden Widerftand gegen die Beeinträchtigungen
hervor, die man von ihm für das Höchfte der menfchlichen
Bildung erwartet. Und fo ftehen wieder die alten Gegenfäte
zum Kampfe auf: bier die Erfenntniß der Sinnenwelt mit
ihrem täglich ſich mehrenden Reichthum des beftimmteften
Willens und der Ueberredungskraft anfchaulicher Thatfachen,
dort die Ahnungen des Weberfinnlichen, Taum ihres eignen °
Inhaltes vecht ficher, jeder Beweisführung fehwer zugänglich,
aber durch ein ftet8 wiederkehrendes Bewußtfein ihrer dennoch
nothwendigen Wahrheit noch unzugänglicher für jede Wiber-
legung. Daß der Streit zwifchen diefen beiden eine unnöthige
Dual ift, die wir durch zu frühes Abbrechen der Unterfuchung
uns felbft zufügen, dies ift die Weberzeugung, die wir bes
feitigen möchten.
Gewiß mit Unrecht werdet fich die Naturwiſſenſchaft ganz
von den äſthetiſchen und religiöfen Gedankenkreiſen ab, vie
man ihr als eine höhere Auffaffung der Dinge überzuordnen
liebt; fie fürchtet ohne Grund, ihre fcharfbegrenzten Begriffe
und bie fefte Fügung ihrer Methoden durch die Aufnahme von
xI
Elementen zerrüttet zu ſehen, bie alfer Berechnung unfähig,
ihre eigne Unbeftimmtheit und Nebelhaftigfeit Allem mitthei-
len zu müfjen feinen, was mit ihnen in Berührung fommt;
fie vergißt endlich, daß ihre eignen Grundlagen, unjere Vor⸗
jtellungen von Kräften und Naturgefegen, noch nicht die Schluß-
gewebe der Fäden find, die fich in der Wirklichkeit verfchlin-
gen. Auch fie laufen vielmehr für einen ſchärferen Blid in
daffelbe Gebiet des Meberfinnlichen zurück, deſſen Grenzen man
umgeben möchte,
Nicht minder unbegründet aber ift, was anderſeits der
Anerkennung der mechanischen Naturauffaffung jo bemmend
entgegenfteht: die ängftliche Furcht, vor ihren Folgerungen alle
Lebendigkeit, Freiheit und Poefie aus der Welt verjchwinden
zu ſehen. Wie oft ift dieſe Burcht ſchon geäußert worden,
und wie oft bat der unaufbaltfame Fortfehritt der Entdeckun⸗
gen neue Duellen der Poefie eröffnet für die alten, die er
verfchütten mußtel Jenes Gefühl der Heimatlichkeit, mit dem
ein abgefchlofjenes Volt, unfundig des unermeßlichen menfch-
lichen Lebens auch außerhalb feiner Grenzen, fich jelbft als die
ganze Meenfchheit, und jeden Hügel, jeve Duelle feines Landes in
der pflegenden Obhut einer befonderen Gottheit fühlen durfte:
biefe Einigfeit des Göttlihen und Menfchlichen ift überall zu
Grunde gegangen in dem Fortfchritte der geograpbifchen Kennt⸗
niß, den der wachſende Völkerverkehr herbeiführte. Aber Diefe
erweiterte Ausficht verdarb nicht, ſondern veränderte nur und
erhöhte den poetiſchen Keiz der Welt. Die Entdedungen der
Aſtronomie zerftörten den Begriff des Hintmels, wie den ber
Erde; fie Löften jenen, den anjchaulichen Wohnfig der Götter,
in die Unermeßlichfeit eines Luftkreiſes auf, in welchem bie
Phantafie Feine Heimat des Weberfinnlichen mehr zu finden
wußte; fie wandelten die Erbe, die einzige Stätte des Lebens
und ber Gefchichte, in einen der Heinften Theile des grenzen-
Iojen Weltalis um. Und Schritt für Schritt nahm Diefe Jer-
ftörung altgewohnter Anſchauungen ihren weiteren Verlauf.
xu
Aus einem ruhenden Mittelpunkte warb die Erde ein verloren
wandelnder Planet, um eine Sonne kreifend, die vorher nur
zu ihrem Schmud und Dienſt vorhanden ſchien; felbit bie
Harmonie der Sphären fchiwieg, und Alle haben wir ung
darein gefunden, daß ein ſtummer, allgemeinen Geſetzen ge»
horchender Umſ chwung unzähliger Himmelskörper die um⸗
faſſende Welt iſt, in der wir mit allen unſeren Hoffnungen,
Wünſchen und Beſtrebungen wohnen.
Daß dieſe Umbildung der kosmographiſchen Anſchauun⸗
gen auf das Bedeutſamſte im Laufe der Geſchichte die Phan⸗
taſie der Völker umgeſtimmt bat, wer möchte dies leugnen?
Anders lebt es fich gewiß auf der Scheibe der Erbe, wenn bie
fihfbaren Gipfel des Olymp und in erreichbarer Ferne bie
Zugänge der Unterwelt alle höchften und tiefiten Geheimnifje
des Weltbaues in die vertrauten Grenzen der anfchaulichen
Heimat einfchließen ; anders auf der rollenvden Kugel, die we⸗
der im Innern noch um fich in ber öden Unermeßlichkeit des
Luftkreiſes Platz für jenes Verborgene zu haben jcheint, durch
deffen Ahnung allein das menſchliche Leben zur Entfaltung
feiner böchften Blüthen befruchtet wird. An dem Faden einer
heiligen Weberlieferung mochte die Vorzeit das Gewirr der
Völker, das den bunten Markt des Lebens füllt, in die ftille
Heimlichkeit des Paradiefes zurücleiten, in deſſen Schatten
die Mannigfaltigfeit der menjchlichen Gefchlechter das verbin-
dende Bewußtfein eines gemeinſamen Urſprunges wiederfand;
die Entdeckung neuer Erdtheile erichlitterte auch dieſen Glau⸗
ben; andere Völker traten in den Geſichtskreis ein, unkundig
der alten Sagen, und die gemeinfame Heimat der Menjchheit
wurde weit über die äußerſten Grenzen geſchichtlicher Erinne-
rung hinausgerückt. Enblich that die ftarre Rinde des Pla⸗
neten jelbft, ven das menschliche Gefchlecht feit dem Tage fei-
ner Entſtehung zu befiten wähnte, ihren verjchloffenen Mund
auf und erzählte von unmeßbaren Zeiträumen des Dafeins,
in denen dies menſchliche Leben mit feinem Trotz und feiner
x
Berzagtheit noch nicht war und die fchöpferifche Natur, auch
fo fih genügend, zahlreiche Gattungen des Lebendigen wech
felnd entftehen und vergeben ließ.
Sp find alle die freundlichen Begrenzungen zerfallen,
durch die unfer Dafein in eine fchöne Sicherheit eingefriedigt
lag; unermeßlich, frei und kühl ift die Ausfiht um uns ber
geworden. Aber alle diefe Erweiterungen unferer Kenntniffe
haben weder die Poefie aus der Welt vertrieben, noch unfere
religiöfen Weberzeugungen anders als förberlich berührt; fie
haben ung gendtbigt, was in anfchaulicher Nähe uns verloren
war, mit größerer geijtiger Anftrengung in einer überfinnlichen
Welt wieberzufinden. Die Befriedigung, die unfer Gemüth
in Lieblingsanfichten fand, tft ftetS, wenn diefe dem Forts
jgritte der Wiffenfchaft geopfert werben mußten, in ande
ren neuen Formen wieder möglich geworben. Wie dem Ein-
zelnen im Verlaufe jeiner Lebensalter, jo verwandeln fich auch
unvermeiblid in der Gejchichte des menfchlichen Gefchlechtes
die beftimmten Umriſſe des Bildes, in dem e8 den Inhalt
feiner höchften und unverlierbaren Ahnungen ausprägt. Nub-
108 ift jede Anftrengung, der Haren Erfenntniß der Wiſſen⸗
ſchaft zu widerjtreben und ein Bild fefthalten zu wollen, von
dent uns doch das heimliche Bewußtſein verfolgt, Daß es ein
gebrechlicher Traum fer; gleich übel berathen aber ift bie Ver⸗
zweiflung, die das aufgibt, was bei allem Wechjel feiner For⸗
men doch der unerjchütterliche Zielpunkt menjchlicher Bildung
fein muß. Geſtehen wir vielmehr zu, daß jene höhere Auf-
fafjung der Dinge, deren wir uns bald rühmen, bald gänzlich
unfähig fühlen, in ihrem dunklen Drange fich Des rechten Wer
ges wohl bewußt iſt, und daß jede beachtete Einrede der Wiffen-
fchaft nur eine der täufchenden Beleuchtungen zerftreut, welche
die wechfelnden Standpunkte unferer veränderlichen Erfahrung
auf das beftändig gleiche Ziel unferer Sehnfucht werfen.
Jene Entgötterung des gefammten Weltbaues, welche die
Tosmographiichen Entvedungen der Vorzeit unwiderruflich polls
XIV
zogen haben, ven Umfturz der Mythologie, dürfen wir als
verichmerzt anfeben, und ber letten Klage, die in Schillers
Göttern Griechenlands ſich ergoß, wird nie ein Verſuch fol-
gen, im Wiberftreit mit den Kehren der Wiſſenſchaft den Glau-
ben an diejes Vergangene wieberberzuftellen. Große Umwäl⸗
zungen der religiöfen Anfichten haben über dieſen Verluſt
binausgeführt und längjt den überreichen Erſatz dargeboten.
Aber wie die wachjende Ternficht der Aftronomie den großen
Schauplat des menschlichen Lebens aus feiner unmittelbaren
Verſchmelzung mit dem Göttlichen löſte, jo beginnt das wei⸗
tere Vorbringen der mechanifchen Wiſſenſchaft auch die Kleinere
Welt, ven Milrofosmus des menſchlichen Weſens,
mit gleicher Zerfegung zu bedrohen. Ich denke nur flüchtig
hierbei an die überhandnehmende Verbreitung materialiftiicher
Auffaffungen, die alles geiftige Leben auf das blinde Wirken
eines körperlichen Mechanismus zurüdführen möchten. So
breit und zuverfichtlich ver Strom diefer Anfichten fließt, hat
er feine Quelle doch feineswegs in unabweisbaren Annahmen,
die mit dem Geifte der mechanifchen Naturforſchung unzer-
trennlich zuſammenhingen. Aber auch innerhalb der Grenzen,
in denen fie fich mit befjerem echte bewegt, ift die zerſetzende
und zerftörende Thätigfeit diefer Forſchung fichtbar genug und
beginnt alle jene durchdringende Einheit des Körpers und ber
Seele zu beitreiten, auf der jede Schönheit und Lebendigkeit
der Geftalten, jeve Bebeutjamfeit und jeder Werth ihres Wech-
felverfehrs mit der äußeren Welt zu beruhen fchien. Gegen
die Wahrheit der finnlichen Erfenntniß, gegen die freie Will
fürlichfeit der Bewegungen, gegen die fchöpferiiche, aus fich
ſelbſt quellende Entwicklung des körperlichen Dafeins überhaupt
find die Angriffe der phyſiologiſchen Wiſſenſchaft gerichtet ge-
weſen und haben fo alle jene Züge in Frage geftellt, in de⸗
nen das unbefangene Gefühl den Kern aller Poefie des leben⸗
digen Dafeins zu befiten glaubt. Befremdlih kann daher die
Standhaftigkeit nicht fein, mit welcher die Weltanficht des Ge⸗
XV
müthes al8 höhere Auffafjung der Dinge den überzeugenden
Darftellungen der mechanischen Naturbetrachtung bier zu wi-
berjtreben ſucht; um fo nöthiger Dagegen der Verſuch, bie
Harmloſigkeit diefer Anficht nachzuweifen, Die, wo fie ung
zwingt, Anfichten zu opfern, mit benen wir einen Theil uns
ſeres Selbit hinzugeben glauben, doch durch das, was fie uns
zurüdgibt, die verlorene Befriedigung wieder möglich macht.
Und je mehr ich felbft bemüht gewefen bin, den Grund-
fügen der mechanifchen Naturbetrachtung Eingang in das Ge-
biet des organischen Lebens zu bereiten, das fie zagbafter zu
betreten ſchien, als das Wefen der Sache e8 gebot: um fo
mehr. fühle ich den Antrieb, nun auch jene andere Seite her-
vorzufehren, die während aller jener Beftrebungen mir gleich
fehr am Herzen lag. Ich darf kaum hoffen, ein ſehr günfti-
ges Vorurtheil für den Erfolg diefer Bemühung anzutreffen;
denn was jene früheren Darftellungen an Zuftinnmung etwa
gefunden haben mögen, das dürften fie am meiften der LXeich-
tigfeit verdanfen, mit der jede vermittelnde Anficht fich dahin
umdeuten läßt, daß fie Doch wieder einer der einfeitigen äußer⸗
ſten Meinungen günftig erſcheint, welche fie vermeiden wollte.
Gleichwohl Liegt in diefer Vermittlung allein der wahre Le-
benspunkt der Wiſſenſchaft; nicht darin freilich, daß wir bald
der einen bald der andern Anficht zerftücelte Zugeſtändniſſe
machen, fondern darin, daß wir nachweifen, wie ausnahms-
los univerfell die Ausdehnung, und zugleich wie
völlig untergeordnet die Bedeutung der Sendung
ist, weldhe der Mehanismus indem Baue der Welt
zu erfüllen bat.
Es ift nicht der umfafjende Kosmos des Weltganzen,
deſſen Beichreibung wir nach dem Mufter, das unferem Volle
gegeben ift, auch nur in dem befchränkteren Sinne diefer aus⸗
gejprochenen Aufgabe zu wieverholen wagen möchten. Ie mehr
die Züge jenes großen Weltbildes in das allgemeine Bewußt-
fein dringen, deſto lebhafter werben fie uns auf uns felbft zu-
XVI
rũckleuken und die Fragen von neuem anregen, welche Be⸗
deutung nun der Menſch und das menfchliche Leben mit fei-
nen beftändigen Erſcheinungen und dem veränberlichen Laufe
feiner Geſchichte in den großen Ganzen der Natur hat, deren
beftänbigem Einfiuffe wir uns nach den Ergebniffen der neue
ren Wifienfchaft mehr als je unterworfen fühlen. Indem wir
bierliber die Reflerionen zu fammeln fuchen, vie nicht alfein
innerhalb ber Grenzen ver Schule, fondern überall im Leben
fi dem nachvenflicden Gemũthe aufprängen, wiederholen wir
unter den veränderten Anſchauungen, welde vie Gegenwart
gewonnen, das Unternehmen, das in Herders Feen zur
der Menſchheit feinen glänzenden Beginn gefun-
t.
Den treuen Freunden
Bildbelm Baum
und
Seinrid Ritter.
Zwiſchen den Bedürfniſſen des Gemüthes und den Er⸗
gebniſſen menſchlicher Wiſſenſchaft iſt ein alter nie gefchlich-
teter Zwiſt. Jene hohen Träume des Herzens aufzugeben,
die den Zuſammenhang der Welt anders und ſchöner geſtal⸗
tet willen möchten, als der unbefangene Blid der Beobach⸗
tung ihn zu ſehen vermag: dieſe Entjagung ift zu. allen Zei⸗
ten als der Anfang jeglicher Einficht gefordert worden. Und
gewiß ift das, was man fo gern als höhere Anficht der Dinge
dem gemeinen Erkennen gegenüberftellt, am bäufigften doch
nur eine fehnfüchtige Ahnung, wohl kundig der Schranken,
denen fie entfliehen, aber nur wenig des Zieles, das fie er-
reichen möchte. Denn aus dem beiten Theile unferes Weſens
entfprungen, empfangen doch jene Anfichten ihre beitimmtere
Färbung von ſehr verſchiedenartigen Einflüffen. Genährt an
mancherlei Zweifeln und Nachgedanken über die Schickſale bes
Lebens und über den Inhalt eines doch immer befchräntten
Erfabrungskreifes, verleugnen fie weder die Eindrücke überlie⸗
ferter Bildung und augenblidlicher Zeitrichtungen, noch find
fie jeldjt unabhängig von dem natürlichen Wechjel der Stim-
mungen, bie andere find in der Jugend, andere nach der Auf-
fammlung mannigfaltiger Erfahrungen. Man kann nicht
ernftlich hoffen, daß eine fo unflare und unruhige Bewe-
VI
gung des Gemüthes den Zuſammenhang der Dinge rich⸗
tiger zeichnen werde, als die beſonnene Unterſuchung, mit
der in der Wiſſenſchaft das Allen gemeinſame Denken beſchäf⸗
tigt iſt. Dürfen wir dem menſchlichen Herzen nicht gebieten,
feine ſehnſüchtigen Fragen zu unterdrücken, jo wird es gleich-
wohl ihre Beantwortung als eine nebenher reifende Frucht
jener Erfenntnig erwarten müffen, bie nicht von denfelben
ragen, fondern von leivenfchaftsloferen und darum Tlareren
Anfängen ausging.
Aber das wachiende Selbftgefühl der Wiſſenſchaft, bie
nach Sahrhunderten des Schwankens einzelne Gebiete der Er-
fcheinungen zweifellofen Gefegen unterworfen ſieht, droht die⸗
ſes richtigere Verhältniß zwifchen Gemüth und Erkennen in
eine nee unwahre Stellung zu verfchieben. Man begnügt
fih damit nicht, am Anfange der Unterſuchung ſich der zu-
dringlichen Fragen zu erwehren, mit denen unfere Wünfche
Träume und Hoffnungen das beginnende Werk zu verwirren
bereit find: man leugnet zugleich die Verpflichtung, im Laufe
der Forſchung fich jemals zu ihnen zurüdzumenden. Ein rei»
ner Dienft der Wahrbeit um der Wahrheit willen, babe die
Wiſſenſchaft micht zu forgen, ob fie die felbftfüchtigen Wünſche
des Gemüthes befriedigen oder verlegen werde. Und von der
Verzagtheit wendet fich auch hier das menfchliche Herz zum Trotze.
Nachdem es einmal ven Stolz der unbefangenen und rüd-
ſichtsloſen Unterſuchung geloftet bat, wirft e8 ſich in jenen
falichen und fo gebrechlichen Heroismus, der dem entjagt zu
haben fich rühmt, dem nie entfagt werben darf, und fehägt,
in maßlofem Vertrauen auf keineswegs unbejtreitbare Voraus⸗
jeßungen, die Wahrheit feiner neuen Weltanficht nach dem
Grade der Feinpfeligfeit, mit welchem fie Alles beleidigt, was
das Iebendige Gemüth außerhalb der Wilfenjchaft für unan-
taftbar achtet.
Diefe Vergötterung der Wahrheit Scheint mir weder als
unabhängige Schätung ihres Werthes gerecht, noch vortheil-
vo
baft für den Zweck zu bewirkenver Ueberzeugung, ven bie
Wiſſenſchaft doch ſtets verfolgen muß.
Könnte es der menfjchlichen Forſchung nur darauf anlom-
men, den Beſtand der vorhandenen Welt erfennend abzubil-
den, welchen Werth Hätte dann doch ihre ganze Mühe, die
mit der öden Wiederholung ſchlöſſe, daß, was außerhalb ver
Seele vorhanden war, nun nachgebilvet in ihr noch einmal
vorkäme? Welche Bebeutung hätte das leere Spiel diefer Ver-
boppelung, welche Pflicht der denkende Geift, ein Spiegel zu
fein für das was nicht denkt, wäre nicht die Auffindung der
Wahrheit überall zugleich die Erzeugung eines Gutes, deſſen
Werth die Mühe feiner Gewinnung rechtfertigt? Der Ein-
zelne, in die Theilung der geiftigen Arbeit verftrickt, welche der
wachjende Umfang der Wiſſenſchaft unvermeiblich herbeiführt,
mag für Augenblide den Zuſammenhang feiner engbegrenzten Be-
Tchäftigung mit ven großen Zwecken des menfchlichen Lebens ver-
geſſen; es mag ihm fcheinen, als jet die Förderung des Willens
um des Wiſſens willen an fich ein verftändliches und würbiges
Ziel menſchlicher Beftrebungen. Aber alle feine Bemühungen
haben zulegt doch nur die Bedeutung, zufammengefaßt mit denen
unzäbliger Andern, ein Bild der Welt zu entwerfen, das ung
ausdentet, was wir als den wahren Sinn bes Daſeins zu
ehren, was wir zu thun, was zu hoffen haben. Jene jtrenge
Unbefangenbeit der Forſchung aber, die ohne alle Nüdkficht
auf diefe Fragen zu dem Aufbau des Wiſſens mitwirkt, ift
nur eine weife Enthaltfamfeit, die eine fpäte aber volle Be⸗
antwortung derjelben von dem vereinigten Ergebniffe der Un-
terfuchungen erwartet und diefe Der verfrühten und einfeitigen
Aufklärung vorzieht, mit welcher untergeorbniete und zufällige
Standpunkte unfer Verlangen unzureichend befchwichtigen. Den
unrubigen Fragen daher, wie fie unzufammenhängend die Be-
drängniß des Lebens erzeugt, mag die Wiffenfchaft eine augen-
blickliche Antwort vorenthalten; fie mag auf den Fortſchritt
der Forſchung verweilen, der manche Schwierigkeit in Nichts
VII
auflöfen wird, ohne bie neuen Verwirrungen zu verſchulden,
in welche die vereinzelten Beantwortungen zubringlicher Zwei-
fel uns ftetS zu verwideln pflegen. Aber das Ganze ber
Wahrheit pürfen wir nicht als eine abgefchloffene Glorie für
ſich betrachten, von der keine nothwendige Beziehung mehr zu
den Bewegungen des Gemüthes hinüberliefe, aus denen boch
jtet8 ber erjte Antrieb zu ihrer Entdedung hervorging. So
oft vielmehr eine Umwälzung der Wiſſenſchaft alte Auffaſſungs⸗
weifen verbrängt hat, wird die neue Geftaltung ber Anfichten
fich durch die bleibende oder wachjende Befriedigung rechtfer-
tigen müſſen, die fie den unabweisbaren Anforderungen unfe-
res Gemüthes zu gewähren vermag.
Ihre eigenen Zwecke müffen jeboch die Wiffenfchaft nicht
minder bejtimmen, eine folche Verftändigung zu fuchen. Denn
fie felbjt, welchen andern Ort des Daſeins hätte fie, als die
Meberzeugung derer, die von ihrer Wahrheit durchdrungen
find? Aber fie wird nie dieſe Veberzeugung bewirken, wenn
fie vergißt, daß alle Bereiche ihrer Forſchung, alle Gebiete ber
geiftigen und natürlichen Welt, vor jedem Anfange einer geord⸗
neten Unterfuhung längft von unfern Hoffnungen Ahnun⸗
gen und Wünfchen überzogen und in Befig genommen find.
Ueberall zu jpät kommend, findet fie nirgends eine völlig un-
befangene Empfänglichleit; fie findet überall vielmehr bereits
befejtigt jene Weltanficht des Gemüthes vor, die mit dem gan-
zen Gewicht, welches fie ihrem Urfprunge aus der lebendigſten
Sehnfucht des Geiftes verdankt, fich hemmend an den Gang
ihrer Beweife hängen wird. Und io eine widerwillige Ueber⸗
zeugung im Einzelnen dennoch erzwungen wird, da wird fie
ebenfo leicht wieder im Ganzen durch die Erinnerung vereitelt,
daß ja die Macht jener erften Grundfäge, durch deren Folgen
die Wifjenfchaft uns bezwingen will, zulekt auch nur auf
einem unmittelbaren Glauben an ihre Wahrheit beruft. Mit
demfelben Glauben meint man viel richtiger fogleich jenes
Weltbild felbit feitbalten zu müffen, deſſen Zufammenklang mit
IX
der Stimme unferer Wünfche feine Wahrheit zu befräftigen ”
ſcheint. Und fo läßt man das Ganze der Wilfenfchaft als ein
Irrſal dahingeſtellt fein, in welches die Erkenntniß, abgelöſt
von ihrem Zufammenbange mit vem ganzen lebendigen Geifte,
auf nicht weiter angebbare Weife fich verwickelt babe.
Man kann im Glauben an bie Welt des Gemüthes nicht
ſchwärmen, ohne bei jedem Schritte des wirklichen Lebens die
Bortheile der Wiſſenſchaft zu benugen und ihre Wahrheit jtill-
fchweigend dadurch anzuerkennen; man kann ebenſo wenig der
Wiffenichaft leben, ohne Luft und Laft bes Daſeins zu em-
pfinden und fich von einer Weltordnung anderer Art überall
umfpannt zu fühlen, über welche jene kaum Tärgliche Erläu-
terungen gibt. Was liegt näher als die Ausflucht, fih an
beide Welten zu vertbeilen, beiden angehören zu wollen, obne
fie doch zu vereinigen? in der Wiſſenſchaft ven Grundſätzen
des Erfennens bi8 in ihre äußerſten Ergebniffe zu folgen und
im Leben fich von den bergebrachten Gewöhnungen des Glau-
bens und Handelns nach ganz anderen Richtungen treiben zu
laſſen?
Daß dieſe Zwieſpältigkeit der Ueberzeugung häufig die
einzige Löſung iſt, die man findet, iſt nicht befremdlich; trau⸗
riger, wenn ſie als die wahre Faſſung unſerer Stellung zur
Welt empfohlen würde. Die Unvollkommenheit menſchlichen
Wiſſens kann und wohl am Ende unſerer Bemühungen zu
dem Gejtändniffe nöthigen, daß bie Ergebniffe des Erkennens
und des Glaubens fich zu Teinem lückenloſen Weltbaue ver-
einigen; aber nie können wir theilnahmlos zufehen, wie das
Erfennen durch feinen Widerfpruch die Grundlagen des Slau-
bens unterhöhlt, oder dieſer kühl im Ganzen das ablehnt,
was die Wiſſenſchaft eifrig im Einzelnen geftaltet hat. Im⸗
mer von neuem müfjen wir vielmehr ven ausprüdlichen Ver-
fuch wiederholen, beiden ihre Rechte zu wahren und zu zeigen,
wie wenig unauflöslich der Widerfpruch ift, tn welchen ſie
unentwirrbar verwickelt erſcheinen.
x
Der Vebermuth der philoſophiſchen Forſchung und die
raftlofen Tortfchritte der Naturwiffenichaft Haben von verfchie-
denen Seiten her jenes Weltbild zu zerjtören gefucht, in wel⸗
chem das menschliche Gemüth die Befriedigung feiner Sehn-
jucht fand. Die Beunrubigungen jedoch, welche die Angriffe
der Philofopbie erzeugten, bat unfere Zeit dur das wirk-
jamfte Mittel überwunden, durch die völlige Theilnahmlofig-
feit, mit der fie fih von den kaum mehr beachteten Anftren-
gungen der Speculation abwendet. Sie hat fich nicht eben-
jo leicht der weit zupdringlicheren Beredſamkeit der Natur-
wiffenfchaften entziehen Tönnen, deren Behauptungen jeden
Augenblid die Erfahrungen des alltäglichften Lebens bejtä-
tigten. Dieſer übermächtige Einfluß, den die wahrhaft
großartige Entwidlung der Naturkenntnig auf alle Beſtre⸗
bungen unferes Jahrhunderts äußert, ruft unfehlbar einen
ebenſo anwachfenden Widerftand gegen die Beeinträchtigungen
hervor, Die man von ihm für das Höchite der menfchlichen
Bildung erwartet. Und fo fteben wieder die alten Gegenfäte
zum Kampfe auf: bier die Erfenntniß der Sinnenwelt mit
ihrem täglich ſich mehrenden Reichthum des beſtimmteſten
Wiſſens und der Ueberredungskraft anſchaulicher Thatſachen,
dort die Ahnungen des Ueberſinnlichen, kaum ihres eignen
Inhaltes recht ſicher, jeder Beweisführung ſchwer zugänglich,
aber Durch ein ſtets wiederkehrendes Bewußtſein ihrer Dennoch
nothwendigen Wahrheit noch unzugänglicher für jede Wider⸗
legung. Daß der Streit zwifchen dieſen beiden eine unnöthige
Dual ift, die wir durch zu frühes Abbrechen der Unterſuchung
uns ſelbſt zufügen, dies ift die Meberzeugung, Die wir be-
feftigen möchten.
Gewiß mit Unrecht wendet fich die Naturwiſſenſchaft ganz
von den äfthetifchen und religiöfen Gedankenkreiſen ab, bie
man ihr als eine höhere Auffaffung der Dinge überzuorbnnen
liebt; fie fürchtet ohne Grund, ihre ſcharfbegrenzten Begriffe
und bie fefte Fügung ihrer Methoden durch die Aufnahme von
XI
Elementen zerrüttet zu ſehen, die aller Berechnung unfähig,
ihre eigne Unbeſtimmtheit und Nebelhaftigkeit Allem mitthei⸗
len zu müſſen ſcheinen, was mit ihnen in Berührung kommt;
ſie vergißt endlich, daß ihre eignen Grundlagen, unſere Vor⸗
ſtellungen von Kräften und Naturgeſetzen, noch nicht die Schluß⸗
gewebe der Fäden find, die ſich in der Wirklichkeit verſchlin⸗
gen. Auch fie laufen vielmehr für einen jchärferen Bid in
daſſelbe Gebiet des Ueberſinnlichen zurüd, deffen Grenzen man
umgeben möchte.
Nicht minder unbegründet aber ift, was anderſeits der
Anerkennung der mecbaniihen Naturauffaffung jo hemmend
entgegenfteht: die ängftliche Furcht, vor ihren Folgerungen alle
Lebendigkeit, Freiheit und Poefie aus der Welt verichwinden
zu ſehen. Wie oft ift diefe Furcht ſchon geäußert worden,
und wie oft hat der unaufhaltſame Fortjchritt der Entdeckun⸗
gen neue Duellen der Poeſie eröffnet für die alten, die er
verjchütten mußtel Jenes Gefühl der Heimatlichkeit, mit dem
ein abgefchlofjenes Volk, unfundig des unermeßlichen menjch-
lichen Lebens auch außerhalb feiner Grenzen, fich ſelbſt als Die
ganze Menfchheit, und jeden Hügel, jede Quelle feines Landes in
der pflegenden Obhut einer befonderen Gottheit fühlen durfte:
dieje Einigkeit des Göttlichen und Menfchlichen ift überall zu
Grunde gegangen in dem Fortichritte der geographiichen Kennt»
niß, den der wachſende Völkerverkehr berbeiführte. Aber dieſe
erweiterte Ausficht verdarb nicht, fondern veränderte nur und
erhöhte den poetifchen Neiz der Welt. Die Entdedungen ver
Altronomie zeritörten den Begriff des Himmels, wie den ber
Erde; fie Löften jenen, den anfchaulichen Wohnfik der Götter,
in die Unermeßlichfeit eines Quftkreifes auf, in welchen bie
Phantafie keine Heimat des Weberfinnlichen mehr zu finden
wußte; fie wandelten die Erbe, die einzige Stätte des Lebens
und der Geſchichte, in einen ber Heinften Theile des grenzen»
Iojen Weltall um. Und Schritt für Schritt nahm diefe Zer-
ftörung altgewohnter Anfchauungen ihren weiteren Verlauf.
Xu
Aus einem ruhenden Mittelpunfte warb bie Erbe ein verloren
wanbelnver Blanet, um eine Sonne freifend, die vorher nur
zu ihrem Schmud und Dienft vorhanden fehien; felbft bie
Harmonie der Sphären fehwieg, und Alle haben wir ung
barein gefunden, daß ein ftummer, allgemeinen Gefegen ge-
horchender Umſchwung unzähliger Dimmelstörper die um⸗
faffende Welt ift, in der wir mit allen unferen Hoffnungen,
Wünſchen und Beitrebungen wohnen.
Daß diefe Umbildung der Tosmograpbifchen Anſchauun⸗
gen auf Das Bedeutſamſte im Laufe der Gefchichte die Phan⸗
tafie der Völker umgeftimmt bat, wer möchte bies leugnen?
Anders lebt es fich gewiß auf der Scheibe der Erbe, wenn die
fihtbaren Gipfel des Olymp und in erreichbarer Ferne bie
Zugänge der Unterwelt alle höchſten und tiefiten Geheimniſſe
des Weltbaues in die vertrauten Grenzen der anjchanlichen
Heimat einjchliegen ; anders auf der vollenden Kugel, die we⸗
der im Innern noch um fich in der öden Unermeßlichkeit bes
Zuftfreifes Platz für jenes Verborgene zu haben feheint, durch
defien Ahnung allein das menfchliche Leben zur Entfaltung
feiner höchſten Blüthen befruchtet wird. An dem Faden einer
heiligen Weberlieferung mochte die Vorzeit das Gewirr ber
Völker, das den bunten Markt des Lebens füllt, in die ftilfe
Heimlichfeit des Paradiefed zurücleiten, in deſſen Schatten
die Mannigfaltigleit der menfchlichen Gefchlechter das verbin-
dende Bewußtjein eines gemeinfamen Urfprunges wieberfand;
die Entdedung neuer Erdtheile erfchütterte auch dieſen Glau⸗
ben; andere Völker traten in ben Gefichtsfreid ein, unkundig
ber alten Sagen, und bie gemeinfame Heimat der Menjchheit
wurde weit über die äußerſten Grenzen gefchichtlicher Erinne-
rung hinausgerüdt. Endlich that die ftarre Rinde des Pla-
neten ſelbſt, den das menschliche Gefchlecht fett dem Tage fei-
ner Entjtehung zu befigen wähnte, ihren verjchloffenen Mund
auf und erzählte von unmehbaren Zeiträumen des Dafeing,
in denen dies menjchlihe Leben mit feinem Trotz und feiner
xımI
Berzagtheit noch nicht war und bie fchöpferifche Natur, auch
fo fich genügend, zahlreiche Gattungen des Lebenbigen wech
ſelnd entftehen und vergeben Tief.
Sp find alle die freundlichen Begrenzungen zerfallen,
durch Die unfer Dajein in eine fchöne Sicherheit eingefriedigt
lag; unermeßlich, frei und fühl tft die Ausficht um ung her
geworden. Aber alle diefe Erweiterungen unferer Kenntniffe
haben weder die Poefie aus der Welt vertrieben, noch unfere
religiöfen Weberzeugungen anders als förderlich berührt; fie
baben ung genöthigt, was in anfchaulicher Nähe uns verloren
war, mit größerer geiftiger Anſtrengung in einer überfinnlichen
Welt wiederzufinden. Die Befriedigung, die unfer Gemüth
in Lieblingsanfichten fand, ift ftetS, wenn dieſe dem Fort-
fchritte der Wiffenfchaft geopfert werden mußten, in ande
ren neuen Formen wieder möglich geworden. Wie dem Ein-
zelnen im Verlaufe feiner Lebensalter, jo verwandeln fich auch
unvermeiblih in ber Gefchichte des menjchlichen Gefchlechtes
die beſtimmten Umriffe des Bildes, in dem es ben Inhalt
feiner böchften und unverlierbaren Ahnungen ausprägt. Nutz⸗
los ift jede Anftrengung, der Haren Erfenntniß der Wiffen-
fchaft zu widerftreben und ein Bild fefthalten zu wollen, von
dem uns doch das heimliche Bewußtſein verfolgt, Daß e8 ein
gebrechlicher Traum fer; gleich übel beratben aber ift die Ver-
zweiflung, bie das aufgibt, was bei allem Wechjel feiner For⸗
men doch der unerfchütterliche Zielpunkt menfchlicher Bildung
fein muß. Geſtehen wir vielmehr zu, daß jene höhere Auf-
faffung der Dinge, deren wir uns bald rühmen, bald gänzlich
unfähig fühlen, in ihrem dunklen Drange fich des rechten We-
ges wohl bewußt ift, und daß jede beachtete Einrede der Wiffen-
Schaft nur eine ber täufchenden Beleuchtungen zerftreut, welche
die mechfelnden Standpunkte unjerer veränderlichen Erfahrung
auf das beftändig gleiche Ziel unferer Sehnjucht werfen.
Jene Entgötterung des gefammten Weltbaues, welche Die
tosmographifchen Entdeckungen der Vorzeit unwiderruflich voll-
XIV
zogen haben, den Umſturz ver Mythologie, dürfen wir als
verichmerzt anfehen, und der legten Klage, die in Schillers
Göttern Griechenlands ſich ergoß, wird nie ein Verſuch fol
gen, im Widerftreit mit den Lehren ver Wiſſenſchaft den Glau⸗
ben an biefes Vergangene wiederberzuftellen. Große Umwäl⸗
zungen ber veligiöfen Anfichten haben über dieſen PVerluft
binausgeführt und längft den überreichen Erſatz dargeboten.
Aber wie die wachjende Fernſicht ver Aftronomie den großen
Schauplat des menſchlichen Lebens aus feiner unmittelbaren
Verſchmelzung mit dem Göttlichen löſte, jo beginnt das wei⸗
tere Bordringen der mechanischen Wiſſenſchaft auch bie Kleinere
Welt, den Milrolosmus des menſchlichen Weſens,
mit gleicher Zerjegung zu bedrohen. Ich denke nur flüchtig
hierbei an die überhandnehmende Verbreitung materialiftifcher
Auffaffungen, die alles geiftige Leben auf das blinde Wirken
eines Törperliden Mechanismus zurüdführen möchten. So
breit und zuverfichtlich der Strom diefer Anfichten fließt, bat
er feine Quelle doch keineswegs in unabweisbaren Annahmen,
die mit dem Geifte der mechanischen Naturforfchung unzer-
trennlich zufammenhingen. Aber auch innerhalb der Grenzen,
in denen fie fich mit befferem echte bewegt, ift die zerſetzende
und zerftörende Thätigkeit Diefer Forſchung fichtbar genug und
beginnt alle jene durchdringende Einheit des Körpers und ber
Seele zu beftreiten, auf der jeve Schönheit und Lebendigkeit
der Geftalten, jeve Bedeutſamkeit und jeder Werth ihres Wech⸗
ſelverkehrs mit der äußeren Welt zu beruhen ſchien. Gegen
die Wahrheit der finnlichen Erfenntniß, gegen die freie Will-
fürlichfeit der Bewegungen, gegen bie ſchöpferiſche, aus fich
ſelbſt quellende Entwicklung des körperlichen Dafeins überhaupt
find die Angriffe der phyſiologiſchen Wiſſenſchaft gerichtet ge-
weſen und haben fo alle jene Züge in Trage geftellt, in de—
nen das unbefangene Gefühl den Kern aller Poeſie des leben⸗
digen Dafeind zu befigen glaubt. Befremblich kann daher die
Standhaftigkeit nicht fein, mit welcher die Weltanficht des Ge⸗
XV
müthes als höhere Auffafjung der Dinge den überzeugenben
Daritellungen der mechanischen Naturbetrachtung bier zu wis
berftreben fucht; um fo nöthiger dagegen der Verfuch, bie
Harmlofigkeit diefer Anficht nachzuweifen, die, wo fie ung
zwingt, Anfichten zu opfern, mit denen wir einen Theil un⸗
jere8 Selbit hinzugeben glauben, doch durch das, was fie uns
zurüdgibt, die verlorene Befriedigung wieder möglich macht.
Und je mehr ich felbft bemüht gewefen bin, ven Grund»
fügen ber mechanischen Naturbetracftung Eingang in das Ges
biet des organifchen Lebens zu bereiten, das fie zaghafter zu
betreten ſchien, als das Wefen der Sache e8 gebot: um fo
mehr fühle ich den Antrieb, nun auch jene andere Seite ber-
vorzukehren, die während aller jener Beftrebungen mir gleich
jehr am Herzen lag. Ich darf kaum hoffen, ein ſehr günftt-
ge8 Vorurtheil für den Erfolg diefer Bemühung anzutreffen;
denn was jene früheren Darjtellungen an Zuftimmung etwa
gefunden haben mögen, das dürften fie am meiften der Leich-
tigfeit verdanken, mit ber jede vermittelnde Anficht ſich dahin
umdeuten läßt, daß fie Doch wieder einer der einjeitigen äufßer-
ften Meinungen günftig erjcheint, welche fie vermeiden wollte,
Gleichwohl Liegt in diefer Vermittlung allein der wahre Le-
benspunft der Wiffenfchaft; nicht darin freilich, daR wir bald
der einen bald der andern Anficht zerftüdelte Zugeſtändniſſe
machen, fondern darin, bag wir nachweifen, wie aus nahm s⸗
los univerfell die Ausdehnung, und zugleich wie
völlig untergeorpnet die Bedeutung der Sendung
it, welde der Mechanismus indem Baue der Welt
zu erfüllen bat.
Es ift nicht der umfaflende Kosmos des Weltgangzen,
deſſen Beichreibung wir nach dem Mufter, das unferem Volke
gegeben ift, auch nur in dem beſchränkteren Sinne diefer aus-
gejprochenen Aufgabe zu wiederholen wagen möchten. Je mehr
die Züge jenes großen Weltbildes in das allgemeine Bewußt⸗
jein dringen, deſto lebhafter werden fie uns auf uns felbft zu-
XVI
rücklenken und die Fragen von neuem anregen, welche Be—
deutung nun der Menſch und das menſchliche Leben mit fei-
nen beftändigen Erjcheinungen und dem veränderlichen Laufe
feiner Gejchichte in dem großen Ganzen der Natur bat, beren
beftändigem Einfluffe wir und nach den Ergebniffen der neue⸗
ren Wiſſenſchaft mehr als je unterworfen fühlen. Indem wir
hierüber die Reflexionen zu ſammeln fuchen, die nicht allein
innerhalb der Grenzen der Schule, fondern überall im Leben
fih dem nachdenklichen Gemüthe aufbrängen, wiederholen wir
unter ben veränderten Anfcbauungen, welche Die Gegenwart
gewonnen, das Unternehmen, das in Herders Ipeen zur
Geſchichte der Menſchheit feinen glänzenden Beginn gefun-
den bat.
Inhalt.
FSıfles Bud.
Der Leib.
Erftes Kapitel.
Der Streit der Naturanfichten.
Die Motbologte und bie gemeine Wirklichkeit. — Perfünlihde Naturgeiſter und
bag Reich der Sachen. — Die MWeltfeele und bie befeelenden Triebe. —
Die Kräfte und ihre allgemeinen Geſetze a ne A
weite Kapitel.
Die mechaniſche Natur.
Allgemeinheit ber Geſetze. — Beitimmung bed Wirkfamen. — Die Atome und
der Sinn ihrer Annahme. — Die phufifchen Kräfte — Geſetze ber Wirkun⸗
gen und ihrer ren — ee er je bie a ber
Naturerfcheinungen a u
Drittes Kapitel.
Der Grund bes Lebens.
Die chemiſche Vergänglichleit bed Körper. — Wechſel feiner Beſtandtheile. —
Fortpflanzung und Erhaltung feiner Kraft. — Die Harmonie feiner Wirkun⸗
gen. — Die wirkfame Idee. — Zwedmäßige Re — ne —
Die Maſchinen der menſchlichen Kunft . F i ee
Bierted Kapitel,
Der Mechanismus des Lebens.
Beftändige und periodiſche Verrichtungen. — Fortſchreitende Entwicklung. —
Geſetzloſe Störungen. — Die Anwendung der chemiſchen Kräfte und ihre
Folgen für das Leben. — Geſtaltbildung aus formloſem Keime. — Stoff⸗
wechſel; feine Bedeutung, feine Form und feine Organe u
Seite
31
67
84
XVII
Bünftes Kapitel.
Der Bau des thierifchen Körpers.
Das Knochengerüſt. — Die Muskeln unb bie motorifhen Nerven, — Das
Gefaͤßſyſtem und ber Kreislauf des Blutes. — une und N
— Ausſcheidungen — a» rn ———
Sechſtes Kapitel.
Die Erhaltung des Lebens.
Phyfiſche, organiſche, pſychiſche Ausgleichung der Störungen. — Beiſpiele ber Her⸗
ſtellung des Gleichgewichtes. — Das ſympathiſche Nervenſyſtem. — ———
Unruhe alles Organiſchen. — Allgemeines Bild des Lebens
Bweifes Bud).
Die Seele,
Erftes Kapitel.
Das Dafein der Seele.
Die Gründe für die Annahme ber Seele. — Freiheit des Willens. — Unvergleich⸗
barkeit der phyfiſchen und ber pfochifhen Vorgänge. — Nothwendigkeit zweier
verfchiedenen Erflärungsgründe — Annahme ihrer Bereinigung in bemfelben
Weſen. — Die Einheit des Bewußtfeind. — Was fie nicht iſt, und worin fie
wirklich befteht. — Unmöglichkeit, fie aus der Zufammenfegung vieler Wirkungen
zu erflären. — Das beziehenbe Wiffen im Gegenfab zu ——— —
bildung. — Be Ratur ber Seele .
Sweited Kapitel.
Natur und Vermögen ber Seele.
Die Mehrheit der Seelenvermögen. — Mängel ihrer Annahme. — Ihre Verein⸗
barkeit mit der Einheit der Seele. — Unmittelbare und erworbene Vermögen,
Unmöglichkeit eine einzigen Urvermögend. — Borftellen, Zühlen und Wollen.
— Beftändige Thätigkeit des ganzen Weſens der Seele. — Niebere unb höhere
Rüdwirktungen. — Beränberlichleit der Seele und ihre Grenzen. — Das bekannte
und da3 unbefannte Weſen ber Seele . a a
Drittes Kapitel,
Bon dem Verlaufe der Borftellungen.
Das Beharren der Borftelungen unb ihr Vergefienwerden. — Ihr gegenfeitiger _
Drud und bie Enge bed Bewußtfeind. — Die verſchiedene Stärke ber Empfin⸗
dungen. — Klarheitögrabe ber Erinnerungsbilder. — Der Gegenfay ber Vor⸗
ftellungen. — Ber Innere Sin. — Leitung bed —— — die
Geſetze der Aſſociation und Reproduction
Seite
112
136
-159
138
216
XIX
Biertes Kapitel.
Die Formen des beziehenden Wiflens.
Die Berhältniffe zwifchen ben einzelnen Borftellungen als Gegenflände neuer Bors
ſtellungen. — Wechſel des Wiſſens und Wiffen vom Wechſel. — Angeborene
Ideen. — Die räumlich zeitliche Weltauffaſſung ber Sinnlichkeit. — Die den⸗
kende Weltauffaſſung des Verſtandes. — Der Begriff, das N ber ve
— Das zufammenfaflende Beftreben ber Bernunft
Zünftes Kapitel.
Bon den Gefühlen, dem Selbſtbewußtſein und dem Willen.
Entfichung und Formen der Gefühle — Ihr Zuſammenhang mit ber Erfenntniß.
— Die Werthbeftimmungen ber Vernunft. — Selbftbewußtfein; empirifches und
reine IH. — Triebe unb er — De Wille und feine en —
Schlußbemerkung. an ca —
Drittes Bud.
Das Leben.
Erſtes Kapitel.
Der Zuſammenhang zwiſchen Leib und Seele.
Verſchledene Stufen der Weltauffaſſung; die wahren und die abgeleiteten Stand⸗
punkie. — Das allgemeine Band zwiſchen Geiſt und Körper. — Die Möglich⸗
keit und bie Unerflärlichkeit ber Wechſelwirkungen zwiſchen Gleichartigem und
Ungleichartigen. — Die Entſtehung ber Empfindungen. — Die — der
Bewegungen. — Der geſtaltbildende Einfluß der Seele
Zweites Kapitel.
Von dem Sitze der Seele.
Bebentung ber Frage. — Beſchrankter Wirkungskreis ber Seele. — Gehirnbau. —
Art der Eniftehung von Bewegungen. — Bebingungen der raͤumlichen An⸗
ſchauung. — Bedeutung ber unverzweigten Nervenfafern. — Allgegenwart ber
Seele im Körper le a a ee ee ie Fe
Drittes Kapitel.
Formen der Wechfelwirkung zwifchen Leib und Seele.
Organ ber Seele. — Organ ber Raumanſchauung. — Korperliche Begrünbung ber
Sefüple. — Hoͤhere Intelligenz, fittlicheß und äſthetiſches Urtheil. — Organ des
Gedaͤchtniſſes. — Schlaf und Bewußtlofigkeit. — Einfluß körperlicher Zuftänbe auf
den Borfiellungslauf. — Eentralorgan der Bewegung. — Reflerbewegungen. —
Angelidte Rücwirkungsformen. — Theilbarleit der Seel. — Phrenologie
— Hemmung des Geiſtes durch die Verbindung mit bem Körper
246
269
299
354
XX
Seite
Viertes Kapitel.
Das Leben der Materie.
Die beſtãndige Tauſchung der Sinnlichkeit. — Unmöglichkeit des Abbildes ber Dinge
in unferer Wahrnehmung. — Eigner und höherer Werth der Sinnlichkeit. —
Die innere Regſamkeit der Dinge. — Die Materie Erſcheinung eines Webers
finnlihen. — Ueber bie Möglichkeit außgebehnter Weſen. — Die allgemeine Be
feelung ber Welt. — Der Gegenjag zwiſchen Körper und Seele nicht —
nommen. — Berechtigung ber Vielheit gegen bie Einheit . . 386
Fünftes Kapitel.
Bon den erften und ben leuten Dingen bes Seelenlebens.
Beſchränktheit der Erkenntniß. — Fragen über bie Urgeſchichte. — Unſelbſtändigkeit
alles Mechanismus. — Die Naturnothwendigkeit und bie unendliche Subftanz.
— Möglichkeit des Wirkens überhaupt. — Urfprung beftimmter Geſetze des
Wirkens. — Unfterblichleit. — Entftehung der Seelen . . . 416
2270 BP BL
Erfes ud.
Der Reid,
Lotze I. 4. Aufl.
x EA
or THE
Erſtes Rapitel.
Der Streit der Naturanfidten.
Die Mythologie und bie gemeine Wirklichkeit. — Perfönliche Naturgeifter und das
Reid der Sachen. — Die Weltfeele und bie befeelenden Triebe. — Die Kräfte
und ihre allgemeinen Geſetze.
Nach der früheſten Vorzeit unſeres Geſchlechtes wenden wir
zuweilen, ein verlornes Gut beflagend, unfere Gedanken zurüd,
Damals, in der ſchönen Jugend der Menfchheit, babe gegenfeitiges
Berfiehen die Natur dem Geifte genähert und freiwillig habe fie
bor ihm das verwandte Leben ihres Innern entfaltet, das fie
jegt dem Angriffe unferer Unterfuchung verberge. Um die Außen-
feite der Erſcheinungen irrend treffe der ermattete Blick ber
Gegenwart nur auf den Umtrieb felbftlofer Stoffe, auf Das blinde
Ringen bewußtlofer Kräfte, auf die freudlofe Nothwendigkeit
unvermeidlicher Vorherbeftimmung; unmittelbar in die Tiefen
dringend babe das hellere Auge des jugenblihen Menſchen⸗
geſchlechts Nichts von dieſen Schreden geſehen: mitwifjend habe
damals ber Geift die ewigen Ideen erkannt, die ihrer jelbft be
wußt das lebendige Weſen der Dinge find, mitgefüihlt bie ver—
ftändlichen Negungen der Sehnfucht, welche die Beweggründe ihres
Wirkens bilden; nicht als thatfächliche Gejeglichfeit von unbegreif-
licher Herkunft fer der Zuſammenhang der Wirklichkeit ihm gegen⸗
übergeftanden, denn in fi jelbft habe er die ſchöpferiſche Abficht
1*
4
nacherlebt, aus deren feliger Einheit heraus die Natur, unbeengt
durch ihr vorangehende Schranken, die Fülle ihrer Erſcheinungen
hewortreibt.
Ich laſſe dahingeſtellt, ob jene Anklage der Gegenwart ge⸗
recht iſt; aber ich will zeigen, daß die Vorſtellung von einer ſo
reſtloſen Beſeelung der Natur, wie dieſe leidenſchaftlichen Aus—
drücke fie preiſen, zu feiner Zeit Die menſchliche Weltanſicht aus-
ſchließlich hat beherrſchen können. Alle jene Regſamkeit freilich,
die unſer eigenes Gemüth füllt, den vielgeftaltigen Lauf der Ge-
banken, das heimliche Spiel der Gefühle, die lebendige Kraft des
Strebens, in deren gefeglofer Freiheit und das jhönfte Gut unfers
Dafeind gegeben ſcheint: Das alles glaubt die Kindheit des Ein-
zelnen und glaubte die Jugend der, Erfenntnig auch unter den
fremdartigften Formen der Außenwelt wiederzuerfennen. Doch
nur dem Finde mag der geringe Umfang feiner Erfahrungen und
der geringe Ernft ihrer Verknüpfung den Genuß diefer Täuſchung
friften. Die Jugend des menfchlihen Gefchlechtes Dagegen umfaßt
das Altern vieler Einzelnen; ſchon früh mußte fie deshalb Die
volle Mannigfaltigfeit der Erfahrungen, die ein ganzes menfch-
liches Xeben füllen, und mit ihr ein binlängliches Maß verftändiger
Einficht befiten, um jenen Gedanken einer ſchrankenlos befeelten
Natur nur wie einen Feſttagstraum zu hegen, der am Werktag
unverftändlich wird.
Denn nur ein tbatlos beſchauliches Träumen könnte fich
ungeftört an der Borftellung einer Lebendigleit erfreuen, die mit
freier willfürliher Regung alle Gebiete der Natur durchdränge.
Das thätige Leben Dagegen muß für Die Befriedigung feiner Be-
dürfniſſe und für alle Zwecke feines Handelns auf Beftänbigfeit
und Berechenbarfeit. der Ereignifie und auf voraus erkennbare
Nothwendigkeit ihres Zufammenhangs bauen dürfen. Die aU-
täglichften Eriheinungen veihen bin, und von dem Borhanden-
fein dieſer willenlofen Zuverläffigkeit in den Dingen zu über-
zeugen, und fie mußten früh fchon das Gemüth gewöhnen, die
Welt, in der die menſchliche Thätigfeit ſich bewegt, als ein Reich
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benugbarer Sachen zu behandeln, in welchem alle Wechſelwirkungen
an die lebloſe Negelmäßigfeit allgemeiner Geſetze gebunden find,
Die gemöhnlichiten Vorkommniſſe des Lebens lehrten unver:
meiblih Die Wirkungen der Schwere Tennen; der roheſte Verſuch
zum Bau eines Obdachs erregte Borftellungen vom Gleichgewicht
der Maſſen, von der Bertheilung des Drudes, von den Vor⸗
theilen des Hebel; Erfahrungen, die wir in der That ſchon bie
mindeft gebilveten Völker zu dem mannigfachften Gebrauche an=
wenden fehen. Pfeil und Bogen benugend mußte die frühefte
Jagdkunſt auf die Schnellfraft der geipannten Saite rechnen; ja
fie mußte ftillfchweigend auf die Regelmäßigfeit vertrauen, mit ber
diefe Eigenihaft unter mechjelnden Bedingungen wähft und ab-
nimmt, Selbft die noch einfachere Sertigfeit, Durch den geſchleu—
derten Stein das Wild zur erlegen, wäre nie geübt worden, hätte
nit wie eine unmittelbare Gewißheit gleichſam in Fleiſch und
Blut des Armes die Vorausſicht gelebt, Richtung und Geſchwindig⸗
feit de8 geworfenen Körperd werde durch die fühlbaren Unter-
ihiede in der Art und Größe unferer Anftrengung vollftändig
beftimmt fein.
Keine Mythologie bat dieſe Ericheinungen und das in ihnen
fihtbare Band einer allgemeingefeglihen Verknüpfung abfichtlich
in das Ganze ihres Weltbildes aufgenommen. Und doch lagen
alle diefe Dinge, Schwere Gleichgewicht der Maflen Stoß und
Mittbeilung der Bewegung, täglih vor .Aller Augen, doch find
fie e8, duch deren abfichtliche Benugung der Menſch um ſich her
jenen künſtlichen Verlauf der Dinge, jene technijche und wöhnliche
Natur begründet, auf die mit. dem Anwachſen der Bildung fein
Leben bald ungleich mehr als auf die urfprüngliche wilde Kraft
und Schönheit der Schöpfung bezogen iſt. Aber wie viel zu
nahe dieſe Thatjachen auch Tiegen mochten, um unbemerft zu
bleiben, dennoch befremdet uns nicht, daß die mythologiſche Phan-
tafie fich der Gedanken gänzlich entjchlug, welche fte erregen mußten.
Denn nicht nur den Neger ſehen wir abwechſelnd feinen Fetiſch
prügeln und anbeten; auch unfere Bildung wiederholt zuweilen,
6
obwohl mit mehr Geihmad, dieſe Wunderlichkeit. Nur allzu-
leicht wohnen in derſelben menfchlichen Seele die verſchiedenſten
Gedanken friedlich neben einander, ohne daß ihr Widerſpruch bis
zur Nothmendigfeit einer Ausgleihung empfunden wird. Mit
weitfihtigem Blick konnte daher Die Dichtende Phantafie über das
hinmwegfehen, was ihr vor den Füßen lag, und das blendenbe
Bild einer lebendig befeelten Natur entwerfen, währen das han⸗
delnde Leben unbefangen fortfuhr, für feine Abfichten die Leblofig-
feit der gemeinen Natur vorauszufegen und auszubeuten. Mit
ber Blindheit deſſen, der nicht fehen will, zog fidh Die mythologiſche
Naturauffaffung frühzeitig von allen den Erſcheinungen zurid,
bie wir entmweber ſelbſt Fünftlich erzeugen, oder deren Berhalten
zu augenfcheinlich von Maßbeftimmungen äußerer Anläffe geregelt
wird. Site beſchränkte ihre poetifche Deutung auf Vorgänge, die
entweder in wandellofer Regelmäßigfeit, wie Die Bewegung ber
Geſtirne, die Jahreszeiten und ber Kreislauf des Pflanzenlebeng,
oder in unberechenbarer Unordnung, wie die launenhaften Ver—
änderungen des Luftkreifes, allen umgeftaltenden Einflüffen unferer
Willkür entzogen find. In biefen Auszug einer auserwählten
Natur vertiefte fi Die Phantafie jener Gefchlechter und in feiner
Berherrlihung wurde fie durch feine Erinnerung an bie gemeine
Wirflichfeit geftört, Die Doch täglih vor ihren Augen als ein
maſſenhaftes Zeugniß für Die blinde Nothwendigkeit im Zufanmten-
hange der Dinge balag.
Es ift anziehend, im Einzelnen hier vorübergehend zu be-
merfen, was wir im Allgemeinen erwarten Tonnten: auch biefe
Scheidung einer vornehmen und einer gemeinen Natur war völlig
undurchführbar; aud auf dem engeren Gebiete, welches fie fich
gemählt hatte, gelang e8 der Mythologie keineswegs, die äußere
finnlihe Wirklichkeit gänzlich zu vergeiftigen; auch bier vermochte
fie den dunflen und fpröden Kern der Sachlichkeit und des blinb-
gefeglihen Zufammenhanges, ven fie floh, nur zurüdzudrängen
und zu verhüllen, ohne ihn auflöfen oder auch nur entbehren zu
Ünnen.
7
Denn zuerſt: in anderer Geſtalt als in der des menſch⸗
lichen und des verwandten thieriſchen Lebens hat geiſtige Reg⸗
ſamkeit nicht jene überredende Anſchaulichkeit für uns, Die ben
vollen unbefangenen Glauben erzeugt. Mochten die Germanen
die keimende Saatfpige, indem fie den Boden burchbohrt, als ein
lebendiges Wefen feiern, jo hatte Doch der mythiſche Ausdruck
dieſer zierliden Naturbeobachtung kaum einen andern Sinn als
den eine® Bildes, das im Stillen doc wieder von dem Bezeich⸗
neten unterſchieden wird. Auch dem Griechen konnte Demeter
nicht das fprofjende Grün, nicht die Seele der Feldfrucht ſelbſt
fein; fie blieb die menſchlich geftaltete Göttin, die beſchützend und
fördernd fi) um das Gebeihen eines Keimes bemüht, deſſen Ent-
wicklungskraft zulegt doc nur in dem Dunkel feines eignen Innern
log. Jeder Fortichritt des Feldbaus mußte die Kenntniß der
Bedingungen erweitern, die diefe Entwidlung begünftigen, und ber
gläubigen Verehrung blieb Nichts der Göttin zu danken übrig,
als die erfte unbegreiflihe Schöpfung bes Keimes, während ben
einmal entitandenen die Wechſelfälle des Naturlaufs entfalteten.
Mag die dichteriſche Sprache den Flußgott jelbft dahinfließen Taffen,
immer zieht ſich doch fühlber die Phantafie auf die Borftellung
zurüd, ihm in menfchlicher Geftalt als die beherrichende Perfön-
lichkeit zu faſſen, der das flitffige Element zwar als nächſtes
Eigenthum, aber doc ftet$ als ein Fremdes und Anderes gegen-
iiber bleibt. Nur ein Werkzeug in der Hand Juppiters find bie
Blige; die Winde werden eingefangen und entlaffen von ihren
göttlihen Gebietern: überall tritt die elementare Welt in den
alten Gegenjat zu dem Reiche der Geifter zurück, ein geftaltbarer
Stoff für ihre Herrſchaft, aber nie felbft zu eignem geiftigen Leben
erwachend. &8 mag eine poetiihe Naturauffaffung gewefen fen,
filr die nah den Worten bes Dichter8 aus dem Scilfe die Klage
ber Syring tönte, oder die Tochter des Tantalus in dem Steine
fchwieg; aber dieſe und wie viele ähnliche Sagen überzeugen un
doch nur, daß der Mythologie die einvringende und eigenthüm⸗
liche Beſeelung der Natur mißlang. Denn nur dadurch wußte
fie ja Etein und Schilf zu beieelen, daß fie beide als verwandel⸗
tes menſchlich es Leben fakte, und es nun der Anftrengung ber
Phontafie überließ, die Erinnerung an dies veritänblidhe vor⸗
malige Dafein am die ſprẽde limverflänblichleit der verwanbelten
Form zu Inüpfen.
Die trũgeriſche Farbenpracht des Herbſtes, der jedes Blatt
zur Blüthe zu veredeln ſcheint, vergleicht eim reizendes Gedicht
Rüderts mit der gediegenen Lebenötraft des Frühlings, die unter
allem Blühen niemals den vollen bunflen grünen Trieb ver-
Veuguet. Dies herbſtliche Beginnen war das zweite, worin bie
Wythologie fheiterte;, wie fie den Stoff micht zu vergeifligen
vermocht Batte, jo mißlang ihr aud, bie Greigniffe in lauter
blühende Zreiheit zu verflären: unũberwindlich trat ber dunkle
Zrieb einer urfprünglidgen, unausvenfbaren Rothwendigfeit wieder
zu Zoge. Es half ihr nicht, daß fie feinen Aublid floh und
allein dem Slanze der Götterwelt und ihrer Herrſchaft iiber das
Reich der Stoffe fih zumandte. Denn aud bier mußte fie, um
nur diefe Herrihaft möglich zu finden, einen Kreis ewiger und
allgemeiner Geſetze befennen, unter deren Zuftimmung allein jeg=
liher Wille Macht gewinnt über die Zuſtände der Dinge Im
der Berehrung eined unergründlidien Schidfals, das auch die
Götter binde, ſprach fie dieſen Gebanten in feiner Beziehung zu
dem Gange der fittliden Welt aus; minder ausdrücklich aber
Doch erfennbar genug wiederholt ihn jede Schilderung des Wech⸗
felverfehr8 zwiſchen den göttlichen Weſen und den Elementen der
Natur. Wo jet der jeelenlofe Feuerball fi) dreht, mochte da⸗
mals in ftiller Majeftät Helios den goldnen Wagen Ienten; aber
das Rad diefes göttlihen Wagens vollendete feinen Umſchwung
nicht nach anderen Gefegen, und nicht nach anderen übte und
litt die Are Drud, als nad) welchen allegeit auf Erben ſich die
Räder jegliches Wagens um ihre belaftete Are drehen werben.
Nur der mühfeligen Anftrengung des eignen Handanlegens konnte
die Poefie die Götter überheben, aber nie hat fie ganz die Bor-
ftellung einer allgemeinen Ordnung der Dinge entbehren können,
9
nach deren Gefeten allein der lebendige Wille die Welt der Stoffe
bewegt. Während Kronion den Blig noch Durch die Anftrengung
feiner Hände fchleudert, bewegt allerdings das Zuden feiner Augen-
brauen mühelos die Tiefen des Olymp; aber dies ergreifenbe
zweite Bild der göttlihen Macht wiederholt doch nur verhüllter
denſelben Hergang einer mittelbaren Wirkfamleit, den jenes erfte
in anſchaulicher Ausführlichleit ausſpricht. Celbft die mofaifche
Scöpfungsgeichichte, erhabener als andere, weil fie unmittelbar
baftehen läßt, was der göttliche Wille befahl, ohne durch Schilde⸗
rung phyſiſcher Vermittlungen den Eindrud der Allmacht zu
ſchwächen, auch fie hält Doch den ſchweigenden Gedanken noch nicht
für den genügenden Anfang der Echöpfung. Sie läßt Gott wenig-
ftens das Wort ausiprechen, Die zartefte allerdings, aber Doc
immer eine deutliche Vorbedingung, die hergeftellt fein zu müſſen
ſchien, damit durch fie angeregt Die ewige Nothwendigkeit der
Dinge das gebotene Werden vollbrächte.
So bleibt denn in Wahrheit die Mythologie meit hinter
dem zurüd, mas fie zu veriprechen ſchien; den Zwieſpalt ber
Weltanfänge, den fie ſchlichten wollte, hat fie kaum vervedt. Nicht
die Welt der Sahen mußte fie zu befeelen: nur eine zweite
Welt konnte fie zu ihr binzubichten, jene göttlichen Seelen, bie
um den dunklen Kern der Dinge oder über ihm ſchwebend jeden
Zufall des blinden Naturlaufs in ihrem eignen Innern zu Be-
wußtfein und Genuß verflären; aber fie find das Reale nicht,
das fie genießen. Sie konnte ebenfowenig das unvordenkliche
Recht der Sahen, die gejegliche Nothwendigfeit in dem Zu⸗
ſammenhange der Dinge, verflüchtigen; nur binzugebichtet Hat fie
bie felige Willfür eines himmliſchen Lebens, deſſen Freiheit fi
farbig von dieſem dunflen Grunde abhebt; aber doch nur in
biefem Grunde findet jeder Schritt dieſes Lebens den feften Boden
für feinen Auftritt.
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Gue: aubere Riheraı der Getexier kirb Tee Ernemerung
be6 miilungenen Berizhs zberizien Summe es veraui an, deu
Gessin dar —
bis zm tie remdartigen Armen bei Daeint bein verfolgt zu
haben: ven ibzen zca Rh Wüter erü Dee Fboniafte anf einen
bei vernãandlib Kieb, als lim tee Erinmeresy au ıbre wripring-
Inbe Bedeutung verleren war. Aber alö er nällıg abgetbaner
Traum tritt dech tür un6 die ummtbelngiihe Seltarica in größere
Terme zursf; jene andere Acttafluna Dagegen. Deren wir bier
au zweiter Etelle gebeuten wellen, we ite vielleicht Die frũheſte
Blüthe des icribenten Geiiteö wear, it zu alien Zeiten lebendig
geblieben, unt gilt ver Gegemvart faum geringer als ber Boreit.
Es ichien fein Berluft, daß die wachlende Griabrung ben
Glauben an anichauliche Sẽttergeſtalten zeritert batte. indem fie
ne eine Auſchauung derſelben gewäbrte. Denn eben dies ver⸗
langte der neme Gebanfe nicht mehr, tie belebenden Raturgeifter
als geionderte Weſen neben den todten Ztciten zu erbliden; ver-
einigen wollte er vielmehr, was die Mutbologie unter ihren
Händen fietS wieder in zwei getrennte Welten zerfallen ſah;
unmittelbar im ſich felbit lebendig follte der Särper ber natür-
lichen Gebilde die icelenvolle Kraft ſeiner Entwicklung im eignen
Innern tragen. Aber als man in dieſer Abſicht lebendige Reg-
ſamleit iiber das Neich der organiſchen Geſchẽpfe hinaus bis in
Die formlofeften Beſtandtheile der Außenwelt zu verfolgen firebte,
ba mußte, wie der Umriß der menſchlichen Geftalt, fo noch weiter
and das Bild des menſchlichen Seelenlebens unzureichend zur
Bezeichnung der gefuchten Lebenbigfeit werden. Denn nur wenige
Erzeugniffe der Natur ftellen ſich fo als abgefchloffene Ganze bar,
daß es leicht ift, fie als Wohnftätten perfönlicher Geifter zu deuten.
Man mag audy andern noch die Fähigkeit zuſchreiben, Eindrücke
11
in fi aufzunehmen und von ihnen zu leiden; aber vie Abweſen⸗
beit jener Gliederung, an welche nach unferer Erfahrung die
Möglichleit, finnliher Anſchauungen, ihre Berknüpfung zu einer
georbnieten Weltanfhauung und die Rückwirkung des Willens ge-
bunden ift, verhindert uns, in ihnen eine Form des Seelenlebens
zu vermutben, bie ihnen geftattet, fich auf gleichem Wege mit und
zum Selbftbewußtfein zu entwideln. Se mehr wir endlich von
zuſammengeſetzten Gebilden zu den einfachen Elementen zurüd-
geben, um fo mehr verichwindbet der Schein einer unberechenbaren
Freiheit des Handelns; um fo deutlicher zeigt fih jede Natur
auf eine einförmige und unter ähnlichen Bedingungen ſtets ähnlich
wiederkehrende Weiſe des Wirkens beichräntt, ohne Anzeichen einer
inneren Fortbildung und ohne jene Auffammlung ımd Verarbeitung
der Eindrüde, durch melde jede einzelne Seele im Laufe ihres
Lebens zu einer unvergleichlichen Eigenthümlichkeit vertieft wird.
Dur ſolche Beobachtungen geleitet ſpricht die neue Auffaffung,
Die wir der mythologiſchen Weltanficht gegenüberftellen, nicht mehr
von Seelen, welde die Dinge treiben, fondern von Trieben,
welche fie befeelen. Aber mit der neuen Wendung des Ge-
dankens, deren kurze Bezeichnung ich vorläufig durch Diefen Gegen-
fat verſuchte, ſcheinen wir doch mehr einzubüßen, als wir zunächſt
wiederzuerſetzen im Stande find.
Denn vor allem: völlig verftändlich ift uns doch nur Das
volle bewußte geiftige Leben, das wir in uns jelbit erfahren.
Müffen wir auf feine Allgegenwart in der Natur verzichten, fo
mag für verſtändlich auch der entgegengeſetzte Gedanke einer völlig
blinden Nothmwendigfeit des Wirkens gelten, für verftännlich wenig⸗
ftend infofern, als wir den Anſpruch nicht mehr maden, und in
dies volllommene Gegentheil unſers eignen Weſens hineinzuempfin⸗
den. Aber eben darum kann freilich dieſe Vorſtellung uns nur
genügen, ſo lange wir uns beſcheiden, die Ereigniſſe der Natur
nur berechnen und zur Befriedigung unferer Bedürfniſſe beherr⸗
hen zu können; ver fortbeftehenden Sehnfuht, uns in Das
Innere der Dinge bineinzuverfegen, gewährt fie Nichts. Deshalb,
12
um diefer drohenden Selbftlofigfeit aller Dinge zu entgehen, ſchaffen
wir ben Begriff des Triebes; denn nicht Died allein meinen
wir in diefem Namen auszudrüden, daß fein fremder Zwang
mit grundlofer Nothwendigleit die Dinge zu ihren Wirkungen
dränge; auch in ihrer eignen Natur ſoll diefer Drang nit nur
vorhanden fein, er foll von ihnen auch als ber ihrige gewußt,
genoffen, von ihnen gewollt und von ihnen beftändig in fich ſelbſt
wiedererzeugt werden, oder auf welche Weife man jonft das Ver⸗
langen ausbrüden will, ihn als die eigne, lebendige Natur
ber Dinge, als ihre Selbftheit zu erfaflen. Anftatt der klaren
Sonne des perfönlichen Bewußtſeins, die in den Geftalten der
mythiſchen Welt glänzte, hat man daher ſtets wenigftend das
Mondlicht einer unbewußten Vernunft in den Dingen wieber
aufgehen Lafien, Damit das, was fie leiften, nicht nur von ihnen
auszugehen heine, jondern in irgend einer Weife auch für fie
felbft vorhanden ſei und won ihnen als ihr eignes Thun und
Dafein erlebt werde.
Die Menge der Umfchreibungen und Bilder, die ich beburfte,
und die man wohl immer bebürfen wird, um empfindbar zu
maden, was wir bier fuchen, macht von felbft Schon bemerklich,
wie zwifchen jene beiden Extreme, den Glauben an perfönliche
Naturgeiſter und den Gedanken einer blinden Nothmwendigfeit des
Wirlens, diefe Borftelung von einer unbewußten Vernunft
höchſt unklar in die Mitte tritt. Aber eine entfchiebene Vorliebe
pflegt doch das menſchliche Gemüth in den mannigfachften Wen-
dungen immer wieder zu dieſer Vorftellung zurüdzuführen, Die
alfo doch wohl einem tieferen Bediirfniffe des Geiftes entſprechen
muß. Und in der That, ſuchen wir und hieriiber Rechenſchaft
zu geben, fo begegnen wir ſchon in unferem gewöhnlichen Em—
pfinden mander Spur einer Neigung, dem vollen Licht bes
geiftigen Lebens ein gedämpfteres Zwielicht vorzuziehen und bie
Grenzen zwiſchen bemußtem Handeln und unbewußten Wirken zu
verwiſchen.
Wohl wiſſen wir als bie beiden weſentlichen Zuüge, durch
13
die der Geift fi von den Dingen ſcheidet, das befonnene Denten
zu ſchätzen, das unjere innern Zuftände verknüpft und die Will-
für, bie ihre Entichlüffe fich ſelbſt zurechnet; aber das Schönfte
des geiftigen Lebens ſcheint und nicht immer in diejen beiden
zu liegen. Nicht jedes Wort der Aeußerung fol als Ergebniß
eined nachrechenbaren Gedanfenganges erfheinen; wir freuen uns
vielmehr der Unmittelbarfeit, mit der aus unbewußten Tiefen
der Seele der Ausdruck ihres Lebens unaufflärbar und Doch ver-
ftändlich hervorbricht. Wir bewundern die durchſichtige Confequenz,
mit der eine Tüdenlofe Kette von Folgerungen vom Anfangspunft
einer Unterfuchung zu ihrem Ergebniß führt, aber viel höher gilt
ung doch oft jene andere Folgerichtigfeit, welche in Werken ber
Kunft Gedanken aus Gedanken keimen läßt, ohne daß Die ver-
mittelnden Glieder nachweisbar würden, deren verfnüpfende Wirk⸗
ſamkeit wir empfinden. Ind ebenfo mögen wir uns als Gejchöpfe
unſers eignen Willend nur da betradgten, wo wir in fittlicher
Selbftbeurtheilung Werth oder Unwerth einer einzelnen Handlung
anf uns zu nehmen haben; aber es gilt uns zugleich als Auf-
gabe der Erziehung, daß nicht nur die geringfügigen Bewegungen,
zu denen die Vorkommniſſe des täglichen Lebens anregen, ſondern
daß auch unfere ganze fittlihe Haltung als unmillfürliche
Aeußerung einer ſchönen Natur ericheine, ohne den fchwerfälligen
Ernft der Abfichtlichfeit und darum auch ohne alle Erinnerung
an die Möglichkeit ihres Andersſeins. Auch die Mythologie
verftand dies nicht anders, wenn fie die Erſcheinungen der Natur
aus geiftigen Beweggründen deutete. Nicht jedem Sonnenaufgang
geht ein erneuerter Entſchluß des Gottes voraus; der urfprüng-
Ihe Wille wirkt, wie in bämmernde Entfernung zurüdgetreten,
mit der unbemußten Macht einer anmuthigen Gewohnheit fort.
Dadurch eben gibt die Natur fih als Natur, daß fie unter dem
Einfluß von Beweggründen ſich zu regen fcheint, deren Bewußt⸗
fein in ihr ſelbſt verflungen ift, und deren Macht nur noch traum:
baft als ein zurückgebliebener unmwillfürliher Zug empfunden
wird, Und in diefe Dämmerung lieben wir auch unfer eignes
14
Sein zu verfenfen, wie hoch wir auch Die Helligfeit des Denkens
und die Freiheit unſeres Wollens ſchätzen mögen: Die Gegenwart
einer unbewußt und unwillkürlich wirlenden Natur auch in uns
jeldft leugnen wir nicht, fondern Heben mit Vorliebe ihre be-
ftändige ftille Thätigkeit berbor.
Kaum find wir uns über Die Gründe Mar, die uns in dieſer
Neigung beftärken, und ich hoffe nicht, fie bier zu erſchöpfen. Aber
e8 jcheint mir zuerft, als überwältigte uns zumeilen die Empfindung,
wie fehr alle Unterfuhung und Beweisführung, alle Erwägung
und Entſchließung zu dem mühjeligen Verfahren Desjenigen Lebens
gehört, das noch auf dem arbeitvollen Wege nad einem entfern=
ten höchſten Gute begriffen iſt. Dann fühlen wir Die Verlodung
nach, Die in fo vielen ſchwärmeriſchen Seelen die Sehnſucht nad
der Austilgung ihres perjönlichen Lebens in der umfafjenden Flut
eines allgemeinen Geiſtes erzeugte: jene in ſich verfunfene Be-
ſchaulichkeit, für welche alle ftraffen Bänder eines geordneten Ge-
danfenzufammenbanges fi löſen und bie Grenzen zwifchen dem
Ih und feinem Gegenftand in träumerifcher Identität verſchwim⸗
men, jenes pflanzenartige Leben, das jeden Willen und jedes
Streben nad) Entferntem aufgegeben bat: diefe jcheinen ung in dem
ungegliederten allgemeinen Gefühl, mit dem fie und ausfüllen,
in wirflicher Gegenwart jenes höchſte wahrhafte Gut zu befiten,
deſſen fernes Abbild der ruhelofen Arbeit unferer Gedanken und
unfer® Willens vorſchwebt. Den Frieden dieſer endlichen Er-
füllung ziehen wir der unendlichen Kaftlofigfeit der Sehnſucht
vor. Aber vielleicht eben fo fehr reizt uns die Ausfiht in ein
Unendlihes, die uns gleichzeitig durch jene Beobachtung einer
bemußtlos in uns wirkenden Natur aufgeht. Ein gemtijchtes
Glück des Selbſtgefühls und der Demuth ſcheint in der That
für und von der Wahrnehmung auszugehen, daß unſer eigneß
Innere eine Welt verbirgt, deren Geftalt wir nur unvollfonmen
ergründen, und deren Wirken, mo es in einzelnen Zügen in unfere
Beobachtung fällt, und mit Ahnungen unbelannter Tiefen unfers
eignen Weſens überrafcht. Wer fich jelbft ganz durchſichtig wäre,
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fhiene ung mit fich fertig zu fein; nur wer fi felbft allmählich
findet, bat Grund für fein eignes Daſein Theilnahme zu empfinden.
Darum möchten wir jenen bumnflen Kern unferd Innern nicht
miffen; wir zählen ihn ebenfo fehr zu unferer eignen Perfönlich-
feit, bie fi fo für uns bis zu der Größe einer Welt erweitert,
m der uns felbft noch Entdedungen zu machen find, und eben-
ſowohl erfennen wir ihn als Etwas, das in uns felbft doch nicht
wir jelbft if. Damm treten wir befangen vor dieſem geheimniß-
vollen Rückhalt unſeres Weſens zurück, und glauben in ihm nun
jene Unenbliche zu jehen, das aller endlichen Erfcheinungen ewige
Grundlage bilbet.
Ich füge nur flüchtig noch das Tette Hinzu. Wie wir in
unferem Innern die Grenzen des Bewußten und des Unbewußten
zu verwiſchen Lieben, fo pflegen wir auch Dies Innere felbft nicht
in ſcharfen Gegenfag zu feiner leiblichen Außengeftalt zu feten.
Saft nur, wo die Vorftellung des Todes Gebanfen an eine fernere
Zufunft rege macht, denken wir daran, den Körper nur als die
wieder abzubrechende Hülle zu betrachten, in bie der Geift fich
nur einmwohnt, ohne mit ihr zu verſchmelzen. Aber das unbefangne
Leben Tennt diefe Auffaffung jehr wenig, und felbft wo unfer
Nachdenken fie feitbält, gelingt e8 uns Doch nie, fie aus einer
mittelbaren Ueberzeugung bis zur Klarheit eines unmittelbaren
Lebensgefühls zu fteigern. Immer wird Hand und Fuß, immer
die brudempfindende Oberfläche unſers Körpers und als ein Theil
unfers eignen Selbft ericheinen, und keineswegs als ein benadh-
bartes Gebiet der Außenwelt, über welches die Herrichaft ber
Seele fih nur unbedingter al8 über entlegenere Theile derfelben
erftredte. Weberall fträubt fi unfer Gemüth, jene innige Ein-
beit zwifchen Leib und Seele aufzugeben, deren Gefühl aus der
Berfettung unferer Organifation uns allen als eine freundliche
Täufhung entipringt. Dann exit fcheint der Geift feine Be:
fimmung zu erfüllen, wenn er nicht eine fremde Mafle von
außen bewegt, ſondern in fie hinein thätig fich fortfegt; dann
erft ſcheint auch der Stoff volle Berechtigung feines Dafeind zu
16
haben, wenn er nicht allein als verwendbare Sache dem Geifte
gegenüberfteht, fondern von ber Wärme defjelben innerlich durch⸗
Drungen wird. Es ift der künſtleriſche Trieb, das äfthetiiche Be-
bürfniß, das bier in ung mächtig wird. Wie wir in aller Schön-
beit eine geheimnißvolle Berfchmelzung des idealen Innern mit
feiner realen Erſcheinung fuchen, fo verlangen wir vor allem auch
von der Wiffenfchaft die befeelte Geftalt in dem Zauber ihrer
Ganzheit anerkannt zu fehen, mit dem ſie uns im Leben als bie
fihtlihe Erfüllung unferer Sehnfuht nach jener Einheit vor-
ſchwebt, und Tieber als unverftandene Wirklichkeit wollen wir fie
bewundern, als zugeben, daß das Verſtändniß fie auflöfe.
Aus folhen und ähnlichen Gründen entipringt wohl bie
Anziehungstraft, welche ftet8 auf uns jene Borftellung einer
unbewußten Die ganze Natur burchdringenden Vernunft ausübt;
und nur diefe Gründe habe ich erwähnen wollen, die ber ge=
ſchilderten Auffafjung ihren verlodenden Reiz für jedes menic-
liche Gemüth geben; ich übergehe die Crörterungen, mit denen
pbilofophifche Speculationen nur innerhalb der Grenzen ber Schule,
aber nicht liberzeugend für das Iebendige Empfinden, ihre An⸗
nahme zu empfehlen fuchen. Und ich vermuthe zugleich, daß auch
ſolche Empfehlungen den Vorwurſ der Unflarbeit nicht befeitigen
würden, ben wir dem Grundbegriffe diefer Auffaffung machen.
Denn indem wir und auf die Iebendige Erfahrung eines unbewuß-
ten geiftigen Wirkens in und berufen, berufen wir und nicht nur
auf das, was in unferem eignen Innern ber Aufflärung am
meiften bedarf, fondern Die Unterjuchung würde nad wenigen
Schritten zeigen, daß alle jene Zuftände, wenigftens fofern fte
mit dem Genuß verknüpft fein ſollen, auf welden wir Werth
legten, Grenzfälle find, denen nur ein perfönliches und inbivt:
buelles Geiftesleben fih mit den Mitteln feiner Natur nähern
kann; fie werden undenkbar anftatt erflärbarer zu werden, wenn
wir Diefe Bedingung fallen Laffen.
Doch nicht blos durch die Unflarheit ihres Princips fteht
diefe Anficht im Nachtheil gegen den Glauben an perfönliche
17
Naturgeifter; auch den zweiten Tadel können wir ihr nicht er-
fparen, daß fie jelbft durd die Anwendung dieſes Princips einen
Gewinn nicht leicht wieder erzeugen wird, den bie mythologiſche
Weltanficht allerdings gewährte. Denn die lebhafte Befriedigung,
mit welcher wir diefer flet8 von neuem in ihre Deutungen ber
Natur folgen, beruht großentheils darauf, daß fle die Erfcheinungen
auf Beweggründe zurüdführt, deren Werth dem Gefühle unmit-
telbar verftändlich if. Wenn Helios Tag für Tag den Sonnen-
wagen über den Himmel führt, fo ift es nicht die dumpfe Natur-
nothwendigkeit eines unbegreiflihen Inftinctes, bie ihn antreibt,
fondern „damit er den Unfterblichen Leuchte‘ wiederholt er das
einförmige Tagewerk als feinen Beitrag zu der feligen Ordnung
der Göttermelt. Und wie häufig fonft erfcheinen in den Sagen
ber verfchiedenften Völker die Bewegungen der Geftirne, ihr gegen-
feitige8 Suchen und Tliehen, als Folgen von Thaten und Schid-
falen, aus denen für die Fortdauer dieſes monotonen Spieles
überall anmutbige Beweggründe der Liebe der Pflicht der Sehn-
ſucht oder Erinnerung entfpringen! So geftaltet fih in Wahrheit
die Natur zu dem Widerſchein einer geiftigen Welt; die äußer—
lichen Wirkſamkeiten der Dinge haben nicht größeren Werth, als
die Geberden des Lehendigen überall haben: nicht um ihrer felbft
willen find fie vorhanden, fondern um auf ein Inneres zurüd-
zubeuten, Das in ihnen ſich äußert, ohne ſich in ihnen zu er-
ichöpfen. Geben wir den Glauben an perfönliche Naturgeifter
auf, fo wird diefer Rückhalt, den eine geiftige Welt der Natur
bietet, zunächft nur gemindert. Mag immerhin auch jet nod)
das äußere Gebahren der Dinge aus einem traumhaften Triebe
ihres Innern entipringen, fo leitet doch Feine Analogie uns an,
uns eine Borftellung von dem weiteren Hintergrunde ihres Seelen-
lebens zu bilden, aus dem diefer Traum und Die einzelne Wirk-
ſamkeit, die er anregt, eben als einzelne Aeußerung neben anderen
hervorgehen fünnte in einziger Trieb, unmittelbar auf eine
einzige Art des Wirkens gerichtet, iſt das ganze Innere der Dinge,
ihr Ein und Alles geworden und fie ericheinen gegivungen zur
Loge I. 4. Aufl.
8
fie ja Stein und Schilf zu befeelen, daß fie beide als verwandel⸗
tes menſchliches Leben faßte, und es num der Anftrengung der
Phantaſie überließ, die Erinnerung an Dies verftändliche vor⸗
malige Dafein an bie ſpröde Unverftänblichkeit der verwanbelten
Form zu knüpfen.
Die trügeriſche Farbenpracht des Herbſtes, der jedes Blatt
zur Blüthe zu deredeln ſcheint, vergleicht ein reizendes Gedicht
Rückerts mit der gebiegenen Lebenskraft des Frühlings, Die unter
allem Blühen niemal® den vollen dunklen grünen Trieb ver-
leugnet. Dies herbftliche Beginnen war das zweite, worin Die
Mythologie fcheiterte, wie fie den Stoff nicht zu vergeiftigen
vermocht hatte, jo mißlang ihr auch, die Ereigniffe in lauter
blühende Freiheit zu verflären: unüberwindlich trat der dunkle
Trieb einer urſprünglichen, unausdenkbaren Nothwendigfeit wieder
zu Tage. Es half ihr nicht, daß fie feinen Anblick floh und
allein dem Glanze der Götterwelt und ihrer Herrichaft über das
Keih der Stoffe ſich zuwandte. Denn auch bier mußte fie, um
nur diefe Herrihaft möglich zu finden, einen Kreis ewiger und
allgemeiner Geſetze befennen, unter deren Zuſtimmung allein jeg-
liher Wille Macht gewinnt über die Zuftände der Dinge In
der Berehrung eines unergründligen Schidfals, das auch die
Götter Binde, ſprach fie dieſen Gedanken in feiner Beziehung zu
dem Gange der fittlihen Welt aus; minder ausbrüdlich aber
doch erkennbar genug wiederholt ihn jede Schilderung des Wech⸗
felverfehrs zwiſchen den göttlichen Wefen und den Elementen der
Natur. Wo jet der feelenlofe Feuerball fi dreht, mochte da—
mals in ftiller Majeftät Helios den goldnen Wagen Ienfen; aber
das Rad dieſes göttlichen Wagens vollendete feinen Umſchwung
nicht nach anderen Gefegen, und nicht nad anderen übte und
litt die Are Druck, als nad welchen allezeit auf Erden ſich die
Räder jegliches Wagens um ihre belaftete Are drehen werben.
Nur der mühjeligen Anftrengung des eignen Handanlegens konnte
bie Poefle die Götter überheben, aber nie hat fie ganz die Vor-
ftellung einer allgemeinen Ordnung ber Dinge entbehren können,
9
nach deren Gefegen allein ber lebendige Wille die Welt der Stoffe
bewegt. Während Kronion den Blig noch durch Die Anftrengung
feiner Hände ſchleudert, bewegt allerdings das Zuden feiner Augen-
brauen mühelos die Tiefen des Olymp; aber dies ergreifende
zweite Bild der göttlichen Macht wiederholt doch nur verhüllter
denfelben Hergang einer mittelbaren Wirkfamfeit, den jenes erſte
in anſchaulicher Ausführlichleit ausſpricht. Selbft die mofaifche
Schöpfungsgefchichte, erhabener als andere, weil fie unmittelbar
daſtehen läßt, was ber göttliche Wille befahl, ohne durch Schilves
rung phyſiſcher Bermittlungen den Eindrud der Allmacht zu
ſchwächen, auch fie hält doch den ſchweigenden Gedanken noch nicht
für den genügenden Anfang der Schöpfung. Sie läßt Gott wenig-
ſtens das Wort ausſprechen, die zartefte allerdings, aber doch
immer eine deutliche Vorbedingung, die hergeftellt fein zu müſſen
bien, damit durch fie angeregt die ewige Nothmwendigfeit der
Dinge das gebotene Werden vollbrädte.
So bleibt denn in Wahrheit die Mythologie weit hinter
dem zurüd, was fie zu verfprechen fehlen; den Zwieſpalt der
Weltanfänge, den fie ſchlichten wollte, hat fie kaum verdeckt. Nicht
die Welt der Sachen wußte fie zu befeelen: nur eine zweite
Welt konnte fie zu ihr binzudichten, jene göttlichen Eeelen, die
um den bunflen Kern der Dinge oder über ihm ſchwebend jeden
Zufall des blinden Naturlaufs in ihrem eignen Innern zu Be-
mwußtfein und Genuß verflären; aber fie find das Reale nicht,
das fie genießen. Sie konnte ebenfowenig das unvordenkliche
Recht der Sachen, die geſetzliche Nothwendigfeit in dem Zu⸗
fammenbange der Dinge, verflüdtigen; nur hinzugedichtet hat fie
die felige Willkür eines himmliſchen Lebens, deſſen Freiheit ſich
farbig von diefem dunklen Grunde abhebt; aber doch nur in
dieſem Grunde findet jeder Schritt dieſes Lebens den feiten Boden
für feinen Auftritt.
10
Einer andern Richtung der Gebanten blieb die Erneuerung
des mißlungenen Verſuchs überlaffen. Käme es darauf an, dem
Hergang diefer Wandelungen der Anfichten geſchichtlich zu ſchildern,
fo bürften wir allerdings fo nicht ſprechen. Denn mit grübeln-
der Reflexion fcheint vielmehr weit früher die Menſchheit dem
Gedanken eines allgemeinen Naturlebens nachgehangen und ihn
bis in die frembartigften Formen des Dafeins hinein verfolgt zu
haben; von ihnen zog fich fpäter erft die Phantafte auf eimen
engern Kreis anfchaulicher Geftalten zurüd, deren ideale Schön-
beit verftändlich blieb, als längft die Erinnerung an ihre urfprüng-
liche Bedeutung verloren war. Aber als ein völlig abgethaner
Traum tritt Doch für uns die mythologiſche Weltanficht. in größere
Ferne zurüd; jene andere Auffaflung dagegen, deren wir bier
an zweiter Stelle gedenfen wollen, wie fte vielleicht Die frühefte
Blüthe des forjchenden Geiftes war, ift zu allen Zeiten lebendig
geblieben, und gilt der Gegenwart kaum geringer als der Vorzeit.
Es ſchien fein Berluft, daß die wachfende Erfahrung den
Glauben an anfchauliche Göttergeftalten zerftört hatte, indem fie
nie eine Anfchauung derjelben gewährte. Denn eben dies ver⸗
langte der neue Gedanke nicht mehr, die belebenden Naturgeifter
als gefonderte Weſen neben den todten Stoffen zu erbliden; ver⸗
einigen wollte ex vielmehr, was bie Müthologie unter ihren
Händen ftet8 wieder in zwei getrennte Welten zerfallen ſah;
unmittelbar in fich felbft lebendig follte der Körper der natür-
lichen Gebilde die jeelenuolle Kraft feiner Entwidlung im eignen
Innern tragen. Aber als man in biefer Abficht Tebendige Reg⸗
ſamkeit über das Reich der organiſchen Geſchöpfe hinaus bis in
die formlofeften Beftandtheile der Außenwelt zu verfolgen ftrebte,
da mußte, wie der Umriß der menichlichen Geftalt, fo noch weiter
auch das Bild des menſchlichen Seelenlebend unzureichend zur
Dezeihnung der gejuchten Xebendigkeit werden. Denn nur wenige
Erzeugnifje der Natur ftellen fi fo als abgeichloffene Ganze dar,
daß es leicht ift, fie als Wohnftätten perfönlicher Geifter zu deuten.
Man mag au andern noch die Fähigkeit zufchreiben, Eindrücke
11
in fih aufzunehmen und von ihnen zu leiden; aber die Abweſen⸗
heit jener Gliederung, an welche nad unferer Erfahrung Die
Möglichkeit, finnliher Anſchauungen, ihre Verknüpfung zu einer
georbneten Weltanichauung und die Rüdwirkung des Willens ge-
bunden ift, verhindert uns, in ihnen eine Form des Seelenlebens
zu vermutben, die ihnen geftattet, ſich auf gleichem Wege mit und
zum Selbfibewußtfein zu entwideln. Ye mehr wir endlich von
zufammengefegten Gebilden zu den einfachen Elementen zurüd-
geben, um jo mehr verſchwindet der Schein einer unberechenbaren
Freiheit des Handelns; um fo deutlicher zeigt fich jede Natur
auf eine einförmige und unter ähnlichen Bebingungen ftet8 ähnlich
wiederfehrende Weife Des Wirkens beſchränkt, ohne Anzeichen einer
inneren Fortbildung und ohne jene Auffammlung und Verarbeitung
der Eindrüde, durch welde jede einzelne Seele im Laufe ihres
Lebens zu einer unvergleichlichen Eigenthümlichkeit vertieft wird.
Dur ſolche Beobachtungen geleitet ſpricht die neue Auffaffung,
die wir der mythologifchen Weltanficht gegenüberftellen, nicht mehr
von Seelen, welde die Dinge treiben, fondern von Trieben,
welche fie befeelen. Aber mit der neuen Wendung des Ge-
danfens, deren kurze Bezeichnung ich vorläufig durch dieſen Gegen:
fat verfuchte, fcheinen wir Doc mehr einzubüßen, als wir zunächſt
wiederzuerſetzen im Stande find.
Denn vor allem: völlig verſtändlich ıft und doch nur das
volle bewußte geiftige Leben, das wir in uns felbft erfahren.
Müflen wir auf feine Allgegenwart in ber Natur verzichten, fo
mag für verftänblich auch der entgegengefeßte Gedanke einer völlig
blinden Nothwendigkeit des Wirkens gelten, für veritändlich wenig-
ſtens injofern, al8 wir den Anfpruch nicht mehr machen, und in
dies vollkommene Gegentbeil unfers eignen Weſens hineinzuempfin-
den. Aber eben darum Tann freilich dieſe Borftellung uns nur
genügen, jo lange wir uns bejcheiden, die Ereigniffe der Natur
nur berechnen und zur Befriedigung unferer Bedürfniſſe beherr⸗
Then zu Tönnen; der fortbeftehenden Sehnfuht, uns in das
Innere der Dinge hineinzuverfegen, gewährt fie Nichts. Deshalb,
12
um biefer drohenden Selbftlofigkeit aller Dinge zu entgehen, ſchaffen
wir den Begriff des Triebes; benn nicht dies allein meinen
wir in diefem Namen auszudrücken, daß kein fremder Zwang
mit grunblofer Notbwendigkeit die Dinge zu ihren Wirkungen
dränge; auch in ihrer eignen Natur foll diefer Drang nicht nur
vorhanden fein, er foll von ihnen auch als der ihrige gewußt,
genoſſen, von ihnen gewollt und von ihnen beftändig in fich felbft
wiebererzeugt werden, oder auf welche Weife man ſonſt Das Ver⸗
langen ausbrüden will, ihn als die eigne, lebendige Natur
der Dinge, als ihre Selbftheit zu erfaffen. Anftatt der Haren
Sonne des perfünlihen Bewußtſeins, die in den Geftalten ber
mythiſchen Welt glänzte, bat man daher ſtets wenigftens das
Mondlicht einer unbewußten Vernunft in den Dingen wieder
aufgehen laſſen, damit das, was fie leiften, nicht nur von ihnen
auszugeben jcheine, jondern in irgend einer Weife aud für fie
jelbft vorhanden fei und von ihnen als ihr eignes Thun und
Daſein erlebt werde.
Die Menge der Umfchreibungen und Bilder, bie ich beburfte,
und die man wohl immer bedürfen wird, um empfinbbar zu
maden, was wir Hier fuchen, macht von felbft Schon bemerflich,
wie zwifchen jene beiden Extreme, den Glauben an perfönliche
Naturgeiſter und den Gedanken einer blinden Nothwendigkeit des
Wirkens, dieſe Borftellung von einer unbewußten Vernunft
höchſt unklar in Die Mitte tritt. Aber eine entſchiedene Vorliebe
pflegt doch das menſchliche Gemüth in den mannigfachften Wen-
dungen immer wieder zu dieſer Borftellung zurüdzuführen, die
alfo doch wohl einem tieferen Beblirfniffe des Geiftes entiprechen
muß. Und in der That, ſuchen wir uns hierüber Nechenfchaft
zu geben, fo begegnen wir ſchon in unferem gewöhnlichen Em-
pfinden mander Epur einer Neigung, dem vollen Licht des
geiftigen Lebens ein gebämpfteres Zwielicht vorzuziehen und bie
Grenzen zwiſchen bewußtem Handeln und unbewußtem Wirken zu
verwiſchen.
Wohl wiſſen wir als die beiden weſentlichen Züge, durch
13
die der Geift fich von den Dingen fcheivet, das befonnene Denken
zu ſchätzen, das unſere innern Zuftände verfnüpft und bie Will-
für, die ihre Entfchlüffe ſich jelbft zurechnet; aber das Schönſte
des geiftigen Lebens jcheint uns nicht immer in dieſen beiben
zu liegen. Nicht jedes Wort der Aeußerung foll als Ergebniß
eines nachrechenbaren Gedankenganges ericheinen; wir freuen uns
vielmehr der LUnmittelbarfeit, mit der aus unbewußten Tiefen
ber Seele der Ausdruck ihres Lebens unaufflärbar und doch ver-
ſtändlich hervorbricht. Wir bewundern die durchſichtige Confequenz,
mit der eine Tüdenlofe Kette von Folgerungen vom Anfangspuntt
einer Unterſuchung zu ihrem Ergebniß führt, aber viel höher gilt
uns doch oft jene andere Tolgerichtigfeit, welde in Werfen bey
Kunſt Gedanken aus Gedanken keimen läßt, ohne daß bie ver-
mittelnden Glieder nachweisbar würden, deren verfnüpfende Wirf-
famfeit wir empfinden. Und ebenfo mögen wir uns als Gefchöpfe
unſers eignen Willens nur da betrachten, wo wir in fittlicher
Gelbftbeurtheilung Werth ober Unmerth einer einzelnen Handlung
auf uns zu nehmen haben; aber es gilt uns zugleich als Auf-
gabe der Erziehung, daß nicht nur die geringfügigen Bewegungen,
zu denen bie Vorkommniſſe des täglichen Lebens anregen, jondern
daß auch umfere ganze fittlihe Haltung als unmillfürliche
Aeußerung einer ſchönen Natur erſcheine, ohne den jchmerfälligen
Ernft der Abfichtlichleit und darum auch ohne alle Erinnerung
an die Möglichkeit ihres Andersſeins. Auch die Mythologie
verftand Dies nicht anders, wenn fie die Erſcheinungen der Natur
aus geiftigen Beweggründen deutete. Nicht jedem Sonnenaufgang
geht ein ernenerter Entſchluß des Gottes voraus; dev urfprüng-
Tihe Wille wirkt, wie in bämmernde Entfernung zurüdgetreten,
mit der unbewußten Macht einer anmuthigen Gewohnheit fort.
Dadurch eben gibt die Natur ſich als Natur, daß fle unter dem
Einfluß von Beweggründen ſich zu regen ſcheint, deren Bewußt⸗
fein in ihr jelbft verflungen ift, und deren Macht nur noch traum:
baft als ein zurüdgebliebener unmillfürliher Zug empfunden
wird. Und in diefe Dämmerung Tieben wir auch unfer eignes
14
Sein zu verfenfen; wie hoch wir auch die Helligfeit des Denfens
und die Freiheit unſeres Wollens jchägen mögen: Die Gegenwart
einer unbewußt und unwilllürlic wirlenden Natur auch in uns
ſelbſt leugnen wir nicht, fondern heben mit Vorliebe ihre be—
ftändige ftille Thätigfeit hervor.
Kaum find wir uns über Die Gründe klar, die ung in dieſer
Neigung beftärken, und ich hoffe nicht, fie hier zu erfchäpfen. Aber
e8 ſcheint mir zuerft, als überwältigte un zuweilen die Empfindung,
wie fehr alle Unterfuhung und Beweisführung, alle Erwägung
und Entſchließung zu dem mühfeligen Verfahren desjenigen Lebens
gehört, das noch auf dem arbeitwollen Wege nad einem entfern-
ten höchſten Gute begriffen iſt. Dann fühlen wir die VBerlodung
nad, die in fo vielen ſchwärmeriſchen Seelen die Sehnſucht nach
der Austilgung ihres perjünlichen Lebens in der umfafenden Flut
eine allgemeinen Geiſtes erzeugte: jene in ſich verfunfene Be-
ſchaulichkeit, für welche alle ftraffen Bänder eines georbneten Ge-
banfenzufammenhanges ſich löſen und die Grenzen zwiſchen dem
Ih und feinem Gegenjtand in träumerifcher Identität verſchwim⸗
men, jenes pflanzenartige Leben, das jeden Willen und jedes
Streben nad) Entferntem aufgegeben bat: dieſe fcheinen ung in dem
ungegliederten allgemeinen Gefühl, mit. dem fie uns ausfüllen,
in wirklicher Gegenwart jenes höchſte wahrhafte Gut zu befigen,
deſſen fernes Abbild der ruhelofen Arbeit unjerer Gedanken und
unſers Willens vorſchwebt. Den Frieden diefer endlichen Er-
füllung ziehen wir der unendlichen Raſtloſigkeit der Sehnſucht
vor. Aber vielleicht eben fo ſehr reizt uns die Ausfiht in ein
Unendliches, die uns gleichzeitig durch jene Beobachtung einer
bemußtlo8 in uns wirkenden Natur aufgeht. Ein gemifchtes
Glück des Selbftgefühls und der Demuth jcheint in der That
für uns von der Wahrnehmung auszugehen, daß unfer eignes
Innere eine Welt verbirgt, deren Geftalt wir nur unvollkommen
ergründen, und deren Wirken, wo es in einzelnen Zügen in unfere
Beobachtung fällt, ung mit Ahnungen unbelannter Tiefen unfers
eignen Weſens überraſcht. Wer fich ſelbſt ganz durchſichtig wäre,
15
ſchiene und mit fich fertig zu fein; nur wer ſich jelbft allmählich
findet, bat Grund für fein eignes Dafein Theilnahme zu empfinden.
Darum möchten wir jenen dunklen Kern unfers Innern nicht
miflen; wir zählen ihn ebenfo jehr zu unferer eignen Perfünlich-
keit, die fih fo für uns bis zu der Größe einer Welt erweitert,
im der uns felbjt noch Entdedungen zu machen find, und eben-
ſowohl erfennen wir ihn als Etwas, das in uns felbit doch nicht
wir felbft if. Dann treten wir befangen vor dieſem geheimniß-
vollen Rückhalt unjeres Wejens zurüd, und glauben in ihm nun
jenes Unendliche zu ſehen, das aller endlichen Exrfcheinungen ewige
Grundlage bildet.
Ih füge nur flüchtig noch das letzte hinzu. Wie wir in
unferem Innern die Grenzen des Bewußten und des Unbewußten
zu verwiſchen lieben, fo pflegen wir auch dies Innere felbft nicht
in ſcharfen Gegenſatz zu feiner leiblichen Außengeftalt zu feten.
Faft nur, wo die Vorftellung des Todes Gedanken an eine fernere
Zukunft vege macht, denken wir daran, den Körper nur als die
wieder abzubrechende Hille zu betrachten, in die der Geift fich
nur einwohnt, ohne mit ihr zu verſchmelzen. Aber das unbefangne
Leben kennt diefe Auffaffung ſehr wenig, und felbft wo unfer
Nachdenken fie feithält, gelingt es und Dod nie, fie aus einer
mittelbaren Weberzeugung bis zur Klarheit eines unmittelbaren
Lebensgefühls zu fteigern. Immer wird Hand und Fuß, immer
die brudempfindende Oberfläche unſers Körpers uns als ein Theil
unſers eignen Selbft ericheinen, und Teinesmegs als ein benad-
bartes Gebiet der Außenwelt, über welches die Herrihaft ber
Seele fih nur unbedingter als über entlegenere Theile derſelben
erftredte. Meberall fträubt fi unfer Gemüth, jene innige Ein-
heit zwiſchen Leib und Seele aufzugeben, deren Gefühl aus ber
Berfettung unferer Organifation uns allen als eine freundliche
Täuſchung entipringt. Dann erſt fcheint der Geift feine Be—
flimmung zu erfüllen, wenn er nicht eine fremde Maſſe von
außen bemegt, jondern in fie bineim thätig fich fortfegt; dann
erſt ſcheint auch der Stoff volle Berechtigung feines Daſeins zu
16
haben, wenn er nicht allein als verwendbare Sache dem Geifte
gegenüberfteht, fondern von ber Wärme deſſelben innerlich durch⸗
Drungen wird. Es iſt ber fünftlerifche Trieb, das äfthetiiche Be-
dürfniß, das bier in uns mädtig wird. Wie wir in aller Schön-
beit eine geheimmißvolle Verſchmelzung des idealen Innern mit
feiner realen Erſcheinung juchen, fo verlangen wir vor allem auch
von der Wiflenfchaft Die bejeelte Geftalt in dem Zauber ihrer
Ganzheit anerkannt zu jehen, mit dem fie uns im Leben als Die
fihtlihe Erfüllung unferer Sehnfuht nah jener Einheit vor=-
fhmwebt, und Lieber als unverftandene Wirklichkeit wollen wir fte
bewundern, als zugeben, daß das Verſtändniß fie auflöfe.
Aus folden und ähnlichen Gründen entfpringt wohl Die
Anziehungskraft, welche ſtets auf uns jene Vorſtellung einer
unbewußten die ganze Natur durchdringenden Vernunft ausübt;
und nur biefe Gründe babe ich erwähnen wollen, die der ge-
fchilderten Auffafiung ihren verlodenden Reiz fir jedes menjch-
liche Gemüth geben; ich übergehe die Erörterungen, mit denen
philofophifche Speculationen nur innerhalb der Grenzen der Schule,
aber nicht überzeugend für das Iebendige Empfinden, ihre An-
nahme zu empfehlen fuchen. Und ich vermuthe zugleich, daß auch
ſolche Empfehlungen den Vorwurf der Unflarheit nicht befeitigen
wiürben, den wir dem Grundbegriffe diefer Auffaffung machen.
Denn indem wir uns auf die lebendige Erfahrung eines unbewuß-
ten geiftigen Wirlens in uns berufen, berufen wir und nicht nur
auf Das, was in unferem eignen Innern der Aufflärung am
meiften bedarf, jondern die Unterfuhung würde nad wenigen
Schritten zeigen, daß alle jene Zuſtände, wenigftens fofern fie
mit dem Genuß verknüpft fein jollen, auf welchen wir Werth
legten, Grenzfälle find, denen nur ein perjönliches und indivt-
duelles Geiftesleben fi mit den Mitteln feiner Natur nähern
fann; fie werden undenfbar anftatt erflärbarer zu werben, wenn
wir diefe Bedingung fallen Laffen.
Doch nicht blos durch die Unklarheit ihres Princips fteht
dieſe Anfiht im Nachtheil gegen den Glauben an perjünliche
17
Naturgeifter; auch den zweiten Zabel können wir ihr nicht er-
ſparen, daß fie felbft dur die Anwendung dieſes Princips einen
Gewinn nicht leicht wieder erzeugen wird, den die muythologifche
Weltanſicht allerdings gewährte. Denn die lebhafte Befriedigung,
mit welcher wir Diefer ftet8 von neuem in thre Deutungen der
Natur folgen, beruht großentheild darauf, daß fie Die Erfcheinungen
auf Beweggründe zurücführt, deren Werth dem Gefühle unmit-
telbar verftändlih if. Wenn Helios Tag für Tag den Sonnen-
wagen über den Himmel führt, jo ift e8 nicht die Dumpfe Natur-
nothmwendigfeit eines unbegreiflihen Inſtinctes, die ihn antreibt,
jondern „damit er den Unfterblichen leuchte‘ wiederholt er das
einförmige Tagewerk als feinen Beitrag zu der feligen Ordnung
der Götterwelt. Und wie häufig fonft ericheinen in den Sagen
der verichiedenften Völker die Bewegungen der Geftirne, ihr gegen:
feitige8 Suchen und Fliehen, als Folgen von Thaten und Schid-
jalen, aus denen für die Fortdauer dieſes monotonen Spieles
überall anmutbige Beweggründe der Liebe der Bfliht der Sehn-
ſucht oder Erinnerung entipringen! So geftaltet ſich in Wahrheit
die Natur zu dem Widerſchein einer geiftigen Welt; die äufer-
lichen Wirkſamkeiten der Dinge haben nicht größeren Werth, als
die Geberden des Lebendigen überall haben: nicht um ihrer felbit
willen find fie vorhanden, fondern um auf ein Inneres zurüd-
zubeuten, das in ihnen ſich äußert, ohne ſich in ihnen zu er-
Ihöpfen. Geben wir den Glauben an perſönliche Naturgeifter
auf, To wird diefer Rückhalt, den eine geiftige Welt der Natur
bietet, zunächſt nur gemindert. Mag immerhin auch jet noch
da8 äußere Gebahren der Dinge aus einem traumhaften Triebe
ihres Innern entfpringen, fo leitet doch Feine Analogie uns an,
ung eine Borftellung von dem weiteren Hintergrunde ihres Seelen-
lebens zu bilden, aus dem diefer Traum und die einzelne Wirf-
jamfeit, Die er anregt, eben als einzelne Aeußerung neben anderen
hervorgehen könnte. Ein einziger Trieb, unmittelbar auf eine
einzige Art des Wirkens gerichtet, ift das ganze Innere der Dinge,
ihr Ein und Alles geworden und fie erfcheinen gerwungen zur
Loge J. 4. Aufl.
18
Ausübung einer Geberde, ohne das Größere in ſich zu erleben,
als deſſen Ausdruck allein dieſe gerechtfertigt wäre. Die gegen-
feitige Anziehung der Stoffe würde die Mythologie ebenfo wie fie
die Wendung der Blume nad) der Sonne erklärt, auf eine ver⸗
ftändlihe Sehnfucht zurüdgeführt und diefe Sehnſucht ſelbſt aus
der Geſchichte vergangener Schidfale begründet haben. Die räum-
lihe Bewegung würde ihr fo als der augenblidlihe Ausdruck
eined mannigfadhen und in feiner Mannigfaltigfeit uns noch
empfindbaren geiftigen Lebens gegolten haben, das mit dem Reich-
thum ſeines Inhalts weit über dieſe einzelne Weußerung hinaus-
veiht und eben deshalb dieſe einzelne wahrhaft aus fich zu moti-
viren vermag. Ein Trieb der Anziehung dagegen, den wir in
der Natur der Stoffe zu finden meinen, wiederholt und eigent-
lih nur die unverfiandene Thatſache der Bewegung und fügt
anftatt des erflärenden Beweggrundes nur den Gebanten einer
gleich unverftändlichen Nothwendigfeit Hinzu, welche die Dinge
nöthige, fie auszuführen. In der That, fo erfcheinen uns die .
Naturereigniffe nur noch wie die ſtummen Gefticulationen von
©eftalten, deren Bilder fih gegen den Horizont abgrenzen, während
ihre Worte die Entfernung verihlingt.
Das war e8 nun doch nicht, mas dieſe ganze Weltanficht
wollte; zu allen Zeiten finden wir fie daher bemüht, durch eine
weitere Ausbildung ihrer Gedanken diefer Verkümmerung der
Naturauffaffung wieder zu begegnen. Auf einen zufammenfaffen-
den Weltgrund, auf Eine unendliche Vernunft führte fie vor
allem die zeriplitterte BVielheit der Erfcheinungen zurüd; in das
Innere dieſer träumenden und fhaffenden Weltfeele verlegte fie
finnvolle Urtriebe, die in unerſchöpflicher Mannigfaltigkeit der
Formen ſich ausgeftaltend diefe Wirklichkeit begründen. In ein-
zelnen Geſchöpfen zu vollem Selbftbemußtfein hindurchdringend,
wird dieſe ewige Kraft doch auch in jenen Gebilben, in denen fte
nur träumend und unbewußt fi regt, von denfelben Bemeg-
gründen ihres Handelns geleitet, und jedes einzelne Erzeugniß
ber Natur brüdt in anſchaulicher Verlörperung einen jener Ge—
19
danken aus, in welche ber lebendige Inhalt des Höchſten ſich aus—
einanderlegt. Diefe Gedanken, aus demſelben Urgrunde entfprungen
und in ihm zu dem Ganzen einer unerſchöpflichen Idee zufam-
menftimmend, ftiften zwifchen den Dingen, deren befeelende Triebe
fie find, eine durchdringende Verknüpfung des Sinnes und der
Weſensgemeinſchaft. Und an diefer Gemeinſchaft ihre Grundes
und ihres Zieles, von welcher vielleicht eine dunkle Erinnerung
ihnen geblieben ift, gewinnen die Dinge jenen tieferen Rückhalt
ihres Weſens wieder, den mir vermißten. Die Aeußerungen,
denen das Einzelne nad der Nothwendigkeit feines Triebes fich
überläßt, geichehen nicht mehr um ihrer felbit willen; fie find
Das, was jebem an feinem Orte als feinen Beitrag zu der Ver⸗
wirflihung des allgemeinen Sinnes der Welt zu leiften obliegt.
Und wenn die Gefchöpfe in veränderlicher Entwidlung eine Reihe
bon Zuſtänden durchlaufen, oder in wecfelnden Formen auf
äußere Anläffe zurückwirken, fo find fie auch dazu nicht durch eine
zufammenbanglofe Mehrheit vereinzelter Anftöße gezwungen. Aus
der Einheit der Idee vielmehr, die ihr befeelender Trieb ift, ent-
fpringen wie mit ber poetifchen Nothwendigfeit eines Gedichtes
alle Die mannigfaltigen Formen des Daſeins und Benehmeng,
die wir an ihnen beobachten. So ift jedes Einzelne eine Teben-
dige gejchloffene Einheit, und bat Doch jedes zugleih an dem
großen Ganzen den erflärenden ———— des befonderen Trau⸗
mes, von dem es bewegt wird.
Um der Wahrheit willen, welde fie unftreitig einſchließt,
wird dieſe Auffaffung ihren Eindrud auf das menſchliche Gemüth
nie verfehlen; aber vielfache Schwierigfeiten treten ihr Doc ent-
gegen, wenn fie ernftlih an die Deutung der Erfheinungen geht.
Für jenen unendlich hohen Inhalt der Weltjeele, deſſen einzelne
Ausftrahlungen die Gejhöpfe der Natur find, hat nod Niemand
einen Ausdruck gefunden, der den angeregten Erwartungen ge:
nügen, oder uns für die verftändliche Lebendigkeit entſchädigen
Könnte, mit der die Mythologie Die Natur erfüllt hatte, ‘Denn
alle jene Strebungen nah Entwidlung und Entfaltung, nad
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20
Bielheit in der Einheit und Einheit in der Bielheit, nad Gegen-
fäglichteit und Berföhtung der Gegenfäge, fie alle, darch bie man
das Innere der Weltſeele zu bezeichnen fuchte, lönnen Doch dem
unbefangenen Gemũth nur als nictige, Hinmerliche Aufgaben
erſcheinen, kaum der fpielenden Thatigleit des lindlichen Geiftes
würdig, am wenigfien geeignet, bie ernſten Schöpfungstriebe bes
Weltgrundes auszudrũcken Ginge in folden Beitrebungen bie
Fülle feines Inhaltes auf, fo Könnten wir nicht Ieugnen, daß jeder
zufällig berausgegriffene Augenblid aus dem Leben eines menſch⸗
lichen Herzens unendlich ſeelenwoller fei als die Tiefe der Weltſeele.
Indefjen würde die Unvolllommenbeit unferer Berfudhe, dieſe
Tiefe zu ermefien, nicht gegen bie Wahrheit der Anſicht jelbft
beweijen; auch wenn jenes Höchfte uns beftändig nur in nnaus⸗
ſprechbarer Ahnung vorjchweben follte, Könnte es doc ein Gewinn
fein, wenigſtens durch Zefthaltung diefer Ahnung Die Zebenbigfeit
unferer Naturanſchauung zu fichern. Uber derſelbe Vorwurf,
den wir der Mythologie zu machen hatten, erhebt ſich auch gegen
die Leiſtungen dieſer Anſicht. Denn auch fie, jo ausdrücklich fie
das Ganze der Natur zu umfaſſen verſpricht, bat doch im allen
den Ausführungen, die fie fi) bisher gegeben, in Wahrheit nur
jene auserwählten großen Umriſſe des Raturlaufs vor Augen ge-
habt, auf weiche ſchon Die mythologiſche Phantafie ſich beſchränkie;
fie vernadläffigt, wie dieſe, die Fülle der Heinen gemeinen Wirk-
lichkeit, die, weniger poetiſch aber deſto unabweisbarer, ſich rings
um uns her audbreitet. In der Regſamkeit des Thierlörpers,
in dem Wachsthum der Pflanze, und no in der Kryſtallform
des Feſten und in dem Umlauf der Geſtirne, kurz überall pa, wo
die Einzelwirkungen der Elemente ſich zu einer befländigen ſich
ſelbſt erhaltenden Geftalt des Dafeind umd der Bewegung be-
reits zuſammengefunden haben, überall da mögen wir leicht den
Widerſchein von Ideen finden, die wir im dem Innern der Welt-
feele als Mufter ihres Schaffens voransfegen. Aber die Thaten
des Hebeld und ber Schraube, die Geſetze des Gleichgewichts und
des Stoßes, die Wirkungen des Drudes und der Spannung, dieſe
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alle haben immer weitab von dem Entwidlungsgange ber Welt:
feele zu Tiegen geſchienen und find meift völlig außer dem Ge—
fihtöfreife der fo Philoſophirenden geblieben. Die freie land⸗
ſchaftliche Schönheit der Schöpfung mag die Neigung zu diefer
bornehmen Naturbetrachtung nähren; die häusliche Geſchäftigkeit
unferer Technik, die nicht das Fertige bewundern, fonbern bie
Möglichfeit feines Zuſtandekommens beachten lehrt, muß noth=
wendig zu andern Gedanken führen; unvermeiblich wird durch fie
die Lehre von den ſchöpferiſchen befeelenden Naturtrieben gezwungen,
einer dritten Anficht zu meichen, der letzten von denen, Die im
Großen in der Geichichte der menſchlichen Gedanken einen Ab-
ſchnitt bilven.
In weit größerer Mannigfaltigfeit, als frühere Zeiten, um-
gibt jest uns täglich eine Menge künſtlicher Vorrichtungen, deren
lebloſe Beftandtheile mit zujammengreifenden Bewegungen die
Regſamkeit des Lebendigen glüdlich nahahmen. Auf diefer merk⸗
würdigen Zwiſchenwelt felbftarbeitender Werkzeuge, die ihre Stoffe
ber Natur, die Form ihrer Leiftung aber der menſchlichen Will-
für verbanfen, Tann unfer Blick nicht wiederholt und dauernd
ruben, ohne daß unfere ganze Weife der Naturauffaffung den
Einfluß folder Beobachtungen erführe. Zur Bildung Ddiefer
Machine, die ſich vor uns regt, Tag in den Stoffen, aus denen
fie gebaut ift, Teinerlei innere Vorherbeftimmung; fein lebendiger
Naturzwed hat fie in diefe Form der Vereinigung zufammenge-
führt, kein befeelender Trieb ihnen den Rhythmus ihrer Be—
wegungen eingehaudt. Wir wiffen e8 ja, daß nicht von innen
heraus durch ein eignes Entwidlungsftreben, fondern durch frem-
den Zwang von außen her dies bewunderungswerthe Spiel ein-
ander ablöfender Zuftände an die verbundenen Maffen gelommten
if. Biel einfachere Eigenfchaften und Wirkungsmeifen waren an
fi den einzelnen Stoffen eigen, die wir verfnüpften, nad) all-
22
gemeinen Gefegen mit der Veränderung beftimmter Bedingungen
veränberlih. Diefe unfcheinbaren Kräfte bat unjere Technik durch
bie Tiftige Verbindung, in welche fie ihre Träger verftridte, unter
Umftänden zu wirken genöthigt, unter denen ihre Folgſamkeit
gegen jene allgemeinen Gefege ohne eigne Abſicht Die Zwecke
unferer Abfihten verwirklichen mußte. Iſt dies num jo, laſſen
fih unter unfern Händen die Elemente der Natur wie benuß-
bare Sachen zu den merkwürdigſten Leiftungen verbinden, zu
denen feine entwidlungSbegierige Neigung ihres eignen Innern
fie trieb; warum follte e8 in der Natur felbft anders fein?
Much in ihr vielleicht entftehen die bedeutungsvollen Geftalten
der Gefchöpfe doch nur von außen her durch den Zwang bes
MWeltlaufs, der die Elemente bald fo bald anders zufammenführt,
und unvermeidlich in jeder diefer Gruppen das Syſtem von Be—
wegungen und Leiftungen entftehen läßt, welches nach allgemeinen
Geſetzen der jevesmaligen Weife ihrer Verknüpfung entipricht.
So würden alle Gefchöpfe das fein, wozu fie durch den Zufammen-
fluß vieler äußeren Bedingungen gemacht werben, und fie befäßen
ebenfo wenig einen lebendigen Trieb in ihrem Innern, wie bie
Erzeugniffe unferer Hände, von beren Selbftlofigfeit wir über-
zeugt find.
Je vielfeitiger und Träftiger ſich die praftifche Herrſchaft Der
menschlichen Technik über die Natur ansbreitet, um fo zuberficht-
licher fehen wir auch diefe Folgerung gezogen. Und auch ba, mo
wir nicht mehr von Grund aus Neues aus benugbaren Elemen-
ten aufbauen, fondern nur umzugeftalten fuchen, was die Natur
freiwillig erzeugt, fcheinen die Erfolge dieſe Zuverſicht zu ftärken.
Aus den Miſchungen der Stoffe, welche die Erde uns Darbietet,
hat Die Hand des Chemiker zahlloſe andere hervorgebracht, Die
niemal$ in der Natur beftanden, ehe die Kunft fie bargeftellt
hatte, und viele von ihnen find durch Dauer und Feftigfeit ihres
Daſeins, durch den Glanz ihrer finnlichen Eigenſchaften, durch
die Vielfeitigleit ihrer Wirkſamkeiten den merkwürdigſten derer
ebenbirtig, welde die Natur uns als ihre eignen- Erzeugniſſe
23
ſchenkt. Künftlichen Befruchtungen und langer forgfamer Pflege
unterworfen, haben die Pflanzen Blüthe und Frucht zu erhöhter
Schönheit entwideln müffen und unfere Gärten füllt eine Flora,
die fo, wie fie und entzüct, nirgends eine natürliche Heimat hat.
Selbſt die Geftalt der Thiere erfährt den umbildenden und ver-
edelnden Einfluß der menfhlihen Zucht; wohin wir und aud
wenden, wir begegnen kaum irgendwo den urfprünglichen Zügen
ber Natur; in allen ihren Gebieten bat der berechnende Eingriff
des Menſchen folgenreiche Veränderungen zu ftiften gemußt. Der
Eindrud diefer Beobachtungen verftärft nothwendig die Ver—
muthung, die Natur erzeuge ihre Gebilde nicht durch von innen
befeelende Triebe, denen wir nichts Gleichartiges entgegenzufegen
hätten, fondern durch Zuſammenſetzung berjelben Einzelträfte,
durch deren Anwendung e8 uns gelingt, ihre Geſchöpfe umzu-
geitalten.
Eine andere Veberlegung aber fchien diefe Bermuthung zur
Gewißheit zu mahen. Wenn jedes einzelne Gebilde der Natur
völlig auf fich ſelbſt beruhte und aus fich ſelbſt fich entmidelte,
ohne einer Äußeren Welt zu bedürfen oder für ihre Eingriffe zu—
gänglich zu fein, Dann wäre es möglich, jedes dieſer einzelnen auf
einer einzigen, ihm eigenthlimlichen, befeelenden Idee beruhend zu
denfen, die jede Bejonderheit feiner Fünftigen Entfaltung mit
porbedenfender finniger Confequenz aus ſich entließe. Und fo
eben Hatte jene Anficht, welde an die befeelenven Triebe der
Dinge glaubte, die Natur aufzufaffen geliebt; fie hatte die Wirf-
lichkeit als ein großes ruhendes Bild vorgeftellt, und jede ein-
zelne Geftalt dieſes Gemäldes auf feinen ihm eigenthlimlichen
Sinn zu deuten geſucht. Worüber diefe Beſchaulichkeit hinmweg-
gefehen hatte, das fiel um fo mehr der neuen Denfart ind Auge,
die fi im praftiichen Verkehr mit den Dingen gewöhnt hatte,
nah den Wegen zu fragen, auf denen jegliches Erzeugniß zu
Stande kommen kann. Ihr war es Har, daß die Wirklich—
feit ein jehr bewegtes Bild ift, defien einzelne Theile in beftän-
Diger Wechſelwirkung einander erzeugen, unterhalten, verändern
24
und zerftören. Alles aber, was nicht einfam in einer Welt für
fid wählt und lebt, fondern in dem Zufammenbang einer Wirk-
lichfeit, von der es leiden kann, Alles alfo, was Bedürfniſſe hat
und Bedingungen feiner Entwidlung, das wird in feinem Thun
und Laſſen fi den allgemeinen Gefegen eines Welthaushaltes
unterwerfen müſſen, ber, für alle Wirkliche gleihmäßig gültig,
dem Einzelnen die Befriedigung feiner Bedürfniſſe allein gewähren
ann. Jeder Berlehr verlangt biefe gegenfeitige Ergreifbarkeit
ber Verkehrenden für einander und fest nothmwendig irgend en
allgemeinverbindliches Recht voraus, welches die Größe und Form
der wechfelfeitigen Leiftungen beftimmt, welche fie austauſchen.
Nun ift e8 der bebeutfamften einzelnen Erſcheinung nicht mehr
möglich, fi) als eine abgefchloffene und untheilbare, nur aus fich
jelbft verftändliche Einheit zu geberden; wie fie fich entfaltet, was
fie leiftet und was fie leidet, das ift nicht mehr die unberechen-
bare Erfindung ihres eignen Genius, fondern außer ihr ift dar⸗
über von Ewigkeit her entichieden, und jede ihrer Wirkungen, jeder
ihrer Zuftände wird ihr durch die allgemeinen Geſetze des Welt-
verfehrs und durch Die befondern Umftände zugemefjen, unter denen
fie von ihm erfaßt wird.
Die unorganifhe Natur diefer Betrachtungsweife zu ent-
ziehen hat man felten ernftlich verſucht; man hat Länger ſich ge—
ſträubt ihr auch die lebendigen Gefchöpfe zu unterwerfen. Aber
biefelben Gründe nöthigen uns auch bier fie zuzulaffen. Thiere
und Pflanzen erzeugen weder aus fich ſelbſt noch aus Nichts Die
Stoffe, durch deren Anlagerung ihre Geftalt wächſt; fie entlehnen
fie aus dem allgemeinen Borrath der Natur. In beftändigem
Kreislauf überliefert Die Erdrinde und das Luftmeer dem Pflan=
zenreiche und dieſes der Thierwelt jene unzerftörbaren Elemente,
die bald dieſer bald jener Form des Lebens dienen und zeitweis
in das formlofe Dafein unorganifher Körper zurüdtreten, zu
Allem benugbar, aber aus eignem Antriebe weder fir die eine noch
für die andere Form ihrer Verwendung begeiftert. Diefe Noth-
wendigfeit, aus dem allgemeinen Vorrath zu fchöpfen und die ge-
25
fuchten Elemente erft aus ſchon beftehenden Verbindungen zu löfen, um
fie zu dem eignen Dienfte zu zwingen, fett dem freien Schwunge
ber Lebenstraft in jedem Gefchöpfe enge Grenzen. Gern vielleicht
würde diefe Kraft, den ganzen Lauf der künftigen Entwidlung vor-
bedenfend, mit einem Griffe und aus der Einheit einer Abſicht
heraus die Entfaltung des Lebens Ienfen, ihrerfeit8 geneigt, jene
Geſetze zu überfpringen, welche der übrigen Welt gelten. Aber
die unentbehrlichen Stoffe, deren fie bebarf, werden nicht die
gleiche Neigung theilen; fie werben unerbittlid verlangen, nad)
denfelben Gefegen auch hier gerichtet zu werden, denen ihre Natur
in allen anderen Fällen unterworfen ift. Niemals wird Die Pflanze
die Kohlenfäure des Luftkreiſes zerſetzen, ohne der chemiſchen Ver⸗
wanbtichaft, die deren Theile zufammenbält, eine andere in be-
ftimmten Maße überwiegende Berwandtihaft entgegengefeßt zu
haben, und nie wird die Kohlenfäure die trennende Kraft einer
andern Anziehung anerkennen, als einer foldyen, Die an ein be-
ftimmtes Maß einer körperlichen Maſſe gebunden if. Und wo
das gewonnene Material im Innern des lebendigen Körpers in
die Formen zu bringen ift, welde der Plan der Organifation
verlangt, da wird e8 ebenfo wenig freiwillig fi dieſer Geftaltung
fügen. Wie jede zu bewegende Laſt wird es vielmehr erwarten,
durch beftimmte Größen bewegender Kräfte, von beftimmten Maffen
ausgeübt, feine Theilchen in die verlangte Lage gefchoben zu fehen,
nad) denfelben Geſetzen einer allgemeinen Mechanik, nad) denen
auch außerhalb des Lebendigen alle Bewegungen der Stoffe erfolgen.
Welcher lebendige Trieb daher auch das Innere der Ge—
ſchöpfe befeelen mag: nicht ihm verdanken fie doch ihr Beſtehen
gegen die Angriffe des Aeußern und die Verwirklichung ihrer bez
abfichtigten Leiftungen; fie verbanfen beides in jedem Augenblide
den urfprünglichen Kräften ihrer elementaren Theilden, die in
Berührung mit der Außenwelt tretend Neize aufzunehmen und
auf fie wirkſam zu antworten verftehen. Und welche finnreiche
Aufeinanderfolge die Lebenserfheinungen eines Gejchöpfes zu dem
Ganzen einer zufaommenhängenden Entwidlung verknüpfen mag:
26
auch fie wird ihm nur gewährt Durch die urfprünglich vorhandene
Anorbnung feiner Theile, die dem Gefammterfolg der einzelnen
Wirkungen beftimmte Geftalten gibt, fo wie durch die fortichrei-
tende Veränderung, die diefe Theile ſelbſt fih im Laufe ihrer
Thätigkeit bereiten.
Sp lange die Naturforfhung von der Einheit jenes leben-
Digen Triebes ausging und in ihm die hinreichende Erflärungs-
quelle für die veränderlihe Entwidlung eines Gefchöpfes fuchte,
ift fie wenig glüdlih in der Aufhellung der Erjcheinungen ge=
weſen. Site nahm den lebhafteften Aufſchwung, feitdem fie Die
Thätigleit der kleinſten Theile ins Auge faßte, und, von Punkt
zu Punkt die einzelnen Wirkungen zufammenfegend, die Entftehung
des Ganzen aus der vereinigten Anftrengung unzähliger Elemente
verfolgte. Noch Tieß fie eine Zeit lang jenes Innere, die eine
Lebenskraft jedes Gefchöpfes, mit hergebradhter Verehrung in der
Meinung der Menſchen beftehen, und fie gab theoretifch zu, daß
Die Idee des Ganzen ber Wirkſamkeit der Theile vorhergehe,
während fie praftifh fi längſt darauf eingerichtet Hatte, alle
wirflih fruchtbringende Erklärung nur in dem Zuſammenwirken
der Theile zu ſuchen. Diefe lebte Scheu hat die Gegenwart
überwunden, und müde, ein Inneres zu verehren, das doch nie
werfthätig fich äußerte, hat fie die Mare und beftimmte Auf-
faflungsweife der mehanifhen Naturwiſſenſchaft ebenfo
zum Bortbeil der Forihung wie unleugbar zur Beunruhigung des
Gemüths über alle Gegenftände unferer Naturfenntnig ausgevehnt.
An die Stelle des lebendigen Triebes, der als Ein Hauch
das Ganze zufannnengefegter Bildungen befeelte, fegte fie die ein-
fachen und unzerftörbaren Kräfte, welche den Elementen beftändig
anbaften. Mit veränderlicher Thätigkeit hatte der Trieb bald
diefe bald jene Wirfungsweife entfaltet, hier zurüdbaltend mit
feinem Vermögen, dort mit Anftrengung feine Aeußerung be-
ſchleunigend; ausgleihend und ergänzend, wo es Noth that, war
er nicht durch ein immer gleiches Gefeg feines Handelns ein-
geengt, fondern nur dur die Rückſicht auf das Endziel beftimmt,
27
zu dem alle Einzelheiten der Entwidlung zufammenlaufen follten.
Mit unveränderlicher ſtets gleicher Wirkungsweife haftet dagegen
bie Kraft an den Elementen der Maffe, in jevem Augenblide
Alles mit Nothwendigkeit Teiftend, was nach allgemeinen Gefeten
die vorhandenen Umflände gebieten, und weder im Stande, von
ihrer möglichen Wirkung etwas zurüdzuhalten, noch zu ergänzen,
was bie Ungunft der Umftände ihr verfagt. Bon feinem Ziele
geleitet, das vor ihr ſchwebte, fondern nur durch die Gewalt bes
Naturlaufes, der hinter ihr fteht, vorwärts getrieben, ftrebt fie
nicht von felbft der Verwirklichung eines Planes zu, fondern jede
zufammenbängende Ordnung mannigfacher Wirkungen beruht auf
den eigenthlimlichen Bedingungen, unter welchen zahlreiche Elemente
durch die einmal vorhandene Form ihrer Verknüpfung zufammen-
zuwirken gezwungen find.
Indem fo die Naturwiffenihaft die Einheit der belebenden
Macht in die BZeriplitterung unbeftimmt vieler Elementarfräfte
auflöft und von der Verbindungsweiſe diefer die endliche Geftalt
der Gefchöpfe begründet denkt, läßt fie Die Frage nad dem Ur-
fprunge diefer Anoronungen übrig, die fo glüdlich gewählt fich
finden, daß das Schönfte und Bebeutfamfte der Natur ſich als
ihre nothwendige Folge entwideln muß. Nur darauf gerichtet,
die Erhaltung der einmal beftehenden Welt zu erflären, darf fie
in der That diefe Frage aus dem engeren Gebiete ihrer Unter-
fuhungen ausfchliegen. Iſt fie zuweilen geneigt, den Urfprung
Diefer Ordnung einem Zufall zuzurechnen, für ben befondere
Gründe aufzufuhen unnöthig fer, fo ift e8 ihr doch eben fo mög-
lid, die erfte Stiftung derfelben von der Weisheit eines gött-
lichen Geiftes abzuleiten. Aber allerdings pflegt fie, aud Dies
vielleicht mit Weberfchreitung ihrer Befugniß, zu behaupten, daß von
der fchöpferiichen Freiheit dieſes Geiſtes fein Hauch in das Ge—
fchaffene übergegangen fei, und daß die Natur, einmal vorhanden,
fih wie jedes Kunſterzeugniß nach jenen unbeugfamen Gefegen
forterhalte, deren Unveränderlichleit die Weisheit des Urhebers
ebenfo jehr wie die völlige Selbftlofigfeit des Geſchöpfes bezeugt.
20
Bielheit in der Einheit und Einheit in der Bielbeit, nad Gegen-
fäglichleit und Verſöhnung der Gegenfäge, fie alle, durch die man
das Innere der Weltfeele zu bezeichnen fuchte, Können doch dem
unbefangenen Gemüth nur als nichtige, kümmerliche Aufgaben
ericheinen, kaum der fpielenden Thätigfeit des kindlichen Geiftes
würdig, am wenigften geeignet, die ernſten Schöpfungstriebe des
Weltgrundes auszudrüden. Ginge in folden Beftrebungen bie
Fülle feines Inhaltes auf, jo Könnten wir nicht leugnen, daß jeder
zufällig herausgegriffene Augenblid aus dem Leben eines menſch⸗
lichen Herzens unendlich feelenvoller fei als Die Tiefe der Weltſeele.
Indefjen würde die Unvollkommenheit unferer Berfuche, dieſe
Tiefe zu ermeflen, nicht gegen die Wahrheit der Anſicht jelbft
beweifen; aud wenn jenes Höchſte uns beftändig nur in unaus-
ſprechbarer Ahnung vorſchweben follte, Fönnte e8 Doch ein Gewinn
fein, wenigſtens durch Fefthaltung diefer Ahnung die Lebendigkeit
unferer Naturanſchauung zu fihern. Aber derſelbe Vorwurf,
den wir der Mythologie zu macden hatten, erhebt fi) auch gegen
die Leiftungen dieſer Anfiht. Denn auch fie, To ausdrücklich fie
das Ganze der Natur zu umfaffen veripricht, bat doch in allen
den Ausführungen, die fie ſich bisher gegeben, in Wahrheit nur
jene auserwählten großen Umriffe des Naturlaufs vor Augen ge-
habt, auf weldhe ſchon die mythologiſche Phantafte ſich befchränfte ;
fie vernachläſſigt, wie dieſe, Die Fülle der Kleinen gemeinen Wirk-
Tichfeit, Die, weniger poetifch aber deſto unabweisbarer, fi rings
um uns her ausbreitet. In der Regſamkeit des Thierkörpers,
in dem Wachsthum der Pflanze, und nod in der Kryſtallform
des Selten und in dem Umlauf der Geftirne, kurz überall da, wo
die Einzelwirkungen der Elemente fi zu einer beftändigen fich
ſelbſt erhaltenden Geftalt des Dafeins und der Bewegung be-
reits zufammengefunden haben, überall da mögen wir leicht ben
Widerſchein von Ideen finden, die wir in dem Innern der Welt-
jeele als Mufter ihres Schaffens vorausſetzen. Aber die Thaten
des Hebels und der Schraube, Die Geſetze des Gleichgewichts und
des Stoßes, die Wirkungen des Drudes und der Spannung, dieſe
21
alle haben immer weitab von dem Entwidlungsgange der Welt-
feele zu Tiegen geſchienen und find meift völlig außer dem Ge⸗
fihtöfreife der fo Philofophirenden geblieben. Die freie land⸗
Ihaftlihe Schönheit der Schöpfung mag die Neigung zu diefer
vornehmen Naturbetrachtung nähren; die häusliche Gefchäftigfeit
unferer Technik, die nicht das Fertige bewundern, fondern bie
Möglichleit feines Zuſtandekommens beachten lehrt, muß noth⸗
wendig zu andern Gedanken führen ; unvermeidlich wird durch fie
die Lehre von den ſchöpferiſchen befeelenden Naturtrieben gezwungen,
einer dritten Anficht zu weichen, der letzten von denen, die im
Großen in der Gefchihte der menfchliden Gedanken einen Ab⸗
Ihnitt bilden.
In weit größerer Mannigfaltigfeit, als frühere Zeiten, um—
gibt jet uns täglich eine Menge künftliher Vorrichtungen, deren
Veblofe Beftandtheile mit zufanımengreifenden Berwegungen Die
Regſamkeit des Lebendigen glücklich nachahmen. Auf diefer mer!-
würdigen Zwiſchenwelt jelbftarbeitender Werkzeuge, die ihre Stoffe
der Natur, die Form ihrer Leiftung aber der menſchlichen Will-
fir verdanken, kann unfer Blid nicht wiederholt und dauernd
ruben, obne daß unfere ganze Weife der Naturauffaffung den
Einfluß folder Beobachtungen erführe Zur Bildung Diefer
Maſchine, die ſich vor uns regt, lag in den Stoffen, aus denen
fie gebaut ift, Teinerlei innere Vorherbeſtimmung; fein Tebendiger
Naturzwed hat fie in diefe Form der Vereinigung zuſammenge⸗
führt, kein befeelender Trieb ihnen den Rhythmus ihrer Be-
wegungen eingehaucdt. Wir wiffen e8 ja, daß nicht von innen
heraus durch ein eignes Entwidlungsftreben, fondern durch frem⸗
den Zwang von außen her dies bemunderungsmwerthe Spiel ein=
ander ablöfenver Zuftände an die verbundenen Maſſen gelommen
if. Viel einfachere Eigenfhaften und Wirkungsweiſen waren an
fh den einzelnen Stoffen eigen, die wir verfnüpften, nad all
22
gemeinen Gefegen mit der Veränderung beftunmter Bedingungen
veränderlih. Diefe unfcheinbaren Kräfte hat unfere Technik durch
die liſtige Verbindung, in welche fie ihre Träger verftridte, unter
Umftänden zu wirfen genöthigt, unter denen ihre Folgfamteit
gegen jene allgemeinen Geſetze ohne eigne Abficht die Zwecke
unferer Abfihten verwirklichen mußte. Iſt dies nun fo, laſſen
fih unter unfern Händen die Elemente der Natur wie benuß-
bare Sachen zu den merkwürdigſten Leiftungen verbinden, zu
denen feine entwidlungsbegierige Neigung ihres eignen Innern
fie trieb; warum follte e8 in ber Natur felbft anders fein?
Auch in ihr vielleicht entftehen die bedeutungsvollen Geftalten
der Gefchöpfe doch nur von außen her dur den Zwang bes
Weltlaufs, der die Elemente bald fo bald anders zufammenführt,
und unvermeidlich in jeder diefer Gruppen das Suiten von Be-
wegungen und Leiftungen entftehen läßt, welches nad allgemeinen
Geſetzen der jevesmaligen Weife ihrer Verknüpfung entfpricht.
So würden alle Geſchöpfe das fein, wozu fie Dur) den Zuſammen⸗
fluß vieler äußeren Bedingungen gemacht werben, und fie befäßen
ebenfo wenig einen lebendigen Trieb in ihrem Innern, wie Die
Erzeugniffe unferer Hände, von deren Selbftlofigfeit wir über-
zeugt find.
Je vielfeitiger und Träftiger fi die praktiſche Herrſchaft der
menſchlichen Technik über die Natur ausbreitet, um fo zuverficht-
licher ſehen wir auch diefe Folgerung gezogen. Und aud da, wo
wir nit mehr von Grund aus Neued aus benugbaren Elemen-
ten aufbauen, fondern nur umzugeftalten fuchen, was bie Natur
freiwillig erzeugt, ſcheinen die Erfolge dieſe Zuverficht zu ftärken.
Aus den Mifhungen der Stoffe, welche die Erde uns darbietet,
hat die Hand des Chemifers zahlloſe andere hervorgebracht, Die
niemals in der Natur beftanden, ehe die Kunft fie bargeftellt
hatte, und viele von ihnen find durch Dauer und Feftigkeit ihres
Daſeins, durch den Glanz ihrer ſinnlichen Eigenfhaften, durch
die Bielfeitigfeit ihrer Wirkſamkeiten den merkwürdigſten derer
ebenbürtig, welde die Natur und als ihre eignen" Erzeugniffe
23
ſchenkt. Künftlihen Befruchtungen und langer forgfamer Pflege
unterworfen, haben die Pflanzen Blüthe und Frucht zu erhöhter
Schönheit entwideln müſſen und unfere Gärten füllt eine Flora,
bie jo, wie fie und entzüct, nirgends eine natürliche Heimat hat.
Selbſt die Geftalt der Thiere erfährt ben umbildenden und ver:
edelnden Einfluß der menjhlichen Zucht; wohn wir uns aud
wenden, wir begegnen faum irgendwo ben urfprünglidden Zügen
ber Natur; in allen ihren Gebieten bat der berechnende Eingriff
des Menſchen folgenreiche Beränderungen zu ftiften gemußt. Der
Eindrud dieſer Beobachtungen verſtärkt nothwendig bie Ber-
muthung, die Natur erzeuge ihre Gebilde nicht durch von innen
beſeelende Triebe, denen wir nichts Gleichartiges entgegenzuſetzen
hätten, ſondern durch Zuſammenſetzung derſelben Einzelkräfte,
durch deren Anwendung es und gelingt, ihre Geſchöpfe umzu⸗
geftalten.
Eine andere Meberlegung aber ſchien dieſe Bermuthung zur
Gewißheit zu maden. Wenn jedes einzelne Gebilde der Natur
völlig auf fich felbft beruhte und aus ſich felbft fi entwidelte,
ohne einer Äußeren Welt zu bedürfen oder flir ihre Eingriffe zu-
gänglih zu fein, dann wäre e8 möglich, jedes diefer einzelnen auf
einer einzigen, ihm eigenthiimlichen, befeelenden Idee beruhend zu
denfen, die jede Beſonderheit feiner künftigen Entfaltung mit
vorbedenkender finniger Confequenz aus fi entliege. Und fo
eben hatte jene Anfiht, welde an die befeelenden Triebe der
Dinge glaubte, die Natur aufzufaffen geliebt; fie hatte die Wirf-
lichkeit als ein großes ruhendes Bild vorgeftellt, und jede ein-
zelne Geftalt dieſes Gemäldes auf feinen ihm eigenthümlichen
Sinn zu deuten geſucht. Worüber dieſe Beichaulichkeit hinweg:
gefehen hatte, das fiel um fo mehr der neuen Denfart ind Auge,
bie fi im praftifchen Verkehr mit den Dingen gewöhnt hatte,
nad den Wegen zu fragen, auf denen jegliches Erzeugniß zu
Stande fommen kann. Ihr war e8 Har, daß die Wirflich-
feit ein fehr bewegtes Bild ift, deſſen einzelne Theile in beftän-
biger Wechſelwirkung einander erzeugen, unterhalten, verändern
24
und zerftören. Alles aber, was nicht einfam in einer Welt für
fih wächſt und lebt, fondern in dem Zuſammenhang einer Wirk-
Tichleit, von der es leiden kann, Alles aljo, was Bebürfniffe bat
und Bedingungen feiner Entwidlung, das wird in feinem Thun
und Laſſen fi) den allgemeinen Gefegen eines Welthaushaltes
unterwerfen müſſen, der, für alles Wirfliche gleichmäßig gültig,
dem Einzelnen die Befriedigung feiner Bebürfnifje allein gewähren
ann. Jeder Verkehr verlangt dieſe gegenfeitige Ergreifbarfeit
ber Berlehrenden fiir einander und fegt nothwendig irgend em
allgemeinverbindliches Recht voraus, welches die Größe und Form
der wechjelfeitigen Leiftungen beftinnnt, welche fie austaufchen.
Nun ift e8 der bedeutſamſten einzelnen Erfcheinung nicht mehr
möglich, fih als eine abgefchloffene und untheilbare, nur aus fich
ſelbſt verftändliche Einheit zu geberden; wie fie fich entfaltet, was
fie Teiftet und was fie leidet, das ift nicht mehr die unberechen-
bare Erfindung ihres eignen Genius, fondern außer ihr ift dar⸗
über von Ewigfeit her entichieden, und jede ihrer Wirkungen, jeder
ihrer Zuftände wird ihr durch die allgemeinen Geſetze des Welt-
verfehr8 und durch die befondern Umftände zugemeffen, unter denen
fie von ihm erfaßt wird.
Die unorgantiche Natur diefer Betrachtungsweiſe zu ent=
ziehen hat man felten ernftlich verſucht; man hat Länger fih ges
firäubt ihr aud die lebendigen Gefhöpfe zu unterwerfen. Aber
diefelben Gründe nöthigen und auch hier fie zuzulaſſen. Thiere
und Pflanzen erzeugen weder aus fidh ſelbſt nod aus Nichts Die
Stoffe, durch deren Anlagerung ihre Geftalt wächſt; fie entlehnen
fie aus dem allgemeinen Vorrath der Natur. Im beftändigem
Kreislauf überliefert die Erdrinde und das Luftmeer dem Pflan-
zenveiche und diefe der Thierwelt jene unzerftörbaren Elemente,
die bald diefer bald jener Form des Lebens dienen und zeitweiß
in das formlofe Dafein unorganifher Körper zurüdtreten, zu
Allen benutbar, aber aus eignem Antriebe weder für Die eine noch
für die andere Form ihrer Verwendung begeiftert. Diefe Noth-
wendigfeit, aus dem allgemeinen Borrath zu Ichöpfen und Die ge=
25
fuchten Elemente erft aus ſchon beftehenden Verbindungen zu löſen, um
fie zu dem eignen Dienfte zu zwingen, fegt dem freien Schwunge
ber Lebenskraft in jedem Geſchöpfe enge Grenzen. Gern vielleicht
würde dieſe Kraft, den ganzen Lauf der künftigen Entwidlung vor:
bedenkend, mit einem Griffe und aus ber Einheit einer Abficht
heraus die Entfaltung des Lebens Ienfen, ihrerſeits geneigt, jene
Geſetze zu überfpringen, welche der übrigen Welt gelten. Aber
die unentbehrlihen Stoffe, deren fie bebarf, werben nicht die
gleiche Neigung theilen; fie werden unerbittlich verlangen, nad
benfelben Gefegen auch bier gerichtet zu werden, denen ihre Natur
in allen anderen Fällen unterworfen ift. Niemals wird die Pflanze
die Kohlenfäure des Luftkreiſes zerfegen, ohne ber hemilchen Ver⸗
wandtſchaft, Die deren Theile zuſammenhält, eine andere in be-
ſtimmtem Maße überwiegende Verwandtſchaft entgegengefegt zu
haben, und nie wird die Kohlenfäure Die trennende Kraft einer
andern Anziehung anerfennen, als einer folden, die an ein be-
ſtimmtes Maß einer körperlichen Maſſe gebunden if. Und wo
das gewonnene Material im Innern des lebendigen Körpers in
die Formen zu bringen ift, welde der Plan der Organifation
verlangt, da wird es ebenſo wenig freimillig fi diefer Geftaltung
fügen. Wie jede zu bewegende Laft wird es vielmehr erwarten,
durch beftimmte Größen bewegender Kräfte, von beftimmten Mafjen
ausgeübt, feine Theilden in die verlangte Lage gefchoben zu fehen,
nad) denfelben Geſetzen einer allgemeinen Mechanik, nad denen
auch außerhalb des Lebendigen alle Bewegungen der Stoffe erfolgen.
Welcher Tebendige Trieb daher auch das Innere der Ge-
ſchöpfe befeelen mag: nicht ihm verdanken fie doch ihr Beftehen
gegen die Angriffe des Aeußern und die Verwirklichung ihrer be=
abfichtigten Leiftungen; fie verdanken beides in jedem Augenblide
den urfprünglichen Kräften ihrer elementaren Theildhen, die in
Berührung mit der Außenwelt tretend Reize aufzunehmen und
auf fie wirkſam zu antworten verftehen. Und welche finnveiche
Aufeinanderfolge die Lebenserſcheinungen eines Gefchöpfes zu dem
Ganzen einer zufammenbängenden Entwidlung verknüpfen mag:
26
auch fie wird ihm nur gewährt durch die urfprünglich vorhandene
Anordnung feiner Theile, die dem Gefammterfolg der einzelnen
Wirkungen beftimmte Geftalten gibt, jo mie durch die fortichrei=
tende Veränderung, die diefe Theile ſelbſt fih im Laufe ihrer
Thätigfeit bereiten.
So lange die Naturforihung von der Einheit jenes Teben-
digen Triebes ausging und in ibm die hinreichende Erflärungs-
quelle für die veränderlihe Entwidlung eines Geſchöpfes fuchte,
ift fie wenig glüdlih in der Aufbellung der Erſcheinungen ge=
wejen. Ste nahm den lebhafteften Aufſchwung, feitden fie Die
Thätigfeit der Tleinften Theile ind Auge faßte, und, von Punkt
zu Punkt die einzelnen Wirkungen zufammenfegend, Die Entftehung
des Ganzen aus der vereinigten Anftrengung unzähliger Elemente
verfolgte. Noch Tieß fie eine Zeit lang jene Innere, die eine
Lebenskraft jedes Gefchöpfes, mit hergebrachter Verehrung in ber
Meinung der Menfchen beftehen, und fie gab theoretifch zu, Daß
die Idee des Ganzen der Wirkſamkeit der Theile vorhergehe,
während fie praftifch ſich längſt darauf eingerichtet hatte, alle
wirklich fruchtbringende Erflärung nur in dem Zuſammenwirken
der Theile zu ſuchen. Diefe legte Scheu hat die Gegenwart
überwunden, und müde, ein Inneres zu verehren, das Doc nie
werfthätig ſich äufßerte, hat fie die Mare und beftimmte Auf-
fafjungsweife der mechan iſchen Natur wiſſenſchaft ebenfo
zum Vortheil der Forſchung wie unleugbar zur Beunruhigung des
Gemüths über alle Gegenſtände unferer Naturkenntniß ausgedehnt.
An die Stelle des lebendigen Triebes, der als Ein Hauch
das Ganze zuſammengeſetzter Bildungen beſeelte, ſetzte fie Die ein-
fachen und ungerftörbaren Kräfte, welche den Elementen beftändig
anbaften. Mit veränderlicer Thätigfeit hatte der Trieb bald
dieſe bald jene Wirkungsweife entfaltet, bier zurüdbaltend mit
feinem Vermögen, dort mit Anftrengung feine Aeußerung be-
ſchleunigend; ausgleichend umd ergänzend, wo es Noth that, war
er nicht durch ein immer gleiches Geſetz feines Handelns ein-
geengt, fondern nur durch die Rückſicht auf das Endziel beftummt,
27
zu dem alle Einzelheiten der Entwidlung zufammenlaufen ſollten.
Mit unveränderlicher ſtets gleicher Wirkungsweife haftet Dagegen
die Kraft an den Elementen der Waffe, in jedem Augenblide
Alles mit Nothwendigfeit leiftend, was nad allgemeinen Gefegen
die vorhandenen Umflände gebieten, und weder im Stande, von
ihrer möglichen Wirkung etwas zurüdzubalten, noch zu ergänzen,
was die Ungunft der Umftände ihr verfagt. Von feinem Ziele
geleitet, das vor ihr ſchwebte, fondern nur durd die Gewalt bes
Naturlaufes, der hinter ihr fteht, vorwärts getrieben, ftrebt fie
nicht von ſelbſt der Verwirklichung eines Planes zu, fondern jede
zufammenhängende Ordnung mannigfacher Wirkungen beruht auf
den eigenthümlichen Bedingungen, unter welchen zahlreiche Elemente
dur Die einmal vorhandene Form ihrer Verknüpfung zufammen-
zuwirfen gezwungen find.
Indem jo die Naturwiſſenſchaft die Einheit der belebenven
Macht in die Zerfplitterung unbeftimmt vieler Elementarfräfte
auflöft und von der Verbindungsmeife diefer die endliche Geftalt
der Geſchöpfe begründet denkt, läßt fie die Frage nach dem Ur—
fprunge diefer Anoronungen übrig, die fo glüdlih gewählt fich
finden, daß das Schönfte und Bedeutfamfte der Natur fi als
ihre nothwendige Folge entwideln muß. Nur darauf gerichtet,
die Erhaltung der einmal beftehenden Welt zu erflären, darf fie
in der That diefe Frage aus dem engeren Gebiete ihrer Unter:
fuhungen ausſchließen. Iſt fie zumeilen geneigt, den Urfprung
biefer Ordnung einem Zufall zuzurechnen, fir ben bejondere
Gründe aufzuſuchen unnöthig fei, fo ift e8 ihr doch eben fo mög-
lich, die erfte Stiftung derfelben von der Weisheit eines gött-
lichen Geiftes abzuleiten. Aber allerdings pflegt fie, auch dies
pielleicht mit Ueberſchreitung ihrer Befugniß, zu behaupten, daß von
der ſchöpferiſchen Freiheit dieſes Geiftes kein Hauch in Das Ge-
Tchaffene übergegangen fei, und Daß die Natur, einmal vorhanden,
fih wie jedes Kunfterzeugniß nad jenen unbeugfamen Gefegen
forterhalte, deren Unveränderlichleit die Weisheit bes Urhebers
ebenfo ſehr wie die völlige Selbftlofigleit des Geſchöpfes bezeugt.
28
Und in diefem wunderbaren Automat der Natur, deſſen
. zaftlofer Gang uns überall umgibt, welche Stellung nehmen wir
ſelbſt ein? Wir, die wir einft verwandte Göttergeftalten hinter
der Hülle der Erſcheinungen zu erkennen glaubten; wir, in denen
die allgemeine Vernunft der Weltfeele mwenigftens traumhaft ſich
großer Zwecke und eines ewigen Triebes bewußt wurde, ber uns
mit der Natur zu einem gemeinfamen großen Weltbau zufammen-
ſchließt? Mit den Ahnungen unferes Gemüthes, mit den or:
derungen unferes fittlihen Weſens, mit der ganzen Wärme unjeres
inneren Lebens fühlen wir und fremd in diefem Neiche der Sachen,
das kein Inneres kennt. Doch vielleicht iſt auch dieſes Gefühl
des Zwieſpalts nur der Reſt eines Irrthums, den wir abthun
müffen.
Denn nit allein die Anfihten der Natur haben im Laufe
der Beit die geſchilderten Wandelungen erfahren; mit ihnen hat
zugleih unfere Eelbfterfenntnig neue Geftalten angenommen.
Arglos konnte das Bewußtſein der jugendlichen Menfchheit fich
jeiner Lebendigkeit erfreuen, die, gleich der Pflanze Alles aus
eignem Keime hervortreibend und von feinem Gefühle fremden
Zwanges bebrüdt, auch das Bedürfniß einer Anerfermung ihrer
Vreiheit nicht empfand. Die fortfchreitende Erfahrung und die
allmählich fich erweiternden Ueberſichten des menschlichen Daſeins
zeigten auch die Entwidlung des geiftigen Lebens an allgemeine
fir Alle giltige Gefege gebunden und dem eignen Verdienſte bes
Einzelnen mehr und mehr entzogen. Mit Beruhigung unterwarf
fih da8 Gemüth diefer Nothwendigfeit, fo Tange es in ihr die
ftill zwingende Gewalt der einen ewigen Idee ſah, in der wir
leben und find; es fühlte den Drud, als an die Stelle diefer
auch hier Die zerftreute Vielheit der bedingenden und geftaltenden
Kräfte trat. Wie Vieles von dem, was wir zu der unantaſt⸗
barſten Eigenheit unſers perſönlichen Weſens zählten, zeigte ſich
als das Erzeugniß von Einflüſſen, die ſich an uns kreuzen, unter⸗
ſtützen und bekämpfen! Immer mehr ſchmolz die Fülle deſſen zu-
ſammen, was wir an uns ſelbſt unſer wahres Eigenthum nennen
29
durften; einen Theil nahmen die körperlichen Werkzeuge als Ge-
ſchenk ihrer Organifation in Anſpruch, ein anderer fiel den all-
gemeinen Kräften des Seelenlebens zu, die verbienftlos in allen
Einzelnen nad gleichen Gefegen thätig find; ein Kleines Gebiet
allein, das, welches die Freiheit unſers fittlihen Handelns be-
herrſcht und geftaltet, ſchien den Zufluchtsort deſſen zu bilben,
was wir felbft find. Auch dieſem Yegten Punkte wahrhafter
Innerlichkeit Tieß die Wiffenfhaft, als einem möglichen Gegen-
ftande des Glaubens, ein zweifelhaftes Beſtehen; aud ihm ſcheint
fie im Begriff völlig aufzugeben. Seitdem man und wieber-
holt, daß der allgemeine Haushalt der Welt eine gewifle jähr-
lihe Summe der Berbrechen ebenjo erfordere, wie eine gewiſſe
Größe der Temperatur: feitdem Tiegt e8 nahe, auch in dem geiftigen
Leben den ununterbrodenen Zuſammenhang eines blinden Mecha-
nismus zu fehen. Gleich dem beftändigen Wechjel des Aeußern
wird aud unfere innere Regſamkeit nur noch ein Wirbel von
Bewegungen fein, den die ungezählten Atome unſeres Nerven-
gebäubes durch unabläffige Wechfelmirfung unterhalten. Weit
über die unbefangene Kindlichleit mythologiſcher Weltauffaffung
find wir hinausgelommen; wir haben nicht allein bie perfönlichen
Naturgeifter aufgegeben, fondern die Möglichkeit eines perfönlichen
Dafeins überhaupt zu dem dunkelſten Räthſel gemacht. Cinge-
Ichloffen in das große Automat der Natur fteht das Heinere des
menjchlichen Geiftes; künſtlicher als jedes andere, ba es feine
eignen Regungen fühlt und bie des andern Spielzeug8 bewun-
dert; aber zulegt zerführen feine Beftandbtheile doch auch, und
der Ernſt und der Scherz, die Liebe und ber Haß, die dieſes
feltfame Weſen bewegten, wären dabın.
Auch dieſe legten Confequenzen find gezogen worden, bier
mit Jubel, dort mit verzweifelndem Gemüth. Aber auch fie find
nicht allgemein gezogen worden; an den verſchiedenſten Punkten
des Weges zu ihnen haben Unzählige angehalten und nad, ver-
ſchiedenen Richtungen hin dem unerwünjchten Ziele zu entgehen
verſucht. Und durch alle Ummandelungen der Anfichten hindurch
30
bat doch auch ein einfadher Glaube fi ungeftört erhalten, ber
Glaube an einen ewigen Urheber, der dem Reiche der Geifter
lebendige Freiheit zum Streben nad einem heiligen Ziele verlieh
und fie dem Reiche der Sachen verfagte, Damit es in blinder
Nothwendigkeit Schauplag und Mittel fir die Thätigkeit bes
Strebenden fei. Mit diefer Maren Theilung gewann das Gemüth
die Möglichkeit, in dem Kreife der Dinge fih einzurichten, bauend
auf ihre unmandelbare Gejetlichfeit und feine eigne Freiheit.
Aber zu erringen würde ihm noch die andere Möglichkeit bleiben,
die zahlreichen Fragen über die gegenfeitige Begrenzung der beiden
Gebiete des Freien und des Nothwendigen zu beantworten, zu
benen die aufmerkſame Beobachtung der Einzelheiten des Natur⸗
laufs anregt.
Bon folden Näthfeln fühlen wir und umftridt; nicht als
ob fie nicht zu jeder Zeit vorhanden gewelen und empfunden
worden wären; aber mehr als je hat fie jet die wachſende Ver⸗
breitung der Naturfenntniß in den Vordergrund unferer Betrach⸗
tungen gerüdt. Zu lange hat ohne Zweifel der menſchliche Geift
in der Ausbildung feiner Weltanficht jenes dunkle, ftarre Element
der Nothwendigkeit, das Reich der Sachen, überſehen; mit fteigen-
der Macht ift e8 im Fortichritte der Erfahrung bervorgetreten,
und vergeblich würden wir uns zu verbergen ftreben, daß feine
Herrihaft über die finnliche Welt feſt ſteht. Wollen wir dennoch
‚von neuem verjuchen, ihm das zu entziehen, was wir ihm nicht
ohne Aufgeben unferes eignen Weſens überlaffen zu Können
glauben, fo birfen wir nicht damit beginnen, das zu beftreiten,
was der vereinigte Eindrud der gefammten Erfahrung immer
wiederholt uns beftätigt. Auch für unfer eignes körperliches
Dafein müfjen wir vielmehr die volllommene Giltigfeit jener
Grundſätze zugeftehen, nach denen die mechanifche Naturforfhung
die Sinnenwelt erflärt. Indeſſen unterfcheidet ſich wielleicht das,
was in der Leidenjhaft des Streites von manchen Seiten ber
als unverbrücdlihe Grundlage der Naturwiſſenſchaft gelten ge—
macht wird, merflid von dem, was die Wiſſenſchaft felbft, hierin
31
buldfamer als einzelne ihrer Jünger, gewiß zu wiffen und überall
unerbittlich verlangen zu dürfen glaubt. . Vielleicht auch zeigt es
fi) endlich, daß die Geſammtheit alles Mechanismus, weit ent-
fernt, den wahren Aufgaben des geiftigen Lebens entgegenzuftehen,
vielmehr felbft als ein nothmenbiges dienendes Glied in den Zu-
ſammenhang jenes großen Ganzen aufgenommen ift, von dem die
veränderliche Richtung des Zeitgeiſtes bald die eine, bald die
. andere Seite dem menſchlichen Geifte allein entgegenkehrt.
. Zweites Kapitel.
Die mehanifde Natur.
Allgemeinheit der Geſetze. — Beitimmung bed Wirkfamen. — Die Atome und ber
Sinn ihrer Annahme. — Die phyſiſchen Kräfte — Geſetze ber Wirkungen und
ihrer Zufammenfegung. — Allgemeine Folgen Pk die Erflärung der Naturers
ſcheinungen.
Nothwendige Verknüpfung hat in irgend einem Sinne ice
Zeit und jede Anſicht in den Dingen gefucht; nicht dies ift es,
was die mechanifche Wiflenjchaft der Gegenwart auszeichnet, fon= '
bern der andere Gedanke, den fie iiber Bedeutung und Urfprung '
diefer Notwendigkeit hinzufügt. Auch der finfterfte Aberglaube, .
indem er durch nichtigen Zauber das Schickſal des räumlich Ent-
fernten zu beftimmen dachte, berief ſich auf eine "unbegreifliche
Berknüpfung, nad. der auf feine Beſchwörungen die verlangte
Wirkung folgen werde. In doppeltem Sinne meint die Wiffen-
haft e8 anders. Nicht durch diefe unbegreifliche Nothmendigfeit -
follen den Dingen ihre einzelnen Yuftände nur nad einander zu-
getheilt werden, fondern aus einander jollen fie begreifbar "her-
vorgehen und jeder frühere in fich ſelbſt den Grund enthalten,
aus dem er nad) einem allgemeinen nnd verſtändlichen echte
den fpäteren als feine Folge verlangen darf. Und eben fo wenig
32
fol jede einzelne Wirklichkeit nach einem ibr allein verliehenen
Rechte Zuftand aus Zuftand entwideln; die Nothwendigkeit viel-
mehr, die in dem einen Gefchöpfe waltet, verdankt ihre nöthigende
Kraft denfelben allgemeinen Geſetzen, die auch in allen andern
wirkſam Gleiches dem Gleichen und dem Verſchiedenen Ber-
ſchiedenes zumefjen. Nicht vereinzelt auf befondern und unver-
gleihbaren VBorherbeftimmungen beruben alfo die verſchiedenartigen
Erſcheinungskreiſe, deren Contraft die Welt füllt; fie alle find
nur mannigfaltige Beifpiele deſſen, was alles die Kraft der all-
gemeinen Geſetze je nad den verjchiedenen Umftänden begrimbet,
die veränderlich nad Zeit und Ort fich ihrer Entfcheidung unter-
ordnen. Auf diefen Gedanken eines gemeinfamen, alle Natur
beberrichenden Rechtes, aus dem allein alle Berbindlichkeiten und
Tähigleiten des Wirfens für Die Dinge fließen, hat die mechanifche
Naturauffaffung das ausgedehnte Gebäude ihrer Lehren gegründet.
Aber zu der Kenntniß dieſes allgemeinen Rechtes können
wir bon den Erfcheinungen aus, die uns allein umgeben, nur
durch Schlüffe gelangen, die da8 Gebiet des Wahrnehmbaren
überfteigen. Nicht jeder der Schritte, die hier gethan worden
find, iſt gleich zweifellos. Nicht überall reichen die an ſich ge—
wiffen Grundfäge unſers Erkennens zur Gewinnung nütlicher
Ergebniffe hin; in Mandem bat ein glüdlicher Blick die frucht>
baren Gefihtspunkte errathen müſſen. Und allerdings nicht über-
al Hat ſchon die bisherige Gefchichte der Wiſſenſchaft die Richtig-
feit folder Blicke beftätigt, die, als fie gethan wurden, durch die
Eröffnung großer Ausfichten überraſchten; auch nicht überall ift
es gelungen, Bermutbungen, deren tbatfächliche Richtigkeit die
Erfahrung glänzend bewährte, auf ihre eigne innerlihe Noth-
wenbigfeit zurückzuführen. Mancherlei Anftände mögen fich daher
bem Zweifelnden ergeben, und die Hoffnung, fich einzelnen Folge⸗
rungen der mechanischen Naturanficht zu entziehen, wird im Stillen
an dieſe nicht in allen Stüden vollendete Grundlegung derjelben
anknüpfen. Aber man würde wenig gewinnen, wenn man mit
ben zufammengerafften Einwänden, welche der augenblidTiche
33
Eindrud mancher Süße erweden mag, den gro
Anfiht zu erfhüttern dächte. Auf einer unermeßlichen Fülle zu⸗
ſammenſtimmender Thatjachen ruhend, verdient er e8, ſelbſt gleich
einer Naturerfheinuhg mit dem Zutrauen betrachtet zu werben,
daß eine jpätere Einfiht in den Zuſammenhang aller Theile
die früheren Zweifel an den einzelnen zerftrenen werde. Und in
der That, gleich einem Naturgebilde ift auch dieſe Anficht der
Natur noch einer reihen umgeftaltenden Entwidlung fähig. Nur
eine ehr unvollftändige Kenntniß ihres Geiftes Könnte Die Grund-
fäte, denen fie bisher Anwendung gegeben hat, als ben ab»
gefchlofjenen und nicht vermehrbaren Zeftand möglicher Geſichts⸗
punkte anjehen. Im Vergleih mit der unendlihen Mannigfaltig-
feit der Ereigniffe, mit denen und Die Natur täglich umgibt, weiß
vielmehr die Phyſik fehr wohl, daß fie ihren Unterfuchungen
bisher nur wenige Gebiete vollftändig hat unterwerfen Fünnen.
Sie weiß, daß die allgemeinen Grundfäge, deren fie ſich bedient,
zum Theil aus den befonderen Geftalten abgeleitet find, in denen
fi) die wirkende Natur auf diefen wenigen beftbefannten Ge-
bieten darftellt, und fie fühlt, daß mit jedem neuen Exfahrungs-
freife, der im Laufe der Zeit vollftändiger befannt in die Reihe
der Unterfuchungsgegenftände eintritt, auch eine Aufforderung ent-
ftebt, den früheren Grundlagen ihrer Betrachtungen allgemeinere
und umfaffendere Ausdrüde zu geben. Sie wird in diefer Selbft-
entwidlung jelten in den Fall kommen, zurüdzunehmen, was fte
früher feftgefegt hatte; aber fie wird häufiger finden, daß Gelege,
deren Öiltigfeit fie in diefem Fortſchritte unangetaftet läßt, doch
nur befondere Fälle allgemeinerer Beftimmungen find, welche fte
nun aufgefunden bat. Und fo wird die wahre Naturwiſſenſchaft
nicht jene kümmerliche Haft zeigen, mit der man fo oft alle Er⸗
fheinungen ausichlieglich nach dem Modelle derjenigen zu erflären
jucht, welche der Zufall oder der augenblidliche Ausbildungsgrad
der Beobachtung am meiften für uns ind Licht gerüdt hat. Im
diefer Bildſamkeit der Wiſſenſchaft haben wir die wenigen Punkte
hervorzuheben, die fie in der That für nothwendig ar allgemein
Loge I. 4. Aufl.
34
giltig ausgibt, von den übrigen aber den Grad der Wahrfchein-
lichkeit kennen zu lernen, welchen allein fte für dDiefelben in An⸗
ſpruch nimmt.
Ein Zug ift es nun, welder neben jener Weberzeugung von
einem allgemeinen gefetlichen Verbande den Geift der mechanischen
Naturanſicht auf das Wejentlichfte bezeichnet: die unabläffige
Sorgfalt, mit der fie für jeve Wirkung, deren fie gedenkt, genau
die Elemente zu beftimmen fucht, von denen diefe Wirkung aus-
geübt oder erlitten wird. Nicht immer bat die frühere Zeit dieſe
Borfiht beobachtet. Man fpra von Wirkungen, die da liber-
haupt gefhähen, ohne zu jagen, wer fie hervorbrächte; man ſprach
von Thätigleiten, ohne namhaft zu machen, von wen fie aus—
gingen und wen fie träfen; an zufammengefegte Gebilde, die eine
Menge von Theilen unterfcheiden Tiefen, Inüpfte man im Ganzen
und Großen Kräfte, Entwidlungen und Leiftungen, die fo nur
auf unbeftimmte Weife in dem Innern biefer Gebilde ſich zu er-
eignen fchienen, wie eleftrifche Entladungen in Wolfen, deren
Schimmer man fieht, ohne Umriffe deſſen, von dem er ausgeht.
Der Strenge, mit der fie diefen Fehler vermieb, verbanft die
neuere Wifjenfchaft Alles, was fie geleiftet. Indem fie jorgfältig
jedes Element, von dem eine Wirkung entiprang, nach feiner
Loge zu andern und nah allen den Umftänden zu beftimmen
ſuchte, in denen es ſich im Augenblide feiner Thätigfeit befand,
gelangte fie dahin, die Wirkungen der Dinge nicht nur nad) ihren
allgemeinen Formumriſſen und nad der Art, wie fie fih aus—
nehmen, Tennen zu lemen, fondern ihre Größe Richtung und
Dauer, jo wie ben Einfluß, den fie nad irgend einer Seite hin
ausüben, an beftimmte Gefete des Maßes zu Fnüpfen.
Sie hat hierdurch einen Standpunkt überwunden, auf dem
wir die Beurtheilung geiftiger Entwicklungen zu großem Theile
noch verweilen jehen. Nach den platten Berfuchen, ven Lauf der
35
Geſchichte und Alles, was in ihren Ereigniffen von Werth ift,
aus nüchterner Willfür der Einzelnen zu erklären, finden wir
nun wieber mit Vorliebe von einem allgemeinen Geifte und
feinem unbewußt organifchen Wirken gefellige Zuftände der Men
ſchen religiöfe Stimmungen und die veränderlichen Richtungen
ber Kunſt abgeleitet. Die fchönen Erfolge, die wir diefen Be⸗
mühungen verdanken, werben durch das Geſtändniß nicht ges
ſchmälert, daß doch die Gejchichte fich nicht ohne Die perſönlichen
Geifter mache, und daß eine genauere Beobadtung in jenem all⸗
gemeinen Geifte doch nur die gleihförmige Endrichtung erkennen
werde, welde die Einzelnen unter dem Eindrucke allgemeingiltiger
Bedingungen und durch die Wechſelwirkungen ihres Verkehrs an⸗
nehmen. Nicht als wären darum alle ſchönen und bedeutiamen
Formen des Dafeind in Natur und Gefhichte nur nachgeborene
Folgen non Umftänden, die thatfächlich nun einmal vorangingen;
wohl mag vielmehr das, was wir als idenlen Gehalt in ber
verwirklichten Welt finden, auch der erfte treibende Grund zu einer
beftimmten Orbnung der Dinge gewefen fein, als deren noth-
wendiges Ergebniß wir e8 beſtändig wiedergeboren werden fehen.
Aber überall da, wo wir nicht nach dem Werthe des Geruorbenen,
fondern nach der Möglichkeit feines Werdens und dem Hergange
feiner Berwirflihung fragen, da wird unfer Blick fih doch noth-
wendig auf die einzelnen realen Elemente richten, in deren ge=
jeglicher Wechſelwirkung die Vermittlung alles Werdens allein
Tiegt. Und fo wird Geſchichte und Naturwiſſenſchaft jede Ent-
ſtehung eines neuen, jede Erhaltung eines früheren Zuſtandes
aus dem gegenfeitigen Verkehr vieler einzelner individueller Punkte
herleiten, in denen allein die Idee fih zu thatkräftigen Wirklich-
fetten verdichtet hat.
In diefe Bahn der Unterfuchung nothwendig geleitet, mußte
die Wiffenjchaft verfuchen, jene eriten Ausgangspunfte aller Wir⸗
kungen aufzufinden, welche völlig einfach und unveränderlih durch
ſtets gleiche und darum berehenbare Beiträge den vielgejtaltigen
Raturlauf zuſammenſetzen. Was fich zuerft der unmittelbaren Be=
3*
36
obachtung als abgefchlofiene Einheit parftellt, Die bewegliche Geftalt
des Thieres oder die ſcharf gezeichnete Form der Pflanze, das zeigte
doch durch den Verlauf feines Lebens, mie fein Dafein und feine
Leiftungsfähigfeit auf einer beftinmten Verbindung von Theilen
beruht und mit ihrer Auflöfung wieder verfchwindet. Noch mehr
erichtenen die unlebendigen Körper durch ihre Trennbarkeit in gleich-
artige ober das fichtbare Hervortreten ungleichartiger Beſtandtheile
als Zufammenfegungen, deren Eigenfchaften von der Natur der
Menge und den Kräften der zu ihnen verbundenen Elemente ab⸗
hängen. Aber der Verſuch, dieje felbft aufzufinden, überzeugte
bald, daß die einfachen und unveränderlichen Beftandtheile der Dinge
fih der ſinnlichen Wahrnehmung überhaupt entziehen. Denn was
im Hleinften Raume fi den Sinnen als gleichartiges und beftän-
diges Element darſtellt, das zeigt fi) im Fortfchritt der Erfahrung
doch noch als weränderlich oder Löft fich wor dem bemaffneten Auge
aufs Neue in eine Welt des Mannigfaltigen auf, und wieder flieht
man unbeftimmte Anzablen von Theilchen beihäftigt, durch ihre
Wechſelwirkungen diefe Heinen Geftalten aufzubauen, die uns mit
dem Scheine einer gleichförmigen und innerlich unbewegten Eriftenz
täufchen. So mußte man, was die Wahrnehmung nicht darbot, in
einem ihr entgehenden Gebiete vorausfegen und fuchte die Teßten
Beftandtheile der Törperlihen Welt in unzählbaren Atomen von
unfihtbarer Kleinheit unwandelbarer Dauer und unveränderlicher
Beitändigfeit ihrer Eigenfchaften. In den vielfachften Weifen bald
zufammentretend, bald unverändert aus diefen wechſelnden Gefel-
lungen ſich trennend, bringen fie durch die Mannigfaltigfeit ihrer
Stellungen und Bewegungen die verfchiedenen Formen der Natur-
erzeugniffe und deren wandelbare Entwidlung hervor.
Die mikroſkopiſche Forſchung, die uns jo oft das ſcheinbar
Sleichartige in eine wohlgefügte Gliederung mannigfaltiger Theile
auflöft, ſcheint am natürlichſten Die Neigung zu begünftigen, bie wirk⸗
famen Elemente des Körperlien an einzelne Punfte des Raumes
vertheilt und die Eigenfchaften der größeren wahrnehmbaren Ge-
bilde von der Berbindungäweife diefer Theile abhängig zu denken.
37
Aber Iange vorher hat fhon das Alterthum biefen Gedanken
ausgebildet, geleitet durch Heberlegungen, deren Werth zum Theil
noch in unverminderter Geltung befteht. Der Mangel zufammen-
hängenber ausbrüdlich zu dieſem Zwecke angeftellter Beobachtungen
hinderte jedoch die Alten, dieſer Borfiellungsweife eine matheme-
tifche Ausbildung zu geben, und fie blieb bei ihnen mehr ein all-
gemeiner Gedanke über bie Art einer möglichen Naturerflärung, als
daß irgend eine beftimmte Gruppe von Erfcheinungen durch fte eine
erhebliche Erläuterung gefunden hätte. Während jedoch die Alten
die Ergiebigkeit ihres Princips wenig zu nutzen wußten, gingen fie
in anderm Sinne weit über das hinaus, was die Atomiftif der
heutigen Phyſik zu fein beabfichtigt. In den Atomen glaubten fie
die legten und unvordenklichen Elemente aller Wirklichkeit gefunden
zu haben, und was und jest nur als das Beftändige in dem Laufe
der geichaffenen Welt gilt, das galt ihnen als das Unbedingte und
wahrhaft Seiende, dem Nichts vorangehe, während es felbft Allem
borangebend die an fi nothwendige und unabhängige Grundlage
jeder möglichen Schöpfung fei. Daß nun eine ungählbare Vielheit
felbftändiger und zufammenhanglojer Punkte den Uranfang der
Welt bilde, und dag nur ihren planlofen Begegnungen das in-
einandergreifende Ganze der Erfcheinungen entipringe: dieſer Ge-
danke wird ftet8 Die lebhafte Sehnfucht des Geiftes gegen fich haben,
der die Natur als Einheit aus Einem Duell und Plane zu ent-
mwideln ftrebt. Aber dieſes Bedenken, das wir mit Recht gegen
die Meinung des Alterthums gelten machen, würde man mit Un-
recht gegen die atomiftiichen Grundlagen unferer Phyfif wenden,
mit deren Geift und Bebärfniffen die Erneuerung jener Meinung
nit nothwendig verbunden ift. Wenn wir bon unzerftörbaren
Atomen fprechen, die an Geftalt und Größe verſchieden find, fo
glauben wir damit nur die Reihe der Thatjachen, die wir wirklich
beobachten, durch eine glüdliche Bermuthung um eine neue, vorzugs⸗
weis fruchtbare, aber der unmittelbaren Wahrnehmung entzogene
Thatfache vermehrt zu haben. Daß alle Veränderungen im Natur-
laufe nur bis an die Grenze diefer Heinften Theilchen reichen und bei
38
aller Umgeftaltung ihrer äußern Verhältnifie doch fie felbft als un⸗
veränderte Ausgangspuntte unabläffigen Fortwirkeus übrig lafſen:
diefe Thatfache glauben wir, von unzähligen Andentungen der Er-
fahrung geleitet, als einen darakteriftiihen Zug der Natur, wie
fie uns num einmal vorliegt, glücklich errathen zu haben. Auch fie
mag, wie andere Thatſachen, nod weiter zurüdgehende Fragen
nah ihrem Sinn und Urfprung mit Recht veranlafien. Aber Die
Naturwiſſenſchaft jelbft, nur auf Erklärung deſſen bedacht, was in⸗
nerhalb der einmal vorhandenen Schöpfung geſchieht, wird ihrer⸗
ſeits Recht haben, bei irgend einer letzten Thatſache anzuhalten,
welche einen allgemeinen und unwiderruflichen Charakterzug dieſer
Schöpfung auf eine für die Erklärung der Erſcheinungen fruchtbare
Weiſe bezeichnet. Unverändert und ungetheilt alfo nicht um einer
unbedingten Unzerſtörbarkeit ihres Wefens willen, fonbern weil der
wirkliche Naturlauf die Beranlafjungen nicht erzeugt, denen ihre
Auflöfung gelingen Könnte, bilden die Atome für den Aufbau ber
Erſcheinungen die unwandelbar feften Punkte. An melden höheren
Bedingungen auch ihre eigne Eriftenz hängen mag: für Die Exfl&-
zung der einmal vorhandenen Natur dürfen wir diefe Bebingungen
babingeftellt fein Iaffen, weil fie beftändig in ihr erfüllt find, nie
verloren gehen und deshalb nie wieder von neuem bergeftellt zu
werden brauchen.
Welche weiteren VBorftellungen wir uns über die Natur ber
Atome zu machen haben, kann nur nach den Andeutungen der Er-
fahrungen, die ung überhaupt zu ihrer Annahme nöthigen, ent=
ſchieden werben, und vieles hiervon bleibt der Zukunft vorbehal-
ten. Der unbefangenen Weberlegung liegt e8 am nädhften, Die
verſchiedenen Eigenfhaften des Sichtbaren auch von verſchiedenen
Beſchaffenheiten der Heinften Elemente abzuleiten; die Wiſſenſchaft
dagegen hat ein natürliches Interefje daran, die auseinandergehende
Mannigfaltigfeit der Erfcheinungen auf die möglich Fleinfte Zahl
uriprünglich verſchiedener PBrincipien zurüdzuführen. Und in ber
That lehrt Die Unterfuhung ſehr bald erfennen, daß viele zunächſt
weſentlich ſcheinende Unterjchiede der Dinge doch nur von Verſchie⸗
39
benheiten ber Größe und Berbindungsweife an fich gleichartiger
Beltandtheile abhängen. Dennod) dürfte die Feftigfeit, mit welcher
manche Ratuverzeugniffe unter höchſt wechfelnden Bedingungen ihre
harakteriftifchen Unterjchiede von andern aufrechterhalten, den Ver⸗
fu erſchweren, aus durchaus gleichen und gleichartigen Atomen nur
durch die Mannigfaltigkeit ihrer Verfnüpfungsarten alle abweichen⸗
ben Formen der Körper und Verſchiedenheiten ihres Verhaltens zu
erflären. Kein höherer Gefichtspunkt verlangt übrigens dieſe Gleiche
beit der Atome; denn nicht Darin befteht Die Einheit des Weltgan-
zen, daß alle feine urfprünglichen Beſtandtheile identiſch feien,
fondern nur darin, daß die verichiedenen in den Sinn eine zu-
fommenfaffenden Planes ftch fügen.
Die Atomiftif der Alten war von dieſem Gedanken der Weſens⸗
gleihheit der Heinften Elemente beherrſcht; und da der Zwed der
Raturerflärung dennoch Unterfchiebe derſelben verlangte, fo fuchten
fie diefe ausſchließlich in der Mannigfaltigleit der Formen und
Größen, melde den Atomen zufämen. Aber ein völlig gleicher
Stoff ſchien vielmehr überall auch gleiche Form und Größe zu ver⸗
langen; fo fam man darauf, die Atome felbft aus noch Fleineren,
gleihartigen und gleich großen Theilden zufammengefegt und
ihre Formen von den Pagerungsverhältniffen dieſer abhängig zu
benfen. Die Atome waren daher nicht eigentlich einfache Elemente,
fondern ungzertrennlihe Syſteme mehrerer Theilchen. Dennod
waren fie, und nicht dieſe Theilchen, Die Eleınente des Naturlaufes.
Denn die Verknüpfungen jener Kleinften Urbeftandtheile zu den
größeren und mannigfach geformten Geftalten der Atome jah man
als ewige und umwiderrufliche Thatfachen an, deren Begründung
vor aller Schöpfung der beftehenden Welt und damit außerhalb
bes Kreifes naturwiſſenſchaftlicher Forſchung liegt. Jetzt, nachdem
die geſchaffene Welt einmal beſteht, vermögen alle Wechſelwirkun⸗
gen des in ihr noch fortdauernden Naturlaufes nur noch ſo viel,
die zuſammengeſetzten ſichtbaren Körper in ihre Atome, nicht aber
auch dieſe noch in ihre gleichartigen Urbeſtandtheile zu zerfällen.
Zu dieſer Annahme einer unerklärlichen erſten Zuſammen⸗
40
fügung wird indefien diefe merkwürdige Borftellungsweife nur Durch
ihre Borausfegung von der völligen Gleihartigfeit der Heinften
Theilchen gedrängt. ‘Denn allerbings Tieß fi nun fein Grund
mehr finden, warum es durchaus Feiner der im Naturlauf entſtehen⸗
den Kräfte gelingen follte, die Berbindungsweife jener Theilchen in
enem Atome zu ftören und fie in die andere Form der Der-
knüpfung überzuführen, in ber fie in einem zweiten von jenem
verichiedenen Atom fich befinden, und die eben deshalb, weil fie
fih bier verwirflict findet, der Natur jener Theilchen nicht an
fih zuwider fein fannı. Anders würde es fein, wenn wir jene
Borftellung der Alten fo erneuerten, daß wir nicht gleichartige,
fondern vielmehr weſentlich verſchiedene Urbeftandtheile zu den
Heinen Gebilden der Atome vereinigt dächten. Jedes von dieſen
wirde dann unzertrennlich fein Fönnen, weil zwiſchen den Be⸗
ftandtheilen eines jeden eine Wahlverwandtſchaft Herrfchte, bie
durch Feine andere üiberboten werden fünnte, und jedes würde zu-
gleich eine beftimmte Größe und Geftalt befigen, weil nur bei
begrenzter Anzahl der Theile und beftimmter Lagerung berfelben
ihr gegenfeitiger Zufammenhang Feſtigkeit genug befäße, um jever
Entreifung eines einzelnen zu wiberftehen. Auch dieje Gebilde,
die durch ihre Ungerftörbarfeit den Namen der Atome verdienten,
würden mithin nicht die legten und einfachften Elemente der
Körperwelt, wohl aber die legten fein, bis auf melde die Ver⸗
änderungen in der Natur zurüdgeben, und welche in allen Zuſam⸗
menfegungen und Trennungen als bie unwandelbaren Baubeſtand⸗
theile erhalten werden.
Aber man fteht leicht, daß diefe Vorftellungsweife und zu-
gleich geftattet, von einer räumlichen Ausdehnung jener Urbeftand-
theile gänzlich abzufehen und fie als überfinnliche Weſen zu be—
trachten, die von beftimmten Punkten des Raumes aus durch ihre
Kräfte ein beftimmtes Maß der Ausdehnung beherrſchen, ohne
es doch im eigentlihen Sinne zu erfüllen. Dur ihre Wechfel-
wirfungen würden diefe unausgedehnten Punkte fih ihre Ent-
fernungen von einander und ihre gegenfeitige Lage vorzeichnen,
41
und fie würden hierdurch die Umriffe einer Raumfigur ebenfo
beftimmt und fiher umſchreiben, als wenn fie das Innere der⸗
jelben durch ftetige Ausdehnung einnähmen. Und denfen wir an
diefe einzelnen realen Punkte Kräfte der Anziehung und Ab-
ftoßung nah außen genüpft, fo wirden größere Yufammen-
bäufungen derjelben Durch ihren Widerftand gegen eindringenve
Gewalt die Erſcheinung einer greifbaren Körperlichleit oder durch
BZurüdwerfung der Lichtwellen den Anblid einer farbigen Ober:
fläche ebenfo gut gewähren, al8 wenn die wirkſamen Wefen mit
eigner ftetiger Ausdehnung den Raum erfüllten. Der Phyſik,
welcher die kleinſten Theile nur als Mittelpuntte ausgehender
Kräfte wichtig find, widerftrebt e8 nicht, diefen Schein einer aus-
gebehnten Materie aus einfachen überfinnlicden Weſen abzuleiten;
die philofophiiche Naturbetrachtung wird ſich zu dieſem Verſuche
genöthigt jehen, denn er allein verbindet die VBorftellung von der
Einfachheit der wirflih legten Elemente mit der gleich unent=
bebrliden Yormenmannigfaltigleit der Atome, bie wir als die
nächſten Baubeftandtheile des Körperlichen vorausiegen müſſen.
—
Welche Vorſtellung wir uns indeſſen von der Natur der
Atome bilden mögen: das weſentlichſte Bedürfniß der Natur-
erklärung wird dieſes fein, allgemeine Geſichtspunkte zu finden,
nad) denen die Erfolge ihres Wirkens fi an beftimmte Geſetze
knüpfen laſſen. Das deutliche Bemwußtfein über diefe Grundlagen
ihrer Beurtheilung unterfcheidet die neuere Wiſſenſchaft völlig von
der Atomiftil der Alten, die in ihren Verſuchen, die Erſcheinungen
aus wechſelnden Verbindungen der Elemente zu erklären, zwar
überall Die Gefege des Wirkens, an die uns der alltägliche An-
bli® der Naturereigniffe gewöhnt bat, ſtillſchweigend vorausſetzte,
ohne doch diefe Grundjäte abfichtlih hervorzuheben und bie
Grenzen ihrer Giltigkeit zu unterfuchen. Uns aber wird es nüg-
lich fein, zuzugeftehen, daß auch unfere Wiſſenſchaft bierin noch
42
nicht vollendet ift, und daß fle manche ihrer Grundfäte nur den
Ausfagen der Erfahrung verdankt, mithin, Durch neue Erfahrungen
vielleicht in Zukunft anders belehrt, ſich nicht jeder Umgeftaltung
von vorm herein verjchließen darf.
Unbekannt bleibt uns zunächft das Innere der Atome.
Allein welche inneren Zuftände und Beftrebungen wir auch immer
in ihnen vorausfegen möchten, nie wird fi doch um ihretwillen
das Einzelne von felbft in Bewegung fegen, ohne durd feine
Beziehungen zu andern dazu gendthigt zu fein. Denn der Raum
an fih umgibt jedes Atom gleichförmig von allen Seiten, und
fein Punkt diefer gleichgiltigen Ausdehnung befigt einen Vorzug
bor den andern, um beöwillen das ruhende Atom fi nad ihm
aufmachen, oder das bewegte aus feiner Richtung nach ihm ab⸗
lenken müßte; feiner entfpricht der Natur des Atoms beffer als
ein anderer, fo daß es ihn fchneller auffuchte ober zügernder ver⸗
ließe. Jedes ruhende wird daher, fo lange nicht äußere Einflirffe
binzutreten, in Ruhe, und jede® bemegte in der Richtung und
Geſchwindigkeit feiner Bewegung verbarren, bis nen dazwiſchen
wirkende Urfachen dieſe hemmen oder «ablenken.
Diefes Geſetz der Beharrung, das aller unferer Beurtheilung
der Bewegungen zu Grunde liegt, bezeichnet gleihwohl einen
Sal, der nie in diefer Reinheit vorkommt. Denn eben jene
äußeren Urfachen, welche Richtung und Geſchwindigkeit des Fort»
gangs ändern, fehlen in Wirklichkeit dem Bewegten niemals.
Das einzelne Atom umgibt der Raum nicht Teer, fondern am
unzähligen Punkten durch andere, gleichartige oder verjchtebene
Atome bejegt. Zwiſchen ihnen allen, als Beftandtheilen derfelben
Welt, dürfen wir einen Zuſammenhang gegenfeitigen Fürein⸗
anderſeins vorausfegen, aus welchem eine unmittelbare Wechſel⸗
wirkung ihrer innern Zuſtände entfpringt. Aber diefe innern
Erlebniſſe der Atome entgehen unjerer Beobachtung völlig; nicht
fie macht daber die Naturwiſſenſchaft zu ihrem Gegenftand, fon=
dern nur bie räumlichen Bewegungen, die ihr äußerer Aborud
und ihre Folge find. Zwiſchen zwei unveränderlichen Atomen
43
im leeren Raume Tann diefer Ausdruck ihrer innern Wechfel-
wirkung nur in Berfürzung oder Verlängerung ihres gegenfeitigen
Abſtandes beftehen. Welcher von beiden Erfolgen in einem be-
ſtimmten Falle eintreten, ob alfo die Erſcheinung einer Anziehung
oder Abftoßung entftehen wird, dies hängt von den unbekannten
inneren Beziehungen der wechſelwirkenden Atome ab und kann
deshalb nur durch Erfahrung von uns gefunden werden. Nur
auf den vereinigten Eindruck der Erfahrungen innen wir ferner,
bi8 jetzt wenigftens, die Negel gründen, daß die Lebhaftigkeit
jeder Wechſelwirkung mit der wachfenden Entfernung der wirken⸗
den Elemente von einander abnimmt, mit ihrer fteigenden gegen-
feitigen Nöherung wächſt. Nach welchem befonderen Maßſtabe
fie aber nad) der mwechfelnden Größe des Abſtandes ſich richtet,
auch dies ift für jeden einzelnen Gall nur nad den Ausfagen ber
Erfahrung zu entſcheiden; dieſe allein endlich belehrt uns über
den Grad der Stärke, mit welchem überhaupt zwifchen zwei
Atomen von beftimmter Natur Anziehung oder Abſtoßung fid
entwideln wird.
Die Fähigkeit oder die Nöthigung, eine beftimmte Wirkung
bervorzubringen, Tiegt nach allem Erwähnten niemal® in ber
Natur eines einzelnen Atoms oder eines einzelnen Körpers fertig
enthalten. Wie vielmehr die Nothwenbigleit eines Wirkens über:
haupt nur aus der gegemfeitigen Beziehung zweier Elemente her⸗
vorgeht, jo Tiegt auch die Entfcheivung darüber, ob das eine ſich
anziehend oder abftoßend. verhalten werde, zugleich mit in Der
Natur des andern, gegen welches es biefe Thätigfeit richtet; Die
Größe des Einfluffes ferner, den jedes ausübt, wird ihm theils
durch daſſelbe Verhältniß zu der eigenthümlichen Natur feines
Gegners, theils durch feine Entfernung von ihm, alfo durch
augenblidlih obwaltende Umftände zugemeffen. Allein obgleich
auf diefe Weife die beftimmte Kraft des Wirlend jedem Atom
eigentlich erft im Augenblide feines Wirkens zuwächſt, fo pflegt
Doch die Naturwiſſenſchaft die Kraft als beftändig anhaftend dem
Atom zu bezeichnen. Sie verſchuldet dadurch allerdings Miß-
42
nicht vollendet ift, und daß fie mande ihrer Grundfäte nur ben
Ausfagen der Erfahrung verdankt, mithin, Durch neue Erfahrungen
vielleicht in Zukunft anders belehrt, ſich nicht jeder Umgeftaltung
von vorn berein verichließen darf.
Unbelannt bleibt und zunächſt das Innere der Atome.
Allein welche inneren Zuftände und Beftrebungen wir auch immer
in ihnen vorausfegen möchten, nie wird ſich doch um ihretwillen
das Einzelne von jelbft in Bewegung ſetzen, ohne durch feine
Beziehungen zu andern dazu genötbigt zu fein. Denn der Raum
an fih umgibt jedes Atom gleihförmig von allen Seiten, und
fein Punkt diefer gleihgiltigen Ausdehnung befigt einen Borzug
bor den andern, um beöwillen das ruhende Atom ſich nad ihm
aufmachen, oder das bewegte aus feiner Richtung nach ihm ab-
lenken müßte; feiner entipriht der Natur des Atoms beffer als
ein anderer, fo daß es ihn ſchneller auffuchte ober zögernder ver⸗
ließe. Jedes ruhende wird daher, fo lange nicht äußere Einflüffe
binzutreten, in Rube, und jedes bemegte in der Richtung und
Geſchwindigkeit feiner Bewegung verharren, bis nen dazwiſchen
wirkende Urfachen diefe hemmen oder ablenken.
Dieſes Gefe der Beharrung, das aller unferer Beurtheilung
der Bewegungen zu Grunde Tiegt, bezeichnet gleichwohl einen
Fall, der nie in diefer Reinheit vorfommt. Denn eben jene
äußeren Urfachen, welche Richtung und Gejhwindigfeit des Fort-
gangs ändern, fehlen in Wirklichkeit dem Bewegten niemals.
Das einzelne Atom umgibt der Raum nicht Teer, fondern am
unzähligen Punkten durch andere, gleichartige oder verſchiedene
Atome befegt. Zwiſchen ihnen allen, als Beftandtheilen derfelben
Welt, dürfen wir einen Zufammenbang gegenfeitigen Yürein-
anderſeins vorausſetzen, aus welchem eine unmittelbare Wechſel⸗
wirkung ihrer innern Zuſtände entſpringt. Aber dieſe innern
Erlebniſſe der Atome entgehen unſerer Beobachtung völlig; nicht
fie macht daher die Naturwiſſenſchaft zu ihrem Gegenſtand, ſon⸗
dern nur die räumlichen Bewegungen, die ihr äußerer Abdruck
und ihre Folge ſind. Zwiſchen zwei unveränderlichen Atomen
43
im leeren Raume kann dieſer Ausdruck ihrer innern Wechfel-
wirkung nur in Berfürzung oder Verlängerung ihres gegenfeitigen
Abſtandes beftehen. Welcher von beiden Erfolgen in einem be-
ſtimmten Falle eintreten, ob alfo Die Erſcheinung einer Anziehung
oder Abſtoßung entftiehen wird, dies hängt von den unbelannten
inneren Beziehungen der mechfelmirtenden Atome ab und Tann
deshalb nur durch Erfahrung von uns gefunden werden. Nur
auf den vereinigten Eindruck der Erfahrungen können wir ferner,
bi8 jeßt wenigftens, die Regel gründen, daß die Lebhaftigkeit
jeder Wechſelwirkung mit ber wachſenden Entfernung ber wirken⸗
ben Elemente von einander abnimmt, mit ihrer fteigenden gegen-
feitigen Näherung wächſt. Nach welchem befonderen Maßftabe
fle aber nach der mechfelnden Größe des Abſtandes ſich richtet,
auch dies ift für jeden einzelnen Fall nur nach den Ausfagen der
Erfahrung zu entjcheiden; dieſe allein endlich belehrt uns tiber
den Grad der Stärke, mit welchem überhaupt zwifchen zei
Atomen von beftimmter Natur Anziehung oder Abſtoßung fi
entwideln wird.
Die Fähigleit oder die Nöthigung, eine beftimmte Wirkung
bervorzubringen, Tiegt nah allem Ermwähnten niemals in ber
Ratur eines einzelnen Atoms oder eines einzelnen Körpers fertig
enthalten. Wie vielmehr die Nothwendigkeit eines Wirkens liber-
haupt nur aus der gegenfeitigen Beziehung zweier Elemente her-
vorgeht, fo liegt auch die Enticheivung darüber, ob das eine ſich
anziehend oder abftoßend. verhalten werde, zugleich mit in ber
Natur des andern, gegen welches e8 diefe Thätigfeit richtet; Die
Größe des Einflufjes ferner, den jedes ausübt, wird ihm theils
durch daffelbe Verhältniß zu der eigenthümlihen Natur feines
Gegners, theils durch feine Entfernung von ihm, alfo durch
augenblidlih obwaltende Umftände zugemeſſen. Allein obgleid
auf diefe Weile bie beſtimmte Kraft des Wirkens jedem Atom
eigentlich erft im Augenblide feines Wirkens zuwächſt, fo pflegt
doch die Naturwiſſenſchaft die Kraft als beftändig anbaftend dem
Atom zu bezeichnen. Ste verjhuldet dadurch allerdings Miß-
44
verftändniffe bei denen, welche den Sinn diefer Ausdrucksweiſe
nicht in ihren Anwendungen verfolgen. Denn die Verſuchung
liegt nahe, die Kraft, die dem Stoffe beftändig anhaften foll,
als einen neuen und doch ftofflofen Stoff, als eine Eigenichaft,
die body verborgen bleibt, als eine Thätigfeit in Ruhe, oder als
ein Streben aufzufafien, dem das Bewußtfein des Zieles ebenfo
wie die Willkür ded Handelns und die Wirflichleit der Auge
übung fehle. Niemand würde dieſelben Schwierigfeiten empfinden,
Iprächen wir etwa von der Kraft unſeres Gemüthes, zu haffen
oder zu Tieben. Wir wiflen, daß Liebe und Haß nicht von An=
fang am fertig als foldhe in unferer Seele liegen, wartend auf
die Gegenftände, gegen die fie fi) wenden könnten; beide ent=
wideln fi in beftimmten Maße erft im Augenblide der Be—
rührung unferes Weſens mit einem fremden. Dennoch dulden
wir den Ausdruck, daß die Kraft des Haſſes und ber Liebe
unferem Gemüthe eigen inwohne; wir wiflen, nichts damit jagen
zu wollen, als daß die beftändige Natur unferer Seele, fo wie
fie nun einmal ift, nothwendig unter dem Einfluffe beftimmter
Bedingungen die eine oder die andere jener Aeußerungen ent⸗
wideln werde. Mit demfelben Rechte des Ausdruckes verlegt
auch die Naturbetrachtung die Fähigkeit zu einer Leiftung, die ein
Törperliches Clement nad Hinzutritt gewiffer Bedingungen er⸗
wirbt, als eine vorher fertige Kraft der Anziehung oder Ab-
ſtoßung in deſſen eignes Innere. Sie darf nicht beforgen, durch
diefe Abkürzung des Ausdrucks zu Irrthümern in der Anwendung
geführt zu werden; denn feine Anwendung des Begriffes der
Kraft ift möglich, ohne daß in jedem Falle die wahre Sachlage,
auf die fein Gebraud fich gründet, in anderer Form doch wieder
berüdfichtigt würde. Wir ſprechen von den Atomen nicht, fofern
fie nicht wirken, fondern fofern fle wirken; aber wir können von
feiner Wirkung des einen fprechen, ohne das zweite zu erwähnen,
bon dem fie erlitten wird, und wir können zwifchen dieſen beiden
feine Anziehung oder Abftoßung geichehen laſſen, ohne zugleich
eine beſtimmte gegenfeitige Entfernung beider im Anfangsaugen-
45
bfid des Wirkens worzuftellen und von diefer die Größe ber ent-
widelten Kraft nach einem erfahrungsmäßig belannten Gelege ab-
zuleiten. So ift es daher für alle Anwendung gleichbedeutend, ob
wir behaupten, daß aus den inneren Beziehungen der Elemente
gegen einander jedem einzelnen die Nöthigung zu einer beftimmten
Form und Größe der Wirkung erft im Augenblide unter dem
Einfluß der vorhandenen Umftände entftehe, oder ob wir fagen,
daß von manderlei Kräften, die fertig, aber unthätig in dem
Atome ſchlummern, in jedem Augenblid diejenige zur Ausübung
gelange, die in den eben vorhandenen Umftänden die Bedingungen
ihrer Wedung und Neußerung finde. Doch hatte die Phyſik aller-
dings Grund, die letztere Yorm des Ausdrucks als bequemer für
die Anwendung vorzuziehen.
Ließen die inneren Zuftände, die vielleicht jedes Atom tm
Augenblide feines Wirkens erfährt, feine Natur jo verändert zurüd,
daß es auf eine völlig gleiche fpätere Anregung anders zurückwirkte,
als auf die frühere, fo würden wir von beftändig ihm anhaftenven
Kräften nicht Tprecden Finnen. Die Erfahrung hat im Allgemeinen
eine ſolche Veränderlichkeit nicht kennen gelehrt. Ein chemiſches
Element, nachdem es bald mit diefem bald mit jenem andern zu
einer innigen Verbindung zufammengetreten und aus berfelben
wieder ausgeſchieden ift, fommt am Ende diefer Schickſale mit Tei-
nen andern Eigenjchaften wieder hervor, als die waren, mit denen
es in die erfte diefer Verbindungen eintrat. Und mo es fih etwa
anders zu verhalten fcheint, Tiegt der Grund der augenblidlich ver-
änderten Eigenjhaften in der noch anhaltenden Fortwirkung der
Borgänge, die feine legte Ausſcheidung begleiteten. Wie viele und
wie verſchiedene Zuftände alfo das Atom erfahren haben mag,
immer gebt es aus biefen wechſelnden Lagen als völlig daſſelbe
wieber hervor und erwirbt feine neuen Gemohnheiten, wie ſich deren
in zufammengefeten Gebilden entmwideln, noch zeigt fih in ihm
eine Spur von Gedächtniß, durch welches die vorübergegangenen
Zuftände mit maßgebend für das Verhalten der Zukunft würden.
Seine Wirkungsweife läßt fih Daher voraus beftimmen, wenn wir
46
feine urfprüngliche Natur und die Summe aller augenblidTich noch
fortwirkenden Bedingungen Tennen, ohne daß es nöthig ift, den
Berlauf der Geſchichte zu berüdfichtigen, welche es zwiſchen zwei
Zeitpunkten erlebt bat. Dieſe beftändige Rückkehr zu gleichem Ver:
halten unter gleihen Bedingungen ift e8 eigentlich, worein wir
die Unveränderlichkeit der materiellen Atome fegen. Denn nicht
dies bürfen wir behaupten, daß ihre Natur iiberhaupt niemals
Beränderungen ihrer inneren Zuftände erfahre; aber dieſe Berän-
derungen erlöfchen, wenigftend was ihren Einfluß auf das Ber-
halten nach außen betrifft, mit dem Aufhören ihrer äußeren Be—
dingungen, und liberal! wo bie legten genau zu einer frliheren Con⸗
ftellation zurückgekehrt find, Tehrt auch das Atom zu demjenigen
feiner Zuftände, der dieſer entiprach, mit volltommener Elafticität
zurüd und tritt nun wieder als diefelbe Kraft oder diefelbe Laft,
wie damals, in das Spiel der weiteren Wechfelwirkungen ein.
Unfere Kenntniß der Erfcheinungen ift nicht fo umfaffend, daß
wir wagen dürften, dieſe Unveränderlichkeit als eine durchaus all-
gemeine Eigenſchaft aller Naturelemente auszufprechen. Es ift wohl
möglich, daß in Gebieten, in denen wir noch am Anfange der
Unterfuhung fteben, Andeutungen einer fortfchreitenden inneren
Entwidlung der Atome fich ergeben. Allein wie bie bisherige
Erfahrung eine Nothwendigkeit dieſer Annahme nicht fühlbar ge=
macht bat, fo läßt fih auch im Allgemeinen leicht überfehen, daß
wenigftens in beſchränkter Ausdehnung die Unveränberlichfeit der
Elemente immer ihre Geltung wird behaupten müflen. ‘Denn ein
Bau der Natur, in welchem die Gattungen der Gefchöpfe ftet$
biefelben Geftalten und biefelbe Gliederung ihrer gegenfeitigen
Berhältniffe, ver Lauf der Ereigniffe im Großen ftet8 diefelben
Umriſſe forterbalten fol, ift nicht denkbar, wenn die Elemente felbft,
aus denen diefe Mannigfaltigfeit fi ftet8 von neuem erzeugen
ſoll, auch ihrerſeits einer beftändigen Veränderung unterliegen.
Bielleicht durchläuft num in der That die ganze Natur eine fort-
ſchreitende Entwidlung; aber fo groß ift nad dem Zeugniß der
Erfahrung ihre Beſtändigkeit doch immer, daß wir alle Zeiträume
47
ihres Dafeins, die wir gejchichtlich tiberbliden Können, nur unter
ver Borausfegung unveränderlicher Elemente verftehen, die nad
jevem abgeſchloſſenen Umlauf der äußeren Bedingungen ebenfalls
auf den anfänglichen Zuftand ihres Weſens zurückkommen und fo
der Erneuerung befielben Spiele die alten Anknüpfungspunfte
wieder verichaffen.
Bietet nun diefe Annahme die allgemeinjte Grundlage für
bie Borherbeftimmung eintretenber Wirkungen, jo hat die Exfab-
rung ebenfo die ausgedehnte Gültigkeit einer andern Borausfegung
beftätigt, nach der wir die Erfolge beurtbeilen, die aus dem Zu⸗
ſammenwirken mehrerer Bedingungen an bemfelben einfachen Ele-
ment entftehen. Die Bewegung, in der ein Atom fich bereits be=
findet, hindert nicht die Annahme einer zweiten; nicht widerſtre⸗
bend oder nur zum Theil, fondern fo vollfommen genügt das be-
wegte Atomı auch dem andern Antriebe, als wäre die frühere Be-
wegung in ihm nicht vorhanden gewefen, und die Geſchwindigkeit,
die e8 im Ganzen erlangt, ift die vollftändige Summe der ein=
zelnen Gejhwindigfeiten, die ihm durch dieſe verſchiedenen Kräfte
nach gleicher Richtung mitgetheilt werben. Denken wir nun dieſe
mehreren Kräfte als völlig gleich unter einander und verbinden fie
in beliebigen Mengen zu der Borftellung von Geſammtkräften,
deren Größe wir dann nad der Anzahl der einfachen und glei-
hen Anftöhe fchäten, die jede von ihnen in ſich vereinigt, fo läßt
ih dem Vorigen leicht der Sat entnehmen, daß die Geſchwindig⸗
fetten, die durch verſchiedene Kräfte demfelben Element mitgetheilt
werden, fich wie die Größen diefer erzeugenden Kräfte ſelbſt ver-
halten. Erneuert ferner eine Kraft, ftetig wirkend, in jedem
Augenblicke denfelben Anftoß, den fie im vorigen gab, fo wird Die
erzeugte Geſchwindigkeit im Verlauf der Zeit durch die beftänbige
Summirung der fpäteren Eindrüde mit den nach dem Geſetze ber
Trägheit fortdauernden früheren wachen und die Bewegung wird
46
feine urfprüngliche Natur und die Summe aller augenblicklich noch
fortwirtenden Bedingungen kennen, ohne daß es nöthig ift, den
Berlauf ver Geſchichte zu berücfichtigen, welche es zwiſchen zwei
Zeitpunkten erlebt Hat. Diefe beftändige Rückkehr zu gleichen Ber:
halten unter gleichen Bedingungen tft e8 eigentlih, worein wir
die Unveränderlichleit der materiellen Atome ſetzen. Denn nicht
dies dürfen wir behaupten, daß ihre Natur überhaupt niemals
Beränderungen ihrer inneren Zuſtände erfahre; aber dieſe Berän-
derungen erlöfchen, menigftens was ihren Einfluß auf das Ber-
halten nach außen betrifft, mit dem Aufbören ihrer äußeren Be-
dingungen, und liberal wo die legten genau zur einer frliheren Con⸗
ftellation zurücdgelehrt find, kehrt auch Das Atom zu demjenigen
feiner Zuftände, der diefer entſprach, mit vollkommener Elafticität
zurüd und tritt nun wieder als diefelbe Kraft oder diejelbe Laft,
wie damals, in das Spiel der weiteren Wechfelwirfungen ein.
Unfere Kenntniß der Erfcheinungen ift nicht jo umfaſſend, daß
wir wagen bürften, dieſe Unveränderlichkeit als eine durchaus all-
gemeine Eigenſchaft aller Naturelemente auszufprechen. Es iſt wohl
möglich, daß in Gebieten, in denen wir noch am Anfange der
Unterfuhung fliehen, Andeutungen einer fortfchreitenden inneren
Entwicklung der Atome fich ergeben. Allein wie bie bisherige
Erfahrung eine Nothwendigkeit diefer Annahme nicht fühlbar ge-
madt bat, fo läßt fih auch im Allgemeinen leicht überſehen, daß
wenigftens in befchränfter Ausdehnung die Unveränderlichleit der
Elemente immer ihre Geltung wird behaupten müffen. ‘Denn ein
Bau der Natur, in welchem die Gattungen der Geichöpfe ftet$
biefelben Geftalten und biefelbe Gliederung ihrer gegenfeitigen
Verhältniſſe, der Lauf der Ereigniffe im Großen ſtets biefelben
Umriſſe forterhalten fol, ift nicht denkbar, wenn die Elemente jelbft,
aus denen diefe Mannigfaltigfeit fich ftet8 von neuem erzeugen
ſoll, auch ihrerſeits einer beftändigen Veränderung unterliegen.
Bielleicht durchläuft nun in der That die ganze Natur eine fort=
ſchreitende Entwidlung; aber fo groß ift nach dem BZeugniß der
Erfahrung ihre Beſtändigkeit Doch immter, daß wir alle Zeiträume
47
ihres Dafeins, die wir gefchichtlich überbliden innen, nur unter
der Borausfegung unveränderlicher Elemente verfiehen, die nad
jedem abgeſchloſſenen Umlauf der äußeren Bedingungen ebenfalls
anf den anfänglichen Zuftend ihres Wejens zurückkommen und fo
der Erneuerung defielben Spiele8 die alten Anknüpfungspunkte
wieder verichaffen.
Bietet nun diefe Annahme die allgemeinfte Grundlage für
bie Borherbeftimmung eintretender Wirkungen, jo hat die Erfah⸗
rung ebenfo die ausgedehnte Gültigkeit einer andern Borausfeßung
beftätigt, nach der wir die Erfolge beurtbeilen, die aus dem Zu⸗
ſammenwirken mehrerer Bedingungen an demfelben einfachen Ele-
ment entitehben. ‘Die Bewegung, in ber ein Atom fich bereits be=
findet, hindert nicht die Annahme einer zweiten; nicht wiberftre=
bend oder nur zum Theil, fondern fo volffommen genügt das be—
wegte Atom auch dem andern Antriebe, al8 wäre die frühere Be-
wegung in ihm nicht vorhanden gewefen, und die Gefchwindigfeit,
die es im Ganzen erlangt, ift die vollftändige Summe der ein=
zelnen Gefchwindigfeiten, die ihm durch dieſe verjchiedenen Kräfte
nach gleicher Richtung mitgetheilt werben. Denken wir nun diefe
mehreren Kräfte als völlig gleich unter einander und verbinden fie
in beliebigen Mengen zu ber Borftellung von Gefammtkräften,
deren Größe wir dann nad der Anzahl der einfachen und glei-
hen Anſtöße ſchätzen, die jede von ihnen in ſich vereinigt, fo läßt
fih dem Vorigen leicht der Sat entnehmen, daß die Geſchwindig⸗
feiten, Die Durch verſchiedene Kräfte demſelben Element mitgetheilt
werben, fich wie die Größen dieſer erzeugenden Kräfte jelbft ver-
halten. Erneuert ferner eine Kraft, ftetig wirfend, in jedem
Augenblide denſelben Anftoß, den fie im vorigen gab, fo wird Die
erzeugte Geſchwindigkeit im Verlauf der Zeit durch die beftändige
Summirung der päteren Eindrüde mit den nad dem Geſetze der
Trägbeit fortdauernden früheren wachen und Die Bewegung wird
48
in jene befchleunigte übergeben, die wir unter Anderem in dem
Falle der Körper durch die ftetige Anziehung der Erde entftehen
fehen. Berfuchen endlich verſchiedene Kräfte mit verſchiedenen Ge-
ſchwindigkeiten und Richtungen daſſelbe Element gleichzeitig zu be=
wegen, jo wird e8 auch hier keineswegs, der einen allein gehorchend,
fih den andern entziehen, fondern den Antrieben aller zugleich ge=
nügen. An dem Ende eines beſtimmten Zeitraumes befindet fich
daher das Element dur das Zuſammenwirken zweier Kräfte an
demfelben Orte, den e8 erreicht haben wiirde, wenn e8 beiden nad
einander gehorchend fi zuerſt in der Richtung der einen, und
während eines zweiten gleichen Zeitrammes von dem nun erreiche
ten Orte aus in der Richtung der andern Kraft bewegt hätte.
Sucht man nad derfelben Borausfegung die Orte auf, an denen
ſich das Bewegte am Ende bes erften, des zweiten und jedes fol-
genden unendlich Heinen Abfchnittes jenes Zeitraumes befindet, fo
bezeichnet die Linie, welche dieſe Punkte unter einander verbindet,
die gerade oder Frummlinige Bahn, die das Element unter dem
Zuſammenwirken beider Kräfte wirklich durchläuft. Sie zieht fich
in einen Punkt zufammen und das Element ruht, wenn die Sum-
men der Kräfte gleich find, Die e8 nach entgegengefegten Richtungen
treiben.
Findet endlich zwiſchen zwei Elementen die Nothwendigteit
einer Wechſelwirkung einmal ftatt, jo findet fie ganz ebenfo ftatt,
wenn dem einen nicht mehr eines, jondern eine Mehrheit gleich-
artiger, einzeln oder zu einer Maſſe vereinigt, gegenüberfteht. Die
Empfänglichfeit für Wechfelwirkung iſt auch hier nicht fo erichöpf-
bar, daß das eine Element feinen Einfluß nur auf eine beftimmte
Anzahl anderer erfireden oder die Größe deſſelben zwiſchen dieſe
vertheilen müßte. Welches vielmehr auch die Anzahl diejer feiner
Gegner fein mag, zwifchen ihm und jedem einzelnen berfelben ent-
Ipinnt ſich Die Wechſelwirkung ganz ebenfo, wie fie ausfallen würde,
wenn alle übrigen nicht vorhanden wären. Jedem berfelben ertheilt
Daher das eine Element, und von jebem derfelben empfängt es ein-
mal die Geſchwindigkeit, die iiberhaupt der Wechſelwirkung zwiſchen
49
Atomen folder Gattung entipriht. Es ſammelt alfo ebenfo viel-
mal in fich ſelbſt dieſe Geſchwindigkeit, als Die Maſſe feines Geg-
ners ihm felbft gleiche Elemente vereinigt, beren jedem es einmal
dieſelbe Gejhwindigfeit mittheilt. Nennen wir daher Größe ber
Bewegung das Product aus der Gefchwindigleit in die Anzahl
der gleichartigen bewegten Theile oder in ihre Mafle, jo erhält
jedes der beiden Glieber eines wechſelwirkenden Paares dieſelbe
Bewegungsgröße, jedes mithin eine Geſchwindigkeit, welche wächſt,
je größer fein Gegner und je Heiner feine eigne Maſſe ift. Dies
ſes Geſetz der Gleichheit der Wirkung und Gegenwirkung geftattet
in Berbindung mit dem Borigen eine Beftimmung der Bahnen,
welche ungleich große Maſſen, fie mögen urfprünglih in Ruhe
oder in Bewegung gewefen fein, durch ihre gegenfeitigen Kräfte
einander borichreiben.
In allen diefen Regeln der Beurtheilung zufammengefegter
Ereigniſſe Liegt die allgemeine Borausfegung, daß die Wechſelwir⸗
fung, in welder ſich ein Element mit einem zweiten befindet, Tei-
nen Einfluß auf das Geſetz ausübe, nach welchem es gleichzeitig
in Wechſelwirkung mit einem dritten treten fol. Nicht die Wir-
kungsweiſe der einzelnen Kraft jondern nur ihr Erfolg wird durch
das Zufammentreffen mit andern gleichzeitig einwirfenden verändert;
denn in dem Erfolge allerdings müfjen die entgegengefegten An-
triebe verfchiedener Kräfte, denen daſſelbe Element nicht gleichzeitig
folgen kann, ſich aufheben, die übrigen aber zu einer mittleren
GSefammtleiftung fih zufammenfegen. Diefe VBorausfegung nun
ift Die einfachfte und günſtigſte für die Beſtimmung der Effecte,
Die das Zuſammenwirken mehrerer Bedingungen berborbringt; denn
ſie geitattet, die Leiftung jeder einzelnen Kraft zunäcft für fid
und ohne Rückficht auf die übrigen zu berechnen, und dann bie
gefundenen einzelnen Erfolge zu einem Enbergebniß zu verbinden.
Und demfelben Grundgedanken würde man ferner zu folgen geneigt
fein, wenn man angenommen hätte, daß nicht allein der Größe
fondern auch der Art nach verfchiedene Kräfte ſich gleichzeitig an
demfelben Atome begegneten. Auch bier wiirde m vorausſetzen,
Zope I. 4. Aufl.
50
daß ihre Kreuzung nicht die einzelnen Gefeße ändere, nach denen
das Element gegen jede berjelben einzeln zurückwirkt oder von ihr
leidet; nur im Erfolge würden auch hier ſich die entgegengefegten
Leiftungen aufheben, die von den verfchtevenen Kräften ihrem ge=
meinſchaftlichen Objecte zugleich zugemuthet werben. Aber wir
würden doch in der That nicht angeben fünnen, wie weit Die
Giltigfeit dieſer Borftellungsweife reihe. Denn jene Gleichgiltig-
feit, mit welcher verſchiedene Kräfte in demjelben Element neben
einander wirken, ohne fich gegenfeitig zur Veränderung ihres Stre=
bens zu veranlaffen, ift Feine an fich nothwendige Annahme; fie
kann im Gegentheil unter mehreren möglichen als Die unmahr-
Icheinlichere gelten.
Berbindet zwei Perſonen gegenfeitige Yuneigung, und fteht
jede für fih in gleich freundlichem Berhältnig zu einer dritten,
jo läßt doch nicht immer der Hinzutritt der legten Die Gefinnungen
zwifchen den beiden erften unverändert; er wandelt eben jo oft
ihre frühere Freundſchaft in Zwiefpalt um, oder die früher ent-
‚zweiten vereinigen ſich zu gemeinfamer Abftoßung des Dritten.
Diefes Beifpiel, aus einem ganz frembartigen Gebiete entlehnt,
hat vielleicht Teine tiefer liegende Aehnlichkeit mit dem einfachen
Valle, der uns beichäftigt, aber es erläutert anſchaulich, was wir
nun ohne Gleichniß allgemein ausdrüden können. Denken wir Die
Wechſelwirkungen der Dinge nicht äußerlich an fie gefnüpft, ſon—
dern, wie wir müflen, von Veränderungen ihrer inneren Zuſtände
entweder abhängig oder Doch begleitet, fo ift jedes Element im Augen=-
blide feines Wirkens im Grunde ein anderes, als e8 vorher war,
oder nachher fein wird. Wohl kann es nun fein, Daß das Gefeg,
nad dem e8 aus feinem unthätigen Zuftande heraus mit einem
zweiten in Wechfelwirfung getreten fein würde, auch jet noch für
das ſchon thätige Element giltig bleibt; denn die Veränderung
des inneren Zuftandes, die mit feinem Wirken verbunden ift,
braucht nicht nothwendig jene Züge feiner Natur anzutaften, auf
denen feine Unterordnung unter dieſes Gefeg beruhte. Und dann
wird der ermähnten Annahme gemäß jede neue Wechſelwirkung
51
ebenjo beginnen, als wäre die frühere nicht vorhanden. Aber
gewiß tft e8 im Allgemeinen ebenfo denkbar, Daß eine ſchon vor
fich gehende Thätigkeit Den innern Zuſtand des wirkenden Elementes
zu weſentlich abändert, als daß es nun gegen ein anderes fich
nad dem früheren Gejeße feiner Wirkſamkeit noch ferner äußern
fönnte. Denn die Kräfte, wie wir gefeben haben, find nicht une
zerftörbare Eigenthümlichkeiten, die ohne Rüdficht auf alle Verhält-
niffe an der Natur eines Elementes beftändig haften; fle und
ihre Gefege find nur Ausdrücke jener Nöthigungen zur MWechfel-
wirkung, die fir die Dinge allemal erft aus ihren gegenfeitigen
Beziehungen entfpringen. Aendern ſich die inneren Zuftände ber
Dinge, fo Finnen mit ihnen dieſe Beziehungen ſich ändern, und
fo fih Antriebe zu neuen anders geftalteten Wirkungen, alfo neue
Kräfte oder neue Geſetze derfelben entwideln. Ohne Zweifel dürfen
wir e8 daher als einen möglichen Gedanken bezeichnen, daß auf
eine freilich felbft geſetzliche Weiſe fih auch das Wirkungsgefet
einer einfachen Kraft mit den wechjelnden inneren Zuftänden ihres
Trägers ändere.
Die Erfahrung bat allerdings in ben Gebieten, die einer ge-
nauen Theorie bisher zugänglich geweſen find, kaum noch Spuren
gezeigt, welche auf eine praftiiche Wichtigfeit dieſer allgemeinen
Betrachtung hindeuten; dennoch müſſen wir Die Unveränderlichkeit
der Wirkungsgeſetze, jo weit fie vorfommt, als eine jener Erfah:
rungsthatfachen betrachten, welche uns über Die Grundzlige des
wirklichen Weltbaues aufllären, aber wir dürfen ſie nicht für eine
on ſich nothwendige Einrichtung anfeben, die in jeder Natur,
oder auch nur in diefer Natur uneingefchräntt vorkommen müßte,
Und nocd weniger würden wir uns erlauben Dürfen, fte ſtillſchwei⸗
gend auch auf das Gebiet des geiftigen Lebens üiberzutragen, als
babe fie ein Recht, ohne befondere Betätigung der Erfahrung
für die allgemeine Regel in allen Ereigniffen überhaupt zu gelten.
Kaum ift e8 endlich nöthig hinzuzufügen, daß überhaupt von ihr
nur in Bezug auf jene einfachen Kräfte die Rede fein Tann, Die
wir der Natur eines einzelnen Elementes in feinem Verhälfniß
4*
52
zu einem zweiten beftändig zuſchreiben. Die Gejammtleiftungen
größerer Verbindungen von Elementen find Dagegen natürlich von
der Verbindungsweiſe biefer Beftanbtheile abhängig, und feine
allgemeine Regel würde fi) über die Veränderungen aufftellen
laſſen, die ſolche Kräfte durch die mannigfachen möglichen Ber-
ſchiebungen der verbundenen Elemente erleiden innen. Manches
kann in einem fo zufammengefetten Syſtem durch äußere Eindrücke
unheilbar zerrüttet werben, und die Rückkehr derfelben äußeren Be-
dingungen würde ihm nicht die Fähigkeit zu derſelben Rückwir⸗
fung wiedergeben, die e8 unter gleichen Bedingungen früher ent-
faltete. Bon den einfachen Elementen dagegen wilrden wir eine
ſolche Abnugung ausſchließen, und felbft wenn die erwähnte
Beränderlichleit ihrer Wirkungsweiſe ſtattfände, würden wir boch
immer vorausfegen, daß jeder Wiederholung einer völlig gleichen
Conftellation der äußern Bedingungen auch eine Wiederkehr Der
nämlichen Wirkungsgeſetze entipreche.
Bon folhen Grundlagen ausgehend bat die Wiſſenſchaft Er-
klärungsgründe für die Naturereigniffe entwidelt, indem fie dieſen
allgemeinen Sägen beftimmte, den erfahrungsmäßig vorkommenden
Verhältniſſen möglichft angenäherte Combinationen von Umftänden
unterordnete und die Erfolge berechnete, welche die vorhandenen
Kräfte unter diefen Umftänden hervorbringen müſſen. Sie ift
hierdurch theil® zur vollftändigen Aufhellung einzelner Kreiſe von
Erſcheinungen, theil® wo die zu große Anzahl mitwirkender Be-
dingungen ihre unmittelbare Berechnung erfchwert, wenigftens zu
allgemeinen Gefihtspunften gekommen, durch welche die zu erwar⸗
-tenden Erfolge in gewifle Grenzen eingefchloffen werden. So
würde fi) aus der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung
leicht Die Folge entwideln laſſen, daß die inneren Wechſelwirkungen
eined verbundenen Maſſenſyſtems zwar feine Form, aber nicht
feinen Ort im Raume ändern Tönnen, oder daß bei allen inneren
Beränderungen eined Syſtems doch fein Schwerpunft in Ruhe
‚bleibt, wenn er in Ruhe war, ober ohne Veränderung feiner
Richtung und Geſchwindiglkeit eine ihm früher eigne Bewegung
53
fortfeßt. Jeder Ortswechſel, der durch die eignen Kräfte eines
Körpers eingeleitet wird, ſetzt daher Die Wechſelwirkung mit irgend
einem Aeußeren voraus, das als Stützpunkt ober richtungbe-
ſtimmender Wiberftand dient. Die Betrachtung des Lebens,
der wir zueilen wollen, nötbigt uns nicht, in dieſe Einzelheiten
der phyſikaliſchen Dynamit einzugehen; fie veranlaßt uns dagegen,
nod einige andere Bemerkungen über die Auffaffungsmweilen der⸗
felben Hinzuzufügen.
In unferem geiftigen Leben finden wir die Größe vieler
Thätigleiten von der Zeit abhängig; das Intereſſe des Gefühle
an den Gegenftänden, die Klarheit der BVorftellungen, die Kraft
bes Willens: fie alle jcheinen ohne neue Anregungen im Laufe
ber Zeit abzunehmen. Der gemöhnliden Meinung muß es daher
am wahriceinlichften vorkommen, daß jede Wirkung überhaupt,
mithin aud Die Aeußerung jeder Naturkraft einer folden allmäh-
fihen Ermüdung und Erihöpfung unterliege. Daß eine mitge-
tbeilte Bewegung am Ende von ſelbſt aufhöre, ift deshalb lange
die gewöhnliche Borausjegung geweſen und das Geſetz der Behar-
rung erſchien ihr gegenüber als eine fonderbare Entdedlung der
Wiſſenſchaft. Auch in dem Geifte ift es natürlich nicht Die Zeit
jelbft, welche die Kraft der Thätigfeit verzehrt, ſondern die vielfachen
Ereigniſſe, die fi in ihm beftändig Freuzen, hemmen durch ihre
wechfelfeitigen Einflüffe die ungefchmälerte Fortdauer jedes einzel-
nen. In den einfachen Elementen ber Natur findet entweder
diefe Vielheit innerer Zuftände nicht ftatt, oder fie äußert fernen
Einfluß ähnlicher Art; denn jo weit wir die Geſchichte der Er⸗
fcheinungen überbliden können, find die Kräfte gleicher Maſſen
zu allen Zeiten diefelben gemejen. Keine von ihnen nimmt nur
um deöwillen ab oder zu, weil fie bereit8 eine Seit hindurch ge=
wirft bat, und wie fie feine Erſchöpfung erfährt, jo erwirbt auch
feine durch Wiederholung ihrer Ausübung eine Gewohnheit des
vollfomnmeren Wirkend. Für jede Fähigkeit zu einer Lerftung, die
wir irgendiwo neu entftehen ſehen, werden wir baber den Grund
in einer neuen Geftaltung ber veränderlihen Umftände ſuchen
54
müffen, durch melche den ſtets gleichen Kräften Hinderniffe ihres
Erfolges hinweggeräumt oder früher fehlende Bebingungen ihrer
Aenferung gewährt worden find; für jedes fcheinbare Erlöſchen
einer Kraft werden wir ebenfo den Grund in Veränderungen der
gegenfeitigen Beziehungen der wirkenden Maſſen fuchen, die ent-
weder die fernere Aeußerung dur Widerftand aufheben, oder fte
durch Bertheilung auf einen wachjenden Kreis von Objecten für
unfere Beobachtung unmerklich machen. Für jede Erflärung eines
Ipäteren Zuftandes muß daher dag Fortwirken des früheren mit
dem Werthe, den er augenblidlih noch bat, als die eine, und
die Summe aller neu eingetretenen Umftände als Die andere
Mitbedingung des neuen Erfolges in Anſchlag gebracht werben.
Man fieht, wie wir durch Diefe Betrachtungen mit Nothwen-
digkeit dahin geführt werben, jede Veränderlichleit der Wirkungs⸗
weife, jeve Mannigfaltigfeit der Entwicklung und alle Bielfeitigfeit
der Aeußerungen, die wir in irgend einem Naturgebilde antreffen,
theils auf innere Bewegungen, durch welche die Beziehungen feiner
eignen Theile raſtlos umgeftaltet werden, theil® auf wechſelnde
Berhältniffe zurücdzuführen, die e8 mit der Außenwelt verknüpfen.
Faſt Alles aber, was in der Natur unfere lebhaftefte Theil-
nahme fefjelt, gehört zu dieſem Gebiete der veränderlihen Er-
ſcheinungen, und unter allen zieht am meiften das organifche Leben
und Die in einander greifende Ordnung der Ereigniffe im Großen
unfere Aufmerffamfeit an. Unvermeidlid muß die Wiſſenſchaft
auch über dieſe Erfcheinungen jene Grundjäge ihrer Unterfuhung
ausdehnen, und ebenfo unvermeidlich wird fie vorübergehend we⸗
nigftend den böfen Schein auf ſich nehmen müſſen, als gewährte
fie der fuchenden Bhantafle nirgends ein Inneres, nirgends wahre
Lebendigkeit. Denn wenn unfer unbefangnes Gemüth eben da—
rum das Bild des Lebens verehrt, weil es in aller feiner Man-
nigfaltigfeit Doch nur die zufammenhängende Fülle Eines Wefens,
in aller bemeglichen Bielfeitigfeit feiner Entwidlung nur die all-
mähliche Entfaltung eines und deſſelben unverlierbaren Charakters
fieht: fo Können wir nicht leugnen, daß die Wiffenfchaft allerdings
55
den Werth dieſes ſchönen Bildes vernichtet, indem fie feine ein-
zelnen Züge aus vielerlei zerftreuten Bedingungen, die nicht von
einander wiſſen, zufammenfegt. Die Dinge leben nicht mehr
aus fi) heraus, fondern durd die wechfelnden Umftände wird an
ihnen ein veränderliches Geſchehen hervorgebracht, das wir zwar
ihr Leben noch nennen, ohne doch das angeben zu können, was
als Einheit diefen Wirbel neben einander ablaufender Ereigniffe
zu einem Ganzen innerlih verſchmölze. Diefer Vorwurf einer
änßerlihen, muſiviſchen Zuſammenſetzung deffen, was nur aus
einem Guſſe hervorgehend für uns Werth zu haben foheint, ift
den Erflärungsverfuchen der Naturwiffenfhaft nie erfpart worden
und wir find weit Davon entfernt zu verlangen, daß er nicht ge=
macht werde. Denn diefe Stimmen find ed immer gewefen, deren
Zuruf die Unterfuhung, wenn fie mühevoll durch die Verwicklungen
der einzelnen Erſcheinungen fih hindurch kämpfte, an Die großen
Ziele erinnerte, um deren willen allein ihre ganze Bemühung
menschliches Intereſſe bat; fie haben überall die Ausficht auf
einen unermeßlichen Geſichtskreis von neuem eröffnet, wo die Be-
friedigung, die wir aus der theilweis gelungenen Hinmwegräumung
der nächſten Schwierigkeiten jchöpfen, uns zu vorzeitigem Abſchluß
unferer Anfihten verleiten wollte. Aber indem wir auf das Aus-
drüdlichfte die volle Berechtigung diefer Einwürfe anerkennen,
müſſen wir doch hinzufügen, daß es feiner der Auffaffungsmweifen,
von denen fie am lebhafteften gemacht zu werden pflegen, bisher
gelungen ift, mit Umgebung der Grundſätze der mechanifchen Na-
turwiſſenſchaft glei” unbeftreitbare und eben fo fruchtbare Erfolge
zu erringen, wie fie mit diefen Grundfägen auf allen Gebieten
der Naturerflärung bereit8 gewonnen worden find. Nicht durch
eine Ablenkung von dem Wege, den wir bisher genommen, fondern
durch feine Verfolgung bi8 zum Ende dürfen wir deshalb hoffen,
auch diefer Sehnſucht des Geiftes gerecht zu werden, welche zu=
rückzuweiſen Teineswegs in dem Sinne der mechaniſchen Natur-
auffaflung Tiegt.
Denn mit Unrecht fügt man zu jenem Vorwurf, daß fie Die
56
‚Einheit des Lebendigen ftöre, den andern Hinzu, daß fie auch Die
einfachen Elemente, aus deren Verbindung fie Alles herleite, notb-
wendig als lebloſe und innerlich weſenloſe Punkte betrachte, an
die nur äußerlich Kräfte mannigfacher Art geknüpft feien. Sie
enthält fih vielmehr nur der Behauptungen, die für Die Erreihung
ihrer nächften Zwecke unnötbig find; und für ihre Zwecke allerdings
reicht fie mit jener Annahme aus, welche die Atome Lediglich als
Anfnüpfungs- und Mittelpunfte aus⸗ und eingehender Wirkungen
betrachtet. Denn nachdem uns die Erfahrung gelehrt bat, daß
die inneren Zuftände dev Atome, wenn fie deren erfahren, doch
fernen umgeftaltenden Einfluß auf die Gejeglichleit ihres Wirkens
äußern, dürfen wir biefelben aus der Berechnung der Erſcheinungen
weglafien, ohne fie deshalb aus dem Ganzen unferer Weltanſicht
überhaupt verbannen zu müfjen. Im Gegentheil würde eine
weiterfortgebende Weberlegung uns bald zu dem Gedanken zurüd-
führen, den wir ber bisherigen Darftellung überall fogleich zu
Grunde gelegt haben, zu dem nämlich, daß Kräfte ſich nicht an⸗
knüpfen laſſen an ein lebloſes Innere der Dinge, fondern daR
fie aus ihnen entipringen müffen, und daß Nichts fich zwiſchen
ben einzelnen Wejen ereignen kann, bevor fih Etwas in ihnen
ereignet bat. Alle jene äußerlichen Begebenheiten der Verknüpfung
und Trennung werden daher auf einem innerlichen Leben ber
Dinge beruhen oder in einem ſolchen ihren Widerhall finden,
und wenn die Naturmwifienichaft die Einheit zufammengejetter Ge⸗
bilde auflöft, jo wird Doch jedes einzelne Element des Moſaiks,
das fie an ihre Stelle ſetzt, ein lebendiger und innerlich erregter
Bunft fein. Ich bezweifle nicht, daß diefer Erſatz, der einzige,
den wir zunächſt bieten zu Können fcheinen, nicht blos für einen
kärglichen, fondern Vielen jelbft für einen unmöglichen gelten
wird. Weberlafien wir e8 den fpäteren Betrachtungen, ſowohl feine
Möglichkeit nachzumeiien, als zu zeigen, daß feine Bedeutung doch
weit größer ift, als fie fcheint. Vielleicht finden wir aud, daß
noch in einem andern Sinne aud für ung jene zufammenfafjende
Einheit der auseinanderfallenden Ereigniffe möglich ift, ohne daß
67
wir genöthigt werben, die Geltung der mechanifchen Naturwiſſen⸗
[haft zu leugnen, zu deren Anerkennung wir willig oder wider:
willig doch immer wieder durch den Gefammteindrud unferer
. Beobachtungen zurüdgezwungen werben.
Drittes Kapitel,
Der Grund des Lebens.
Die chemiſche Vergängligleit des Körpers. — Wechſel feiner Beſtandtheile. — Fort:
pflanzung und Erhaltung feiner Kraft. — Die Harmonie feiner Wirkungen. —
Die wirkſame Idee. — Zwedmäßige Selbſterhaltung. — Retzbarkeit. — Die Mas
fhinen der menſchlichen Kunf. —
Kur langſam haben aud) in unferer Zeit die Grundſätze,
welche wir fchilderten, Eingang in die Betrachtung des Lebendigen
gewonnen. Die planvoll auffteigende Geftalt der Pflanze und
die unberechenbare Regſamkeit des Thieres fchieb eine zu große
Kluft von der Starrheit und Regellofigfeit ihres unorganiichen
Wohnplatzes, als daß die unmittelbare Anſchauung nod ein Gefithl
wefentlicher Gemeinfchaft zwifchen beiden Gebieten der Wirklichkeit
erweckt hätte. Mit der Mannigfaltigleit ihrer innern Gliederung,
die eine Fülle der verfchtedenartigften Zuſtände in fefter Ordnung
aus fich entwidelte, übermwältigte die Erjcheinung des Lebens bie
Einbildungskraft; fein Zweifel ſchien übrig, daß ein Kreis von
Borgängen, defien Sinn und Bedeutung jo unvergleichlich Alles
überragt, was Natur und Kunft außer ihm geihaffen, unvergleich-
lich auch in feiner Entitehung fein müſſe. So bildete fich jene
Borftellung von einer eigenthlimlichen Lebenskraft, deren mejent-
lichen Sinn wir früher ſchon gejchildert, und deren einzelne Be-
hauptungen wir jeßt fo ermähnen wollen, wie fie den vordringenden
Anſprüchen der mechaniſchen Naturauffaffung, fruchtlos wie uns
ſcheint, entgegengeftellt werden. Wie groß auch der Unterfchied
58
des Lebens von dem Unlebendigen in Bezug auf die Gedanken
fein wird, zu deren Darftellung in der Welt der Erfcheinungen
beide berufen fein mögen, fo wenig darf dod die Wiffenfchaft ben
urſächlichen Zuſammenhang der Berwirflihung und Erhaltung des
Lebens auf andere Geſetze und Kräfte zurückführen, als in der iibrigen
Natur gelten, aus der auch das Lebendige ſich entwidelt und in
bie e8 vergehend zurüdfehrtt. So lange jener Zufammenhang
obwaltet, den wir fchon früher als den entfcheidenden Punkt für
unfere Anſichten hervorhoben, folange da8 Leben alle feine Mittel
aus dem allgemeinen Borrath der Natur fchöpfen muß und nur
an den Stoffen, die dieſe darbietet, fich entwideln Tann, fo lange
wird es alle Eigentbümlichfeiten feiner Entfaltung nur der voll-
ftändigen Fügſamkeit verdanken, mit der e8 ſich den Geſetzen des
allgemeinen Naturlaufs unterwirft. Nicht durch eine höhere,
eigenthihmliche Kraft, Die fi fremd dem übrigen Gefchehen über—
ordnete, nicht durch unvergleichlich andere Geſetze des Wirkens
wird das Lebendige fi) von dem Unlebendigen unterfcheiden, fon-
dern nur burch Die befondere Form ber Zufammenordnung, in
die e8 mannigfaltige Beſtandtheile jo verflicht, Daß ihre natürlichen
Kräfte unter dem Einfluffe der äußern Bedingungen eine zufam-
menhängende Reihe von Erfcheinungen nach denfelben allgemeinen
Geſetzen entwideln müffen, nac denen auch fonft überall Zuftand
aus Zuftand zu folgen pflegt. So wenig wir nun bereit$ im
Stande find, die ganze verwidelte Fülle der Lebensvorgänge in
dem Geifte diefer Auffaffung vollftändig zu erflären, fo leicht wird
ſich doch zeigen laffen, daß die großen Umriſſe derfelben und bie
eigenthiimlichen Gewohnheiten des Wirkens, durch welche das
Lebendige ſich zuerſt unbedingt von dem übrigen Daſein zu un-
terſcheiden ſchien, ihr nicht unbegreiflich ſind, und daß die An—
fichten, die noch immer ſich ihr entgegenſtellen, manche der Vor⸗
theile entbehren, die wir in der That bereits in der ſchärferen
Beurtheilung des Einzelnen aus jenen Grundſätzen einer mechani—
ſtiſchen Betrachtungsweiſe ziehen können.
»
59
Kaum irgend eine andere Erfcheinung ſcheidet fiir den Augen-
fhein jo bedeutſam das Leben von dem Unlebendigen, wie ber
Anblid der Verweſung, die den todten Körper verzehrt. Auf
das Eindringlichfte fcheint fie und zu lehren, daß nur das über-
mächtige Gebot einer höheren Kraft während des Lebens die
Beitandtheile in ihrer Mifhung erhalte und den gegenfeitigen
Bermandtichaften wehre, durch welche fie nach dem Tode in weit
andere und einfachere Formen der Zufammenfegung übergeben.
Und dod zeigt eine leichte Weberlegung die Grundloſigkeit biefer
Tolgerung. Denn warum follten wir berjelben Erſcheinung nicht
vielmehr den andern Schluß entnehmen, daß das Spiel des Lebens
eben nur jo lange dauern könne, als die hemifche Zuſammen⸗
fegung des Körpers ihm feine nöthigen Bedingungen barbietet,
und daß die Verweſung des Todten nichts Anderes fer als bie
nun offenkundig hervortretende Störung dieſer Mifhung, die
vielleiht ſchon lange weniger bemerkbar die Bedingungen bes
Lebens erſchüttert bat? Ueberredend wird dieſe Folgerung in den
Fällen fein, in Denen eine deutliche Krankheit, im Innern bes
Körpers entftanden, fein Leben vernichtet hat; aber die Verweſung
ergreift, obgleich etwas langſamer, auch den Leib, ben ein ge-
waltſamer Tod in der Fülle gefunden Lebens traf; und fo fcheint
e8 Doch wieder, als wenn die Mifchung der Beftandtheile, während
des Lebens durd eine befondere Kraft aufrecht erhalten, mit dem
Erlöſchen diefer Kraft nun erft den allgemeinen Gefegen ber che⸗
milden Thätigfeiten anheimfiele.
Aber die nähere Beobachtung enldedt doch in dem lebendigen
Körper einen kaum geringeren Wechſel feiner Beſtandtheile. Beſtän⸗
dig ſehen wir durch mannigfaltige Formen der Abſonderung
Maſſentheile aus ihm ausgeſchieden werben, Deren chemiſche
Zuſammenſetzung zwar nicht den Erzeugniffen der Verweſung
gleich ift, aber ihnen weit näher fteht, als die Form, in welcher
der lebenskräftige Körper feine Elemente verbindet. Zahlreiche
Beobachtungen lehren aber, daß ein großer Theil der Gewebe,
aus denen ber Yebendige*Xeib befteht, einer ununterbrochenen
. ' , &
60
Wiederzerfegung und Neubildung unterliegt, und daß die Stoffe,
Die wir in den verfchiebenften Formen aus dem Körper austreten
jeben, zum Theil die Trümmer find, in welde dieſe Zerfegung
das vormals Lebensfähige umgewandelt bat. Kein Grund nöthigt
zu der Annahme, daß der Vorgang diefer Zerfegung während
des Lebens anderen Gejegen folge, als denen, die aud nach dem
Tode das Zerfallen des Körpers beherrfchen. Denn zu fehr ver-
fchieden find die bebingenden Nebenumftände, welde beide Vor⸗
gänge begleiten, al8 daß wir nicht leicht auf diefe die große Ber-
ſchiedenheit in den Erfcheinungen ihrer Erfolge zurüdführen Könnten.
Die beftändige Bewegung der Säfte gibt im lebenden Körper
den zerjetsten Beftanbtbeilen Gelegenbeit, in feinen und unmerk⸗
lichen Mengen den Abfonderungsorganen zuzuftrömen, durch welche
fie der umgebenden Welt zurückgegeben und die nachtheilige Wir-
fung verhütet wird, Die ihr längeres Verweilen im Körper für
die Miſchung der übrigen Beftandtheile haben könnte. Zahlreiche
geregelte Functionen führen ferner im lebendigen Körper zu ein-
ander, was durch feine Wechfelwirkung den Beftand feines Baues
fihern und feinen Wiedererfat befchleunigen kann; aber fie ent-
fernen von einander das, deſſen Zuſammentreffen chemiſche Proceſſe
weitergreifender Zerſtörung anregen könnte. So entfteht aus Zer⸗
fegung und Neubildung jener langſame Wedhfel der Beftandtheile,
der, auf lange Zeiten unmerflidh vertheilt, uns ben lebendigen
Leib als ein beharrliches Bild erfcheinen läßt. Alle diefe günftigen
Umftände fehlen dem erftorbenen Körper. Mit dem Aufhören
aller Functionen find die Wege gefchloffen, auf denen das Zerſtörte
entfernt, neuer Erſatz gewonnen merden Könnte; bewegungslos
ih anfammelnd wirken die ſchon in Zerfegung begriffenen Stoffe
länger aufeinander und zernagen die Scheivemände, die früher
ihre wechſelſeitigen Berührungen binderten; um fich greifend und .
durch Feine Ordnung mehr geregelt, laufen die chemifchen Vor .
gänge in das wüſte Bild der Fäulniß zufammen. Wie groß das
Gewicht ift, das dieſe fo abmeichende Geftaltung der bedingenden
Nebenumftände für den Verlauf des, lebendigen Chemismus hat,
facher Krankheiten, in denen der Aufhebung oder Schmälefüng ein-
zelner von jenen bemegenden und vegelnden Berrichtungen fo
häufig Erſcheinungen einer theilweis beginnenden Verweſung des
Körpers folgen. So nöthigt und dieſer Thatbeftand keineswegs,
in dem lebendigen Körper eine eigne befondere Kraft zu fuchen,
Die gegen das allgemein giltige chemifche Recht feine Beſtandtheile
in einer Miſchung erbielte, welche ihren natürlichen Neigungen
wiberftrebte.e Er erlangt dieſes Ergebniß vielmehr, indem er,
jenem Recht fi völlig unterwerfend, die Zerfegung beffen gemäh-
ren läßt, was unter den vorhandenen Bedingungen feine Zuſam⸗
menfegung nicht aufrecht erhalten Tann. Aber durch eine mohl-
geordnete Reihe ineinandergreifender Bewegungen verhindert er
den Nachtheil von Vorgängen, Die er zu verbieten feine Macht
bat, und erfeßt wieder, was durch diefe zerſtört ſich feinem
Dienfte entzogen hat. Dieſelben Gefete der chemifchen Ber-
wandtſchaft beherrichen daher ohne Zweifel den Zerfall des tod-
ten wie die Fortdauer des lebenden Körpers, aber der trüben
Fäulniß des erften gegenüber ift das Leben eine organifirte Zer-
fegung, abhängig von der Ordnung, in welder unabläffig fort-
gehende Verrihtungen die Wechſelwirkungen der Stoffe allein
veritatten.
Und endlich: wielleicht hätten wir gleich mit dem Hinweis
auf. die Mebertreibung beginnen müſſen, mit welcher die Hinfällig-
feit organiſcher Körper gefhildert wird. Das Holz der Bäume,
aus dem wir unfere Gebäude unfere Geräthe unjere Schiffe
zunmern, bie Federn des Vogelflügel8, mit denen wir dieſe wun-
derlichen Behauptungen fehreiben, die tbieriichen Häute, Die unfere
Körper gegen die Unbill des Wetters vertbeidigen: find fie wirf-
lich unter unfern Händen in eiliger Zerfegung begriffen? Sie ge-
hören im Gegentheil zu den bauerhafteften Gebilben, die nur lang-
fam den Angriffen der äußeren Bedingungen unterliegen, während
zahlreiche Erzeugniffe des unorganiſchen Chemismus nicht Davor
beſchützt werden innen, durch geringfügige Veränderungen der Tem-
62
peratur, durch Zutritt von Luft und Waſſer plöglich in ihre Be—
jtandtheile zeriprengt zu werden. Jene große Zerſetzlichkeit gehört
daher nur denjenigen organifchen Stoffen, auf deren Leichte Ver—
änderlichleit der Plan des Lebens rechnen mußte; und felbft
von ihnen bleibt e8 zweifelhaft, wie weit unter gewöhnlichen
Umftänden ihre Zerfallbarkeit reicht und ob nit erft die Ein-
wirfung anderer lebendiger Organismen, die auf ihre Koften
ſich zu entwideln ftreben, die Kraft bildet, weldhe ihren Zuſam⸗
menhang zernagt.
Das eigenthlimliche Spiel des Stoffwechfel8, das wir vorhin
nur als eine Thatfache zur Erflärung einer auffallenden Erfchei-
nung benußgten, werben wir fpäter in feinem Werthe für Die Be-
gründung des Lebens kennen lernen; zunächſt finden wir e8 von
der gegnerifhen Anfiht als einen neuen Beweis für die eigen-
thümliche Natur der Lebensfraft benutt. Denn während in dem
Gebiete des Unorganifchen jede Kraft an einer beftimmten Maffe
hafte und mit dem Wachen und Abnehmen derfelben gleiche Ver⸗
änderungen erfahre, überbaure bie Lebenskraft den Wechſel Der
Körperbeftandtheile und erſcheine über ihrer Vergänglichfeit als
eine höhere und nicht an den Stoff gebundene beftändige Macht.
Kaum wiirde jedoch dieſe Meinung eine eigne Widerlegung
erfordern, wenn eine folche nicht Gelegenheit gäbe, zugleich Die
wirkliche Eigenthümlichkeit bes Lebens deutlicher zu machen!
Denn fie behauptet offenbar zu viel, wenn fle die Lebenskraft
bie Vergänglichkeit der Beftandtheile überhaupt überdauern läßt.
Nur wenige Theile des Körpers können vielmehr in jevem Augen-
blid der Zerjegung hingegeben werden, ohne daß der Ablauf
des Lebens geftört würde, für deſſen Fortdauer die unverhält-
nißmäßig größere Menge jener Beftandtheile, die während Diefer
Zeit in Mifhung und Verbindung unerſchüttert fortbefteben,
eine hinreichend feſte Grundlage darbietet. Die gemöhnlichften
Erfahrungen zeigen, daß dieſes Verhalten zu einfach ift, um
als wefentliches Kennzeichen das Leben von dem unorganifchen
Geſchehen zu unterfcheiden. Der Zufammenbalt der Theile in
63
jedem Bauwerk pflegt groß genug zu fein, um bie einftmeilige
Hinwegnahme eines fhabhaften Steines zu geftatten, ohne daß
bi8 zu feinem Erfak durch einen andern die Form des Baues
in ihrem Fortbeftande bedroht wäre. Aber diefelben Beobachtungen
lehren zugleich, daß die Theile des Gebäudes während der Dauer
diefer Erneuerung nicht diefelbe Laſt zu tragen im Stande find,
die fie in ihrer früheren Vollftändigfeit aushielten. Wo daher die
Hinwegnahme eines Beftandtheild zwar die äußere Yorm eines
zufanmmengehörigen Shftems von Maffen nicht ändert und vielleicht
felbft den Ablauf feiner inneren Bewegungen nicht ſichtbar umge-
ftaltet, da kann fie doch die Widerftandstraft des Syſtems gegen
äußere Störung und die Größe der Leiftungen, die e8 ausführen
kann, auf das Wefentlichite beeinträchtigen. Wir haben feinen
Grund zu glauben, daß in diefer Beziehung das Xeben ſich anders
verhalte. Denn was wir unmittelbar beobachten, beſteht doch
nur darin daß die gewöhnliche Geſchwindigkeit, mit welcher ber
Stoffmechjel des gefunden Körpers vor ſich geht, die Form feiner
Lebensverrihtungen und bie natürliche Reihenfolge derfelben nicht
auffallend ändert; aber wir haben in den Erfcheinungen feinen
Grund zu der Behauptung, daß auch Die Größe der Widerftands-
fraft gegen äußere Einflüffe und die Fähigkeit zu lebendigen
Leiftungen von den Schwankungen in dem Maffenbeftande des
Körpers nicht berührt werde. So lange allerdings Zerfegung
und Wiebererfag in gleichförmigem Strome fortlaufend einander
entſprechen, wird aud die Kraft des Körpers auf gleihmäßiger
Höhe bleiben; wo dagegen der Stoffmechjel in beftimmten Zeit-
räumen anwächſt oder abnimmt, da feben wir aud Perioden
geringerer oder größerer Widerftandsfähigfeit gegen Störungen
eintreten. Und zulett lehrt die allgemeine Sterblichkeit der leben-
digen Wefen, daß der beitändige Wechfel der Beſtandtheile Doc
nicht immer von ber Lebenskraft überdauert wird, fondern daß er
unvermeidlich auch ohne die Einwirkung äußerer Schäblichfeiten
zu neuen Beziehungen zwiſchen den Beftandtheilen führt, mit denen
die Fortdauer des früheren Spiele8 der Bewegungen unvereinbar
64
wird. Nicht als ein Geift, der über den Waſſern ſchwebte, wird
daher bie Lebenskraft fi in dem Wechfel der Maſſen erhalten,
fondern die beftimmte Verbindungsweile der Theile, die nicht mit
gleicher Geſchwindigkeit vergehen, fondern von denen ein langjamer
fi verändernder Stamm ftet8 den gefeßgebenben Kern für die An-
lagerung des kommenden Erfages gewährt, wird bie Fortfegung
der Lebenserfheinungen eine Zeit lang möglich maden, obne
doch ihr Ende zulett verhüten zu Können.
Aber das neue Leben, das aus dem vergehenden fi) uner⸗
ſchöpflich wieder entwidelt, erregt neue Zweifel; ohne eine Schwächung
ihrer Stärke zu erleiden, vertheilt fih in der Fortpflanzung Die
Lebenskraft über die neu erzeugten Organismen, während unorga-
nifche Kräfte, über eine wachſende Menge von Stoffen verbreitet,
jedem einzelnen nur mit dem Bruchtheil ihrer Stärke zu Theil
werden, der ihrer Anzahl entſpricht. In der That nicht nur Feine
Schwächung, ſondern eine offenbare Vermehrung der Lebenskraft
erbliden wir in den Kindern, neben denen das Leben ver Eltern
fortblübt. Aber nur der erfte Eindruck, nicht die nähere Betrach-
tung läßt uns bier Räthfelhafteres fehen, als in der unbelebten
Natur vorgeht. Auch der Magnet theilt feine Kraft, ohne daß fie
in ihm ſelbſt ſchwächer wirb, vielen Eifenftäben mit; auch ber
flammende Körper fegt eine unbefchränfte Anzahl anderer in ben
gleihen Brand ohne durch dieſe Mittheilung zu erkalten. Nicht
Kräfte überhaupt werben irgendwo, wie eintheilbare Flüffigfeiten,
die ihren Ort wechjeln Könnten, von einem Stoffe auf den andern
übertragen; in jedem Falle der Wechſelwirkung verfegt vielmehr
ber eine ben andern in veränderte innere und äußere Zuſtände,
unter denen feiner Natur neue Fähigfeiten des Wirkens zumachen,
oder früher vorhandene von den Hinderungen ihrer Aeußerung
befreit werden. Ein Stoß, auf eine flarre Mafle ausgeübt, deren
inneren Zuſammenhang er nicht ändern Kann, wird biefer nur
eine Ortsbewegung mittheilen, deren Gefhwinbigteit um fo Heiner
65
ausfallen wird, je größer wir uns die Maſſe denfen, auf welche
der Einfluß des Stoßes ſich vertheilen muß. Die Wirkung wird
fi anders geftalten, wenn derfelbe Stoß auf eine geringe Menge
von Knallſilber ausgeübt wird, deſſen gewaltſame Erploſion eine
ungleich größere Zerſtörung in der Umgebung hervorbringen wird,
als jener Stoß ſelber es vermocht hätte, wenn er unmittelbar auf
dieſelbe Umgebung getroffen hätte. Unleugbar iſt hier durch die
Dazwiſchenkunft der explodirenden Subſtanz eine große Vermeb-
rung der Kraft eingetreten. Sie entjtand, indem ber urfprüngliche
Stoß auch hier den Theilen jener Subftanz unmittelbar nur Die
geringfügige Gefchwinbigfeit mittheilte, die er auch jedem andern
Körper von gleicher Mafje gegeben haben würde; aber diefe un-
ſcheinbare Erſtwirkung traf hier auf Theilchen, denen nur eine
ſchnelle gegenfeitige Annäherung nöthig war, damit die chemiſchen
Berwandbtihaften, die zwilchen ihnen Yängft beſtanden, die Tebte
nöthige Bedingung ihres Ausbrechens in eine geräufchvolle Wirk⸗
famteit erhielten. So reicht bier ein Feiner Anftoß bin um eine
große Wirkung plöglich zu erzeugen; er wird auch hinreichen, um
eine lange dauernde Reihe fi) aus einander entwidelnder und zu
großen Erfolgen anwachſender Vorgänge berborzubringen, ſobald
die Kräfte, die er aus ihrem Gleichgewicht löſte, durch die natür⸗
lihen Beziehungen der Theilden, an denen fie haften, nur zu
einer allmählichen Abwidlung ihrer Erfolge befähigt find.
So ſehr daher die Fortpflanzung des Lebendigen durch die
forgfältige Anordnung zufammenftimmender Thätigfeiten, welche fie
vorausſetzt, ftet8 unjere Bewunderung erweden wird, fo ift fie doch
nicht aus jenem Grunde räthfelhaft, den wir vorhin für die An-
nahme einer eigenthümlichen Lebensfraft gelten gemacht fanden.
Denn ihr wirklicher Hergang befteht doch nur darin, daß ein fehr
unbebeutender Maſſentheil des mütterlichen Organismus fi von
diefem, mit defien Lebensverrichtungen er in feinem wichtigen Zu⸗
fammenhange ftand, als Keim eines neuen Geſchöpfes abIäft.
Wollten wir felbft annehmen, daß auf ihn ſich ein Theil ber Les
benskraft feiner Erzeuger übertrüge, fo würde ae Diefer
Loge I. 4. Aufl.
66
Antbeil verſchwindend Hein fein; denn die Lebenskraft des Keimes
finden wir urfprünglich eben fo Klein und fie erwächſt zur Größe
einer erheblichen Leiftungsfähigkeit immer erft durch eine lange
Entwicklung, in der fie ſich durch Herbeiziehung der Stoffe aus
der Außenwelt verftärlt. Nur wenige winde alſo auch in
diefem Falle der erzeugende Organismus verlieren und gewiß find
unfere Beobachtungen völlig unzureichend zu der Behauptung, daß
diefer Heine Verluft nicht mit einer entiprechend Meinen Schwächung
der elterlichen Lebenskraft verbunden fei. Aber e8 hat wenig
Werth, einen Gedanken zu verfolgen, deffen allgemeine Unmöglid-
feit wir fchon kennen gelernt haben; nicht Kräfte werden von einem
zum andern mitgetbeilt, ſondern nur Bewegungen können übertragen
“ oder Stoffe von einer größeren Verbindung zu felbftändiger Sort-
eriftenz abgelöft werden. Darauf wird daher alle Fortpflanzung
beruben, daß dem Erzeugenden die Herftellung eines Keimes möglich
wird, der unbebeutend an Maffe fi) nur durd die forgfältig an=
geordnete Berbindungsweife und Miſchung feiner Beftanbtbeile
auszeichnet und nur durch fie befähigt wird, unter dem Einfluffe
äußerer begünftigenden Bedingungen ſich mit zunehmender Kraft
in ein lebendiges Gebilde zu entwideln. So ift die erfte Erzeugung
eines neuen Weſens feine Aufgabe, von der eine Verminderung
ber Lebenskraft für die Erzeuger zu erwarten wäre; mohl aber
mögen die zahlreichen Anftrengungen, die in vielen Gefchöpfen ber
mlütterliche Organismus zur früheften Kräftigung und Entwidlung
des Keimes zu machen bat, feine Lebensfähigfeit ernftlicher be=
drohen.
Aber erneuert ſich nicht daſſelbe Räthfel, das wir aus dem
Geheimniß ber Fortpflanzung zu entfernen fuchten, fogleich wieder
in dem Geheimniß des Wahsthums, in welchem der neu erzeugte
Organismus feine Kraft und Maſſe beftändig vermehrt? Mit
der Zunahme der Laſt, die ſie zu beherrichen hat, ſehen wir Die
Lebenskraft wachſen, während ſonſt jede Fähigkeit an ihren zu—
nehmenden Aufgaben zu erlahmen pflegt. Doch auch dieſe Schwie—
rigfeit Täßt bie nähere Betrachtung des wirklichen Hergangs ver-
67
ſchwinden, und fle verdient Erwähnung nur um eines allgemeinen
Borurtheild willen, das fih an fie knüpft. Wenn ber wachſende
Körper die Stoffe der Außenwelt in ſich hineinzieht und zu feinem
Dienfte zwingt, jo ftellen wir ung zu oft dieſes errungene Material
zu gleichgiltig und fo entblößt von gegenfeitigen Wechſelwirkungen
vor, daß es überall einer befondern zufammenhaltenden Kraft zu
bebürfen fchiene, die das einmal Zufanmengeführte in den Formen
feiner Verbindung feffelte. Unſere Anfchauungen über bie BVer-
fnüpfung der organischen Theile find zu ſehr nad) dem Bilde eines
Bündels von Gegenjtänden entworfen, die gleichgiltig gegen einan-
der und ohne alle eigne Kraft wechjelfeitigen Anhaftens eines
ihnen allen äußerlihen Bandes bedürfen, das fie zufammen-
fhnürt. Denn das iſt ja die gewöhnliche Sehnfucht, das Band
fennen zu lernen, das Leib und Eeele oder Das bie Beftandtheile
des Leibes zufammenhält, oder am Ende das geiftige Band, welches,
wabricheinlich von edlerer Natur als die finnlihen Bindemittel, doch
nicht den mejentlihen Begriff eines Stranges überfteigt; denn es
foll, da e8 als Eines gedacht wird, doch wohl in ähnlichen äußer-
lihen Windungen, wie dieſer, eine Vielheit beziehungslofer
Theile unter ſich verketten. Es ift anders in Wirklichleit. Die
Herbeifhaffung der Stoffe, durch welche der organifche Körper
wachſen fol, mag eigne Anftrengungen erfordern, deren wir an-
derswo gedenken werden; ihre Erhaltung aber in den Formen der
gegenfeitigen Lagerung, die ſie einmal angenommen haben, ift fein
Act der Gewalt, gegen ben ſie widerfpänftig wären, fo daß eine
befondere Lebenskraft, ftärfer als die Kräfte aller Theile, zu feiner
Durchführung nöthig wäre; nicht einmal gleichgiltig find die Ele=
mente gegen diefe Aufgabe, ſondern fie führen fie jelbit aus. Denn
indem fie in den Bereich des Tebendigen Körpers eingetreten find,
haben fie die Kräfte nicht abgeftreift, die ihrer Natur vorher eigen
waren; fondern mit diefen Kräften eben haften fie aneinander und
folgen nun in diefer Gemeinfhaft und den Bebitrfniffen des Or-
ganismus entiprechend denjelben Geſetzen des Wirfens weiter, denen
fie früher außerhalb befielben vereinzelt gehorchten. Anſtatt eines
5%
68
Bandes, das mit oberflächlichen Windungen Die ganze Unzählbar-
feit der Theile umfchlöffe, finden wir daher unzählige Bänder,
bie je zwei einzelne Elemente des Körpers verfnüpfen, und biefe
Bänder find Nichts als die eignen Kräfte der Elemente jelbft,
die e8 weder bedürfen von irgend einem höheren Gebote zu ber
Wirkung erwedt zu werden, die ihrer Natur eigenthümlich ıft,
noch ed ertragen würden zu einer andern erregt zu werben, Die
ihr wiberfpricht. Jedes einzelne Atom, das die Maffe des Körpers
vermehrt, tritt in feinen Zufammenhang durch Die anziehende
Kraft ein, die e8 von irgend einem Theile deſſelben erfährt; feft-
gehalten durch biefelbe Kraft, deren Ausübung feine Anftrengung
für den Körper ift, ftellt e8 biefem nun auch feine eigne Waffe
mit allen ben Kräften mechaniſcher und chemiſcher Art zu Gebot,
die an ihr haften, und durch Die nun dem Körper eine Möglichleit
größerer Einwirkung auf die Außenwelt mithin ein Zuwachs
feiner Kraft entſteht. Nur darin befteht die Leiſtung des Lebens,
daß der fchon beftehende Stamm ber leiblichen Beftanbtheile ſtets
fo geordnet ift und ftet8 in folder Form mit dem Material der
äußeren Welt in Berührung tritt, daß die fich entipinnenden
Wechſelwirkungen und als ihre Folge der neue Anfat von Theilchen
den Bebiürfniffen des Lebens angemefjen geſchieht.
Man Tann auch diefe Aufgabe benugen, um die alten
Schwierigkeiten zu erneuem. Wie vorhin ein Band für die all-
zurubigen, fo ſucht man jeßt vielleicht für die lebendig gewordene
Anzabl der Theile einen Zügel, der ihre Wirkungen hier geftatte,
fie Dort verbiete, fle jeßt befchleunige, dann verzögere. Eine kaum
share Aufgabe gewiß, wenn fie in die Hand Einer Kraft gelegt
werden müßte, Die den Plan der Organifation in jedem Augen-
blide durch befondere Nachhülfen aufrecht zu erhalten hätte. Aber
auch dieſe Leiftung vollzieht ſich von felbft, fo Lange nicht fremd-
artige Störungen die VBerhältnifie unberehenbar verfhieben. Eine
Zufammenftellung von Theilchen, die den Keim eines organiſchen
Weſens bildet, kann leicht fo georbnet fein, daß fle im Laufe ihrer
Entwidlung nur beftimmte Stellen für fpätere Wechſelwirkung
69
offen läßt; andere verfeftigt fie fo, Daß an ihnen die Stoffe ber
Außenwelt wirkungslos vorübergehen, um auf den Wegen, bie
ausichliegli für den Yortgang der Bildung organifirt find, fi
in dem Körper zu verbreiten und einen feften Gang des Wachs⸗
thums einem ftet8 eingehaltenen Muſter gemäß möglich zu machen.
Nicht überall fett fih ſchon an den Kruftall der neue Niederſchlag
des gleichen Stoffes an, fondern die Kräfte des fchon Gebilveten
zeichnen ben fpäteren Theilen Ort und Form ihrer Anlagerung
vor und erhalten im Wachsthum die urjprüngliche Geftalt oder
doch das urjprüngliche Gefeß ihrer Bildung. Was hier die un-
organiſche Natur ausführt, das Teiftet in unvergleichlich größerer
Teinheit und Verwicklung, aber Doch nicht nach anderen Principien
des Wirkens, auch der Tebendige Körper, und die nähere Betrachtung
feines Baues und feiner Berrichtungen wird uns zeigen, wie leicht
fih hier vieles ſcheinbar Schwierige von jelbft vollzieht, weil ftu-
feuweis in dem langen Laufe der Entwidlung jeder frühere Zu-
ftand die Zahl der unbeftimmten Möglichkeiten des Weiterwirkens
beſchränkt und die fpäteren Creigniffe in genauer bworgefchriebene
Bahnen einengt.
So würde alfo au die Innehaltung der Orbnung in ber
veränderlihen Mannigfaltigfeit der Lebensproceffe nicht von dem
beftändig ernenerten Eingriffe einer bejondern vegelnden Macht,
ſondern von der einmal gegebenen Anordnung eines Syſtems bon
Theilden abhängen und durch bie gewohnten Wirkungen dieſer
Elemente im Einzelnen verwirklicht werden. Wir haben oben ſchon
hinzugefügt, daß dieſes Ergebniß die Abhaltung äußerer Störungen
borausfege. Aber gerade hierin findet man eine neue Eigenthüm—⸗
lichfeit des Lebens, daß es mit zwedmäßig zurückwirkender Heil-
fraft au diefe Störungen überbaure und befeitige. Alle feine
andern Erfcheinungen mögen fich anfehen laffen, wie die allmäh—
lich und geſetzlich abrollenden Bewegungen einer Mafchine, deren
einmal vorhandener und in Anftoß verfegter Bau eine Man
70
nigfaltigkeit von Wirkungen nad einander entfaltet; «aber die aus⸗
gleichende Thätigfeit, die den Umftänden fi anbequemt und mit
Auswahl der beften Mittel den urfprüngliden Plan immer inne⸗
zubalten fucht, fcheint nur einer Lebenskraft möglich, die nicht wie
Die übrigen phyſiſchen Kräfte durch ein monotones Geſetz ihrer
Wirkungsweife, fondern durch die bewegliche Rückſicht auf den
Zweck des Wirkens geleitet wird. Wber wie Vieles, Beobachtung
und Ueberlegung, vereinigt fi, um dieſen blendenden Schluß zu
beftreiten! Denn blendend ift er zunächſt, indem er die That-
fachen in einem viel zu günftigen Lichte erfcheinen läßt und die
tiefen Schatten verſchweigt. Der Tod, der fo vieles Leben vor
dem natürlihen Abſchluß feiner Entwidlung dabinrafft, aus
Störungen hervorgehend, die in ihrer Kleinheit unferer Beobachtung
fih entziehen, überzeugt uns zuerft, daß jene zwedmäßige Heil-
kraft des Körpers nicht unbedingt, und die Menge der Krankheiten,
die, nur unvollkommen überwunden, fpätere Tage verkümmern,
lehrt uns weiter, daß fie in hohem Grade beſchränkt if. Auch
das gefunde Leben, da es nicht ein aus fich ſelbſt allein quellendes
Spiel von Bewegungen ift, fondern in fteter Wechſelwirkung mit
dem Aeußeren verläuft, jchließt eine große Menge von Verände-
rungen des Körpers ein, die zunächſt al8 Störungen feines Be—
ftande8 zu betrachten find, und zu deren Wiederbefeitigung ſchon
in der erften Anlage des Leibes eine Mannigfaltigfeit beftändig
fortgehender Berrichtungen begründet ift. Ein Syftem von Theilen
nun, deffen Berbältniffe einmal jo zweckmäßig georbnet find, daß
feine Wirkungen innerhalb einer gewiffen Grenze die vegellojen
Einflüffe des Aeußeren überwinden Können, verliert nicht augen-
blicklich dieſe Fähigkeit, fobald unter ungewohnten Umftänden biefe
Grenze überjchritten wird. Mit der Mannigfaltigfeit der glüd-
lichen Einrichtungen, die e8 einmal beſaß, gelingt es ihm häufig,
aud Größen und Formen der Störung, auf die e8 nicht berechnet
war, entweder völlig oder doch jo weit zu befiegen, daß die Bejchä-
Digung, die es erleidet, nicht auffallend die Geftalt feiner Bewe-
gungen ändert. Aber allerdings wird e8 unheilbar zerrüttet werben,
71
fobald in feinem Baue und feinen Berrichtungen fich fein glücklicher
Umftand findet, der die Störung nöthigte, fich felbft durch die
Rückwirkungen aufzureiben, die ihr Reiz in den Thätigfeiten des
Syſtems hervorbringt. Zahlreiche Beifpiele zeigen und, wie weit
jelbft die menſchliche Technik mit den immer unvollfommenen
Mitteln, die ihr zu Gebote ftehen, dieſe Aufgabe zu löſen ver:
mag. Auch fie weiß Maſchinen jo zu bauen, daß die ungleiche
Ausdehnung, welche verfchiedene Metalle durch gleiche Wärme-
grade erfahren, die ſchädliche Folge wieder aufhebt, welche bie
Beränderlichfeit der Temperatur für Die Genauigfeit ihrer Reiftungen
haben könnte; auch fie kann die bewegte Locomotive nöthigen,
eine Vorrichtung jelbft in Gang zu ſetzen, Durch Die den Rädern
das reibungvermindernde Del gerade in dem Maße zugeführt
wird, in weldem es die jedesmal erlangte Geſchwindigkeit des
Zuges erfordert. Wenn wir auf dieſe Leitungen mit einem ge-
wiffen Stolze bliden, fo bezeichnet e8 eben die Geringfügigkeit
menjchlichen Vermögens, daß ſchon ſolche Erfolge e8 find, auf die
wir ſtolz fein können; gewiß find fie überaus unbedeutend im
Bergleihe zu der unendlichen Feinheit und Vielfeitigfeit, mit
welcher der lebende Körper unzähligen Fleinen Störungen gleich:
zeitig widerſteht; aber dieſer Unterjchied des Werthes berechtigt
doch nicht zu dem Schluffe auf ebenfo großen Unterfchien in den
Principien der Wirkungsart.
Auch in dem Organismus ift die heilende Rüdwirkung an
die einmal beftehende Zweckmäßigkeit feiner inneren Einrichtung
geknüpft, und fie reicht nur fo weit, als die äußeren Eingriffe
dieſe Anordnung in ihrer wejentlihen Form unangetaftet Laffen.
Sie wird aber vergeblich erwartet, fo oft die Gewalt der Störung
diefe glüdlichen Umftände verfchoben bat, obgleih aud dann die
Nachwirkung der urfprünglichen Trefflichfeit fo groß ift, daß nicht
jofort Die völlige Auflöfung, fondern ein erträglicher einiger Dauer
fähiger und die Umriſſe des Lebensplanes wenigſtens im Ganzen
noch fefthaltender Zuftand an Die Stelle der unmöglich gewordenen
Gefundheit tritt. Niemals fehen wir dagegen heilende Rück—
72
wirkungen eintreten von neuer und ganz ungemwohnter Art, foldhe,
von denen nicht das gefunde Leben bereits einen befländigen Ge⸗
brauch machte. Nur in verftärkter Heftigfeit und in anderer Ber-
knüpfung erregen zuweilen die äußeren Störungen diefe ftet8 ſchon
vorhandenen Thätigfeiten, und eben dieſer Aufruhr, wie er zu:
weilen ungewöhnlidie Erfolge bedingt, führt in eben fo zahlreichen
Fällen die völlige Vernichtung herbei. Belebte eine eigenthümliche
Heilkraft den Körper, mit irgend welder Freiheit der Wahl und
irgendwie unabhängig mit den phyſiſchen und chemifchen Kräften
der Maſſen fchaltend, fo würde. es ſchwer fein zu erflären, warum
fie, die einmal der natürlichen Nothwendigkeit überhoben wäre, in
der Ausführung ihrer Abfichten jemals fcheitern Könnte; wir be=
greifen die Nothwendigfeit ihrer Beichränttheit, wenn wir fie als
die Summe deſſen faſſen, was der lebendige Körper mit denjenigen
zwedimäßigen XThätigfeiten, die auf die gewöhnlichen Umftände
des Lebens berechnet find, unter ungewöhnlichen noch zu leiften
vermag.
So groß ift jedoch Die Bewunderung, welche ber ineinander-
greifende Bau des Lebens auch der mecaniftifhen Auffaſſung
deffelben abnöthigt, daß wir den Gegnern nicht verargen, wenn fie
ihre Borftellung einer eigenthümlichen Lebenstraft unter immer
neuen Formen und wieder and Herz legen. Nicht eine neue
Kraft, werden fie fagen, nicht eine plöglich eingreifende Heil-
thätigfeit verlangen wir, bie, in den beftändigen Einrichtungen
des Lebens nicht begründet, erft im Falle feiner Störung hervor-
träte; fondern den ganzen Ablauf der Lebenserfcheinung ver-
mögen wir nur zu begreifen, wenn bie Iebendige Idee des
Ganzen beftändig die Theile als das waltende Princip zufam-
menfaßt; ihre Thätigfeit iſt es, die weniger auffallend in dem
gejunden Zuſtande, an deſſen fortwährendes Wunder wir ge-
wöhnt find, defto mehr in ihren gefleigerten Rückwirkungen gegen die
AM .
78
Gewalt der Störungen offenbar wird. Nur in den unorganifchen
Gebilden entftehe das Ganze aus der Zufammenfegung der Theile,
im Lebendigen gehe e8 den Theilen voran. Es ift Elar, daß diefe
letzte Behauptung nur den Sinn haben kann, daß die Form des
Ganzen bereitS als belebende und gefeßgebende Gewalt dem fich
bildenden Körper inwohne, nod ehe die vollgählige Summe ber
Theile, Durch Die jeine Umriſſe einft ausgefüllt werben, vorhanden
oder in die ihnen zufommenden Lagen gebracht if. In der
That zeigen mehrere Borgänge in der erften Ausbildung des
Keimes, daß an die Orte der Geftalt, an denen beftimmte Organe
fih bilden follen, zunächſt formlos erſcheinende Mafjen abgelagert
werden, die erſt fpäter in fi die Gliederung in Theile entwideln,
welche das fertige Organ beibehält. Ereigniffe diejer Art mögen
augenblidlich jene Vorftellungsweife begünftigen; aber Diefe gefeß-
lihen Entwidlungen, die, zu einem gemeinfamen Plane des
Ganzen übereinftiimmend, an verjchievenen Stellen des Keimes
gleichzeitig vor fich gehen, verlieren dieſe Hebereinftimmung, wenn
durch Erfchütterung oder Trennung der mechaniſche Zuſammen⸗
bang der Keimtheile geftört wird. Dieſe Thatjache zeigt ung,
daß die zerftreuten Bildungsprocefje doch nicht allein Durch eine
über ihnen ſchwebende Idee, fondern durch die beftimmte Anord⸗
nung der Wechſelwirkungen unterhalten werben, die zwiſchen
allen einzelnen Theilen vermöge ihrer beftimmten Lagerung gegen
einander obwalten. Durch fie wird am vorgezeichneten Orten
das bildungsfähige Material abgelagert und durch ihre meiteren
Leitungen, die durch diefen erften Erfolg felbit neue Bedingungen
fpäterer gewonnen haben, entfpinnt ſich die allmähliche Gliederung
ber kleinſten Beſtandtheile. Würde es weniger wunderbar fein,
wenn die Bildung, von einem einzigen Mittelpunkt ausgehend,
ftet8 Die zunächſt gelegenen Umgebungen ſogleich in ihrer endlichen
Geſtalt erzeugte, und würden wir nicht dies nod mehr räthfelhaft
finden? Gewiß hängt alſo die Bildung jedes organischen Theiles
davon ab, daß er ſich in beftändiger Gemeinſchaft mit allen andern
entwidelt, die mit ihm zum Ganzen gehören; aber diefe Gemein-
74
ſchaft befteht nicht in der Umfaffung aller durch eine thätige Idee,
fondern darin, daß alle in ein Syſtem phufiicher Wechfelmwirkungen
verflochten find, aus denen für jeden einzelnen Richtung Form
und Gefchwindigfeit feiner Entwidlungsbewegung fließt.
Die Thatfachen wenigſtens geftatten dieſe Anficht; eine all-
gemeinere Weberlegung zeigt fie als nothwendig. Denn nur in
zweifacher Weife lönnen wir von einer Idee des Ganzen ſprechen.
Sie kann uns zuerft al8 das Mufter und der Plan gelten, den
unfere Erfenntniß in dem ausgeführten organiichen Gebilde dar-
geftellt, oder in feiner allmählichen Entwidlung beftändig befolgt
findet. Aber fein Mufter, kein Blan, den wir vielleicht als den
Zweck eines Naturprocefies faffen, vermwirflicht fi von jelbft; nur
dann wird er ſich vollziehen, wenn die Stoffe, in deren Geftal-
tung er erſcheinen foll, durch eine urfprüngliche Anordnung ihrer
Berhältniffe von felbft genöthigt find, durch ihre Kräfte nad den
allgemeinen Gefeten des Naturlaufes das hervorzubringen, was
er gebietet. So übt er ftet8 nur eine ſcheinbare Macht aus,
und jo wenig wir Die Idee der Unordnung als ein thätiges und
treibendes Princip in einer vegellofen Reihe von Veränderungen
anjehen, jo wenig Dürfen wir Die Idee irgend einer Ordnung als
die bewirkende und erhaltende Urfache eines regelmäßigen Kreifes
bon Ereignifien betrachten. In beiden Fällen gefchieht, was nach
ber einmal gegebenen Lage der Sachen gefchehen mußte und ber
Borzug des legteren befteht nicht in einer ftetig handelnden Zweck⸗
thätigfeit, ſondern in der beftändig nachwirkenden Zweckmäßigkeit
der erften Anordnung. Aber dieſe erfte Anordnung ſelbſt,
wird man uns einwerfen, woher rührt fie? Wir wiflen es
nicht, und wir haben feinen Grund, bier jhon die Vermuthungen
auszuſprechen, die wir über file hegen können. Nicht das ift un-
fere Abfigt, in dem Xebendigen die Spuren einer Weisheit zu
leugnen, bie uns über bie mechaniſche Verkettung bloßer Ereig-
niffe auf eine unverftanvene [chöpferifche Kraft hinausweiſen; aber
unfere Aufgabe ift e8 noch nicht, den erften Uriprung des Lebens
zu ſuchen; wir fragen nur nach den Gefegen, nach denen das
75
wunderbar erichaffene fich innerhalb der Grenzen unferer Beobach⸗
tung erhält. Und wir finden, daß das Leben innerhalb diefer
Grenzen nicht mehr neu entfteht, daß feine Erhaltung vielmehr
an die ununterbrodhene Tradition beftimmter Stoffe mit beftimm-
ter Lagerung ihrer Kleinften Theile gebunden ift, fo wie fie in
ber Fortpflanzung beftändig von einem zum andern überliefert
werden. Wir ſehen darin den Beweis, daß die Ideen nicht im
Stande find, fi in Stoffen zu verwirklichen, deren innere Glie-
derung nicht ſchon in forgfamfter Weiſe fo georbnet ift, daß aus
ihr allein ohne den weiteren Beiftand der Ideen, ja felbft wenn
diefe es nicht wollten, dennoch von felbft die von ihnen vorge⸗
zeichnete Geftalt entipringen müßte. Wohl mögen die Ideen am
Anfange der Welt die beftimmenben Gründe für die erften Ver⸗
knüpfungen der Dinge geweſen fein; in ihrer Erhaltung dagegen
find e8 die Wirffamfeiten der Theile, die den Inhalt der Ideen
renlifiren.
Doch wir wiffen, daß die Anficht, die wir befämpfen, die
Idee des Ganzen nicht fo verfteht, als wäre fie ein unmirkliches
Mufter, das machtlos der Wirklichkeit der Stoffe gegenüber
ſchwebt. Aber indem ſie die Idee als eine felbft Iebendige und
thatfräftige Macht auffaßt, wird fie gendthigt fein, zu der andern
beftimmten Bedeutung überzugehen, die wir dem vielmißbrauchten
Worte geben Finnen. Sol die Wirkſamkeit der einzelnen Theile
nicht zur übereinftimmenden Ausbildung des Ganzen hinreichen,
jo wird doch das höhere Band, das ergänzend Hinzutritt, überall
bon ber Lage der Dinge, in die e8 eingreifen foll, einen Ein-
drud erfahren müſſen, um im rechten Augenblide das der vor-
bandenen Lage Angemefjene zu bewirken. Solche Eindrücke laſſen
fh als Zuftandsänderungen des Bandes faffen, welche mit gefet-
licher Nothwendigkeit eine beftimmte Rückwirkung deſſelben hervor-
rufen. Es iſt offenbar, daß unter dieſer Vorausſetzung jenes
Band keine höhere Rolle ſpielt, als jeder der Stoffe, die, von
einander Eindrücke empfangend, durch das Ineinandergreifen ihrer
Rückwirkungen auch nad unſerer Anſicht die Bildung des Or-
76
ganifchen hervorbringen. Nur darin würde eine Eigenthümlich⸗
feit diefer Vorftellung Liegen, daß fie nicht von allen Theilen
einen gleich werthvollen Beitrag zur Begründung des Lebens er-
wartet, fondern einen einzigen vorzugsweis als den Brennpunkt
in die Mitte der übrigen ftellt, in weldyem die zufammenlaufen-
den Wirkungen aller eine Bielbeit zufammenftimmender Thätig⸗
feiten hervorrufen. Ohne Zweifel nun ift es richtig, daß Die
verichiedenen Theile ſehr verfchiedene Wichtigkeit für Die Begrün⸗
bung und Erhaltung einer beftimmten Lebensform befigen; Doch
vergeblich jehen wir uns in der Erfahrung nad) einer Thatſache
um, welche uns bereditigte, einen einzigen in fo ausſchließlicher
Weile als den Vertreter der Idee des Ganzen zu betrachten.
Aber gewiß wollte jene Anſicht in dem höheren Bande, das fie
fucht, eben nicht jene Teblofe Nothwendigfeit des Wirkens wieber-
finden, die fie ja aus dem Organismus überhaupt zu verbannen
wünſchte. Sie wird verlangen, daR jenes Band auf die Ein-
drüde, die ihm zulommen, Nachwirkungen folgen laſſe, die nad)
phyſiſchen Gejegen allein nicht nothiwendig an diefe gefnüpft fein
würden. Aber weil der Plan der Organifation fie verlangt, er-
zeugt fie das Band und ergänzt auf dieſe Weife den nicht voll⸗
kommen gejhlofjenen Zufammenhang der Natururfacen.
Wollen wir nun nicht völlig ins Unbeftimmte abfchmeifen
und zum Erflärungsgrunde Etwas wählen, von deſſen Art und
Weſen wir und nicht Die entferntefte Borftellung zu maden im
Stande find, fo werben wir und wohl zugeftehen müfjen, Daß
dieſe Art zwedmäßigen Wirkens nur einer Seele, nicht einer FD ee
zulommen Tann, und in diefen deutlicheren Begriff müflen mir
die ihrer jelbft ungewiffe VBorftellung der Idee verwandeln. Aus⸗
geftattet mit der Yähigfeit, Die Erinnerung vergangener Eindrüde
wieder zu erzeugen, vermag allein die Seele, jene Lücke der na-
türlichen Gaufalität zu ergänzen. Indem fie angeregt wird durch
eine Mannigfaltigfeit von Reizen, die doch an fi noch nicht
die vollftändigen Bedingungen eines wünſchenswerthen Erfolges
einſchließt, erzeugt fie die Borftellung deſſen, was augenblid-
77
lich in der Wirklichkeit fehlt, hinzu, und von dieſem Gebanten,
als Stellvertreter des wirklichen Eindruds, gelangt fie zu dem
zwedmäßigen Entſchluſſe, der nun wieder thätig in die Äußere
Wirklichkeit eingreift. So wird der Zuſammenhang, der auf phy⸗
ſiſchem Gebiete abgebrochen war, durch eine Reihe von Wirkungen
hergeſtellt, die auf geiftigem Gebiete verlaufend, zwei Ereigniffe
an einander Inlipfen, deren erfted allein den vollftändigen Grund
des zweiten nicht enthielt.
Auch diefe Hypotheſe nun bat der Gefchichte der Wiſſenſchaft
nicht gefehlt, daß die Seele es ſei, deren Thätigfeit Die Ordnung
und Zwedmäßigfeit der organifhen Entwidlung beberriche. Aber
wenn diefe Anficht einen Theil von Wahrheit einfchließt, den wir
fpäter hervorzuheben Gelegenheit finden, jo begünftigt doch unfere
Erfahrung den Verſuch nicht, fie als eine genügendere Erklärung
der mechaniſchen Auffaffung entgegenzuftellen. Mag es vielleicht
in manchen Thierſeelen, in deren Inneres wir und nicht verlegen
fönnen, ſich anders verhalten: in unferer Seele wenigftens finden
wir fein Bewußtfein biefer bildenden Thätigfeit. Und doch hing
ur von dem Bewußtſein und den eigenthümlichen Gefegen des
Borftellungslaufes diefe Fähigleit der Seele ab, mehr zu leiften
als der Naturlauf fir fih. Nur wo in Folge früherer Uebung
fi eine Gewohnheit zwedmäßigen Wirkens als zweite Natur in
der Seele befeftigt hat, mag der Borftellungslauf, der ihr zu
Grunde Liegt, nicht in jedem einzelnen Falle mehr zum Bewußt⸗
fein fommen. Die Annahme dagegen, daß die Seele von Anfang
an mit unbewußter Thätigleit den Körper organifire, würde nur
dabin zurüdführen, fie ebenſo wie alle materiellen Theile des-
felben als ein umfreies Element zu betrachten, das angeregt durch
die Umftände, nad allgemeinen Gefegen nothmendige Wirkungen
entfaltet. Vielleicht bat in diefer Deutung die erwähnte Anficht
ihren Werth; unter den vielen Beftanbtheilen, die zum Bau des
Lebens beitragen, ift vielleicht auch ein foldher, den feine übrige
Natur durch einen größeren Unterfchieb von allen übrigen trennt;
aber feine Gegenwart wiirde Doch die Thatſache nicht ändern, daß
78
alle zwedtmäßigen Wirkungen in dem Lebenbigen von der Berbin-
dungsweiſe der Theile, unter denen nun auch er fidh befände, mit
Nothwendigkeit abhängen. Zu verlangen dagegen, daß die Seele
leifte, was auf dieſe Weife noch nicht vollftändig begründet ifl,
und daß fie diefe Leiftung unbewußt vollziehe, das würde nur
heißen, von ihr die Erfüllung einer Arbeit fordern und gleich—
zeitig ihr bie einzige Bedingung verfagen, bie deren Gelingen mög-
lich macht.
Wir haben die Lehre von einer eigenthimlichen Lebenskraft
in bie verfchievenen Borftellungsmeifen verfolgt, in denen fie nach
und nad fich gelten gemacht bat; alle entiprangen kürzer oder
auf längeren Ummegen aus der Beobachtung, daß die Rüdwir-
kungen des Lebendigen auf die Eindrüde, denen es ausgeſetzt ift,
niht in diefen Anregungen allein, oder daß die Formen, in
denen es ſich ohne fihtbaren äußern Anſtoß entwidelt, in den
vorbergegangenen Umftänden nicht vollftändig begründet fchienen.
Diefe Neizbarkeit, die dem äußern Einfluß unerwartete, weder
an Stärke noh an Dauer noch felbit in ihrer Form ihm ent—
ſprechende Rückwirkungen folgen läßt, ſchien das Lebendige vom
. Unlebendigen zu trennen; denn die Wirkungen des Leßteren meinte
man vollftändig aus der Summe aller gegebenen Bebingungen
als jelbfiverftändlich nothmendige Folgen entwideln zu können.
Man täuſcht ſich etwas in Bezug auf beide Glieder dieſes Ge-
genfated. Wo irgend ein äußerer Anftoß auf em zufammen-
gehöriges Ganze vieler Theile trifft, da hängt Größe, Dauer
und Form der Endwirkung, die er erzeugen wird, nie ‘von ihm
allein, fondern zugleich und meift in viel höherem Grade von
bem inneren Zuſammenhang jener von ihm getroffenen Theile
ab. Die gegenfeitigen Berhältniffe diefer können auf die mannig-
fachſte Weiſe die Größe des empfangenen Eindrudes mindern,
erhöhen, auf eine beftimmte Anzahl von Punkten vertheilen, feiner
79
Vortpflanzung Wege anmeifen, auf denen er gebundene Thätig-
feiten löſen, wirfende in Ruhe verjegen kann; am Ende biefer
vielfältigen Bermittlungen wird ein Erfolg auftreten, ber bem
urſprünglich erzeugenden Anftoß in keiner Weife ähnlich iſt. Diefe
Reizbarkeit befigt jede Machine Während der Arbeiter ein äu-
ßeres Rab mit beftändig gleicher Geſchwindigkeit nach berfelben
Richtung bewegt, bewirkt das innere Getriebe, dem diefer Anftoß
zu Theil wird, das abwechſelnde Auf» und Abfteigen eines Kol:
bens, der jelbft, je nad der Art feiner Verbindung mit äußern
Segenjtänden, auf die mannigfaltigfte Art die Kraft feiner Be—
wegung weiter libertragen kann. Zwiſchen ben Einbrüden, bie
wir von außen auf den lebendigen Körper treffen fehen, und
der endlichen Rüdwirkung, die von ihm ausgeht, fteht auf völlig
gleiche Weife Die unendliche Mannigfaltigleit feiner Theile mit
ihren beftändigen inneren Bewegungen in der Mitte. Haben
wir im Allgemeinen ein Recht, auf dieſes Zwiſchenglied die Er-
fcheinungen der lebendigen Reizbarkeit zurüdzuführen, ohne gleich-
wohl bei der großen Verwicklung der Lebensproceſſe Die Kette aller
vermittelnden Glieder vollftändig verfolgen zu fünnen, fo können
wir in ihr nicht eine eigenthüimliche wirkende Kraft des Lebens,
jondern nur eine Form des Wirkens jehen, die dem Tebendigen
Körper mit jedem zufammengefegten Gebilde gemein ift.
Wir wirrden fie jedoch mit Unrecht auf zufammengefekte
Syſteme beſchränken, obgleich auf diefe hauptjählih ihr Name
bezogen zu werben pflegt. Sie ift dem einfachſten Subftrat nicht
minder eigenthümlid. Oder müßten wir etwa nachzumeifen, wie .
in der Erhöhung der Temperatur und der gegenfeitigen Annähe-
rung zweier Elemente die Nothwendigkeit ihrer chemiſchen Ber-
bindung ſchon völlig begründet Tiegt? Wir müffen im Gegentheil
annehmen, daß eine qualitative Eigenthümlichkeit ihrer Natur
durch diefe äußern Umftände nur gereizt wird zu einer Wirkung,
welche diefelben Umftände nicht hervorbringen würden, wenn fte
auf andere Stoffe wirkten. Weberall hängt der entftehende Er-
folg außer den äußern Bedingungen, an die er gefnäpft ift, zu=
80
gleih von der Natur defien ab, auf welches diefe wirkten. Nur
darın geftaltet fidh die Rückwirkung des Unorganifchen einfacher,
daß fie auf gleiche Reize in gleicher Form und Größe zu erfol-
gen pflegt, weil fie von einer beftändigen und in ihrem Beftande
unveränderlichen Erregbarkeit ausgeht. Das Lebendige dagegen,
innerlich in fortwährender Bewegung begriffen, bietet den gleichen
Heizen in verſchiedenen Augenbliden verfchiedene Erregbarfeit,
und feine Rückwirkungen nehmen dadurch in größerem Maße
den Schein der Unberechenbarkeit an, als die mehr gleichfärmigen
des Unbelebten, mit denen fie doch in Bezug auf die legten Ge-
fee ihrer Entftehung völlig übereinftimmen.
Sp kehren wir auch nach diefer Betrachtung zu jener mecha⸗
niftifchen Auffaffungsweife zurlid, die in dem Leben, wie überall,
die Möglichfeit Form und Verknüpfung zuſammengeſetzter Erfolge
bon ber zufammenftimmenven Wirkſamkeit der Theile abhängig
macht und die Vorftellung einer einzigen Kraft aufgibt, welde
mit veränderlider Thätigleit nur durch die Rückſicht auf die Er⸗
veihung eines Zieles geleitet wilrde. Aber den ungünftigen Schein,
der im Gegenfag zu den befämpften Anfichten auf Die unfrige
fällt, wollen wir noch durch einige Bemerkungen zu mildern
ſuchen. Dies zwar können wir nicht verfprechen, jenen Vortheil
ebenfall8 zu gewähren, der eben nur mit dem Grundgebanten
der von uns abgelehnten Anſchauung vereinbar ift: wir Können
jene jhöne Einheit und Innerlichkeit des Lebens, an der unfere
Bewunderung zu bängen pflegt, nicht aus der Wechfelwirkung von
Theilen entftehen laſſen, die in ihren innigften Beziehungen zu
‚einander doch immer verſchiedene bleiben, und verſchiedene bleiben
müffen, wenn fie diefe Bielheit wirkender und leidender Punkte
bilden follen, auf deren mannigfacher Berfnüpfung eben die Vor⸗
theile unferer eignen Anficht beruhen. Dennoch wäre es faum
gerecht, uns den Vorwurf zu maden, daß wir den lebendigen
Körper völlig als Maſchine betrachten. Denn wie bereitwillig
wir auch zugeben, daß wir in ber That in beiden dieſelben all-
gemeinen Gefege des Wirkens annehmen, fo Liegt bod in ber
81
Art, in welcher die Erzeugniffe unferer Technik diefe Gefeße ver-
wenden, eine gewifle Kümmerlichkeit, die wir ungern auf die frei-
willigen Gebilde der Natur übergetragen fehen möchten.
Unfere Mafchinen arbeiten mit Kräften zweiter Hand; fie
beruhen auf der eftigfeit, der Cohäſion, der Elafticität gewiſſer
Stoffe; aber fle erzeugen Feine diefer Eigenihaften neu, fondern
fegen voraus, daß fie in dem Material, welches die äußere Natur
liefert, durch die Kräfte der Elemente bereit gebildet find,
Ein beftimmter unveränderliher Grad diefer Eigenſchaften ift es,
was für den Gang der Mafchine erfordert wird; jeve Verände-
rung dieſes Grades wirkt al8 Störung oder als Abnutzung der
richtigen BVerhältniffe. Auf eine fcharffinnige Verflechtung ein-
zelner Theile ift ferner der Rhythmus gegründet, nad welchem
die mitgetheilte antreibende Bewegung ſich fortpflanzt; aber Diefe
Berbindungsmweife wird nicht durch die thätige lebendige Anzieh-
ung der Beftandtbeile felbft hervorgebracht; durch Nägel Bolzen
Reifen und Schrauben ſehen wir hier die fete Verknüpfung, durch
Drehung um fefte Aren die Beweglichleit auf einander ſich be=
ziehender Theile erzwungen; nicht die unmittelbaren Anziehungen
und Abftoßungen der Elemente, dieſe Kräfte erfter Hand, fon-
dern ihre zur Ruhe gefommenen Producte, Starcheit und Un-
durchdringlichkeit, find benugt, um durch äußerliche Zuſammenſtel⸗
lung die Zwecke der Maſchine zu erfüllen. Und ebenſo iſt das
Thätige in ihr kaum irgendwo eine neu ſich erzeugende Kraft
oder Bewegung, ſondern alle ihre Verrichtungen beruhen auf der
Mittheilung oder Fortpflanzung eines empfangenen Anſtoßes.
Nur dieſen Anſtoß ſelbſt erzeugt unſere Zeit am häufigſten durch
Die Benutzung elementarer Kräfte, indem fie die lebendige Span⸗
nung der Dämpfe durch erhöhte Temperatur entwidelt. Aber
auch dieſe lebendige Kraft dient und nur als der Erreger über:
baupt einer an fi formlojen Bewegung; feine beftimmte Ge-
ftaltung und dadurd feinen Nuten für die Zmede der Mafchine
erhält auch dieſer Antrieb doch nur durch die Stellung ber ftarren
Räder oder Getriebe, auf die er fällt.
Loge I. 4. Aufl. 6
82
Es ift anders in ben freiwilligen Gebilden der Natur.
Kein materielle Band knüpft den Planeten an die Eonne, aber
die unmittelbare Wirkfamfeit einer Elementarfraft, der allgemeinen
Anziehung, hält beide unfihtbar mit einer Elafticität ihres Wir-
kens zufammen, die feine künftliche Vorrichtung wird nachahmen
fönnen. Seine feſtſtehende Are, fein Schraubengang, fein fi um⸗
und abmwidelndes Seil nöthigt den Planeten, aus feiner grab-
Iinigen Bewegung in gefrümmte Bahnen überzugeben, aber der
beftändig vorhandene und beftändig neu ſich geftaltende Streit
zwiſchen feiner urfprünglichen Geſchwindigkeit und der Anziehung,
bie ihn zur Sonne treibt, führt ihn mit unfichtbarer und ficherer
Hand in gejchloffenen Bahnen bin und her, und feine Abnugung
der Bewegungsmittel ftört die Fortdauer dieſes ſchönen Spieles.
Und doch Tiegt diefem Tein anderes allgemeines Wirkungsgeſetz zu
Grunde, als jene, die auch unjern Mafchinen gelten. Mit unend-
lich größerer Mannigfaltigfeit wiederholt dieſelbe Weiſe der Thätig-
feit auch der lebendige Körper. Auch er wirkt nicht mit äußerlichen
Berbindungen von Mitteln, die gegen einander gleichgiltig wären;
überall taucht auch in ihm das Gefchehen in den Strom ber
unmittelbaren Wirkungen unter; jedes feiner Elemente entfaltet,
fi bildend fi zurückbildend ſich verändernd, gegen feine Nach—
barn die ganze Fülle jener urfprünglichen Kräfte, die ihm eigen
find, und dieſe Wirkungen find bier niht Störungen für den
Verlauf des Ganzen, fondern fie find die Bedingungen, Die
deffen Wirklichfeit fo wie jede zarte Teinheit feiner Form immer
aufs Neue begründen. Und felbft da, wo der Tebendige Körper
wirklich zur Erfüllung einzelner feiner Aufgaben die Wirkungs-
weile der Mafchine benußt, wie in der Bewegung dev Glieder,
deren fefte Knochen er nach den Geſetzen des Hebels durch die Ceile
ber Muskeln zieht, felbft da bildet und erhält er Hebel und Eeile
durch eine nie ablafjende Thätigkeit, Die in einer vielverflochtenen
Kette unmittelbarer Wirkungen von Atom zu Atom befteht.
Diefelbe Beſchränkung auf ftarre fertige Mittel und auf
eine äußerliche Verbindung zwifchen ihnen gibt den Majchinen-
83
wirkungen jenes unheimliche Anjehen, um deswillen wir am meiften
bie Vergleichung des Lebens mit ihnen zu fliehen pflegen. Lange
Zeit binburch fehen wir häufig zmei Theile eines Getriebes be-
ziehungslos neben einander, regungslos vielleicht das eine, das
andere in einer Bewegung begriffen, die Alles umber gleichgiltig
läßt; plöglich bei einer beſonderen Stellung, die endlich erreicht
ift, erfolgt ein Stoß, und die einzelnen Theile ſehen fi haftig
in eine Wechſelwirkung geriffen, zu der Teine allmählich reifende
Borbereitung in ihnen zu entdeden war, und aus der fie im
nächſten Augenblide in ihre gleichgiltige Ruhe zurlidfallen. ‘Durch
den ununterbrochenen Fluß der Wirkungen, der von Atom zu
Atom beftändig durch ihre unmittelbaren Kräfte überquillt und
einen durchdringenden Zufammenhang des Ganzen in jedem Augen
blicke vermittelt, vermeidet das Leben biefe Unftetigfeit der Ent-
wicklung. In jedem Fleinften Theile fcheint ein Verſtändniß deffen
vorhanden, was in einem andern ſich vorbereitet, und die unab-
läffige nicht auf einzelne Momente ſtoßweis vertheilte Wechfel-
wirkung aller bringt jenen fchönen Schein der Weichheit und an⸗
muthiger Milde der Entwidlung hervor, mit dem alles Lebendige
dem gefpenftiichen Unzufammenhang in den Bewegungen künſt⸗
licher Automaten gegenüber fteht.
So ift alfo doch wohl aud nach unferer Anfiht noch in dem
Lebendigen ein wirkliches Leben, das der ſcheinbaren Regſamkeit der
Mafchine ſcharf genug gegenüber fteht, um feine göttliche Abkunft
von der Aermlichfeit menſchlicher Kunft zu unterjcheiden. Dennoch
wollen wir noch einmal auf den Grund der Hartnädigfeit zurück—
fommen, mit welcher wir dieſe Anficht in ſcheinbarem Streit gegen
manches Bedürfniß des Gemüthes fefthalten, deſſen Recht wir Doch
völlig anerkennen. Es ift nicht die Neigung, Das Leben als das
Ergebniß einer zufälligen Berfammlung von Theilen zu faffen; im
Gegentheil laſſen wir feinen erften Urfprung als ein Geheimniß
vorläufig babingeftellt; nur feine Erhaltung glauben wir dem Zu—
fammenhange des Naturlaufes ohne das Eingreifen neuer Kräfte
übertragen. Und eben fo, wie die Geſetze, nad denen der Umlauf
6 "
84
unferes Planetenſyſtems erfolgt, in einer bisher unmiderlegten
Wiſſenſchaft erkannt wurden, noch ehe eine glaubbafte Bermuthung
über die Entftehung feiner gegenwärtigen Anorbnung aufgetreten
war, eben fo wird eine Lehre von der Erhaltung des Lebens
felbftändig einer andern von feiner erften Entftehung vorangeben
dürfen; ja fie felbft wird es fein, deren völlige Ausbildung uns
zeigen wirb, in welcher Richtung wir Aufklärung über biefen Ur—
fprung hoffen Können. Was uns bewegt, ift die eine Ueberzeu⸗
gung, daß die Natur nicht blos ihrem Sinne nad, fondern aud
in den Gefegen ihres Haushaltes nothwendig ein Ganzes bildet,
defjen verfchiedene Erzeugniffe nicht nach verſchiedenem Recht fon-
dern nur nad der verfchievenen Benutzungsweiſe defjelben Gefeg-
kreiſes von einander abweichen. Auf diefer Vorausſetzung beruhen
alle Hoffnungen, die wir fir den Fortſchritt der Wiſſenſchaft
hegen, und alle Gewohnheiten unferes praftifchen Lebens. Wer
vor der ungeheuren Aufgabe zurüdichredt, die unendliche Mannig-
faltigfeit des Lebens auf diefe Grundlagen wirklich zurüdzubringen,
empfindet ein Gefühl, das wir völlig theilen. Aber die Größe
ber geforderten Leiftung darf uns nicht bewegen, zu ihrer be-
quemeren, aber nur fheinbaren Erfüllung Principien zu wählen,
deren Möglichkeit wir eben fo wenig einfehen. Die Borftellung
einer einzigen wirkenden Lebenskraft gehört zu diefen Principien.
An wen fle haften folle, ift unklar, wenn nicht eben an der
Totalität der Tebendigen Theile und ihren planmäßigen Berbin-
dungen; wie fie Dazu fommen folle, ihre Wirkungsweife zu ändern
und das Nöthige in jedem Augenblid zu thun, ift unklar, fo
lange wir nicht annehmen, daß fie mit geſetzlicher Nothwendigkeit
unter veränderten Umftänden eine andere wird und anders wirkt,
gleih jeder Kraft, melde das Ergebnif einer Mannigfaltigkeit
veränderlicher Theile if. Daß fle an diefen Theilen haftet, von
ihrer Berbindungsweife abhängig ift, daß fie nur in beftändiger
Wechſelwirkung mit dem Unorganifchen etwas Teiftet, ruft uns
bie Erfahrung überall zu; e8 ift nicht gerechtfertigt, diefe Zurufe zu
vernadhläffigen und das, mas fih nur als ein Geſchöpf beftimmter
85
Bedingungen zeigt, als eine Macht zu faflen, die mit einer nie
genau abzugrenzenden Unabhängigfeit und Freiheit über biefen
Bedingungen ſchwebe. Wie wenig die Züge, die man als bie
unterfcheidenden Eigenfchaften der Lebenskraft hervorgehoben Hat,
Die Annahme berfelben notbwendig machen, haben wir umfaflen-
der nachgewieſen; melde anderen Gründe uns zu ihr zurüdführen
follten, müßten wir ebenfo wenig anzugeben als den Nuten, den
diejelbe bisher der Wiffenfchaft gebracht hätte.
Biertes Kapitel.
Der Mehanismus bes Lebens.
Befländige und periobifhe Verrichtungen. — Fortſchreitende Entwicklung. — Ge⸗
ſetzloſe Störungen. — Die Anwendung der chemiſchen Kräfte und ihre Folgen
für das Leben. — Geſtaltbildung aus formloſem Keime. — Stoffwechſel; feine
Bedeutung, feine Form und feine Organe.
ALS wir die Wandelungen überblidten, welde die Natur:
auffaffung im Ganzen während des Laufes der menfchlichen Ge-
ſchichte erfahren hat, haben wir bemerkt, wie vergeblich wir bie
ſchöne Vorſtellung der befeelenden Triebe da zu benugen fuchen
würden, wo es fi) handelt, die Verwirflihung und Erhaltung
der einzelnen Erſcheinungen in dem zufammenhängenden Haushalt
der Natur zu erflären. Wir haben ferner gejehen, wie durch ihre
Aufgaben die phyſikaliſche Forſchung mit Nothwendigfeit dahin
getrieben wird, jedes zufammengefegte und in veränderlicher Ent-
widlung ſich entfaltende Geſchöpf als das Erzeugniß vieler Kräfte
anzufeben, deren Geſammtwirkung ihre beftimmte Form von der
Verknüpfungsweiſe ihrer Träger erhält. Die Weberlegung der
Erſcheinungen endlich, die als die großen Hauptzlige des Lebens
Jedem bekannt find, hat uns zur Befeftigung der Ueberzeugung
gedient, daß aud das Lebendige, wie unermeßlich fein Werth
86
und feine Bedeutung alles übrige Dafein überragen mag, dennoch
zur Erklärung feines Zuſammenhanges und feiner Leiftungen
die Rüdfebr zu der Annahme einer befonderd gearteten Lebens-
Fraft nicht erfordert. Um fo mehr wird man von und die Angabe
jener eigenthüimlichen Anorbnungen verlangen, Durch welche Die
. Beftandtheile des Tebendigen Körpers in den Stand gefegt werben
follen, ohne die erneuerte Nachhilfe einer höheren Kraft Dies reich-
haltige Spiel der Entwidlung durchzuführen. Je genauer wir je-
doch die Mannigfaltigfeit der vorliegenden Lebenserfcheinungen mit
unferer bisherigen Kenntniß ihrer Bedingungen vergleichen, deſto
weniger werben wir Die vermefjene Hoffnung hegen, Diefe Aufgabe
je vollftändig gelöft zu fehen. Die zuverfihtlihen Berfuche, mit
den äußerſt unzureichenden Mitteln, die wir jegt befißen, jede
Frage endgiltig entjcheiden zu wollen, Einnen nur die entgegen-
geſetzte Anficht ermuthigen, aus den Schwierigfeiten, welche fie
befjer zu würdigen weiß, auf die Unmöglichkeit des Zieles zu
ſchließen, das ungeachtet feiner Unerreihbarfeit unferen Unter-
fuchungen doch ihre Richtung geben muß. Dennoch ift unfere Un-
fenntniß nicht fo groß, daß wir nicht in der Bejchreibung der ein-
zelnen Lebensverrichtungen auf lange Streden bin den mechanifchen
Zuſammenhang der Wirkungen verfolgen, und nicht jo beſchränkt
unfere Meberficht iiber das Ganze, daß wir nicht einige der Grund-
züge hervorheben könnten, durch welche fi) Die Verwendung ber
allgemeinen Mittel der Natur für die Zwecke des Lebens von
den übrigen vorkommenden Benutungsweifen derſelben abtrennt.
Berichievene Ablaufsformen der Ereigniffe fehen wir in dem
Lebendigen einander durchkreuzen. Mit gleichförmiger Stärke
dauern einige Verrichtungen lange Zeiten hindurch unverändert
fort; andere vollenden in verfchievenen Perioden abgefchloffene
Kreisläufe und kehren nahezu wieder zu den Zuftänden zurüd,
bon denen fie für eine Weile fih entfernt batten. Aber diefe
ftetigen oder in fich felbft zurüdlaufenden Bewegungen werden
überall von einer andern fortfchreitenden Entwidlung begleitet,
durch die der Tebendige Leib nach einem inwohnenden Geſetze allmäh-
87
licher Entfaltung feine äußere Geftalt und den inneren Zufammen-
bang feiner Verrihtungen ummandelt, um mit ber Auflöfung
zu endigen, die nit nur den unvermeidlichen fondern den natür-
lich worausbeftimmten Abſchluß feiner Erſcheinung bildet. Aber
auch diefen Entwillungsgang und die gejeßliche Aufeinanderfolge
feiner Stufen unterbrigt in jedem Wugenblide des Lebens die
Mannigfaltigfeit der äußeren Eindrüde und die nicht geringere der
Rückwirkungen, in denen das Lebendige bald mit borübergehen-
der Erregung bald mit bauernder Anftrengung fich felbft und
- die Gegenftände der Außenwelt bewegt. Weder jene Einbrüde
noch diefe Bewegungen find an ein feſtes Gefet ihrer zeitlichen
Wiederkehr oder ihrer Reihenfolge gebunden; in unberechenbarer
Zufälligfeit einwirfend und angeregt, können fie zunächſt nur
als Störungen ded Körper und derjenigen feiner Einrichtungen
gelten, auf weldye der ftetig zufammenhängende Gang feiner be-
ftimmt geftalteten Entwidlung begründet iſt. Aber dennoch Liegt
nicht in der ftillen und unverrüdten Entfaltung, fondern eben
in dieſer Leiftungsfähigkeit, die in jedem Augenblide einen Weber:
Ichuß lebendiger Kraft gegen regelloſe Eindrüde zu verwenden ver⸗
mag, der weſentliche Charakter alles thieriſchen Lebens. Deshalb
muß zu diefen Rüdwirkungen, die im Einzelnen nicht vorgeſehen
und vorberechnet fein fonnten, wenigftens Die allgemeine Möglichkeit
in einem weſentlichen Zuge bes thierifhen Haushalts gefichert fein.
Bon der beftändigen Fortdauer eines und vefjelben Ereig-
niffes, fo wie von dem abgefchloffenen Kreislauf in ſich zurüd-
gehender Entwidlung bietet und die unorganifhe Welt Beifpiele
von fehr einfacher Begründung. In der That würde ber Sort:
beftand jeder einfachen Bewegung eines Körpers feine andere Hilfe
als die Abhaltung ftörender Urfachen erfordern; und wiederum,
der Hinzutritt einer einzigen Störung, jener Anziehung etwa,
die den bewegten Körper an einen andern feflelt, reichte bin,
feinen Weg zu krümmen, und nur wenige nähere Bedingungen
würden nöthig fein, um dieſen in Die gejchloflene Bahn zu ver⸗
wandeln, in welder der Planet um feinen Hauptlörper kreiſt.
88
Und endlos würde dies regelmäßige Spiel von Bewegungen zwi—⸗
ſchen beiden Körpern fi fortfegen und wiederholen, fo lange fte
jeder inneren Veränderung ihrer Maffen und Kräfte, jo wie jedem
Eindrucke der übrigen Welt um fie her entzogen blieben. Aber
e8 wilrde eine Täufchung fein, wenn wir dieſe Beifpiele beftändig
gleichförmiger oder in fi) zurlidgehender Entwicklungen al8 Belege
für die Leichtigkeit anführen wollten, mit welcher aud dem Leben
die Verwirklichung feiner ähnlich geformten Berrihtungen gelingen
müßte. Denn obgleih auch feine Wirkfamfeit zulegt auf der
Benutzung jener einfachen Gefege der Bebarrung und der Zus
fammenfetung der Kräfte beruhen wird, fo finden wir bei nähe-
rem Einfehen doch die Verrichtungen, die innerhalb des leben⸗
digen Körpers in einem gleihförmigen Etrome fortgehen, wie
die beftändige Aneignung und Erhaltung in den Fleinften Theilen,
durch weit zufammengefettere Vorgänge vermittelt, als die ein-
fache Geſtalt des herauskommenden Erfolges vermuthen ließ.
Sie gleichen dem ruhigen Lichte der Kerze, deſſen gleichför-
miger Schimmer nicht8 von der Reihenfolge ineinandergreifender
Wirkungen erzählt, durch die er fi nährt. ALS der erfte ent⸗
zündete Theil des Dochtes fich mit dem Sauerftoff der atmoſphä⸗
rifhen Luft verband, erzeugte er verbrennend mehr als die nöthige
Wärme, um aud ben benachbarten Theil jo weit zu erhitzen,
daß ex derſelben Verwandtſchaft zum Sauerftoff folgen konnte.
So ſchlug vom zweiten zum Dritten und über das Ganze die
Slamme auf, indem jeder Punkt durch einen Theil feiner ent-
bundenen Wärme die gebundenen Kräfte des andern zum Aus-
bruch in gleiche Entzündung Vöfte. Aber die Flamme würde
zu ſchnell das zarte Gewebe der Fäden verzehrt haben, wenn
nicht ein anderer Theil der befreiten Wärme das Wachs in
Fluß gefegt hätte, das beftimmt ift, den Brand zu nähren.
Durch die auffaugende Anziehung des Dochtes fteigt die flüffige
Maſſe auf und indem fie fein Gewebe vor zu fchneller Ber-
ſtörung tränfend ſchützt, gelangt fie bis zu einem Punkte, durch
befien gefteigerte Temperatur fie felbft entflammt wird, während
89
dem auffteigenden Strome ber erbigten Luft, die fi von ber
Flamme erhebt, an diefem Punkte von unten ein friiher Nach⸗
zug, die eingeleitete Verbrennung unterhaltend, nachfolgt. So
entlaftet die gefhmolzene Flüffigkeit, nun felbft durch den Brand
verfllichtigt, die gefüllten Faͤden des Dochtes wieder und gewährt
dem neuen Material, zu deſſen Schmelzung. fte felbft beitrug,
freien Raum, um nad) oben nachrückend diefelbe Folge von Bor-
gängen fortzufegen.
Auf ähnlichen Beranftaltungen beruhen die fcheinbar ein-
fachen und gleichförmig fortgehenden Berrichtungen des Lebendigen.
Nur daß die Flamme erlifht, wenn das einmal vorhandene Ma⸗
terial verzehrt ift; den lebendigen Thätigfeiten führt der Zuſam⸗
menhang ded Ganzen die Möglichfeit ihrer Fortſetzung wieder
von Neuem herbei. So eriheinen fie nicht ſowohl als die ele-
mentaren Borgänge, deren gleichfürmige Beftändigfeit ten halten-
den Boden für die Beränderlichfeit der übrigen darbietet, ſondern
mebr als Leiftungen, die der Zuſammenhang eines größeren und
verwidelteren Planes zwar mit einfadher Form ihres Berlaufes
aber mit feiner und vielfeitig verichlungener Begründung ver-
mittelt. Nicht weniger unzureihend würden die Analogien des
Plametenlaufes zur Erflärung der periodiſchen Kreisläufe fein,
welche wir andere Verrihtungen des lebendigen Körpers vollenden
ſehen. Die Pulfationen des Herzens, die rhythmiſchen Zuſammen⸗
ziehungen der Eingeweide, der Wechſel des Athmens, das alles
find Borgänge, die feine Aehnlichkeit mit den einfachen Be—
wegungen freifcäwebender Körper haben. Große Anzahlen unter
einander feitverbundener Theile jehen wir bier zu gemeinfamen
Bewegungen zufammenwirken, deren Ausführung nit ohne eine
Aenderung in der Berfnüpfungsmeife der Theile, nicht ohne Auf:
opferung einiger der Bedingungen möglich ift, an denen eben ihre
Wirkſamkeit hängt. Auch dieſe Leiftungen find deshalb einem
allgemeineren und umfaffenderen Plane untergeordnet, der ihnen
den Wiebererfag ber verbrauchten Berhältnifie und die regelmäßige
Wiederkehr der Anregungen fidhert, deren fie bedürfen.
90
Vergeblich würden wir die dritte ber Ablaufsformen zuſam—
mengefeßter Ereigniffe, die wir oben erwähnten, die fortichreitende
Entwillung dur eine Stufenreihe voransbeftimmter Zuftände,
in der unorganifchen Welt aufſuchen. Sie gehört dem Leben allein
und tritt in der vollen Schönheit und Reinheit ihrer Bedeutung
in der Entfaltung der Pflanzen hervor. Dennoch ift e8 nicht ganz
ohne Werth, den unvolllommmneren Borandeutungen zu folgen,
Die wir von ihr in dem unlebendigen Geſchehen finden Tönnen.
Nur zwifchen jenen beiden Körpern, die wir früher anführten,
könnte das Spiel einer kreiſenden planetariihen Bewegung in
enblojer Regelmäßigfeit fortdauern; der Hinzutritt jedes dritten
würde die Wechſelwirkung der beiden erften verändern und fie
nöthigen, in Bahnen fich zu bewegen, welche den Einfluß einer
äußern Störung verrietben. Nur in längeren Perioden, wenn
überhaupt, würde e8 diefem Syſtem von Körpern gelingen, völlig
wieder in feine urſprüngliche Anordnung zurüdzufehren und von
ihr aus die vollendete Bewegung genau in gleicher Weife zu
wiederholen. Mit der Anzahl der gegen einander wirkenden Glie⸗
der wird die Schwierigkeit eines rhythmiſch in fi zurüdfehren-
den Verlaufs der Veränderungen machen, und e8 wird bejonders
günftige Bebingungen bedürfen, wenn die gegenfeitigen Störungen
auf ein Maß der Kleinheit bejchräntt bleiben follen, bei welchem
fie im Ganzen die Geftalt des Syſtems und feiner Bewegungen
nicht weſentlich beeinträchtigen. Solche Bedingungen finden fich
für das Planetenfyftem unferer Sonne verwirklicht, und zu ihnen
gehört ver Allem diefe, daß ed mit aller innern Mannigfaltig-
feit feiner Bewegungen doch ein abgefchloffenes und ifolirte8 Ganze
bildet, bis zu welchem fi Die Einwirkungen der noch außer ihm
gelegenen Welt, der entfernteren Firfterne, nicht mehr in merf-
Iihen Spuren erftreden. Anders würde es ſich verhalten, wenn
dieſes Syſtem, ebenfo wie der Körper der Pflanze, den Einflüffen
von außen geöffnet wäre und, wie fie, es erleiden müßte, Daß
alle die Bewegungen, in die e& nad der Anlage feiner eignen
Natur geriethe, durch eine regelmäßige oder unregelmäßige Wieder-
91
fehr äußerer Eindrlide getroffen und verwandelt würden. Neb-
men wir an, daß ein Syſtem von Himmelsförpern durch einen
Raum fi fortbewegte, in welchem es Maffen, auf welche feine
Anziehungskraft wirken Tönnte, nach irgend welchem Geſetze ver-
theilt worfände, jo würde e8 nicht nur wachen, indem es dieſe
in Die Kreife feiner eignen Bewegungen bineinzöge und für Die
Zukunft an fih feflelte, ſondern durch den Zutritt diefer neuen
Beftandtheile würden aud die gegenfeitigen Beziehungen der
früheren verändert werben umb die Bewegung des Ganzen fid
beftändig in neuen Formen entwideln, deren jeve aus der eben
vorangegangenen und aus der Einwirkung der netten Bedingungen
des Augenblides fih mit_Nothmendigfeit ergäbe. So entftände
eine geordnete Stufenfolge von Zuftänden, den einzelnen einander
ablöjenden Entwidlungsphafen des Lebendigen vergleichbar. ‘Denn
eben der Tebendige Körper ift ein ſolches offenes Shitem von
Theilen, gegen die Einwirkungen des Aeußern nicht abgeichloffen,
fondern ihrer zu feiner Entwidlung bebürfti.. Yu dem, wozu
er fich entfaltet, liegt nicht der vollftändige Grund in ihm felbit;
nicht allein des Zuſtromes der Maffen ift er benöthigt, aus denen
feine wachjende Geftalt erbaut werben joll, fondern auch erregen-
der Eindrüde, die feinen eignen Kräften Richtung und Aufeinan-
verfolge ihrer Aeußerungen beftimmen; fcheinbar abgefchloffen in
ſich jelbft, ift er do nur die eine Hälfte von dem Grunde des
Lebens, während die andere ergänzende noch geftaltlos in dem all
gemeinen Strome des Naturlaufs liegt, der an ihn heranbringt.
Die Entwidlung des Lebendigen beruht jedoch nicht allein
hierauf; eine andere Eigenthümlichkeit müſſen wir hinzufügen,
durch die ed fi völlig von jenem Bilde eines ſich entwidelnden
Sternenſyſtems unterfcheiden würde. Es ift die ausgedehnte Be-
nußung der chemiſchen Verwandtihaften und der Anziehungen
auf unmerfliche Entfernungen, welche bier an bie Stelle der ben
90
Vergeblich würden wir die britte ber Ablaufsformen zufant-
mengeſetzter Ereigniffe, die wir oben erwähnten, die fortſchreitende
Entwillung durch eine Stufenreihe vorausbeftimmter Zuftände,
in der unorganifchen Welt aufſuchen. Sie gehört dem Leben allein
und tritt in ber vollen Schönheit und Reinheit ihrer Bedeutung
in der Entfaltung der Pflanzen hervor. Dennoch ift es nicht ganz
ohne Werth, den unvolltommneren Borandeutungen zu folgen,
Die wir bon ihr in dem unlebendigen Geſchehen finden Tünnen.
Nur zwiſchen jenen beiden Körpern, die wir früher anführten,
könnte das Spiel einer Freifenden planetarifchen Bewegung in
endloſer Regelmäßigfeit fortvauern; der Hinzutritt jedes dritten
würde die Wechſelwirkung der beiden erften verändern und fie
nötbigen, in Bahnen ſich zu bewegen, welche den Einfluß einer
äußern Störung verrieihen. Nur in längeren Perioden, wenn
überhaupt, würde e8 diefem Syſtem von Körpern gelingen, völlig
wieder in feine urjprüngliche Anordnung zurüdzufehren und von
ihr aus die vollendete Bewegung genau in gleicher Weile zu
wiederholen. Mit der Anzahl der gegen einander wirkenden Glie-
ber wird die Schwierigkeit eines rhythmiſch in ſich zurüdfehren-
den Verlaufd der Veränderungen wachſen, und e8 wird bejonders
günſtige Bedingungen bedürfen, wenn die gegenfeitigen Störungen
auf ein Maß der Kleinheit beichräntt bleiben follen, bei welchem
fie im Ganzen die Geftalt des Syſtems und feiner Bewegungen
nicht wefentlich beeinträchtigen. Solche Bedingungen finden fich
für das Planetenfnftem unferer Sonne verwirklicht, und zu ihnen
gehört ver Allem diefe, daß es mit aller innern Mannigfaltig-
feit feiner Bewegungen doch ein abgeſchloſſenes und iſolirtes Ganze
bildet, bis zu welchem fi) die Einwirkungen der no außer ihm
gelegenen Welt, der entfernteren Firſterne, nicht mehr in merf-
lichen Spuren erftreden. Anders würde es fich verhalten, wenn
dieſes Syſtem, ebenjo wie der Körper der Pflanze, den Einflüffen
von außen geöffnet wäre und, wie fle, es erleiden müßte, daß
alle die Bewegungen, in die e& nad der Anlage feiner eignen
Natur geriethe, Durch eine regelmäßige oder unregelmäßige Wieder-
91
fehr äußerer Eindrüde getroffen und verwandelt würden. Neb-
men wir an, daß ein Syſtem von Himmelskörpern durch einen
Raum fich fortbewegte, in welchem e8 Maflen, auf welche ferne
Anziehungskraft wirken fönnte, nach irgend welchem Geſetze ver-
theilt vorfände, fo würde e8 nicht nur machlen, indem es Diefe
in die reife feiner eignen Bewegungen bineinzöge und für die
Zukunft an fich feffelte, fondern durch den Zutritt diefer neuen
Beftandtbeile würden aud die gegenfeitigen Beziehungen ber
früheren verändert werben und die Bewegung des Ganzen ſich
beftändig in neuen Formen entwideln, deren jede aus der eben
vorangegangenen und aus der Einwirkung der neuen Bedingungen
des Augenblides ſich mit Nothwendigkeit ergäbe. So entjtände
eine geordnete Stufenfolge von Zuftänden, den einzelnen einander
ablöfenden Entwidlungsphafen des Lebendigen vergleihbar. Denn
eben der Tebendige Körper ift ein ſolches offenes Syſtem von
Theilen, gegen die Einwirkungen des Aeußern nicht abgeſchloſſen,
fondern ihrer zu feiner Entwidlung bebürftig. Yu dem, wozu
er fih entfaltet, Liegt nicht der vollftändige Grund in ihm felbft;
nicht allein des Zuſtromes der Maſſen ift er benöthigt, aus denen
feine wachfende Geftalt erbaut werden foll, fondern auch erregen-
der Eindrüde, die feinen eignen Kräften Richtung und Aufeinan-
verfolge ihrer Aeußerungen beftimmen; ſcheinbar abgejchlofjen in
fich felbft, ift er doch nur die eine Hälfte von dem Grunde des
Lebens, während die andere ergänzende noch geftaltlo8 in dem all-
gemeinen Strome des Naturlaufs Tiegt, der an ibn herandringt.
Die Entwicklung des Lebendigen beruht jedoch nicht allein
hierauf; eine andere Eigenthümlichleit müſſen wir hinzufügen,
durch die es ſich völlig von jenem Bilde eines fi} entwickelnden
Sternenſyſtems unterf&heiden würde. Es ift die ausgedehnte Be-
nutung der chemiſchen Verwandtſchaften und der Anziehungen
auf unmerfliche Entfernungen, welche hier an die Stelle der den
92
Weltraum burchdringenden und das Entferntefte verknüpfenden
Gravitation getreten find. Die gewöhnliche Anfhauung, wenn
fie nur den Körper ber Pflanze und des Thieres als ein lebendig
zufammengehöriges Ganze, das Planetenfyften als eine Gefel-
lung jelbftändiger Wefen anfieht, macht dieſen Unterſchied nicht
ohne Grund; er hängt mit diefer Verſchiedenartigkeit der Kräfte
zufammen, denen in beiven Fällen der weſentlichſte Antheil an
der Verwirklichung der veränderligen Entwidlung zufällt. Auch
der Körper der Planeten wird durch jene Anziehungen gebildet
und zufammengehalten, die nur in größter Nähe wirkſam, im
merklichen Entfernungen verjchwinden, und unaufhörliche chemiſche
Beränderungen geftalten wenigftens feine Oberfläche unabläffig
um; aber dieſe inneren Schwankungen haben Teine Bedeutung
für die Anziehung, duch die er als Ganzes in dem Kreiſe der
Himmelskörper ferne Stelle bat. Auch in dem lebendigen Körper
umgefehrt wirft die Schwere überall, fo viel ihr nach allgemeinen
Gefegen möglich ift; aber wie wichtig und bedeutſam biefe Wir-
tungen für einzelne Fälle fein mögen, ein burchgreifender Einfluß
zur Geftaltung der Lebenserſcheinungen ift ihnen nicht eingeräumt.
Mit feiner Anziehung in die Ferne, welde ungemeffene Welt-
räume noch wirkfam durchdringt, vermag das Planetenſyſtem jene
für den Anblid fo Iofe und doch in der That fo feite Verbindung
von Theilen zu bewirken, deren Größe gegen die Ausdehnung
der Entfernung zwifchen ihnen verſchwindet; der lebendige Körper
dagegen gewinnt Durch jene Kräfte, die fchon in geringer Entfer-
nung von ihrem Ausgangspunkt nichts mehr leiſten, aber in un—
mittelbarer Berührung der wechſelwirkenden Theile große Wider⸗
ftände bezwingen, jenes feſte zuſammenhängende Geflige, durch
das er überall als eine gefchloffene Einheit fih von feiner Um—
gebung abhebt. Und diefer Unterſchied befteht nicht allein für
den Anblid. Sich felbft überlaffen, mag der Zuſammenhang
eines Sternenſyſtems feft fein; aber wie er nur bergeftellt wird
durch Kräfte, deren Wirkfamkeit in die Berne dringt, fo ift er
auch ftörbar durch folde, Die aus der Ferne kommen, und er
93
wird durch entiprehende Schwankungen den Einfluß der leiſeſten
Beränderungen in der Anoronung der ibm äußeren Welt ver-
rathen, gegen die er auf feine wirkſame Weife ſich abichließen
kann. Dem lebendigen Körper Dagegen, der zu beftändiger Wedhfel-
wirkung mit der äußern Welt beftimmt ift, dient dieſe eigen-
thümliche Natur feiner Kräfte zur Schugwehr; die geringe Ent-
fernung, in melder die chemiſche Verwandtſchaft und die Cohäſion
ihre Wirkfamtleit verlieren, umgibt ihn mit einer Bone von
Gleichgiltigkeit, während dieſelben Kräfte feine eignen fi be-
rüßtenden Theile mächtig genug zuſammenhalten, um felbft ber
wirklich andringenden Gewalt Widerſtand zu leiſten. Während
baher das lockere Gefüge eines Sternenſyſtems mit einer be-
wundernswürdigen Empfindlichkeit die Veränderungen des übrigen
Weltalls in feinen eignen Veränderungen abfpiegeln würde,
kehrt der Tebendige Körper, hierin won berberer Natur, aud nad
großen Schwanfungen in die frühere Lage feiner Theile zurüd,
und bietet und dadurch den Anblid einer fi gleichbleibenden
und Doch nicht ftarren fondern beweglichen Geftalt. |
Noch einen andern Vortheil möchten wir bier erwähnen,
den das Lebendige aus demfelben Umſtande zieht, und der im
erften Augenblide vielleicht als ein Nachtheil ericheinen mag. Man
bat fi) fo fehr daran gewöhnt, einen der wefentlichften und wun⸗
derbarſten Vorzüge des Lebens in der überaus feinen wechſelſeitigen
Berknüpfung der Theile zu ſehen, daß es auffallen kann, wenn
wir gerade den Mangel einer folden in gewiſſem Sinne als
feine wirkliche Eigenſchaft hervorheben. Dennoch findet ſich dieſer
Mangel und man kann fidh leicht Überzeugen, daß in ihm, der
nur für beftimmte Zwecke durch eigenthlimliche Veranftaltungen
wieder auögeglichen ift, eine größere Sicherheit für ben Fortbeſtand
des Lebens, als in jenem nicht vorhandenen Uebermaß durchdrin⸗
gender Verknüpfung Tiegt. Wären alle Theile des Tebendigen
Körpers unmittelbar jo durch Wechlelmirkungen verbunden, daß
jede Feine Veränderung des einen ihren Widerhall über die Ge-
fammtheit der übrigen verbreiten müßte, fo würde hierin eine
94
veihe Quelle unendliger Störungen für das Ganze liegen, Die
eben fo umfängliche Beranftaltungen zu ihrer Ausgleichung er=
forderten. Denn nicht überall würde es wohl möglich fein, die
Störung fih an ihren eigenen Erfolgen brechen zu laffen, und ge=
ſchähe felbft dies, jo würde Doch die Unruhe überhaupt, die dadurch
in das Ganze käme, ein Uebel fein, fobald fie nicht nebenher
zur Erreihung anderer Zwecke nugbar gemacht würde. In dem
Syſtem der Himmelskörper fehen wir den Erfolg diefer durchdrin⸗
genden Wechfelwirfung, indem fein einzelner Planet feine Bahn
fo beſchreiben kann, wie er fie ohne die Störungen durch die An-
ziehung ber übrigen befchreiben würde. Der lebendige Körper ftellt
durch den befonderen Bau feines Nervenſyſtems den engeren Zu⸗
fammenhang da und in dem Sinne in größter Feinheit her, mo
und wie er zwedmäßig für die Aufgaben des Lebens ift; an fich
aber hängt bei dem geringen Wirkungskreiſe der Kräfte, die hier in
vorderfter Reihe thätig find, jeder einzelne Theil nur mit wenigen
feiner nädften Nachbarn jo unmittelbar zuſammen, daß jeder
Zuſtand des einen mit bemerflicer Wirkung fi auf den andern
verbreiten müßte. Daraus entfteht für einzelne Gruppen von
Theilen die Freiheit, ihre Geftalt ihr Gewebe und ihre Miſchung
mit einer gewiflen beharrlichen Selbftändigfeit auszubilden und
ungeftört durch worlibergehende Schwankungen des Uebrigen Ber:
richtungen zu vollziehen, auf deren gleichmäßigen Verlauf der
Zuſammenhang des Ganzen rechnet.
Kaum ift ed nun nöthig, die eigenthiimlichen Erfolge be-
ſonders hervorzuheben, welde für das Leben aus der Benngung
der chemiſchen Borgänge entpringen. Die himmliſchen Bewegungen
geihehen an gleichbleibenden Maſſen; die maſchinenbauende Technik
verwendet zwar chemifche Kräfte zur Herftellung des bewegenden
Antriebes, aber die Form ber Leiftung gründet fie ebenfall8 auf
einen ftarren Bau unveränderlicher Theile; das Lebendige allein
zeigt ung eine Entwidlung, deren Träger niht nur an Maſſe
wachfen, fonbern während ihrer Thätigfeit eine voraus beftimmte
Yenderung ihrer Natur erfahren. In viel weſentlicherem Sinne als
95
dort ift daher hier jeder zukünftige Erfolg Durch den unmittelbar
vorhergehenden Zuftand bedingt. Auch in der Maſchine gelingt
die Yeiftung des fpäteren Augenblids nur dur das Verdienſt
des früheren, ber bie ‘Theile des Getriebes in die erforderliche
Stellung gerüdt hat; aber e8 bleiben doch in dem einen wie in
dem andern diefelben wirkſamen Maſſen und dieſelben Kräfte;
bie Leiftung des Ganzen ift deshalb auf eine vielleicht mannig-
faltig zufammengejegte, aber Doch immer wiederkehrende und fich
nicht fteigernde Reihe von Erfolgen beſchränkt. In dem Ieben-
digen Körper fett jede gefchehene chemiſche Aenderung Kräfte in
Wirkſamkeit, die früher nicht vorhanden waren, und bringt an=
dere zur Ruhe; fo wird in jedem Augenblide für die fpätere
Entwidlung eine neue Grundlage geichaffen, die bald eine Fort-
Dauer ber früheren Zuftände, bald eine Entfaltung in neue,
bald beides mit einander verbindend, überhaupt die Ausbrei-
tung in ein viel veichhaltigered Epiel der Geftaltung und der
Peiftung geftattet.
Man muß diefe ſtufenweis erfolgende Wiedergeburt der
Grundlagen felbft im Auge behalten, wenn man die Entftehung
des Organismus aus feinem Keime verftehen will, obne den be=
ftändigen Eingriff einer oronenden Macht nöthig zu finden. Die
Erfahrung macht es uns freilich bis zu faft völliger Gemwißheit
wahrſcheinlich, daß in dem gegenwärtigen Naturlauf fein Orga⸗
nismus fi mehr unmittelbar aus einer Verbindung elementarer
Stoffe erzeugt; nur in der Fortpflanzung durch Gleichartiges
läuft noch die Tradition des Lebens fort und erhält beitändig
in dem Samen und dem Ei die beftinnnt angeordnete Summe
von Theilen beifammen, aus deren Anregung durch äußere Reize
die Reihe der Lebenserfheinungen ſich wieder entwideln Tann.
Selbft dieſe Ueberlieferung jedoch erſcheint und Häufig zu gering,
diefer Anfangöpunft zu einfah, als daß wir in ihn allein Die
Bedingungen der Tünftigen Wiederentwidlung niedergelegt denken
Könnten. Wir vergeffen dann, daß es in der That ein langer
Bildungsgang ift, der durch unzählige Vermittlungen von ber
96
Unfcheinbarfeit des Keimes bis zu der Vollendung der Blüthe
und Frucht führt, und daß auf jeder Stufe dieſes Weges Mög-
lichfeiten entftehen, die auf der vorhergehenden noch fehlten. Wir
find meit entfernt davon, eine Gefchichte dieſer Umwandlungen
und der Geſetze fchreiben zu können, nad denen fie wirklich in
beftimmter Reihe in der Entwidlung des Lebendigen auf ein-
ander folgen; aber wir find nicht ganz außer Stand, im All-
gemeinen bie Hilfsmittel zu fchäßen, welche die Natur bier auf-
geboten haben Tann, und deren Bermittlung die große Kluft
zwilchen dem Anfangs- und dem Endpunfte der Bildung durch
Theilung in viele Zwiſchenſtufen verringert.
Selbft wenn und nichts am Anfange vorläge, als eine
Flüffigkeit von genau beftimmter Mifhung ihrer Beftandtheile,
ohne daß noch irgend ein fefter Kern als Grundlage des werdenden
Organismus fi auszeichnete, fo würden doch Die erften chemifchen
Einwirfungen der Umgebung binreihen Können, dieſen Kern zu
erzeugen. Durch Gerinnung würde ein Beftandtbeil fih aus-
ſcheiden, und ba der Natur jedes Stoffes nicht nur eine beftimmte
Form entfpricht, die er fich ſelbſt überlaſſen annimmt, da vielmehr
unter Umftänden auch die Größe der Geftalt beftimmt fein Tann,
die er durch feine Kräfte zufammenhaltend abichließen kann, fo
würde Diefe feſtwerdende Subftanz in eine beftimmte Anzahl von
Theilen zerfallen, die nun die gegenfeitige Stellung einnehmen, in
welcher fie mit allen vorhandenen Bedingungen im Gleichgewicht
find. Mag indeffen hierdurch oder durch den ſchon beftehenden
Bau des Samens der erfte fefte Kern der weiteren Bildung
gegeben fein, wir bedürfen nichts als eine geringe Ungleichartigfeit
feiner Anordnung nad) verfchiedenen Richtungen, um zu begreifen,
wie die Entwidlung des nähften Augenblids, indem fie gleiche
äußere Reize auf dieſe abweichend gebauten Theile einwirken
läßt, ihre Ungleichartigkeit fteigert und jo das Hervortreten
verjhtedener und weit auseinander gehender Formen aus dem
ſcheinbar gleihartigen Urſprunge vorbereitet. Jede gefchehene che⸗
miſche Umwandlung wird zunächſt die räumliche Anordnung nach
97
fi ziehen, die dem veränderten Stoffe entſpricht; aber jede fo
berbeigeführte neue Geftaltung wird die fpätere Einwirkung der
Reize mitbedingen, indem fie diefelben von jet unzugänglich ge=
mordenen Theilen abhält und auf andere zugänglich gebliebene
zufemmendrängt und jo wiederum der fpäteren Entwidlung näher
beftinunte Wege vorzeichnet.
Wie jedoch jede chemiſche Miſchung eine beftimmte Geftalt,
jo führt auch die gewonnene Geftalt neue Gewohnheiten des
hemifchen Wirken herbei. In den Werkftätten unferer Kunft
vermeiden wir es, das Gefäß an den chemiichen Wechſelwirkungen
feines Inhalts tbeilnehmen zu laſſen; in dem lebendigen Körper
bilden die Gewebe nicht nur den theilnahmlojen Schauplag, der
andere Stoffe zu gegenjeitiger Einwirkung zufammendrängt, jondern
üben durch ihre Dichtigfeit, ihre Form, und durd die anziehenden
oder abftoßenden Kräfte, welde fie auf ihren Inhalt äußern, auf
den Gang der Stoffumwandlung einen mitbeftimmenden Einfluß
aus. Durch diefe flufenmweis fortichreitende Ausbildung des Ge-
fäßes, in dem fie enthalten find, werden die ernährenden Flüffig-
feiten zur Erzeugung feinerer Miſchungen ausgearbeitet und den
äußeren Lebensreizen ein immer beftimmter angeorbneter Zutritt
verftattet. Keins diefer zuſammenwirkenden Elemente bürfen wir
gering ſchätzen, und wie vollkommen wir aud) überzeugt find, daß
feiner von allen Diefen Vorgängen der lebendigen Entmwidlung fi
den allgemeinen Gejegen des phyſiſchen und chemiſchen Wirkens ent-
ziehen könne, fo wenig können wir hoffen, mit dem bisher befannten
Theile dieſer Gelege die unüberſehbare Verwicklung zu erflären,
mit welcher die beftänbigen Veränderungen der Form, ber
Miſchung und des Zutritts der äußeren Reize bier in einander
greifen. Am wenigiten bürfen wir hoffen, daß es der menjd-
lichen Kunſt je gelingen werde, einen irgend wie weſentlichen Be-
ftandtheil eines lebendigen Körpers nachahmend zu erzeugen. ‘Denn
fo gewiß jedes Tebendige Erzeugniß durch feine andern Kräfte
entftehen fonnte, als durch Die des allgemeinen Naturlaufes, fo
gehörte doch zu feiner Entftehung ebenfo ns Die ganz be⸗
j Lege I. 4. Aufl.
98
ftimmte Anordnung dieſer Kräfte und ihrer Träger, die allein
erft dem Tünftigen Erfolg feine Yorm vorzeihnen konnte. Und
dieſe Anoronung fehen wir nie fich von felbft wiebererzeugen; ihre
Bewahrung hat die Natur der beftändigen Ueberlieferung durch
Fortpflanzung vorbehalten. Jede Hoffnung, künftlih das Leben
von Neuem zu fhaffen, mwirbe Die anmaßende Zuverſicht ent-
halten, daß wir mit wenigeren und unzureihenden Mitteln und
auf Fürzerem Wege das hervorzubringen vermöchten, was die Natur
jelbft nur durch einen langen Entwidlungslauf und nur durch
das Einſetzen bereit8 organiſch georbneter Kräfte zu verwirklichen
vermag.
Zu verfchiedenen Zeiten nun hört die Bildungsfähigfeit der
verſchiedenen Theile eines fo ſich entwickelnden Syſtems auf; einige
haben die Reihe der Umwandlungen durchlaufen, zu denen fie unter
den vorhandenen Umftänden fähig waren, während andere nod in
der Mitte ihres Bildungslaufes find. So zieht der verholzende
Stengel der Pflanze fih allmählih von der Theilnahme an ber
weiteren Entwidlung zurüd, aber er fährt fort mit jeinen phufiichen
Eigenſchaften der Feftigfeit und Starrheit dem Ganzen zu dienen,
indem er ben beweglich gebliebenen Theilen den Schauplag ihrer
Thätigfeit vorzeichnet. Auf die mannigfaltigfte Weile ſchafft fi
jo Die Entwidlung in ihrem Fortſchritt neue Unterlagen, von denen
aus fie weiter wirkt, aber fie erzeugt ſich dadurch auch zugleich
Schranken, welde die Möglichkeit des Wirkens auf beftimmte
Formen zurüdbringen, und jo entweder die Feſthaltung eines
durchgehenden Bildungstypus oder zugleich den endlichen Abſchluß
des Lebens und die völlige Erſchöpfung aller Gelegenheiten des
Weiterwirkens herbeiführen. Alle dieſe Züge, melde fiir ung das
Bild einer in ſich abgefchloffenen Entwidlung zufammenfegen, wird
man an die Benugung der chemiſchen Berwandtichaften und an die
Anwendung jener molecularen nur in der Berührung wirkenden
Kräfte geknüpft finden.
99
J
Die Pflanze, das deutlichſte Beiſpiel dieſer Entwicklung, hat
feine andere Aufgabe ihres Lebens, als die Ausbilbung ihrer eig-
nen Geftalt. Böte ihr die Außenwelt Die Stoffe fertig dar, welche
fie zu dieſem Bau benugen könnte, fo würde fie nur aufnehmen
ſich verhalten, aber e8 läge feine Nothwendigfeit vor, um deren
willen fte vor ihrer gänzlichen Zeritörung der Außenwelt Stoffe
zurüdgeben müßte; die einmal aufgenommenen würden ihre bleiben-
ben Beftanbtheile fein. Aber fie findet dies fertige Material nicht,
ſondern ift genöthigt, e8 aus den Elementen zu erzeugen. Bei
diefer Arbeit kann ein Theil des verwendeten Stoffes als un-
benutzbares Nebenproduct abfallen und der Außenwelt zurüdge-
geben werben; andere Stoffe, wie Die großen Mengen bes auf-
genommenen Waflers, durchkreiſen den Pflanzenlörper, nit um
ibm als Beftandtheile anzugehören, fondern um als Wſungsmittel
bie Beweglichkeit der wirkſameren Theile zu fihern; auch fie gehen
nach Leiftung ihres Dienftes in die Außenwelt zurüd; mandes
endlih, was für gewiſſe Perioden des Wadstbums von Werth
wer, löſt fih nah Erfüllung feiner Aufgabe vertrodnend oder
verwelfend vom Ganzen ab. ber keinen Grund haben wir an⸗
zunehmen, daß diejenigen Stoffe, welde einmal in den feften
Bau der Pflanze eingegangen find, einer wieberholten Erneuerung
unterliegen. Der thieriſche Körper verhält ſich bekanntlich in
diefer Beziehung anders, und obgleich nicht alle Zweifel über die
Ausdehnung feines Stoffwechjel$ befeitigt find, fo ift doch gewiß,
daß ein großer Theil feiner Maſſe in beftändiger Zerſetzung
und Wiedererneuerung durch friſchen Anſatz begriffen iſt. Dieſe
Thatſache, deren Umfang wir ſpäter in's Auge faſſen werden,
wollen wir zunächſt in ihrer Bedeutung für denjenigen Zug des
thieriſchen Lebens überlegen, mit dem ſie unſtreitig in nächſtem
Zuſammenhang ſteht, nämlich mit den Leiſtungen, die der thie—
riſche Körper, ohne ein beſtimmtes Geſetz ihrer Wiederkehr und
Reihenfolge, noch außer der Ausbildung und Erhaltung ſeiner
eignen Geſtalt ausführt.
Keiner der unzähligen Eindrücke, mit denen die Außenwelt
7 x
102
Durch dieſes Verhalten vermeidet die Natur die Nothmwendigfeit,
jeder einzelnen Störung eine ihrer Art und ihrer Größe ange-
mefiene heilende Rückwirkung entgegenzufegen, und fie entgeht
dadurch zahlreichen Nachtheilen, Die von einem anderen Verfahren
faum abtrennbar feinen. Sie Könnte ohnehin Rüchvirkungen
folder Art nur entfalten, wenn die Störung felber mit mechani⸗
ſcher Nothwendigkeit diefelben auslöfte und fo an einem Theile
ihrer eignen Folgen, der ſich gegen fie wendete, fi bräce. Aber
eine ſolche Thätigfeit, die erft im Augenblide des Bedarfs hervor⸗
bräde, würde in fo vegellofer Wiederfehr eintreten, wie die Stö-
rung, von ber fie erregt wird; fie felbft würde daher eine neue
Erjhütterung fein, die nicht ohne beſonders günſtige Verhältnifie
unfhädlih an dem Zufammenhange des Ganzen vorlberginge.
Es würde der gleiche Fall fein, wenn die Beftandtheile des Kör⸗
pers an ſich unveränderlih wären und nur duch die Eindrüde
der äußern Reize und deren Nachwirkungen erſchüttert ſich zer-
fegten, dann plöglic einen Wiedererfag verlangend, während bie
Zwiſchenzeit ohne einen folden verlief. Iſt Dagegen das Ganze
der wirffamen Theile ein beftändig in Ab- und Zufluß bemegtes,
fo nimmt diefer Strom ftetig die Nefte der Zerftörung mit fid
hinweg und beftändig die Grundlagen des Weiterwirkens erneu-
ernd bewahrt er das Ganze des Lebens vor den plöglichen und
ſtoßweis erfolgenden Erjhütterungen, die jede nur im Augenblid
des Bedürfniſſes erwachende Abwehr mit fich führen würde. Und
auch die Nothwendigkeit fällt hinweg, für jede Störung das ihrer
Art und Größe entfprechende Heilmittel zu erzeugen; anftatt des
offenen Kampfes gegen die vielfach verjchiedenen Folgen der Ein-
drüde befolgt das Neben die Lift des beftändigen Ausmeichens,
indem es, von Anfang an mit wechlelnden Mitteln wirkend, ver:
loren gibt, was durch äußere Angriffe erfchüttert nur fchnelfer
ber Zerftörung entgegengeht, für Die e8 ohnehin beftimmt war.
Allerdings finden wir nun in dem lebendigen Körper doch auch
ausdrückliche VBeranftaltungen, um auf gewiſſe Eindrücke Rückwir⸗
fungen in einzelnen Augenbliden folgen zu Iafien, die ſich auf
103
Dauer Form und Größe jener Anreize berechnet zeigen; aber
jelhft die Wirkſamkeit diefer Mittel, deren wir noch fpäter zu ge:
benfen haben werben, findet ſich doch zulegt nur durch diefe be-
fändig fortgehende allgemeine Strömung des Stoffwechſels mög-
lid gemacht.
Jedoch diefe Strömung ganz allgemein zu nennen, haben
wir bei genauerer Meberlegung fein ermweisliches Recht, und man
übertreibt die Vergänglichkeit des thierifchen Körpers, wenn man
Perioden angeben zu Können glaubt, binnen deren er feinen gan-
zen Mafienbeftand durch Stoffwechſel umgetaufcht habe. Nicht
alle durch den organiſchen Chemismus erzeugten Stoffe find von
fo leicht zu ſtörender Aufammenjeßung, wie wir, durch den auf:
fallenden Anblid der Fäulniß einiger irregeleitet, häufig und vor-
ftellen; wir fennen die Dauerhaftigfeit des Holzes, der Knochen,
der Sehnen und Häute und machen von ihr den mannigfachſten
Gebrauch; wir kennen im Gegenfat dazu die oft raſch fortichrei-
tende PVerwitterung der Steine, beren Dauerbarkeit viel größer
ſchien. Ob diefe Beſtandtheile von fefter Zufammenjegung wäh—
rend des Lebens eine erhebliche Neubilbung erfahren und bedür⸗
fen, iſt nicht völlig entſchieden, und zweifelhaft felbft, ob manche
andere, die wir nad dem Tode ſchnell fich zerjegen ſehen, nicht
während des Lebens dennoch durch günſtigere Umftände, unter
benen fie fih bier befinden, Tänger erhalten werden. Unbekannt
ift endlich für viele die Form ihrer Erneuerung, und wir wiffen
nicht, ob einzelne vollftändige Formelemente, wie die Faſern ber
Nerven und Musleln, ald Ganzes erhalten und nur in ihren
Heinften Theilen ftet8 neu nachgebilvet werden, oder ob unter
Umftänden auch fie zerfallen und neue vollftändige Stellvertreter
für fie entfiehen. Am wenigften endlich vermögen wir fir bie
einzelnen Gebilde die Größe und Geſchwindigkeit der Abnutzung
und der Erneuerung zu beftimmen, die fie unter den gewöhnlichen
Umftänden des gefunden Lebens erfahren. Ungeachtet diefer Man-
gelhaftigfeit unferer Kenntniffe Einnen wir jedoch das Bild des
Stoffwechſels durch die gewiß richtige Annahme ergänzen, daß
104
der Zerfall und Umtauſch der Beftandtheile, falls er allgemein
ftattfindet,, jedenfall mit ehr verfchieener Geſchwindigkeit vor
fi geht, und dag in jedem Wugenblide ein bebeutender Stamm
von Beitandtheilen fih mit fefter oder nur langſam wechfelnder
Mafle in dauerhaften und feiten Berbindungsformen erhält und
beftändig einen gejeßgebenden Kern für die Neubildung der übri-
gen darbietet, die ihn mit größerer Zerfeglichkeit und in ſchnelle⸗
vem Wechſel beweglicher umkreiſen.
Der Zukunft bleibt es, zu enticheiden, ob in diefem Strome
ein völlig rubender Grund, und von welder Ausdehnung, fich
finden mag. Unſere gemöhnliche Borftellung betrachtet allerdings
bie Theile des Körpers wie die Steine eined Baues, die burd
ihre beftändigen Kräfte und ihre einmal gegebene Fügnng ihre
Leiftung ruhend vollziehen und der Bewegung nur bedürfen, um
die Störungen, die dem Ganzen droben, mit elaftifher Rückkehr
in ihre früheren Berhältniffe zu überwinden. Aber es ift wohl
möglich, daß der Stoffwechſel nicht nur als eine beftändige Her-
ftellung des alten Beſtandes dem Leben dient, fo daß er felbft
binmwegfallen Könnte, wenn es ein Mittel gäbe, ohne ihn die or
ganiiche Form zu erhalten, fo vielmehr, wie bie verbrennende
Kohle nicht dur das, was fie war, noch durch das, was fle
wird, jondern durch die Bewegung dieſes Werdens felbft, durch
bie Verbrennung, die Wärme erzeugt, welche den erften treiben-
den Grund für die Wirkungen der Mafchine gibt, jo Können die
Borgänge des beftändigen Bildens und Rückbildens felbft jene
bewegenden Anftöße erzeugen, deren das Leben zur Durchführung
jeiner Entwidlung bedarf. Aber wir find weit davon entfernt,
dieſem Gedanken eine meitere Folge geben zu Finnen. So ehr
find wir daran gemöhnt, bei den Borgängen ber Ernährung
und Abjonderung nur an Die Gewinnung oder Abftoßung einer
nützlichen oder ſchädlichen Stoffmenge zu denfen, daß die Frage
wenig no aufgeworfen worden ift, ob nicht hier ber Borgang
ſelbſt und die Aufregung der Kräfte, die durch ihn erzeugt wird,
zuweilen von größerem Werthe ift, als jener Umſatz der Stoffe
105
felbft, Die hie und da vielleicht nur das gleichgiltigere Material
bilden, in deſſen Berarbeitungen jene Erregungen entflehen und
erhalten werden können. Nur in einem Falle bat auch unfere
bisherige Wiffenfchaft dieſe Vorftellungsweife aufgenommen; ſie
bat die vorübergehende Aneignung einer großen Menge von
Stoffen durch den Organismus als Mittel zur Erzeugung ber
Wärme gedeutet, die in ihrer chemifchen Veränderung entfteht,
und buch deren Mittheilung an die Gewebe bes Körpers bie
weientliche Aufgabe jener aufgenommenen Mafjen erfüllt ift.
Nachdem wir jo den Sinn zu deuten unternommen haben,
ben diefe beſtändige Veränderlichkeit des Leibes für die allgemei-
nen Zwede des Lebens hat, möchten wir gern dies Bild durch
eine Schilderung der beftimmten chemiſchen Vorgänge ergänzen,
aus deren planmäßigem meinandergreifen der georbnete Stoff-
wechſel hervorgeht. Mit der fcharffinnigften Arbeitiamfeit bat
ber Unterfuhungsgeift der neueften Zeit fi) diefen Fragen zuge-
wenbet; aber die Verwicklung der Erfcheinungen und die Schmwierig-
feit ihrer Unterfuchung ift fo groß, daß aus ber Fülle werthvoller
einzelner Entdedungen, von denen unfere allgemeine Weberficht
ſchweigen muß, faum noch einige wenige umfaffendere Ergebniffe
bervorgetreten find, die nicht die Befürchtung ihrer wiederholten
Umgeftaltung durch den weiteren Fortſchritt der Unterfuhung
erwedten. |
So meit wir organifches Leben kennen, finden wir die ge=
ftaltbildenden Maſſen itberall aus mannigfachen chemiſchen Ver-
bindungen von Kohlenftoff, Waſſerſtoff, Sauerftoff und Stidftoff
zulammengefeßt. Keine diefer eigenthümlichen Verbindungen er-
zengt auf nachweisbare Weife fih von felbft, ohne daß ein orga-
nifcher Keim oder irgend ein Reſt in Zerjegung begriffener orga=
nifher Subftanz ben erften Kern darftellte, Durch deſſen aneignende
Kraft jene überall in der Atmofphäre vorhandenen Stoffe zu einem
106
nen anwachſenden Gebilde verdichtet wilrden. ‘Die Pflanze ver-
mag es, mit den Mitteln, welche ihre Organifation ihr barbietet,
Sauerftoff und Wafferftoff in dem Verhältniß ihrer Mengen, in
weldem fie Wafler bilden, mit verfchiedenen Mengen des Koblen-
ftoffe8 zu verbinden und dadurch eine Reihe von Stoffen, die
Kohlenhydrate, zu erzeugen, aus deren einem, der Cellulofe, fie
bie zarten Wandungen ihrer Zellen und das ganze Gerippe ihres
Baues zufammenfegt, während andere, wie Zucker und Stärke⸗
mehl, aufgelöft oder abgelagert in ihr als Mittel der Weiter-
bildung enthalten find. Die Unwandlungen diefer Stoffe und
das Wachsthum, dem fie dienen, ſcheint jedoch nur unter Der
Mitwirkung einer anderen Gruppe von chemiſchen Berbindungen
möglich zu fein, die zu den Beſtandtheilen jener noch Stidftoff
hinzufügen und wegen der Aehnlichleit ihres Verhaltens mit dem
thierifchen Eiweiß unter dem Namen der eimweißartigen Körper
oder des Proteins zufanmengefaßt werben. Sie, fo wie die fetten
Stoffe der Dele, kommen weit verbreitet im Pflanzenreich vor,
und durch die vegetabilifche Nahrung, auf welche mittelbar oder
unmittelbar alle thierifche Organifation beſchränkt ift, gehen fie
in den Thierlörper über, deſſen Iebendige Thätigfeiten umfähig
find, die einfahen Elemente, welche die äußere Natur darbietet,
zu organiſch benugbaren Verbindungen zu verdichten. So lber-
Viefert das Pflanzenreih, auch hierin eine vorarbeitende Vorſtufe
der Thierwelt, ber letzteren ſchon im Weſentlichen gebildet die
Beftanbtheile, deren feinere Ausarbeitung nad den Bedürfniffen
jever Gattung den eigenthümlichen Thätigfeiten der legtern über:
laſſen bleibt.
Aus dem Eiweiß und den eiweißartigen und öligen Be—
ftandtheilen des Dotters muß der ausfchlüpfende Vogel alle Ge-
webe erzeugt haben, die fein Körper bis dahin enthält; aus ber
Mil, die neben eimeißartigen und fettigen Stoffen noch durch
eine größere Menge von Zuder fi auszeichnet, muß das junge
Säugethier, lange Zeit einzig auf diefe Nahrungsquelle befchränft,
die mannigfachen Gebilde hervorbringen können, welche der Plan
107
feiner Gattung verlangt; aus dem Blute enblih, in weldem
diefelben Stoffe wiederfehren, muß der beftändige Wiedererſatz aller
buch den Verbrauch zerftörten Gemebtheile beftritten werben
innen. Unzweifelhaft müfjen deshalb die eiweißartigen Stoffe
als die Grundlage aller jener ftidftoffhaltigen Maſſen angefehen
werden, Die wir, in den quantitativen Berhältnifien ihrer Yu-
fammenfegung ziemlih einander ähnlih, in dem Fleiſche dem
Zellgewebe dem Knorpel den Haaren Federn umb Hörnern
wiederfinden, auf das Mannigfadhfte nach Anjehen Härte Dich:
tigfeit und Dehnbarfeit von einander verſchieden. Aber vergeblich
würde e8 fein, bei dem gegenwärtigen Stande der Unterſuchung
die chemiſchen Vorgänge verfolgen zu wollen, durch weldye jenes
gemeinfame Bildungsmaterial in jede dieſer eigenthümlichen
Umbilvungen übergeht. Am meiften unverändert erhalten den
urfprüngliden Charakter des Eiweißes die Theile, Die Den
Zwecken des Organismus am Vebhafteften durch eigne Thätigfeit
dienen, das Mark der Nerven und die Subftanz des Gehirns; .
den Faferftoff der Muskeln finden wir der Zuſammenſetzung
nad ähnlich, aber feine Beitimmung zu Tebendiger Berfürzungs-
fähigfeit fcheint eine andere Anordnung der kleinſten Theilchen
oder eine für und noch unangebbare Veränderung der Miſchung
bedingt zu haben; eine weitere Ummanblung bieten die Gewebe,
bie durch anhaltendes Kochen in Leim übergehend, zur Herftellung
der Tnorpeligen und häutigen Grundlagen Zwiſchenwandungen
und Bindemittel verwandt find, welche die lebendig wirffamen
Theile ftügen umſchließen und verbinden; als die legten und
entfernteften Glieder dieſer Stoffreibe erfcheinen die fefteren trod-
neren horn-und federartigen Gebilde, die namentlich in den äußeren
Bededungen in den mannigfaltigiten Formverſchiedenheiten ſich
entwideln. feines der Kohlenhydrate, welche die vegetabiliſche
Nahrung dem Thierlörper zuführt, wird in den höheren Gattungen
bes Thierreih® mit zur Bildung der Gewebe verwandt; ihre
Aufgabe mag neben der Wärmeerzeugung, die ſie durch ihre lang⸗
fame Verbrennung mit Hilfe des eingeathmeten Sauerftoffes be-
108.
dingen, in manchen beibelfenden Verrichtungen beitehen, mit denen
fie in die chemiſchen Umwandlungen ber übrigen Stoffe eingreifen.
Größer fcheint die Bedeutung der Fette, die nicht nur durch ihre
phyſiſchen Eigenſchaften, Wärme zufammenhaltend und Reibung
vermindernd, nütlih, fondern als weſentliche lieder zu ber
hemifhen Berbindung einiger Gebilde und zur Wechſelwirkung
anderer nöthig find. Manche andere unorganiſche Stoffe, Me—
tolle und Salze der Alkalien und Erben verwendet der Organis-
mus in Gemeinfhaft mit ben eiweißartigen Körpern zur Her-
ftellung befonberer phyſiſcher Eigenfchaften feiner Gewebe; andere
ſcheinen ihn nur zu durchlreifen, um auf den Verlauf des Stoff-
wechſels begünftigende Einflüffe verſchiedener Art auszuüben.
Sp wenig wir die fortichreitende Bildung der Körperbeftand-
theile Iennen, fo unflar ift die rückwärtsgehende Berwandlung,
durch welche fie allmählich zur Ausſcheidung vorbereitet merben.
Ein fehr großer Theil erlangt frühzeitig ein ſehr feſtes Gleich—
gewicht der innern Zujammenfegung, und diefe Gebilde werden
vertrodmend in größeren Maflen und ohne Zerfegung ihrer Form
von dem Körper abgeftoßen, die Haare die Nägel die beftändig
abichilfernde Bedeckung der Oberhaut. Andere erleiden durch die
Thätigleit eigenthümlicher Organe eine noch wenig bekannte
Umwandlung, nad welder fie als Körper von noch verwickelter
Zufammenfegung, wie Schleim und Galle und die organifchen
Beitandtbeile des Harnes, theils für ſich theils aufgelöft in
wäflerigen Mitteln den Körper verlaffen; ein anderer jehr be-
trächtlicher Reft diefer im Einzelnen unbekannten Zerfegung ift die
Koblenfäure, die gasförmig mit Wafferdampf verbunden, durch
die Ausathmung entfernt wird. Unter allen einzelnen Stoffen,
die den Körper durchkreiſen, fällt vielleicht dem Sauerftoff am
meiften die Aufgabe zu, den Verband der Elemente in den orga-
niſchen Beftandtheilen durch feine überwiegende Verwandtſchaft
allmählich zu lockern und die urfprümglich mannigfache Zuſammen⸗
jegung derfelben nah und nad auf einfachere dem Unorganifchen
äbnlichere Formen zurüdzubringen, in melden die zerfallenden
Sn
109
Stoffe, [licher geworden, die Grenzen des Körpers zulekt ver⸗
laſſen. Erſchien früheren Seiten der Sauerftoff als der eigent-
liche Erreger und Bringer des Lebens, jo werden wir jet, ohne
zu leugnen, daß fein mächtiges Eingreifen auch als eine erzeugende
Kraft Bedingungen ber Lebensthätigkeiten bertellen kann, wenig⸗
ſtens einen andern und ebenfo bebeutfamen Theil feiner Leiftungen
in der langſam zerftörenden Macht finden, mit welcher er bie
Hindernifje des Lebens hinwegräumt, indem er die unbenugbar
gewordenen Maffen durch völligere Zerfegung aus der Mitte der
noch tbätigen entfernt.
Eine eigenthümliche Wichtigfeit beſitzt endlich für die Ge-
ſammtheit der Xebensverrichtungen das Wafler, das wir in außer-
ordentlichen Mengen durch die Pflanzen und den thierifchen Körper
binburchkreifen fehen. Als Loſungsmittel bedingt e8 die größte
Anzahl der chemiſchen Wechfelmirkungen; auf feiner Flüſſigkeit
berubt alle Möglichleit des Kreislaufes und der ununterbrodenen
Bertheilung des Ernährungsmaterials, auf feiner Fähigkeit, Wärme
aufzunehmen zu leiten und verbampfend zu binden, das Gleid-
gewicht der Temperatur, befjen der lebendige Körper zu dem
Fortgang feiner Verrichtungen bedarf. Und nicht minder weſent⸗
ih gebt es in die Miſchung der organiſchen Beftandtheile ein;
feine Gegenwart und die eigenthümliche Verwandtſchaft, die es zu
ihnen hegt, gibt den tbierifchen Geweben jenen Zuftand ber
Feuchtigkeit, durch ben fie fi biegſam elaftifch und dehnbar von
den unorganifchen Körpern und von der Brüchigkeit und Starr:
heit unterſcheiden, der ſie felber nach ihrer Austrodnung ver-
fallen. In Teinem unorganifchen Stoffe ift das Berhalten bes
Waſſers zu der feſten Subftanz ganz von diefer eigenthümlichen
Art, der wir bier begegnen, und die und wohl von Säften des
lebendigen Körpers aber nie von ſolchen des unlebendigen ſprechen
pt. Des Iryftallifirende Salz, nachdem es den größeren Theil
feines Löfungsmitteld der Berdunftung überlaffen und einen Tlei-
neren Mengentheil des Waſſers in feine hemifche Zufammenfegung
aufgenommen Hat, erſcheint num troden und feine Theilchen haben
110
eine fefte gegenfeitige Lagerung angenommen. Wohl Tann es
bugroffopiich einen Theil der umgebenden Luftfeuchtigfeit in fich
verdichten, aber fein Gefüge wirb durch dieſe Wafleraufnahme
nur zerftört, ohne daß bie zerfallenden Theile vorher jenen Zu-
ftand der zähen Weichheit und elaftiihen Dehnbarkeit durchliefen,
ben alle zu dem eigentlichen Bau des thieriſchen Körpers ver-
wenbeten Stoffe durch ihre eigenthümliche Verwandtſchaft gegen
das Waſſer erlangen. Hierauf beruhen ohne Zweifel die befon-
dern Geftaltungstriebe des Organiſchen, die jo von ber Starr⸗
beit der Kruftallifation unterfchieden find, Daß nur wenige orga-
niſche Stoffe überhaupt diefer Art der Formbildung fähig find,
und Diejenigen, welde fie in der That anzunehmen vermögen,
doch gerade durch ihre Annahme für die Bilbungsbebürfnifje des
lebendigen Körpers unbenußbar werben.
Wir Tennen feinen organiſchen bildungsfähigen Saft, Der
eine durchaus gleichartige Flüſſigkeit darftellte, und in welchem
nicht als erfte Anfänge der Geftaltung ſich mikroſtopiſch Heine punkt⸗
förmige Körnchen zeigten, deren Bildung und Zuſammenſetzung
fih nicht mehr weiter verfolgen läßt. Sie Können nur durd)
Gerinnung des flüffigen Stoffes entftanden fein und vergrößern
fih durch fortgefeßte Anlagerung entweder von gleichartigen nach⸗
gerinnenden Maffen, oder dadurch, Daß durch chemiſche Wahlver⸗
wandtſchaft das früher ausgeſchiedene Körnchen nun andere von
ibm verichiedene Stoffe aus der Zlüffigkeit um fich nieberichlägt.
Das Wachsthum dieſer entweder gleichartigen oder aus differenten
hemifhen Verbindungen beftehenden Kerne geht nie über ſehr
Heine mikroſtopiſche Dimenfionen hinaus, fondern noch innerhalb
iefer Grenzen tritt eine zweite Bildung auf, die der zarten
durchſichtigen ſtrueturloſen Haut, welche fi um ben Kern ber-
um erzengt und mit ihm nun die gejchloffene Geftalt einer Zelle
beroorbringt, deren Inneres um den Kern herum mit Flüſſigkeit
111
gefüllt if. Auf melde Weiſe jene zarte Membran durch bie
Kräfte des Kernes felbft gebildet wird, ift unflar; die Zelle ſelbſt
aber, in den Pflanzen häufig der Schauplatz Iebhafter Bewe-
gungen, in welden ihr Eörnigflüffiger Inhalt umbergeführt wird,
bietet zwar in den Thieren nicht fo auffallende Erfcheinungen,
bleibt aber ein lebendiger Mittelpunkt chemiſcher Wechfelwirkungen
mit der umgebenden Flüſſigkeit, deren aufgelöfte Beftandtheile
ihre Umgrenzungshaut durchdringen. Durch diefen Verkehr ändert
fih allmählich die Miſchung, die innere Anordnung und mit ihr
die Geftalt der Zelle, und fie geht aus ihrer anfänglicden Rundung
in mancherlei länger geftredte zipfelige verzweigte Formen über,
deren Entftehungsmeife noch eben jo dunkel als der Werth ift,
den fie für die Lebensverrichtungen befigen. Der Pflanzenkörper
bewahrt die urfprüngliche Zellenform in größerer Ausdehnung als
der thierifhe Organismus; in den Drganen, die meift von drüfigem
Bane der Ernährung und dem Stoffmechjel dienen, finden wir
die Zellenform der Heinften Gemebtheilden noch deutlich, und
eine beftändig fortgehende Zerfallung und Neuerzeugung derjelben
theils ficher, theils wahrſcheinlich; aber die eigenthümlichen Be—
dürfniſſe des Thierlebens führten eine neue Form mit ihren zahl-
reihen Anwendungen herbei, die der Safer, die nicht überall erft
fecundär aus einer Zellenreihe entfteht. Wir finden die Faſern
theil8 unverzweigt neben einander georbnet, wie in dem Stamme
der Nerven und in den Muskeln, und dann ihre Bündel durch
Zwifchengewebe und Hüllen verbunden, theils verwebt unter ein-
ander zu feften und haltbaren Geflechten, unter denen die Form
des Hohlgefäßes von Freisförmigem Durchſchnitt als befonders
wichtig hervortritt.
Aus Berfnüpfungen diefer verhältnigmäßig einfachen Gemweb-
formen geben endlich jene zufammengefegten Bildungen hervor,
die wir unter dem Namen der Organe zu begreifen pflegen und
welche die phyſikaliſchen und organifchen Leiftungen der einzelnen
Gewebe zu dem Ganzen einer beftimmten Yunction verknüpfen.
In den meiften Organen finden wir neben manderlei bäutigen
112
Umgrenzungen und Bindemitteln, welche den Zuſammenhang bes
Ganzen und bie relative Lage der einzelnen Beſtandtheile fidhern,
Gefäße und Nerven in freilich fehr verſchiedenen Mengenverbält-
niffen eine aus Zellen gebildete Grundmaſſe durchſetzend. Der
Name der Parenchyms, des Zwiſchengegoſſenen, den dieſe führt,
muß uns nit darüber täufchen, daß fie eigentlich das wirkſame
Element der ganzen Zuſammenſetzung ift, während alle Gefäßcanäle
und Nerven ihr nur das zu bearbeitende Material und die An-
triebe zur Arbeit zuführen oder das materielle Product ihrer
Leiftungen und die aus ihrer Thätigfeit bervorgehenden nugbaren
Erregungen nad dem übrigen Organismus hinmwegleiten.
Fünftes Kapitel. &
Der Bau des thierifhen Körpers.
Das Kuodjengeräft. — Die Mußleln und bie motoriſchen Nerven. — Das Gefäß
fofrem und ber Kreißlauf des Blutes. — Athmung Ib Emährung. — Aus
ſcheldungen.
Während wir die allgemeinen Geſichtspunkte auseinander⸗
feßten, welche wir für die Unterfuchung der Lebenserfcheinungen
feftgehalten wünſchen, durften wir vorausjegen, daß die natürliche
Bertrautheit mit diefen und mit dem Baue des Tebendigen Kör⸗
pers einftweilen den Mangel anfchaulicher Befchreibungen erjegen
werde. Auch gegenwärtig, indem wir verſuchen eine Schilderung
ber einzelnen Vorgänge und Leiftungen zu geben, mit denen bie
verihiedenen Werkzeuge des Lebens in einander greifen, iſt es
noch nicht unfere Abfiht, alle die Gebanfenreihen zu verfolgen,
...gu benen bie Betrachtung des menſchlichen Körpers, des eigent-
lichen Gegenſtandes unſerer Darſtellung, Veranlaſſung gibt. Weder
in der Schönheit ſeiner Geſtalt werden wir ihn beobachten, noch
in der eigenthümlichen Bedeutſamkeit ſeiner Formen, die einen
113
durch die Hälfte der Thierreihe feftgehaltenen Typus der Bildung
zu abichließender Vollkommenheit fteigern. Späteren Gelegen-
heiten dies Alles überlaffend, begnügen wir und in dem Zu—
ſammenhange unferer jegigen Weberlegungen mit der einfeitigen
Hervorhebung defien, wodurch der menſchliche Körper, hierin den
höheren Thiergattungen vollkommen ähnlich, den Kreislauf feiner
Lebensverrichtungen zu Stande bringt.
Ueberall unter bebedenden Schichten von größerer oder ges
tingerer Mächtigfeit verborgen, bildet das Knochengerüſt die feſte
Vorzeihnung der körperlichen Geftalt. Aus einer Grundlage von
durchſcheinendem elaftiihen Knorpel und der phosphorjauren
Kalferde, die in deſſen Gewebe auf eigenthümliche Weife einge:
lagert ift, hat die Natur diefe haltenden Stützen gebilvet, die in
dem feuchten Zuftande, in welchem fte fi während bes Lebens
befinden, die. Vortheile der Starrheit ohne zu große Spröpigfeit
darbieten. Auf der äußern Oberfläche geglättet und hart, im
Innern bald dichter, bald von zarterem und ſchwammigerem Ge:
füge, je nad dem Zwecke, der zu erreichen war, bildet dieſes
Knochengewebe in den verfchiedenften Formen bier ausgebehntere
Hohlröhren, dort flache Platten, oder mannigfach gemölbte und
verbogene Blätter, alle ſo paarweis vorhanden, daß eine Ebene,
weldhe ben Körper durch die vordere und die hintere Mittellinie
feiner Geftalt von oben nach unten durchſchneidet, auch das Knochen⸗
gerüft in zwei völlig ſymmetriſche Hälften zerlegt. Mit ihren
zadigen Rändern in einander greifend, verbinden fich muſchel⸗
förmig gebogene Knochen zu dem feften Schäbelgemwölbe, der ficheren
Umbüllung des Gehirns, unter einander unbemweglich vereinigt, oder
do nur unmerkliche Ausweichungen geftattend, die höchſtens bie
Gewalt heftiger Stöße einigermaßen zu mildern im Stande find.
An fie ſchließen fih nach vorn und unten in fefter Verwachſung
die Knochen des mittleren Geſichts, befien unterer Theil durch
die bewegliche Kinnlade vervollſtändigt wird. Theils offen gelaflene
Lüclen zwiſchen den Verbindungsrändern mehrerer Knochen theils
Kanäle von größerer oder geringerer Weite, das es ber ein-
Loge I. 4. Aufl.
114
zelnen durchbohrend, führen aus dem Innern des Schäbelgewölbes
auf feine äußere Oberfläche, Gefäßen und Nerven freien Durd-
gang verftattend. Durch eine größere Oeffnung an ihrer untern
Fläche, das große Hinterhauptsloch, hängt Die Höhlung des Schädels
mit dem langgeftredten breitern Kanale des Rückgrates zuſammen,
den ber dide Markſtrang des Rückenmarkes als unmittelbare
Fortfegung des Gehirns bis faft zu feinem untern Ende loſe
ausfüllt. Eine größere Anzahl einzelner Knochen, im Allgemeinen
von der Form eines kurzen Cylinders, find bier zu einer langen
Säule übereinandergeftellt und durch flache elaſtiſche Bandſcheiben,
die zwiſchen die Berührungsflächen je zweier eingefchaltet find, ſehr
feft und haltbar verbunden. Nur eine ſehr geringe Bewegung
iſt deshalb zwifchen zwei nächſtbenachbarten Gliedern diefer Kette
möglich, aber die beträchtliche Anzahl derfelben geftattet doch dem
Ganzen der Säule durch Summation diefer Heinen Beugungen
anjehnliche Kriimmungen in weiten und großen Bogen. So findet
ſich durch dieſen Aufbau des Ganzen aus einer Vielheit Fleinerer
Theile Sicherheit des Zuſammenhangs mit ausreichender Beweg⸗
lichkeit verbunden und zugleich der Nachtheil vermieden, den ſcharfe
Einfnidungen dieſes Knochengerüſtes für die zarten Gebilde haben
würden, zu beren ſchützender Aufnahme es beftimmt if. Ans
jedem dieſer gefchilderten Knochencylinder nämlich, oder aus jedem
einzelnen Wirbellörper der Rückgrates, gehen ſeitwärts zmei Indcherne
Bogen aus, die nach hinten ſich ringartig vereinigen, einen offenen
Kaum von runblic herzförmiger Geftalt zwiſchen ſich Yaffend.
Mit diefen Deffnungen eben fo tiber einander geftellt, wie bie
Wirbellörper, von denen fie entipringen, umgrenzen biefe einzelnen
Ringe mithin einen langgevehnten hohlen Kanal, ohne ihn jedoch
völlig einzufchließen. Denn von geringerer Höhe, als die Wirbel-
förper, berühren fi zwei nächſt auf einander folgende Ringe
nicht überall, fondern laſſen Zwiſchenräume frei und ftehen nur
an drei Punkten dur vorfpringende Gelenfflächen mit einander
in beweglicher aber buch fefte Gelenfbänder nur auf geringe
Bewegungen beichräntter Berbindung. Sp gewährt alfo die Wir-
UNIYER-
ÄdLIFO
belfäule das Bild eines langen Hohlraumes, deſſen
bidere Wand ungetheilt ift, während die blinneren Geiten= und
Rückwände durch zahlreiche Deffnungen unterbrochen find. In
dem Innern dieſes Raumes, den glatte Häute ausfleiden, iſt das
Rückenmark auf eine Weife fchwebend befeftigt, welche am meiften
die Nachtheile der häufigen Beugungen und Verſchiebungen feiner
Knochenwandungen verhütet.
Nach vorn fnüpft fih an die oberften Wirbel, die des Halſes,
eine weitere knöcherne Bildung an; die zwölf folgenden, Die ber
Bruft, tragen, den nach hinten gerichteten Wirbelbogen entiprechend,
nad) vorn die ungleich weiter gefpannten Knochenbogen der Rip-
pen, die mit ihrem bintern Ende beweglich in einigem Grade an
die Wirbelkörper befeftigt, fih nad vorn in dem platten Bruft-
bein vereinigen. Sie begrenzen jo feitlich den Bruftforb, defjen
obere Deffnung ungeſchloſſen nur durch die geringere Weite der
erften Rippenbogen verengt und deſſen untere weitere Ausmün-
dung. gleihfall8 nur durch das musculdfe Zwerchfell und nicht
durch Knochenbildung von der Höhle des Unterleibes getrennt
wird. Die fünf nächften Wirbel, die Lendenwirbel, tragen wie
die des Halfes Feine Rippen und beftunmen, von ftärferem und
mafjenhafterem Bau als alle übrigen, nur von Hinten die Höhe
der Unterleibshöhle, deren Seitenwandungen alle nur von Weich-
theilen gebildet werben. Ihre untere Wand dagegen, beftimmt
die Laft der Eingeweide zu ftüßen, ift aus dem großen Knochen⸗
ringe des Beckens gebaut, der, von den legten zu dem breiten
Kreuzbein verwachlenen Wirbeln des Rückens ausgehend, zu beiden
Seiten breite Flügel ausfhidt, die von oben und aufen nad
unten und innen abgeſchrägt, und vorn durch niedrigere Knochen
verbunden, einen ziemlich bedeutenden nur durch Weichtheile ver-
ſchloſſenen Raum zwiſchen fich Laffen.
An dieſes Körpergerüft, deffen Yorm bei der geringen Ver:
Ihiebbarfeit feiner Theile geringen Veränderungen unterworfen
ift, ſchließen ſich endlich die Knochenröhren der Gliedmaßen, Denen
die Art ihrer Einlenfung Lagen und Geftaltveränderungen im
8*
115
116
weitelten Spielraum verftattet. Das Schulterblatt, nur durch
Weichtheile am Rüden feitgehalten, nach vorm durch das Schlüffel-
bein mit dem Bruſtknochen in beweglicher Verbindung, trägt an
feiner obern äußeren Spige an einer flachen Gelenfgrube den
Kopf des Oberarmes, die äußere Oberfläche des Beckens nad)
unten in tiefer runder Gelenfhöhle den Kopf des Oberſchenkels.
Beiden Knochen erlaubt die Natur ihres Gelente8 Bewegungen
nach jeder Richtung, deren Weite nur durch Anftoß an die Um—
gebungen begrenzt wird; beide ftehen dagegen mit den Knochen
des Unterarmes und Unterfchenfeld in einer Verbindung, Die den
legteren in Bezug auf fie nur die Bewegung in einer einzigen
Ebene möglich macht. Aber dieſe VBerhältniffe ſowohl wie ben
ferneren Bau der Hände und Füße, dur deren feine Organi—
fation die menfchliche Geftalt fi von der ganzen Thierwelt unter-
ſcheidet, verſparen wir einer fpätern Betrachtung. Fügen wir
hinzu, daß zahlreiche jehnige Bänder alle bemeglih an einander
eingelentten Knochen feft verbinden, daß beſondere häutige Kapſeln
ihre einander zugewendeten Gelenflöpfe zu umgeben und die Ge-
Ventflächen durch eine fehleimige Abſonderung fchlüpfrig zu erhal-
ten pflegen, fo haben wir das Bild des ftarren Gerüſtes voll-
endet, deſſen einzelne Theile nun durch die Xebensthätigfeit der
Musteln bewegt werben.
Die zahlreihen Lüden und Zwiſchenräume, melde Die ein-
zelnen Knochen zwiſchen fich Tießen, werben durch das Fleiſch
der Muskeln größtentheils ausgefüllt oder verbedt, und das Skelet,
mit feinen Muskelſchichten befleivet, füllt daher faft vollſtändig
Die äußeren erſcheinenden Umriſſe der Körperforn aus. Aeußerſt
dünne und zarte Faſern, nur dem bemaffneten Auge fichtbar,
verbinden fi in gleihlaufender Richtung neben einander gereiht
zu den feinften Fäden, Die wieder in gleicher Weife zu bideren
Bündeln zufammengebrängt uns als die Beſtandtheile des Fleifches
117
befannt find. Zufammengehörige Maſſen dieſer Fleiſchfaſern, zu
einer und derjelben Berrichtung zufammenwirkend, von zahlreichen
baarfeinen Blutgefüßen durchzogen und von gleichartigen ober
ungleihartigen Umgebungen durch deutlichere Hüllen aus zelligem
Gewebe abgegrenzt, bilden die einzelnen Muskeln, die ohne
näheren Zuſammenhang umter einander nur durch ihre auf ge=
meinjame Zwecke berechnete Tage ſich zu größeren Gruppen und
Syſtemen ordnen.
Unter dem Einfluffe verſchiedener Reize find die Musfeln
fäbig, fih in der Längsrichtung ihrer Faſern zufammenzuziehen.
Indem jede der letztern durch eine noch wenig gefannte An-
näberung ihrer Hleinften Theilchen ſich um einen oft jehr beträcht-
lichen Theil ihrer Länge verkürzt, wird in entfprechendem Maße
der Querſchnitt des Muskels unter gleichzeitiger geringer Zunahme
feiner Dichtigleit verbreitert. Denfen wir uns ein Faſerbündel
mit feinen beiden Endpunften an zwei bewegliche Theile befeftigt,
fo wird es durch feine lebendige Yufammenziehung beide in ge=
rader Linie einander zu nähern fuchen, und es wird bie Kraft,
mit welcher e8 dieje Leiſtung ausführt, von der Zahl der wirl-
ſamen Fafern, alfo von der Dide des Bündels oder des Mus-
fel8, die Weite der Annäherung aber oder der Umfang ber er-
zeugten Bewegung von der Länge deſſelben abhängen. Wo
daher die Glieder, ohne jehr große Bogen zu beſchreiben, Traft-
volle Bewegungen ausführen oder Stellungen fefthalten follen, in
denen fie einer beträdhtlihen Laſt Wiverftand zu leiften haben,
finden wir am bäufigften Turze, aber aus vielen Fafern beftehende
dide Muskeln angewandt; wo dagegen ohne Entwidlung be-
dentender Kraft eine Bewegung duch größere Räume beabfichtigt
ift, find um fo längere und dann Häufig dünnere Musfeln
zwifchen den- beweglichen Punkten ausgeipannt. ‘Doc, leidet dieſe
einfache Berwendungsregel Ausnahmen. Denn nur wenige Mus-
keln breiten fi zwifchen Punkten aus, denen eine gegemfeitige
Annäherung in gerader Linie möglich ift; die meiften haften mit
ihren beiden Enden an Knochen, die unter einander durch ein
118 |
Selen? verbunden find und nur durch Drehung um diefes fich
auf einander zu bewegen Finnen. Der Musfel, über dies Ge-
len? hinlaufend und, fo mie e8 die Gefete des Hebels für die
größte zu erzielende Wirkung verlangen, möglichſt entfernt von
dem Drebpunft angefegt, würde daher bei feiner Verkürzung zwar
den Winkel, den beide Knochen am Gelenk zufammen bilden, be=
trächtlich verkleinern, aber zugleich die Deffnung veffelben durch
feine verdickte Maſſe ausfüllen. Die Geftalt der Glieder würde
fo eine Veränderung erleiden, die jchon an dem Arme, der davon
das einfachfte Beiſpiel böte, aber weit mehr nod in anderen
Fällen dem Zwede der eingetretenen Bewegung wenig förberlich
wäre. Theils diefe Rüdfiht auf die Vermeidung zweckwidriger
Seftaltveränderungen theil8 andere Umftände bringen in die Be .
nugung dev Musfelthätigleit eine große Mannigfaltigkeit; aber
die Verfolgung diefer Berhältniffe würde, ſelbſt wenn fie hier ındg=
ih wäre, für unfere Betrachtung keinen Gewinn bringen, den
wir nicht aus dem ſchon Erwähnten ziehen Fönnten.
Wir finden in dem eben befchriebenen Bau des beweglichen
Körpergerüftes und in der Beranftaltung feiner Bewegungen nit
nur bier und da Analogien mit den Verfahrungsweiien, deren
fih die Technif des Mafchinenbaues bedient; jondern das Ganze
diefer Leiftungen ift durchaus und in der größten WMannigfaltig-
feit und Feinheit ber Ausführung auf dieſelben Mittel und Ges
jege begründet, Die wir in unfern täglichen Berfuhen, Werkzeuge
zur Bewegung von Maſſen zu erfinden, nur in unvolllommenerer
Weife ausbeuten. Diefelben unbiegſamen Stangen, diejelbe Ber-
bindung und Befeftigung durch mannigfadhe Bänder, dieſelben
Einlentungen der beweglichen Theile vermittelt abgepaßter und
genau die möglichen Drehungsrichtungen beftimmender Gelenf-
flächen, diefelben Zugfeile nebft ven Rollen und Haftbändern, welche
die Richtung ihrer Wirkung nad) Bequemlichkeit und Bedürfniß
ändern: alle dieſe Hilfsmittel finden wir gleichmäßig in den Ma—
fhinen und in dem lebendigen Körper wieder: wir finden fie
nirgends in der übrigen Natur. Raumdurchdringende Kräfte
119
führen an unfihtbaren Fäden die Geſtirne in ihren Bahnen; ge-
genfeitiger Drud der Theilden, Spannung fich verflüchtigender
oder durch Auffaugung anichwellender Maſſen, chemiſche Anziehun-
gen endlich und die unmittelbaren Gegenwirkungen der Stoffe in
räumlicher Berührung find die Kräfte, die in den meteorifchen
Erfheinungen und in denen des Pflanzenlebend thätig find; dies
geglieberte und zufammenftimmende Syſtem mechaniſcher Vorrich⸗
tungen nach den Geſetzen des Hebels tritt erſt im thierifchen Le⸗
ben und gerade ba auf, wo es fih um die Erfüllung feiner un⸗
terſcheidenden Aufgabe, der Veränderung der Geftalt und des Or⸗
te8 handelt. So wenig ſcheut ſich aljo das Lebendige vor jenen
Mitteln, die wir mit einer gewifien Geringſchätzung als künſtliche
mechanifche Beranftaltungen zu bezeichnen pflegen, daß feine Glie-
derung zur Bewegung vielmehr als das vollfommenfte won der
Ratur felbft gegebene und nur hier, in dieſem ihren vollkommenſten
Erzeugniß gegebene Borbilb der Mafchine gelten darf. Nur darin
freilich geht da8 Leben über alles hinaus, was wir nachahmend
zu Stande bringen, daß die Triebfraft diefer ganzen Zufammen-
ſtellung von Mitteln in der eignen innern Verkürzungsfähigkeit
ber Muskeln liegt, während unfere Technik die Verkürzung der
Zugfeile nur durch Aufrollung derfelben um Walzen und Räder
erreicht, und zur Bewegung dieſer wieder neue Hilfsmittel be-
nugen muß.
Den Anftoß zur Verkürzung empfangen die Muskeln von
ben Nerven, die zwijchen ihnen und dem Gehirn und Rüdenmarf
ausgefpannt find. Die mikroſkropiſch feinen lang ausgefponnenen
aus zarter durchſichtiger Scheide und zähflüſſigem Mark beſtehenden
Nervenfafern finden fih auf diefem Wege von den Eentralorganen
zu den beweglichen Glievern in gemeinfamer Umbüllung zu größe-
ten Biindeln zufammengefaßt, ohne während dieſes Verlaufs ſich
zu tbeilen oder zufammenzufließen. Aus diefen dideren Stämmen
treten fo, wie ed die Bequemlichleit der Vertbeilung verlangt, in
ber Näbe der Musfeln Kleinere Bündel heraus, deren einzelne
Fäden zulegt zwiſchen die Fajern Des Musfels fi einjenten und
120
nun erft in feine Zweige auflöfen. In frifch getödteten Thieren
erregen Drud und Zerrung, chemiſche Einwirkung und der Einfluß
eleftrifher Ströme, auf irgend einen Punkt im Berlauf des Nerven
ausgeübt, Zudung in dem Muskel, zu dem er fi) verbreitet; ein
Beweis dafür, daß das Gleichgewicht der Hleinften Elemente ber
Nervenfubftanz verlegbar genug ift, um durch manderlei Eingriffe
geftört zu werden und feine Störungen von Punkt zu Punkt mit
Leichtigfeit fortzupflanzen. Feine Unterfuchungen ber neueren Zeit
haben glaublich gemacht, daß eine ſchnell obwohl nicht augenblicklich
den Nerven burchlaufende Veränderung feiner elektriſchen Zuftände
der Borgang ift, durch deflen Einwirkung auf die Muskeln bie
Verkürzung der contractilen Safer angeregt wird. Wichtig für bie
befonderen Unterfuchungen der Bhuftologie, wiirde body die Entſchei⸗
dung diefer Frage dem allgemeinen Bilde, weldhe8 wir hier ver-
fuchen, nichts Wefentliches hinzufügen; genug, daß irgend eine in
dem Nerven von Punkt zu Punkt fortfchreitende Aenderung jeiner
phufiichen Zuftände entweder vorübergehende Zudung oder dauernde
Spannung der von ihm abhängigen Muskeln veranlaft.
Die Reizbarleit der Nerven und der Muskeln erhält ſich
dauernd nur, fo lange beide in ihren natürlichen Lagenverhältnifſen
die Einwirkung des umſpülenden Blutes erfahren. Um dieſen
belebenven Reiz überallhin zu verbreiten, durchdringt alle Glieder
des Körpers das Gefäßſyſtem wie ein reich verzweigted Wurzel-
geflecht. Seine ſtarken Hauptiprofien, in den größeren Hohlräumen
des Leibes verlaufend, zerglievern ſich Durch vielfach wiederholte
Beräftelung in ein dichtverſchlungenes Netzwerk feinfter Röhrchen,
das die Heinften Elemente der Gewebe hier mehr dort weniger
gedrängt umfpinnt und an allen in beftändigem Strome die er-
nährende Blutflüſſigkeit vorüberführt. Auch dieſe Bewegung
haben ſchwärmeriſche Meinungen, in völligem Widerſpruch mit
leicht zu beobachtenden Thatſachen, einer eignen geheimnißvollen
121
Triebkraft des Flüffigen zugefchrieben, das im Dienfte des Le⸗
bens feine Wege auswählend ſuche; aud fie werben wir viel-
mehr, ganz ebenjo wie die Bewegung der Glieder, auf die feinfte
Benugung von Mitteln gegründet finden, die jenen Anfichten nur
als die gröbften und kümmerlichſten Behelfe menſchlicher Künſtelei
zu ericheinen pflegen.
Wäre an einem vingförmig gefäiloffenen mit Fluſſigleit er⸗
füllten Kanal von elaſtiſch ausdehnſamen Wänden eine einzelne
Stelle mit zufammenziehungsfähigen Faſern umgeben, jo würde
jede Contraction diefer Stelle, die wir fogleih mit dem Namen
des Herzens bezeichnen wollen, die lüfjigleit nach beiden Seiten
bindrängen, und zwei Wellen würden fi nad rechts und links
durch die augenblidlich ausgedehnten und ſich elaftilch wieder zu:
fammenziehenden Arme des Ringgefäßes verbreiten. Eine Klappe
in dem Innern des Gefäße auf der einen Seite des Herzens
angebradt, jo daß ein Strom von ber einen Seite fie fchließen,
bon der andern Seite fie öffnen müßte, wiirde anftatt der dop⸗
pelten Welle nur einen einfeitigen Fluß des Blutes durch die ganze
Krümmung des Gefäßes geftatten, und zu dem Herzen von ber
andern Seite zurüdtehrenn wiirde e8 die Klappe öffnen, um auf’s
Neue durch eine zweite Zufammenziehung in berfelben Richtung
wie vorher fortgebrängt zu werden. Nehmen wir an, daß das
ringförmige einfache Gefäß fich in einiger Entfernung vom Herzen
in mehrere Aeſte fpaltet, Die durch neue Verzweigung fi in eine
unabſehbare Vielheit feinfter Röhrchen theilen, daß ferner Diele
feinften Kanäle fi nun wieder zu größeren Stämmchen fammeln,
um zulegt in zwei Hauptitröme vereinigt wieder in das Herz ein-
zumünden, fo haben wir an jener einfachen Borftellung die Ber-
änderungen angebracht, die nöthig find, um aus ihr ein Bild des
ernährenden Gefäßſyſtems zu machen. In der That bildet das Herz
einen ſtarkwandigen musculdfen Schlaud, deſſen kräftige Zuſam⸗
menziehungen das in ihm enthaltene Blut in die große Körper:
ſchlagader, die Aorta, den einen noch ungetheilten Arın des großen
Gefäßringes, prefien. Eine häutige Klappe im Herzen, während
122
feiner Zuſammenziehung durch den Druck des auch gegen fie ge-
drängten Blutes geſchloſſen, verhindert den Austritt deſſelben nach
der entgegengejegten Seite der Bahn und zwingt es, einfeitig feinen
Weg durch jenen ftarlen Stamm in bie weiteren Berzweigumgen
des Arterienſyſtems zu nehmen. Immer findet dabei das Blut
die Adern, in die es getrieben wird, bereitö gefüllt; indem es eben
vom Herzen kommend, fih in den Anfang der Aorta einpreßt,
drängt e8 die Wand derfelben nach Breite und Länge auseinander
und findet in diefer größeren Weite des ausgedehnten Gefäßes für
einen Augenblid Raum. Aber die elaftiihe aus ftarfen und zähen
Nings- und Längsfafern gebildete Wand des Gefäßes ftrebt mit
großer Kraft fi auf ihr voriges Maß zurüdguziehen und preßt
dadurch den Ueberſchuß des fie ausdehnenden Blutes auf demſelben
Wege weiter fort, indem die nächſte Stelle des Gefäßes jest eine
ähnliche Erweiterung erfährt, um fogleich gegen dieſelbe ebenfalls
elaftifch zurüdzumirfen. So entjteht, über die ganze Länge des
Gefäßes hin ſchnell fortfchreitend, eine Welle der Ermeiterung, Die
man leicht fih anſchaulich machen kann, wenn man den Darm eines
Thieres bis zu genügender Spannung jener Wände mit Wafler
füllt, an beiden Enden verſchließt und auf das eine derfelben einen
plöglihen Drud ausübt. Wir kennen diefe Wellenbewegung der
Schlagadern, die von ihr eben den Namen erhielten, unter dem
Namen des Pulſes; fie wird weniger deutlih an den Kleineren
Heften und verjchwindet völlig in dem weit ausgedehnten Nete
der Haargefäße. Im ruhig gleihmäßigem Strome fließt durch
diefe das Blut, um in den wiederzufammentretenden größeren
Stämmen, den Benen, pul8los zu dem Herzen zurüdzufehren.
Da in der Aorta nach dem Herzitoß Flüſſiges auf Flüffiges trifft,
fo werden manderlei Vermiſchungen eintreten, und ein Theil des
neu eintretenden Blutes kann auf größere oder geringere Länge
dur das Thon vorhandene hindurchgepreßt werden, während ein
anderer Theil des neuen einen Theil des alten vor fi berbrängt.
Die Bahn, welche ein einzelnes Bluttheilchen befchreibt, kann da—
ber ſehr verfchieden ausfallen; nur -in dem mittleren Theile des
. 123
Gefäßverlaufs wird fie ſtets eine gleichförmig fortfchreitende fern;
am Anfang der Aorta können die angeführten Umftände fie ſehr
unregelmäßig machen, in den Haargefäßen viele Kleine zufällige
Drude der Umgebung und andere Umftände fie auf eine Zeit
lang in ein ſchwankendes Bor- und Zurückgehen durch die vielfach,
commumnicirenden Wege dieſes Neges verwandeln. Die Angaben,
welche das Blut etwa in einer Minute, während das Herz 60—80
Schläge macht, feinen Weg durch das ganze Gefäßſyſtem vollenden
laſſen, können deshalb nur den durchſchnittlichen Erfolg der gan-
zen Circulation, aber nicht die Bewegung jedes eingelnen Theilchens
bezeichnen.
Die größeren Gefäße, Arterien und Venen, durch dicke und
undurchdringliche Häute von der Subftanz der Theile Igetrennt,
durch welche fie verlaufen, find nur die Strombetten, in denen ber
Zufluß und Abfluß des Blutes ftattfindet; die Haargefäße allein,
mit ihren zarten und dünnen Wandungen und in überaus feiner
und reicher Berzweigung die Kleinen Elemente der Gewebe durch⸗
jegend und umfpinnend, bilden den Schauplat des Stoffumfakes.
Aus ihnen treten beftändig durchſchwitzend die flüffigen Beftanb-
tbeile des Blutes in die Zwiſchenräume der Gewebtheile, und
gegen dieſe ausgetauscht dringen die aufgelöiten Zerjegungsrefte der
verbrauchten Körperfubftanz in fie ein, um mit dem Blntfirome
an die verjchiebenen Abfonderungsftellen fortgeführt zu werben.
Wir kennen faft gar nicht die Art der chemiſchen Umwandlung,
welche die Gewebe im Laufe der Zeit und dur ihre Leiftungen
erfahren und eben fo wenig die Reihenfolge der Formen, in welche
fie ſich durch fortichreitende Zerſetzung verwandeln, bis fie voll-
kommen löslich und in ihrer chemiſchen Zufammenfegung den ein-
facheren unorganifchen Stoffen ähnlicher geworden zur Ausſcheidung
aus dem Körper bereit find. Nur einen Erfolg dieſer beftändig
in allen heilen des Leibes fortgehenden Thätigfeit beobachten
wir beftimmter, die Bildung von Koblenfäure, duch deren Ein-
tritt in die Haargefäße das Blut auf feinem Rückwege durch die
Denen jene dunkelrothe Färbung annimmt, die e8 nım von dem
126
jeder eine Hälfte der Bruſthöhle durch eine baumförmige Berzwei-
gung immer feinerer Kanäle ausfüllt. Auch biefe Haargefäße
Sammeln fi wieber zu größeren Stämmen, ben Lungenvenen, in
denen das Blut, unterdeffen durch die Athmung hellgeröthet, in
das Yinfe Herz, zum Wiederanfange des großen Kreislaufes zurück⸗
fließt. Durch die Zwiſchenräume, welche das feine Netz jener
Haargefäße übrig läßt, wächſt überall eine zweite Verbreitung von
Kanälen, aber luftführenden, hindurch. Als ein weites offenes,
durch knorpelige Ringe gegen Zuſammendrückung geſchütztes Gefaãß
beginnt in dem Hintergrunde der Mundhsöhle, durch den Kehl-
deckel nach oben verſchließbar, die anfangs einfache Luftröhre; un—
ter der Haut des Halſes und dünner Muskelbededung herabitei-
gend, theilt fie fi) unter dem Anfang des Bruftbeing in zwei
Hauptſtämme, die nad) rechts und links ſich in immer kleinere dünn⸗
hautige Zweige auflöſend, jene zwei großen Bäume bilden, deren
Aeſtchen ſich zwiſchen die feinen Netze der gleichfalls zu zwei vielfach
verzweigten Geflechten entwickelten Blutgefäße einſenken. Eine all⸗
gemeine häutige Umhüllung, nur in wenige der größeren Abthei=
Yungen diefes durcheinander verwachſenen Doppelgeflechtes eingehend,
überzieht jede der beiden Verzweigumgen, bie beiden Lungen, beven
größere rechte ihre Hälfte der Brufthöhle ansfüllt, während bie
Heinere Iinfe das in der Mitte und nad links gelegene Herz,
dem fie Raum läßt, von hinten, von oben und zum Theil mit
berabgreifendem Rande von vorn ber umgibt. Der mittlere Theil
der Bruſthöhle, die Spalte, welche beide Lungen trennt, ift der
Raum, in welchem bogenfdrmig nad oben und dann nach hinten
abfteigend fich Die Aorta ausbehnt, und von welchen aus die Blut-
gefäße feitlich, die beiden Aeſte der Luftröhre von oben ber in Das
Gewebe der Lungen eintreten.
Die feinften einander innig umfchlingenden Veräftelimgen ber
Luft und Blutgefäße find auch hier der eigentliche Ort der Wirk-
ſamkeit. Die letzten Enden der zarten Luftröhren erweitern ſich zu
Heinen Bläschen, an deren Wandungen die Haargefäße verlaufen,
nur durch eine äuferft dünne Bedeckung von ber Luft gefchieden,
127
welche das Innere dieſer Heinen Lungenzellen füllt. Durch fo feine
feuchte Membranen findet auch außerhalb des lebendigen Körpers
eine Austaufhung von Gasarten ftatt, nach Geſetzen, die noch nicht
völlig in ihren Einzelheiten aufgeflärt find. Die Kohlenfäure bes
venöfen Blutes, das an diefen dünnen Scheidewänden der Luft
vorübergeführt wird, tritt ausgehaucht aus den Gefäßen in die
Höhlung der Lungenzellen; der Sauerftoff der dort befindlichen
atmoſphäriſchen Luft dringt umgefehrt durch die Wände ber Haar⸗
gefäße ein und wird nun mit dem arteriell gewordenen Blute,
das ihn aufgefaugt hat, dem Linken Herzen und durch diefed dem
großen Kreislaufe zugeführt. Die beftändige Fortdauer dieſes Vor⸗
gangs wird endlich Durch die Bewegungen der Bruft, die Abwechs⸗
lung der Ein- und Ausathmung gefihert. Zum Einathmen heben
die Muskeln die beweglichen Rippen in die Höhe und ftreben auf
diefe Weile die Brufthöhle zu erweitern; aber überall geichloffen
wie fie ift, kann fie diefem Beftreben nicht folgen, ohne daß die
äußere Luft den leeren Raum, der dabei entftehen müßte, durch
Kehlkopf und Luftröhre eindringend bis in die Lungenzellen erfüllte.
Dieſe thätigen Bewegungen der Bruftmusfeln laſſen mit vollen-
deter Einathmung nad, und die eigne Clafticität des Lungenge-
webes, da8 durch die eingebrungene Luft ausgedehnt war, reicht
bin, um duch ihr Zufommenziehungsbeftreben die Wiederaus-
athmung derfelben, und damit die num von felbft folgende Sen-
fung ber gehobenen Rippen zu vollbringen. Nur die Einathmung
ift daher durch Lebendige Thätigfeit der Muskeln nothwendig be—
dingt; die Ausathmung erfolgt im gewöhnlichen Laufe der Refpi-
ration ohne die Mitwirkung derjelben, obwohl ſie zu möglichſt voll⸗
kommener Entleerung der Lungen von einer ſolchen —
werden kann.
Durch Herz Lungen und die großen Gefäßſtämme wird der
Raum der Bruſthöhle ausgefüllt. Sie iſt nach unten durch das
Zwerchfell von der Bauchhöhle, dem Sitze des Verdauungskanals
128
und feiner Anhänge geſchieden. Flache Muskelplatten, deren Fa—
fern ſich nach verſchiedener Richtung Freuzen, entipringen vom Rück⸗
grat, von der unterften Rippe und dem untern Ende des Bruft-
beins, und bilden, fi) unter einander vereinigend, diefe Scheide⸗
wand, die am Nüden tiefer binabreihend al8 vorn, nad oben
gewölbt in die Brufthöhle emporragt. Auf ihr ruhen Herz und
Lungen, und durch eine Spalte, die ihre Faſerbündel am Rück—
grat zwiſchen ſich laſſen, tritt die Aorta dicht an der Wirbelfäule
in die Bauchhöhle, um bald fi in die beiden großen Gefäß-
flämme der Beine zu theilen. Die Zufammenziehung der Zmerd-
fellsmuskeln plattet die nach oben gerichtete Wölbung befjelben ab
und unterftiittt dadurch die Erweiterung der Brufthöhle zum Ein-
athmen; die Zufammenziehung der musculdfen Wände der Unter-
leibshöhle dagegen, indem fie die in diefer enthaltenen Eingemeide
nah oben preßt, vermehrt jene Wölbung und befördert durch
Berengerung der Bruft die tiefe Ausathmung.
Aus dem Hintergrunde der Mundhöhle beginnt der MuS-
kelſchlauch der Speiferöhre, zuerft zwifchen Wirbelfäule und Luft-
röhre, dann in der Bruft an die vordere und linke Seite Der
Aorta tretend, in die Bauchhöhle hinabzufteigen, in welche fie durch
eine Deffnung des Zwerchfells einbringt. Zwiſchen Die Wände
dieſes Kanals wird die durch Kauen zerfleinerte Nahrung jo wie
das flüffige Getränk durch Muskeln der Mund- und Radenböhle
hineingevrängt; indem binter ihm fich Die musculöfe Wand zu-
fammenfchnürt, öffnet der Biffen Schritt fin Schritt fi) den Weg
durch dieſe Röhre, deren Wandungen, nicht wie die der Luftwege
durch elaftifche Knorpel auseinander gehalten, fih im gewöhnlichen
Zuftand ohne Zwiſchenraum aufeinander legen. So nad) der Höhle
des Unterleibes befördert, gelangt die Nahrung in die Abtheilung
des Verdauungskanals, in welcher die chemiſche Thätigkeit der An-
ähnlihung beginnt. Im vielfachen nur für einzelne Abſchnitte in
ihrer Lage beftimmten Windungen zieht fi) der Darmkanal durch
die Unterleibshöhle, iiberall aus einer äußern musculöfen Schicht
und eimer innern jammtartig glänzenden Schleimhaut zuſammen⸗
129
gefett, beide von zahlreichen Blutgefäßen durchſetzt, und beide bei
allgemeiner Gleichheit ihres Baues doch in verfchievenen Abthei-
lungen des Ganzen nad) den abweichenden Zwecken verſchieden ing
Feine organifirt. Unmittelbar nach ihrem Eintritte in die Baud-
höhle erweitert fi) die Speiferühre zu einem geräumigen beutel-
fürmigen Organ, deſſen weiterer abgerundeter Sad ſich blind nad)
links von ihrer Einmündung ausbehnt, während der andere längere
Theil fich in den ferneren Verlauf des Darmkanals fortjegt. Die
Muskelhaut dieſes Organs, des Magens, aus verſchiedenen flachen
Bindeln von Faſern verwebt, vermag durch ihre wellenförmig hin
und bergehenden wenig Traftvollen Zuſammenziehungen den ange-
langten Speifebrei hin und berzuführen und ihn dadurch in man
nigfaltige Berührung mit der inneren Schleimhaut zu bringen.
Reich an Blutgefäßen, zu denen während der Verdauung vermehrter
Zufluß ftattfindet, fondert diefe Haut aus eigenthlimlichen mi-
kroſtopiſchen Drüschen, welche in fie eingebettet fi in der größeren
noch unten gerichteten Krimmung des Magens binziehen, ein mit
dem Namen des Pepfind belegtes in feiner Zuſammenſetzung
wenig befanntes Product aus, das in Verbindung mit dem falz-
und milchſäurehaltigen wäfjerigen Magenfaft den eriten Fräftig
auflöfenden und chemiſch umgeftaltenden Einfluß auf die Nahrung
ausübt. Schon hier verwandeln ſich Die ftärfemehlhaltigen Beftand-
tbeile der legtern in Zuder, Eiweiß und Baferftoff der Fleiſch⸗
nahrung verlieren zerfallend einen Theil ihrer Eigenfchaften; die
Fette jheinen unverändert hindurchzugehen. Bon den Getränken
und von ben verflüifigten Theilen der Nahrung wird vieles fchon
bier Durch Die Blutgefäße des Magens aufgefaugt; die nicht voll-
fommen löslich gewordenen Stoffe treten nach und nach zu weiterer
Verarbeitung durch Die Gegendffnung des Magens in den nächſten
Abſchnitt des Verdauungsfanals, den Zwölffingerdarm.
Sie unterliegen hier dem Einfluffe zweier Organe, der Xeber
und bes Panereas, die wir beide als ausgeftülpte Anhänge des
Darmlanald am lürzeſten für unſern Zweck beſchreiben können.
Wir denken ung eine nad) außen gebildete hohle nn des Darm-
Zope I. 4. Aufl.
130
rohrs allmählih zu einem Lang und dünn anögezogenen Kanal
anwachſen, deſſen jehr enge Höhlung in offener Verbindung mit
ber viel geräumigeren des Darmes bleibt. Diefer Kanal, den
wir den Gallengang nennen, theilt fi dann in zwei Zweige, von
denen der eine ſehr bald mit einer blafenförmigen Anſchwellung,
ber Gallenblafe, fchließt, während der andere, der Luftröhre ähn-
lich, fib in eine Baumkrone feiner Verzweigungen veräftelt.
Zwiſchen dieſes Geflecht dringt ein doppeltes anderes in ähnlicher
Weife wie in den Lungen ein. Nicht nur der große Kreislauf
ſendet aus ber Aorta Arterien, die fih hier in ein Haargefäßnetz
ausbreiten, jondern auch das vendfe Blut, das aus den Einge-
weiden des Unterleibes zurüdfehrt, fammelt fih in einen großen
Stamm, die Pfortader, und diefe, fih von neuem in ein venöfes
Haargefäßnetz auflöfend, begleitet ebenfalls mit ihrer feinen Ver—
zweigung die Veräftelung der Gallenkanäle. So bildet dieſes drei-
fache Geflecht in Verbindung mit der zelligen Maffe die Subftanz
ber Leber; von einer Umhüllungshaut zu einem derben maſſen⸗
haften Organ abgejchlofjen und von der rechten Seite des Unter-
leibe8 bis über feine Mittellinie hinausreichend, hängt fie unter
dem Zwerchfell in einer Falte eines häutigen überall gefchloffenen
Sades, des Bauchfelles, befeftigt, deſſen vordere Flaͤche die innere
Seite der musculöfen Unterleibswand überzieht, und deſſen hintere
. in mehrfachen in das Innere des Sackes hineingefalteten Einftül-
pungen die wichtigften Abtheilungen des Verdauungskanals auf:
nimmt und fefthält. Aus den Zellen des Leberparenchyms, an
welchen die Kleinften Berzweigungen der Gallenfanäle endigen,
wird in diefe bie gelbe, bittere Galle ausgeſondert. Daß Diele
Flüffigleit einen wefentlihen Einfluß auf die Berbauung ausübt,
ſcheint die Beftänbigfeit zu beweifen, mit der in ben höheren
Thierflaffen die Lage der Leber überall fo angeorbnet ift, Daß
aus ihr und aus der Gallenblafe, in der das ſtets bereitete Product
fih anhäuft, die Galle duch die erwähnten Ausführungsgänge
in dem Maße dem Darmlanal zugeführt wird, in weldem bie
Nahrung aus dem Magen in ihn eintritt. Aber ich vermeide
131
es billig, auf die fpecielleren Anftchten einzugehen, welche itber Die
Art dieſes Nutens die Phyſiologie aufzuftellen verſucht. Ueberaus
mühſame und verdienftlihe Unterſuchungen baben doch bisher
unſere Kenntniß von dem Ineinandergreifen der vegetativen Ver⸗
richtungen nur fehr wenig feitzuftellen vermodt, und unfere Auf-
faffungen der chemiſchen Vorgänge in der Verdauung und Anbil-
dımg find noch in beftändiger Aenderung begriffen. Anſtatt biefer
Einzelheiten führe ich einen Gedanken an, in welden chemiſche
Forſcher ihre Anfiht von dem allgemeinen Sinn der bier bor-
kommenden Wechſelwirkungen zuſammendrängten. “Der thierifche
Körper nährt ſich allerdings durch von außen zugeführte Stoffe,
die im Ganzen bereits die Zuſammenſetzung feiner eignen Be-
ſtandtheile haben; die wöllige Anähnlichung des aufgenommenen
Materials fcheint indeffen doch nur duch die Einwirkung von
Stoffen möglih, die dem Organismus bereit8 angehörten und
die von ihm num als corrigirende Fermente hinzugebracht werden,
um die hemifchen Bewegungen des eingeführten fremden Materials
in eine für Die Zivede der Anähnlichung günftige Richtung zu lenken.
Eine große Menge folder Stoffe, Bepfin Galle und die Säfte
des Pancreas und der zahlreichen verfchtevenen Drüfen des Darm⸗
kanals, wirft auf dieſe Weife beftändig der Organismus zwiſchen
bie chemiſchen Wechfelmirkungen hinein, denen die Elemente des
Nahrungsmaterials durd ihre eigne Natur unterworfen fein wür⸗
den; wir fennen die befondern Leiftungen nicht, die dieſen ein-
zelnen Beiträgen obliegen, und jelbft die Krankheitserſcheinungen,
die aus der Störung des einen ober des andern hervorgehen,
erlauben nicht durch Rückſchlüſſe die Yunctionen der verſchiedenen
zu fondern; fo müfjen wir uns mit dem Allgemeinen jenes Ge-
banfens begnügen und der Zukunft feine Bewährung im Ein:
zelnen itberlaffen.
Sn die Aufgabe, den zubereiteten Speifefaft dem Blute
und aus ihm den Beftandtheilen des Körpers zuzuführen, theilen
9*
132
fih zwei Syſteme von Gefäßen. Die Blutgefäße, welde die
ganze Ausdehnung des Darmrohrs mit feinen Negen durchziehen,
Iheinen nur die aufgelöften unorganiſchen Beitandtheile, wie Die
Salze, und von den organifchen diejenigen aufzufaugen, die völlig
verflüffigt nicht zur Bildung der Gewebe fondern zu anderen
Dienften in den Körper übergeben jollen. Diefe Auffaugung ift
fo rafh, daß flüſſige Gifte ſchon wenige Minuten nad ihrer
Aufnahme fid im Blut und in den Abfonderungen durch ihre
Keactionen, in dem übrigen Körper durch ihre Wirkungen be-
merflih machen. Die Aufnahme der gewebbildenden Nahrungs⸗
ftoffe, der eimweißartigen Körper und neben ihnen der Fette, fällt
dem anderen Shiteme, dem ber Chylusgefäße zu. Das ſammt⸗
artige Anfehen, welches die innere. Oberfläche der Schleimhaut
vom Magen an abwärts immer mehr annimmt, zeigt fich bei
mikroſtopiſcher Betrachtung als Die Wirkung feiner in die Höble
des Darmes hineinragender Zottenbildungen. Im obern Theile
des Darmlanals Tegelförmige Erhöhungen mit breiter Bafis,
gehen fie im untern in zungenförmige Organe über, zu 40 bis
90 auf eine Duabdratlinie der Schleimhaut zufammengebrängt.
Die blafje unbeftimmt faferige Grundmafje ihres Gewebes um-
gibt außen ein Ueberzug cylindrifcher Zellen, unter dem an zwei
Seiten feine Blutgefäße durch Zwiſchennetze verbunden auffteigen;
ihre Mitte nimmt mit blindem Tolbigem oder ftumpfen Ende
der Urfprung eines Chylusgefäßes ein. Mit diefen untereinan-
der nah und nad zu größeren Stämmden zufammenfließenden
Chylusgefäßen vereinigt ſich Tpäter die Verzweigung der Lymph⸗
gefäße, die aus den übrigen Theilen des Körpers die überſchüſſig
ergoffene Blutflüffigfeit auffaugen, und beide in Bau und Ber-
richtung ſehr ähnlichen Kanalſyſteme führen zulegt durch einen -
gemeinfomen Ausmündungsgang ihren flüffigen Inhalt in einen
der Hauptftämme des vendfen Gefäßgebietes, Die vom Kopf herab-
fteigende Hoblvene über.
An den Chnlusgefäßen fo wenig wie an den Blutgefäßen
find offene Mündungen zur Aufnahme der von ihnen zu Teiten-
133
den Stoffe zu bemerken; auch in ihnen gefchieht daher die Auf:
faugung durch die gejchloffenen Wandungen und muß auf Flüſſig⸗
keiten oder auf feſte Theile von folder Kleinheit beichränft fein,
daß fie die umvahrnehmbaren Zwiſchenräume, die wir zwifchen
den Heinften Theilen auch diefer Wandungen annehmen dürfen,
zu durchdringen im Stande find. Auch jo bietet jedoch der Me-
chanismus diefer Auffaugung eigenthümliche Schwierigkeiten, die
fih kaum ohne die Annahme einer chemiſchen Anziehung des
inneren Theiles der blinden Gefäßenden befeitigen Iaffen, welche
den Eintritt der Flüſſigkeit bedingt und ihren Rücktritt durch Die
Wandung verhindert. Unter diefer Borausfegung würde die be-
trächtliche Elafticität der Gefäßwände hinreichen, um bie Fort⸗
preffung ihres fie ausbehnenden Inhalt in der offenen Richtung
nach dem Blutkreislauf zu erklären und zahlreiche Klappen, die
der Strom in diefer Richtung öffnet, beim Rüdfluß aber fchließen
würde, unterjtügen die Wirkung diefer Triebkraft.
Auf dem Wege, den fie bis zu ihrem Eintritt in das Blut
zurüdlegen, unterliegen Chylus und Lymphe in vielen Drüſen,
zu denen ihre Gefäße fich verichlingen, dem umgeftaltenden Einfluß
des Blutes felbft, deſſen Zujammenfegung fi) die ihrige immer
mehr nähert. Eigenthümliche Einige Körperchen treten in beiden
auf, von mikroſkopiſcher Kleinheit, aus eimweißartigen Stoffen ge-
bilvet. Sie jcheinen die erften Anfänge einer Bildung zu fein,
durch welche das Blut fi von den übrigen Säften unterjcheibet,
der rothen Blutlörperhen. Als jcheibenfürnige glatte Bellen
Idwimmen dieſe in größter Anzahl im Blut, gebildet aus einer
zähen Haren Flüſſigkeit ohne feften Kern, und von einer fehr
elaftiichen durchſichtigen Umhüllungshaut umkleidet, welche aus
einem eiweißartigen Körper, dem Globulin, und einem rothen eiſen⸗
führenden Farbftoff, dem ebenfalls eiweißartigen Hämatin gemifcht
ift. Weber ihre Entftehungsmeife, noch Die Art, wie fie alternd wie-
der zu Grunde gehen, noch die Dienfte, welche fie dem Leben leiften,
und welche für ſehr wichtig zu halten wir vielfache Beranlaffung
haben, find bis jegt zweifellos befannt. Ihre Beſtimmung wird
134
theil8 in einer Verwendung zur Ernährung und Gewebbilbung
theils darin geſucht, daß fie durch abwechſelnde Abforption von
Sauerſtoff und Kohlenſäure, unter deren Einfluß fie die Farben⸗
verichiedenheiten des arteriellen und vendfen Blutes bedingen, fiir
die Austaufhung der Stoffe als Bewegungsmittel thätig find.
Die Schwankungen ihrer Menge im Blut zeigen fih in Krank:
heiten mit beveutendem Einfluß auf die Lebhaftigfeit der Nerven⸗
berrichtungen verbunden.
Chylus und Lymphe find Die einzigen Quellen des Wieder-
erfates für das Blut; weit mannigfaltiger find die Formen, in
denen es feine Beftandtheile ausgibt. Wahrſcheinlich wird nur
ein verhältnißmäßig geringer Antheil diefer Ausgabe auf die be—
ftändige Wiederernährung der durch ihre Leiftungen abgenugten
Gewebe verwandt; ein beträchtlicherer geht vielleicht zur Erzeugung
vielfacher Gebilde auf, die, wie Haare Nägel Oberhaut, in be-
ftändigem Wachsthum begriffen find und in fefter Geſtalt durch
Abſtoßung und Abfchilferung fi von dem Körper trennen; noch
bedeutender ſcheint die Maſſe der aus dem Blute geſchehenden Ab-
fonderungen, welche, wie die zahlreichen Säfte des Verdauungs⸗
kanals und feiner ihm zugeordneten brüfigen Organe, vor ihrer
Entfernung aus dem Körper noch einmal zu den Zwecken ber
Alfimilation als beihelfende Mittel benugt werben. Die größte
Gewichtsmenge aller Abicheivungen erfolgt jevoch durch die Aus-
bünftung aus Haut und Lungen und durch die Abfonderung des
Harnes; beide Vorgänge nur zur Entfernung unbrauchbarer Maffen
beftimmt, obgleich der erfte vielleicht durd; die Nebenwirkungen,
welche die Thätigfeit der Ausſcheidung begleiten oder ihr folgen,
zur Ausgleihung mander Störungen des Körpers geſchickt. Die
ſtickſtoffhaltigen Beftandtbeile des Harns, in einer großen vers
anderlichen Wafjermenge bald aufgelöft, bald aus ihr fi in fefter
Geftalt niederſchlagend, laſſen feinen Zweifel Daran, daß auf
diefem Wege am meiften bie Reſte der in ihrer chemifchen Zu⸗
ſammenſetzung zertrümmerten eiweißartigen Stoffe entfernt werben.
Man hat-einen von ihnen, den Harnftoff, bereits gebildet im
135
Blute vorgefunden, und in Bezug auf ihn wenigftend werben
die Nieren ſich nicht als ein erzeugendes Organ, fondern nur
als ein eigenthümlich gebildetes Filtrum verhalten, deſſen Ge⸗
webe feine wäflerige Auflöfung in den Höhlenraum ber Aus:
führungsgänge hindurchtreten läßt, während es die übrigen auf:
gelöften und noch benutzbaren Beſtandtheile des Blutes in dieſem
zurüdzubleiben nötbigt.
Die Kohlenſäureaushauchung der Lungen ift begleitet von
einer reichlichen Entwidlung von Waflerdampf, der in kühlerer
Temperatur den Athen ſichtbar macht und in weldem abjorbirt
bie Kohlenfäure in die Außenwelt übergeht. Auch aus der feuchten
diden Schleimfchicht, welche unter der Oberhaut mit Gefäßen
reichlich durchzogen Liegt, dringt Wafler beftändig nach außen und
entweidht dampfförmig durch die hornartige dünne Oberhautplatte,
welche überall den Körper als Ießte Grenze überzieht. Der größere
Theil der gefammten Hautausdünftung fcheint auf diefem Wege
zu erfolgen, nur ein kleinerer das Erzeugniß eigentblimlicher Fleiner
Drüschen zu fein, Die in das Schleimnek der Unterhaut eingebettet
einen fpiralförmig gemundenen feinen Ausführungsgang nad) außen
fenden, aus deſſen offener Mündung die ausgefonderte Flüſſigkeit
verdampft, und nur bei zur veichlicher Erzeugung ober wo die
äußere Luft fie nicht hinlänglich abforbirt, in der Form des
Schweißes tropfbar hervortritt. Außer den gewöhnlichen Salzen
des Blutes und fehr geringen Beimengungen organiſcher Beftand-
tbeile enthält der Schweiß nur Wafler, Milchſäure, Ammoniak;
feine Zuſammenſetzung ſchiene daher die Wichtigfeit nicht zu recht⸗
fertigen, welche man der Hautthätigfeit zufchreibt, noch Die zahl-
veihen Nachtheile ihrer Unterbrüdung. Aber es ift wohl möglich,
daß nicht Die Entfernung dieſer wenig erheblichen Stoffe, fondern
die Arbeit der Entfernung das Wichtigere ift, oder daß der beftän-
Dige Fortgang dieſes Verdampfungsprocefies für die an der Ober-
fläche des Körpers in der Haut felbft gelegenen Nervenendigungen
günſtige Zuftände herbeiführt, die zur genügenden Fortſetzung ihrer
Berrihtungen unentbehrlih find. So wenig wir biefe Seite des
136
Nugens, den die. Hautabjonderung gewährt, weiter verfolgen kön-
nen, jo klar ift Dagegen eine andere; fie dient als ein wirkfames
Abkühlungsmittel fir die durch vielfache Urſachen vermehrbare
Wärme des Körpers und des Blutes insbeſondere. In der reich-
lihen Berdampfung, welde unfere Oberfläche beftändig fichtbar
oder unfihtbar unterhält, wird eine große Wärmemenge gebun-
den und dem Körper entzogen und Gleiches findet ununterbrochen
dur die Aushauchung der Lungen ftatt.
Nicht alle Beitandtheile des Körpers haben in diefem Um—
riffe feines Baues und feiner Verrichtungen Erwähnung gefum-
den. Wir haben manche von größter Wichtigkeit einer Tpätern
Erörterung überlafien, da wir zunähft nur die große Ausdeh—
nung veranfchaulichen wollten, in welcher das Leben zur Erfüllung
feiner Aufgaben diefelben Mittel benugt, mit denen die menfchliche
Technik ihre Werke zu Stande bringt.
Sechſtes Kapitel.
Die Erhaltung des Lebens.
Phofifche, organiſche, pſychiſche Ausgleihung der Störungen. — Beifpide ber Her:
ftellung bes Gleichgewichtes. — Bas ſympathiſche Nervenſyſtem. — Beftänbige
Unruhe alles Organifhen. — Allgemeine Bild des Leben.
Auf den unmittelbaven Wechſelwirkungen der Hleinften Theil-
hen beruht die Erhaltung der Körpergeftalt und die Fähigkeit
zu lebendigen Leiftungen. Bon ihnen allen verräth der Anblid
des lebenden Leibes fo wie unfere innere Beobachtung Nichts;
unbemerkt und im Stillen geichehen alle die chemiſchen Umwand⸗
lungen der Stoffe, alle Schritte ihrer Geftaltbilbung, der vegel-
mäßige Anja einiger, die allmählidre Ablöfung der andern.
Was unferer Beobachtung fi als Zeichen des Lebens aufdrängt,
137
ber beftänbige Wechfel des Athmens, die Unruhe des Herzichlages,
bie Wärme, die alle Theile des Körpers durchdringt, das alles
ift nur Die Erſcheinung vermittelnder Thätigkeiten, durch welche
der Organismus in jedem Augenblid die nöthigen Beringungen
für die Yortfegung jenes unfihtbaren Spieles herzuftellen ſucht.
Aber auch jo find dieſe vorbereitenden Verrichtungen von großer
Wichtigkeit; befteht doch eben darin die Eigenthümlichkeit des
Lebens, daß es durch die beftimmten Berfnüpfungsformen, in
denen e8 die elementaren Stoffe zu gegenfeitiger Wechſelwirkung
zufammenführt, Die eingebornen Kräfte derfelben zu ungewohnten
Erfolgen anleitet und nöthigt. Wohl ift es daher ber Mühe
werth, der Schilderung des Ineinandergreifens diefer Thätigfeiten
no die Frage nad den Kräften und den Geſetzen nachfolgen zu
laſſen, durch welche den wechjelnden Bebürfniffen gemäß Größe
und Lebbaftigleit jeder einzelnen eben fo, wie die Art ihres nüg-
lihen Zufammenwirkens mit den übrigen in jedem Augenblide be-
ftimmt wird. Ein weites noch offenes Feld für Unterfuhungen
der Zukunft, geftattet diefe Trage nah Plan und Ordnung bes
thieriihen Haushaltes im Ganzen uns für unfere Zwede nur
die Andeutung weniger Punkte, um die allgemeine Anficht, die
und bisher geleitet hat, noch einmal zum Abichluffe unfers Bil-
des vom Leben zu benuten.
Wie die Befettigung jeder Störung nad unfern früheren Be—
merfungen nur dadurch gelingen kann, Daß dieſe ſelbſt in irgend
einer Weife die heilenden Thätigfeiten des Körpers zu ihrer eignen
Aufhebung in Bewegung feßt, fo wird aud) die Befriedigung jedes
Bedürfnifies Davon abhängen müffen, daß der änderungsbebürftige
Zuftand felbft die zu feiner Umgeftaltung nöthigen Rücdwirkungen
anregt. Diefer allgemeinen Bedingung Tann auf mehrfache Weife
genügt werden. Der einmal angeorbnete Bau der einzelnen
Theile felbft Tann, wie dies in jedem Beifpiel der Elafticität zu
geſchehen pflegt, ein Beſtreben zur Rückkehr in die früheren Zu-
ftände entwideln, das innerhalb gewifler Grenzen menigftens
in demfelben Maße wählt, wie die gewaltſame Ablenkung von
138
ihnen. Hier wird die Störung auf das unmittelbarfte durch Die
eignen Kräfte der Theilchen, deren Verhältniffe fie verſchoben
hatte, befeitigt, fei e8, daß mit der wachfenden Störung ftetig auch
die heilende Rückwirkung zunahm, ſei es, daß die erjte nur nad)
der Erreichung einer beftimmten Höhe die inneren Verhältniſſe
ber betroffenen Theile zu einer nun plöglih herbortretenden
Reaction nöthigte. Beftände der Yebendige Körper aus Theilen,
deren jeder nur für feine eigne Erhaltung zu forgen hätte, fo
würden wir dieſe einfachfte Form ber Ausgleihung häufiger an=
gewandt, ober vielmehr die Theile jo gebaut finden, daß ihre An⸗
wendung überall möglich wäre. Wber e8 liegt in den Zwecken
des Lebens, Störungen und Bedürfniſſe des einen Theild als An=
regungen zu Leiftungen anderer zu verwerthen und die Erſchüt—
terungen bes einen nicht auf dem Fürzeften, fondern auf dem Wege
fih ausgleichen zu laſſen, auf welchem ihnen die nöthigen und
nüglihen Nebenwirkungen für den Vortheil des Ganzen abge-
wonnen werden Finnen. Im großer Ausdehnung fehen wir baher
eine zweite Form der Ausgleihung in Anwendung gezogen; Die
Störung eined Theile verbreitet ihre Folgen über einen größeren
Abichnitt des Organismus, und nicht zufrieden, die eignen Wider-
ſtandskräfte der unmittelbar getroffenen Stelle zu weden, vegt
fie vielmehr weit entlegene Theile duch ihren fortgepflanzten
Anftoß zu einer größeren und mannigfaltigeren Rücdwirkung an.
Ausgehend von Beftandtheilen, die dieſen Anftoß in regelmäßiger
gegenfeitiger Verbindung und durch mancherlei Beziehungen ver-
knüpft empfingen, wird auch dieſe Rückwirkung weit reicher und
bielgeftaltiger ſein können, als die einfache Widerſtandskraft der
urſprünglich geftörten Theile fie geleiftet hätte: fie wird nicht nur
bieje einzelne Erjhütterung befeitigen, fondern zugleich nach ver—
ſchiedenen Richtungen hin aus ihr nügliche Antriebe fir den wei—
teren Berlauf der Tebendigen Leiftungen entwideln. So wie das
tunftreihe Getriebe einer Mafchine den einfachen, faſt formlofen
Anftoß, den es erhielt, in mannigfache fein aufeinander bezogene
Bewegungen verwandelt ber Außenwelt wiedergibt, fo treten Die
139
nicht minder kunſtreich geordneten Zufammenbänge Tebendiger Theile
zwiſchen Die einzelne Erfchlitterung und das Ganze des Organis-
mus und befriedigen die beſchränkten Bedürfniſſe mit zweckmäßiger
Rüdficht auf das Wohl des letztern. In dem Nervenfyften werden
wir dieſe Beranftaltung erfennen, durch welche die Zuftände räum-
lich getrennter Theilchen zu einer Wechſelwirkung verbunden wer⸗
den, die ihre Lage und ihr Bau ihnen an ſich nicht möglich machen
würde, und durch welche zugleich die zerftreute und fragmentarifche
Befriedigung der einzelnen Bebürfniffe in die zufammenhängende
Führung eines allgemeinen Haushaltes verwandelt wird. Nennen
wir biefe neue Form der Ausgleihung eine organiiche im Gegen=
faß zu jener einfacheren phufifchen, jo meinen wir damit nicht
eine Berjchiebenheit der wirkenden Kräfte, ſondern jenen Unter:
ſchied ihrer Verwendung zu bezeichnen, Durch den unfere Auffaffung
überall das planmäßig geordnete Leben von den wereinzelten oder
zufällig zufammengerathenen Stoffen der unorganifchen Welt unter:
ſchied. Aber auch diefe Form der Ausgleihung und Erhaltung
ift nicht Die letzte und höchfte; über die Grenzen unferer gegen-
wärtigen Betrachtung hinaus, aber doch einer Erwähnung hier be-
dürftig, erhebt fich die Mitwirkung der Seele. Nicht immer ver-
mag der geftörte Theil aus fich felbft die Heilung zu finden; er
findet fie oft nicht einmal in den Hilfsmitteln des Nervenſyſtems,
an das er ſich fuchend wendet; aber feine Erichlitterung wandelt
ih nun in Gefühl und Empfindung der Seele um, und das un—
zuveichende Körperliche Gebiet verlaffend bewegt fi) die Erregung
auf geiftigem Boden fort, um alle Hilfsquellen der Einfiht auf-
zubieten, zulegt mit dem gewonnenen helfenden Entichluffe wieder
auf Die Organe des Leibes zurüdzumwirken und ihnen Wege ber Be-
friebigung zu zeigen, die fie felbft nicht wirrden aufgefunden haben.
Späteren Gelegenheiten überlafjen wir diefe Ergänzungen des
körperlichen Lebens durch die Hilfe des geiftigen; von jener ein=
fachen phyſiſchen und der organifch vorbereiteten Ausgleihung ver⸗
ſuchen wir in wenigen Beifpielen ein hinlängliches Bild zu geben.
140
So weit e8 möglich ıft, bat die Natur unmittelbare Com⸗
penfation der Störungen und die Befriedigung der Beblirfniffe
durch die eignen Kräfte der Theile dem Aufgebot eigner organi⸗
her Mittel vorgezogen; fie wendet auf dieſe Weife häufig Eigen-
ſchaften an, bie den Geweben entweder für immer oder doch un=
geftört für Tängere Zeit zulommen, und fpart an jenen andern
Thätigfeiten, deren Ausübung nicht ohne Verbrauch ihrer Träger
möglich fcheint. Schon die Musfelbewegung ſehen wir in vielen
Fällen durch phyſiſche Elafticität der Gewebe erſetzt. Das Herz
vollzieht feine Berengerung allerdings durch Lebendige Verkürzung
feiner Mustelfafern, aber es erweitert ſich nicht durch eine
entgegengejette Lebensthätigleit, ſondern theils Durch die ge=
ringe Elafticität feines Gewebes, theild durch Nachgiebigkeit vor
dem andringenden vendfen Blutſtrom. Jeder Muskel überhaupt
erreicht nad dem Momente der Zufammenziehung feine borige
Länge von jelbft, ohne einer befonderen Ausdehnungskraft zu
bebürfen. Die Erweiterung der Lungen wird durch Tebendige
Thätigkeit der Athemmusteln bewirkt, die Ausatbmung durch die
freiwillige elaftifhe Zufammenziehung des ausgedehnten Gewebes.
Biele Arbeit ift durch günftige VBerhältniffe des Baues den Glie-
bern bei ihren gemöhnlichften Berrichtungen abgenommen. Eine
Pendelſchwingung, ohne lebendige Kraftäußerung durch die Schwere
eingeleitet, führt das um Schritt zurückſtehende Bein an dem vor=
gejeten vorüber bis zu dem Punkte des neuen Auftretend; ber
Körper felbft erlangt durch den Gang eine Geſchwindigkeit nach
vorwärts, die nur noch feine Stüßung und die fefte Stredung bes
weiterfortichreitenden Beines der Tebendigen Muskelanſtrengung
überläßt. Nicht durch beſondere Thätigleiten, fondern durch den
Drud der Luft wird dabei der Kopf des Oberſchenkels beweglich
in feiner tiefen Gelenkgrube feftgehalten, und ähnliche Beifpiele
ber Vermeidung lebendigen Kraftaufwandes würde eine genauere
Betrachtung der Bewegungen in Menge darbieten. Auch der
Kreislauf des Blutes erhält in weiten Grenzen feine Regelmäßig-
feit felbft und beftimmt zugleich die Größe der Abſcheidungen,
141
die aus ihm erfolgen follen. Bände das arterielle Gefäßſyſtem
augenblicklich fi mit Blut überfüllt, fo würde die dadurch an⸗
wachſende Spannung feiner Wände mit größerer Kraft und Ge-
ſchwindigkeit dieſes Uebermaß zu befeitigen fuchen, und der geringere
Zufluß, den bis dahin das verhältnißmäßig weniger gefüllte Benen-
gebiet dem Herzen zuführte, wiirde von felbit dieſem verbieten,
jene Weberfüllung der Arterien zu unterhalten.
Die verhältnigmäßig große Beftändigfeit, mit welcher unter
den verſchiedenſten Einflüffen der Nahrung und der Lebensweife
das Blut feine Zuſammenſetzung erhält ober wiederherftellt, macht
die Bermuthung wahrfcheinlich, daß feine einzelnen Beftandtheile
in den Mengenverbältnifien, in welchen fie feine normale Miſchung
bilden, ähnlich den Elementen einer feiten chemiſchen Verbindung,
inniger an einander haften, als in andern gegenfeitigen Propor-
tionen, die ein vorübergehender Zufall herbeigeführt hätte. Dies
würde nicht hindern, daß nicht dennoch das Blut noch immer neue
Stoffe durch Anziehung aus den ‚Geweben auffaugte, fie in fich
auflöfte und an feinem Kreislauf Theil nehmen ließe; dennoch
wilrben dieſe überſchüſſigen Beimengungen außerhalb feines gejet-
mäßigen Verbandes fteben und den Kräften, melche Umwandlung
und Ausſcheidung der Stoffe leiten, raſch genug verfallen, um
nach Ableiftung ihrer Dienfte das Blut bald wieder auf feine
normale Zufammenfegung zurüdfehren zu laſſen. Das würde
derjelbe Vorgang fein, der etwa eintritt, wenn aus einer mäffe-
tigen Löſung ein waſſerhaltiger Kryſtall fich abſcheidet; das
Waſſer, das zu feiner hemifchen Zuſammenſetzung gehört, wider⸗
fteht der Verdunſtung, die das übrige entfernt, dennoch bleibt
der Kryſtall in Waffer löslich; obgleich alſo feine chemiſche Formel
nur eime beftimmte Menge defjelben einfchließt, ift darum eine
weitere Anziehung größerer Mengen ihm nicht unmöglich geworben,
nur Daß er dieſe nicht eben fo kräftig wie jene gegen ungünſtige
Umftände feitzubalten vermag. Unter einer ſolchen Vorausfegung
würde es begreiflih fein, wie das Blut durch fernen eben vor-
handenen Zuftend die Größe der Auffdugung und der Abjon-
142
derung felbft zu leiten vermag. Kommt es in einem Grabe ber
Concentration, in weldem es nur die nothwendigen Beſtand⸗
theile feiner normalen Zufammenfegung enthält, mit dem dünn⸗
flüffigen verdauten Speifefaft oder der überall ergoffenen plaftifchen
Lymphe in Berührung, jo wird e8 reihlihe Mengen von beiden
in fih aufnehmen Können; aber diefe Auffaugung wird ſich min⸗
bern, je mehr das Blut bereits über jenen nothmendigen Bedarf
an Stoffen in ſich angezogen bat. Die Ueberfüllung defjelben
wird alfo durch eine erreichte Sättigung verhindert, melde die
auffaugenden over anziehenden Kräfte erihöpft und von jelbft Den
Wiedererfag in ein gewiſſes Berhältnif zu dem vorhandenen Be-
dürfniß bringt. |
Den Abfonderungsorganen wird nun das Blut nad den
Beränderungen, die es während feines Laufes erlitten haben Tann,
ftet8 unter einem gewifien Drude feiner Wandungen zugeführt.
Kaum wird diefer Drud allein zur Hervorbringung irgend einer,
gewiß nicht zu der einer jeden Abjonderung hinreichen; die Dr-
gane, denen diefe Berrichtung übertragen ift, Finnen wir nicht als
einfache Filtra anfeben, durch deren Poren der Drud des Blutes
Flüſſigkeiten nur hindurchpreßt; ihre Dienfte find, wie wir früher
faben, oft mannigfaltiger und verwidelter. Indeſſen werden doch
wenigftens das Wafler und die in ihm gelöften Salze bei ber
Abfonderung Feine weitere Verarbeitung erfahren; auf ihre Ab:
fheidung können wir unjere allgemeinen Betrachtungen anwenden.
Findet Das Blut fich jo verbüinnt, daß fein Waflergehalt denjenigen
überfteigt, den feine normale Formel einjchloß, fo werden bie ab-
fondernden Kräfte des Organs, worin fie nun auch beftehen mögen,
dem Durchtritt dieſes Weberichuffes unter dem Drude des Blu-
te8 günftiger fein, als der ferneren Ausſcheidung auch jenes
Waflerantheild, den die Zuſammenſetzung des Blutes fordert.
Denn der letztere wird nicht frei, jondern gebunden an das Ei-
weiß, das in ihm gelöft ift, gebunden auch an die übrigen Beftand-
theile des Blutes den abfondernden Kräften dargeboten und Tann
auf dieſe zurückhaltenden Beziehungen geftütt ihnen widerſtehen,
143
nicht minder die Salze, die in beſtimmten Mengen der Zufam-
menjegung des Blutes gehören,
Aber auch auf jene organiihen Beſtandtheile, bie in der
ernährenden fo wie in der ausführenden Abfonderung aus bem
Blute auötreten, zuweilen nicht ohne einen chemiſch umgeftaltenden
Einfluß der abſcheidenden Organe erfahren zu haben, können wir
im Allgemeinen diefelben Gedanken anwenden. Ein völlig nor-
mal gebilveter und eben deshalb eines Erjates ganz unbebikf-
tiger Gewebtheil wird feine befondere Anziehung gegen das an
ihm vorüberkreifende Ernährungsmaterial ausüben; ein in feiner
Zufammenfetung veränderter, eben dadurch dieſem Material um-
ähnlicher geworden, wird e8 lebhafter anziehen können und fo für
den Austritt deſſelben aus den Gefäßen eine neue begünftigenbe
Bedingung hinzufügen. Aud hier würde Daher Das Bebürfnif
unmittelbar die zweckmäßige Größe des Erfates herbeiführen,
Bietet ein ftoffreichere Blut den Abfonderungsorganen größere
Mengen deſſen, was fie durch ihre irgendwie befchaffene Thätig-
feit zu verarbeiten pflegen, fo kann ſchon die Gegenwart Diejes
veichlicheren Materials binreichen, eine Steigerung biefer Thätig-
feit zu veranlaffen, wenigftens da, wo diefe legte nicht auf in⸗
neren Veränderungen des Organs beruht, welche felbit einen nicht
überfchreitbaren Höhepunkt der Intenfität und Geſchwindigkeit be=
figen. Deutlicher ift, daß allemal die abfondernde Thätigkeit einen
wachjenden Wiberftand finden wird, wenn ihr Material ihr nur
noch im der Menge zugeführt wird, die zu der feften Zuſammen⸗
jegung des Blutes gehört und von diefem zurüdgehalten wird,
Iſt ferner durch irgend eine Hemmung die abfondernde Thätig-
feit Des einen Organs gehindert, fo werben die hier zurüdgehalte-
nen Maflen an allen andern Orten den Ausgang fuchen, der
unter dieſen veränderten Zuftänden für fle noch möglich oder unter
den möglichen dev Teichteft benugbare if. Die Unterbrüdung der
Hautausdünſtung wirft die Waffermaffe, die von der Oberfläche
verbunften follte, in das Innere zurüd, und da fein Organ für
fie undurchgänglich ift, jo jehen wir der Unthätigleit der Haut
144
vermehrte wäfjerige Abſcheidnngen von allen andern Abſonderungs⸗
flächen folgen, von der zunächft und am meiften, die unter ber
Summe aller vorhandenen Umftände die geringften Austritts⸗
widerftände barbietet. Es ift eben fo bekannt, daß übermäßige
Hautverbumftung die übrigen Secretionen an Menge berabjegt
und ihre Concentration fleigert, ein Erfolg, der ohne befondern
Aufwand ausgleihender Thätigfeit aus dem Mangel beglinftigen-
der Löſungsmittel erflärbar iſt. Nicht fir alle Ausſcheidungsſtoffe
findet jedoch eine foldhe Mehrheit der Austrittäwege ftatt; Die
Unterbrüdung einer beftummten Abfonderung Tann entweder die
Bildung des zu entfernenden Stoffes ganz verhindern, indem
biefe vielleicht nur durch die eigenthümliche Thätigleit des jet
ruhenden Organs möglich war, oder fie ann, wo jener im Blute
bereit8 fertig erzeugt vorkommt, feinen Austritt in der Geftalt
verhindern, bie er hier hat, und in welcher er nur durch daſſelbe
jetzt geichlofjene Organ einen freien Durchtrittsweg gefunden hätte.
In Diefem Falle werden ftellvertretende Vorgänge ſich entwideln ;
entweder Das Miaterial, aus weldyem der auszuſcheidende Stoff
gebildet werben follte, oder der fchon gebildete wird andere ober
nod weitere Ummandlungen und Zerfällungen erleiden müſſen,
um zulegt Formen anzunehmen, in denen feine Ausfonderung
dur Die übrigen noch offenen Organe möglih wird. Da die
Stoffe, die in ihrer Rückbildung begriffen find, im Blute ber
immer fortgefegten Einwirkung des Sauerftoffs unterliegen, bie
ihren Zerfall in einfachere und löslichere Verbindungen zu beglin-
figen fcheint, fo ift e8 denkbar, daß auch dieſe Veränderung in
der Richtung der abfondernden Thätigleit ſich von ſelbſt ohne den
Eingriff einer befonderen vegulirenden Kraft geftalte. Die üblen
Folgen jedoch, welche die Zurückhaltung wichtigerer Abſonderungen
für Die Gefundheit des Ganzen zu haben pflegt, zeigt uns wohl,
baß Diefe Erfegung einer Thätigkeit durch die andere mit Schwie-
rigfeiten verbunden ift und kaum in größerer Ausdehnung fich
als ein Ausgleichungsmittel ber Störungen bewähren möchte.
145
An den angeführten Beifpielen fuchten wir die Möglichkeit
einer völlig phyſiſchen Compenſation der Störungen‘ anſchaulich
zu machen; aber wir Können keineswegs verbürgen, daß nicht
ion in ihnen ein Anfang organifcher Compenfation dur das
Eingreifen eines ausdrüdlich zu diefem Zweck beftimmen Syſtemes
von Organen oder Thätigleiten enthalten if. So Vieles ift uns
in dem tieferen „Zufammenhange der Lebensericheinungen noch un=
Har, daR uns oft eine Leiftung einfacher jcheint als fie in Wahr-
heit ift, und daß wir häufig zu der Erflärung befien, was wir
bon ihr willen, mit wenigen Mitteln ausreichen können, während
wir aus dem fihtbaren Aufwand größerer, welchen wir von der
Natur wirklich gemacht finden, auf uns unbelannte Schwierig-
feiten der Sache zurüdichließen müſſen. Ich babe oben den all-
gemeinen Grund ausgedrüdt, welcher die Unzulänglichleit der
blos phyfiſchen Eompenfationen enthält. Sie alle würden zulegt
immer Herftellung des vorigen Gleichgewichts bezwecken; aber es
liegt der Natur nicht immer an diefem Gleichgewicht; fie will e8
felbft zumeilen für die Zwecke der Entwidlung verändert haben.
In diefer Abfiht muß fie auch ſolche Theile zu Tebendiger Wech⸗
ſelwirkung verbinden, welche unmittelbar ihre Zuftände nicht auf
einander würden übertragen können.
Das Nervenfyftem ift zur Erfüllung diefer Aufgabe beftimmt.
Wir haben früher ſchon der motorifhen Nervenfäden gedacht, die
von Gehirn und Rückenmark entipringen, die dort aus dem gei=
fligen Leben entftandenen Bewegungsantriebe den Musfeln des
Körpers zuführen und deren bald augenblidliche bald andauernde
Zufammenziehungen veranlaffen. In ihrem äußern Anjeben diejen
Faſern völlig ähnlih und nur durch die Erfolge ihres Wirkens
abweichend, verbinden eben fo die jenfiblen Faſern alle empfin-
dungsfähigen Punkte des Körpers, von denen fie entipringen,
mit jenen Gentralorganen, bis zu denen alle Eindrücke fort-
geleitet jein müfjen, um für das Bewußtfein vorhanden zu fein.
Auf diefen beiden Fafergattungen und auf den Maſſen des Ge-
bins und Rüdenmarks, in welden fie endigen en entjpringen,
Zobe I. 4. Aufl.
146
beruhen alle die Dienfte, welche das Körperliche Leben den Zwecken
des geiftigen zu leiften bat. Ihre genauere Darftellung dürfen
wir einer fpäteren Gelegenheit auffparen. Neben diefen Organen
aber, die wir unter dem Namen bes Gerebrofpinalfuftens be-
greifen, ift die Erhaltung der inneren Orbnung ber Teiblichen
Berrihtungen zum größten Theile dem anderen Syfteme ber ſym⸗
pathiſchen Nerven übertragen, das von ben vielen Inäuelfürmigen
oder geflechtartigen Zufammenhäufungen, den Ganglien, in welche
feine viel feineren Fafern fi) verfchlingen, den Namen des Gang-
lienſyſtems erhalten bat.
Ye weniger ein Theil des Körpers zu willkürlicher Bewe⸗
gung beftimmt ift, je geringer feine Fähigkeit, dem Bewußtſein
Eindrüde feiner Zuftände zuzuführen, je lebhafter fein Stoffwechſel
oder die bildende Thätigfeit in ihm: um jo häufiger finden ſich
in den Nervenblindeln, die er erhält, die feinen Faſern des ſym⸗
pathiſchen Syſtems neben den dickeren des cerebrofpinalen. Beob-
ahtungen und Berfuche vereinigen fih dahin, die Folgerung,
die ſich aus dieſem Berhalten von felbft ergibt, zu unterftügen,
daß dieſes zweite Nervenſyſtem die Geſammtheit der vegetativen
Berrichtungen, die chemifchen Umwandlungen der Stoffe, ihre
Ernährung und Wiebererzeugung, die Geftaltbildung der fleiniten
Theile, endlich Die zwedmäßige Uebereinftimmung zwiſchen den
Größen und Formen der einzelnen Wirkungen zu überwachen hat.
Diefe gegenfeitige Anbequemung ber Leiftungen verfchievener Theile
jeßt voraus, daß die Eindrüde, welche die einzelnen Fafern von
den Zuftänden des Ortes aufnehmen, in dem fie verlaufen, in gegen-
feitige Beziehung und Vergleihung gebracht werben, und daß es
Mittelpunfte gibt, in welchen ihre verſchiedenen Erregungen zufam-
menftoßen, um durch ihre Wechſelwirkung den Antrieb zu einer
beftimmten der vorhandenen Lage angemeflenen Rückwirkung zu
erzeugen. Es iſt nicht zweifelhaft, daß die Ganglien, die in
großer Anzahl in den verfchiebenen vegetativen Organen gefunden
werben, die Vermittlungspunkte dieſes gegenfeitigen Einflufles
find; aber noch nicht Hinlänglich aufgeklärt find wir über Die Be-
147
dingungen, unter denen bier eine fonft nicht vorkommende Weber-
tragung der Zuftände einer Yafer auf eine andere erfolgt. Denn
ein unmittelbares Zuſammenfließen mehrerer Faſern zur einem
gemeinfamen Stamme ift auch bier nicht beobachtet; «aber zmifchen
den Fafern finden ſich eigenthümliche Elemente, vundliche Tern-
baltige Bläschen, die fogenannten Ganglienzellen, eingeftreut, von
denen man nicht nur einzelne Yafern entfpringen flieht, fondern
deren mehrere zumeilen durch fajerförmige Fortſätze, die fie nach
verſchiedenen Seiten ausſchicken, unter einander in ununterbrochener
Berbindung ftehen. Der Zukunft bleibt e8 vorbehalten, über Die -
Bedeutung dieſer Theile, denen ähnliche auch in Gehirn und
Rückenmark zahlreich vorkommen, völlig zu entfcheiden, und den
Nuten zu beftinmen, den fie für Die gegenfeitige Wechſelwirkung
der einzelnen Faſern haben. Denken wir uns eine foldhe auf
irgend eine Weile hergeftellt, fo wird jedes Ganglion zuerft ein
Bermittlungsglied fein, durch welches dem von einem Körpertheil
berfommenden Eindrude überhaupt ein Einfluß auf Zuftände
eines andern möglich gemacht wird, mit bem jener nicht in un-
mittelbarer Berührung fteht; aber e8 wird fi zugleich auch als
ein Gentralorgan verhalten, indem es diefem Eindrude nicht ſofort
die Größe und Form feines Weiterwirkens geftattet, bie feiner
Art und Stärke an ſich entiprechen würden, ſondern feinen Er—
folg nach den gleichzeitigen Bedürfniſſen der übrigen ‘Theile feft-
ftellt, mit denen es ebenfall$ verbunden ift. Nichts hindert ans
zunehmen, daß die Heinen Ganglien, welche zunächſt Die inneren
Berhältniffe eines beſchränkten, zufammengehörigen Gebietes von
Theilen beberrfhen, unter einander wiederum durch Berbin-
dungsfäden verknüpft, oder mit größeren Ganglten, als Central-
organen höherer Ordnung, in Beziehung gejett, Die Thätigfeiten
umfaffender Organe und Organfnfteme in gegenfeitige Weberein-
flimmung bringen, bis endlih ihr zufammenhängendes Geflecht
alle vegetativen VBerrichtungen des Körpers zu der Einheit plan-
mäßigen Ganges, allfeitiger Unterftügung und ausgleichenver
Wechſelwirkung verkettet. Im der That finden biefe Verbindungen
. 10*
148
dev verſchiedenen Gentralorgeme ftatt, und vom Halfe durch
Bruft- und Bauchhöhle Läuft zu beiden Seiten des Rückgrates
die Kette der Hauptganglien herab, die unter einander durch Ner-
venfäden verbunden, andere Fäden zur Bildung ber zahlreichen
Geflehte ausfenden, welde den einzelnen Abtheilungen der Ein-
gemweide zugeorbnet find.
Man hat in älterer Zeit die Mitleivenihaft, in welche Die
Störungen des einen Organes fo häufig andere auch räumlich ent⸗
fernte hineinziehen, von der Wirkſamleit dieſes Syftemes abhängig
gemacht, und nicht mit Unrecht trägt es von Diefen Sympatbien
feinen Namen des ſympathiſchen Syftems, obgleich viele von ihnen
nach den Ergebnifjen der neueren Unterfuhungen ohne feine Theil-
nahme aus der Wechſelwirkung ber cerebroipinalen Nerven ent-
ipringen. In welcher Form der Thätigleit e8 num feine Leiftungen
ausführt, darüber find wir zum Theil duch Beobachtungen und
Verſuche unterrichtet, ohne jedod den Umfang feiner Wirkungen
erichöpfend bejtimmen zu können. Sicher geftellt ift zunächſt fein
Einfluß auf die Bewegungen der Eingeweide, deren musculöfe
Häute fih nad) Reizung der ihnen vorftehenden Ganglien zufam-
menziehen. Nicht, wie die Muskeln der willfürlichen Bewegung,
plöglich, fondern einige Zeit nach der Anwendung des Reizes, ver-
engert fi) der Darmlanal durch die Verkürzung feiner ihn kreis⸗
förmig umgebenden bünnen Mustelihicht, und diefe Zuſammen⸗
ſchnürung, länger Dauernd, als der angewandte Reiz, jchreitet all⸗
mählich wellenförmig fort, indem, ohne neuen äußern Anlaß nad
der Wiedererweiterung der einen Stelle die ihr zunächſt benachbarte
fi) verengt. Man beobachtet ähnliche Erſcheinungen einer lang-
fam erfolgenden Zuſammenziehung an den größeren Gefähftäm-
men, in deren nicht blos aus elaftiichen jondern auch aus lebendig
contractilen musfelartigen Faſern beftehbenden Wandungen fyın=
patbifche Fäden verlaufen. Die periodiihen Schläge des Herzens
hängen von einem Syſtem mikroſkopiſch Kleiner Ganglien ab, das
in der eignen Muskelſubſtanz deffelben gelagert ifl. Die Bulfa-
tionen des Herzens dauern bei Faltblütigen Thieren auch nach feiner
nn)
149
Ausfchneidung aus dem Körper Tängere Zeit regelmäßig fort;
felbft Die einzelnen Theile des zerftlidten Organs ziehen fich noch
zuſammen, Doch nur die, welche noch jene Ganglien in ſich enthalten.
Diefe Thatfachen beweifen, daß fowohl die Anregung zur Bewegung
überhaupt, al8 der Grumd für die rhythmiſche Abwechſelung von
Anfpannung und Erihlaffung in diefen nervöſen Gentralorganen
liegt, aber wir wiffen weder, woraus fie felbft ihre anregende
Kraft ziehen, noch in welcher beftimmten Weife die Pertodicität
ihrer Tchätigkeit bewirkt wird.
Zur Erregung von Empfindungen feinen die ſympathiſchen
Nerven nicht befähigt. Bon den Zuſtänden der Theile, Die von
ihnen hauptſächlich beherricht werben, von dem Stande der Ver⸗
danung, der Alfimilation, der Abfonderung, von der Spannung
ber Gefäße, haben wir im gewöhnlichen Lauf der Dinge einen
Eindruck; wir erfahren von ihnen erft Dann, wenn ihr Einfluß
fih meiter auf andere Theile erftredt, deren fenfible Nerven uns
diefe mittelbaren Erregungen zuführen, oder dann, wenn fehr
bedeutende Veränderungen und regelwidrige Zuftände eintreten.
Es iſt ungewiß, ob im letzteren Falle Die ſympathiſche Faſer felbit
die Leitung der Eindrüde zum Bewußtfein übernimmt, zu welcher
fie fonft unfähig ift, oder ob die cerebrofpinalen Fäden, die ob⸗
gleich in geringer Anzahl Doch nie ganz zu ihrer Begleitung feblen,
bier wie fonft dieſe Leiftung vollziehen. Vielleicht auch mangelt
überhaupt der ſympathiſchen Faſer die Fähigkeit zur Erzeugung
bon Empfindungen nicht ganz, fondern nur den erzeugten Die
nöthige Feinheit und Schärfe, um aus dem Gemeingefühl unferes
Befindens ſich einzeln deutlich auszufondern. Gemiß dagegen
vollziehen dieſe Faſern den Ganglien gegenüber zum Theil dieſelbe
Aufgabe, welche die fenfiblen Fäden des Cerebrofpinaliyftens dem
Gehirn gegenüber erfüllen; fie dienen als zuleitende Boten, welche
bie Zuftände der Theile, von denen fie kommen, dem Ganglion
als ihrem Gentralorgan zur Beſchlußfaſſung über die nöthige
Rückwirkung kundgeben.
Der bedeutende Einfluß, den das ſympathiſche Syſtem un⸗
150
fteeitig auf die Mifchungsperänderungen der Körperfäfte ausübt,
ift in der Art feines Zuſtandekommens am wenigften bekannt,
Doch laſſen fich Teicht verichiedene Möglichleiten denken, zwiſchen
denen bie Zukunft vielleicht entfcheiden wird. Die Zuſammen⸗
ziehungen, welche die Thätigleit der ſympathiſchen Faſern in ben
Muskeln anregt, laſſen vermuthen, daß auch andere Gewebe unter
berjelben Einwirkung Veränderungen in der Lage ihrer kleinſten
Theilden erfahren Können. Da die chemiſche Zuſammenſetzung
ber Säfte ohne Zweifel in hohem Grade von der Natur ber
Wendungen abhängt, durch welche hindurch fie aufeinander wir:
fen, auötreten oder aufgejogen werden, jo würde eine Wende:
rung in dem phuflihen Zuftande der Membranen leicht die viel-
fahen Abweichungen der Abfonderungen erklären, die man unter
dem Einfluß heftiger Nervenreizungen eintreten fieht, und Die
weniger auffallend und mit minder fchroffen Abwechſelungen ge-
wiß regelmäßig während des ganzen Lebens fortgehen. Eine
Membran, durch melde hindurch zwei Flüffigfeiten auf einander
einzumwirten ftreben, wird in verjchiedenen Graben ihrer Span-
nung und bei verfchtedener Lagerung ihrer Fleinften Theile auch
die wirkungsbegierigen Stoffe nicht immer in gleicher Weife zu
einander gelangen lafjen; fie wird jett Dem einen den Durch⸗
gang verweigern und ihn für den andern erleichtern Fönnen. In⸗
dem fie jo Das Zuſtandekommen eines einzigen ſonſt gewohnten
hemifchen Proceffe8 hindert, Tann fie leicht dem Geſammtergeb⸗
niß ihrer Thätigfeit ganz neue und weit abmeichende Formen
geben. Doch aud die andere Möglichkeit bleibt übrig, daß bie
Nervenfafer im Augenblide ihrer Thätigfeit unmittelbar eine
chemiſche Wechſelwirkung veranlaßt, indem fie gleich dem eleftri=
Ihen Strome, der die ſchon vorhandenen aber noch zögernden
Beftandtheile einer Fünftigen Verbindung diefe plöglich vollziehen
heißt, oder andere Berknüpfungen eben fo plöglich trennt, irgend
eine Bedingung in das Spiel ber Stoffe einführt, Die der die
miſchen Verwandtſchaft zwifchen ihnen neue Richtungen gibt. Am
wenigften würde uns eine unmittelbare geſtaltbildende Wirkung
151
der Nerven Mar fein, und wir dürfen annehmen, daß ihre Lei-
ftung fih in ber Heritellung der chemiſchen Natur der Stoffe er:
ſchöpfe, die Dann durch ihre eignen Kräfte und durch den vereinigten
Eindrud der ſchon organifirten Umgebung geleitet, die ihnen zus
gehörigen Formen annehmen.
Durch Berengerung der Gefäße würde die Kraft der Nerven
den Drud des Blutes auf feine Wände vermehren und dadurch
allen Thätigkeiten der Auffaugung und Abfonderung veränderte
Bedingungen gewähren, durch Zuſammenziehung einzelner Ge-
webtheile würde fie Zufluß und Abflug des Blutes für dieſe
Theile eigenthümlich beftimmen und Anbäufungen wirkſamer
Maſſen mit geringerer Geſchwindigkeit ihres Vorüberfließens da
bewirken können, wo lebhaftere Bildung und raſcherer Umſatz
ſie nöthig machen; durch Beſchleunigung der Muskelbewegungen,
welche im Großen die Ortsveränderung der Stoffe, Die Ausfüh-
rung der abgefonderten, die Aufnahme der neu gewonnenen ein=
leiten und durchführen, endlich durch die veränderte Spannung
ber Membranen würde fie die Größe des Stoffwechſels im Gan-
zen und die Schwankungen feiner Lebhaftigkeit in einzelnen Thei⸗
Ien beftimmen können. Und zu allen biefen Weußerungen feiner
Thätigfeit würde das Nervenſyſtem theils durch den Eindrud der
Störungen beftimmt, melde auszugleichen find, theils würden
die normalen Borgänge im Körper beftändig ibm Erregungen
zuführen, die fih anſammelnd, in einzelnen Augenbliden, in
denen fie eine beftimmte Stärke erreicht haben, eine zweckmäßige
Wirkung auslöfen. So würden bier ungleihförmige Schwan=
kungen, dort regelmäßig und rhythmiſch wiederkehrende Perioden
ber Thätigfeit und Ruhe eintreten, Es ift unnöthig, noch weiter
dieſe Ereigniffe zu jchildern, deren äußere Formen Jeder, deren
beftimmte Bedingungen Niemand kennt; fügen wir ihrer Erwäh-
nung vielmehr die Bemerkung binzu, daß mit dieſem Neidj-
thume von Berrihtungen dennoch das Syſtem der ſympathiſchen
Nerven nicht ganz abgejchloffen auf feinen eignen Hilfsquellen
ruht, fondern daß es mit dem Gerebrofpinaliyftem dur zahl-
152
reihe Täden zufammenhängt. Lange Zeit haben dieſe als die
eigentlichen Wurzeln der Gangliennerven gegolten, deren Ge:
fammtheit man nit als ein unabhängiges Syſtem, ſondern
als die unjelbftändige Ausbreitung und Verflechtung vieler Ge-
hirn⸗ und Rüdenmarknerven betrachtete. Vielfache Gründe haben
gegenwärtig der Borftelung eines felbftändigen Gangliennerven-
ſyſtems das Webergewicht gegeben; doch dürften jene zahlreichen
Verbindungen deſſelben mit Gehirn und Rückenmark nicht allein
den Zweck haben, auch in Diefen Organen den Wiedererfaß zu
leiten, deſſen fie durch ihre Berrichtungen abgenugt bebürfen
fönnten; fie ſcheinen wenigftend eben fo jehr umgekehrt dieſen
Mittelpuntten des eigentlichen thierifchen Lebens einen mitbeftim-
menden Einfluß auf den Berlauf der bildenden und erhaltenden
Berrihtungen möglich zu machen. Nur die Pflanze erhält ihr
Leben, fo lange fie es erhält, völlig durch die zufammenftim-
mende Wirkung ihrer materiellen Beftandtbeile; der thierifche
Organismus, obwohl in feiner Gliederung unendlich reihhaltiger,
bildet dennoch in ſich felbft feinen abgefchlofjenen Kreislauf der
Berrihtungen. Irgendwo und im irgend welder wenn auch
noch fo untergeordneten Form fehen wir immer Clemente des
geiftigen Lebens zwiſchen die Leiftungen der körperlichen Organe
treten und Lüden ausfüllen, welde der Zuſammenhang der
Lebensoorgänge zwiſchen feinen einzelnen Gliedern läßt. “Die
Pflanze, in ihre Lebenselemente, Luft und Waſſer, eingetaucht,
findet fi ungefuht in beftändiger Wechſelwirkung mit dem &r-
fate, defien fie bedarf; das Thier bat feine Nahrung aufzu-
ſuchen, und es vollzieht diefen Theil feines Lebenskreislaufes
nicht ohne das Aufgebot mannigfaltiger Mittel der geiftigen
Thätigfeit. Tilgten wir alle diefe Inſtinete aus, durch welche
das Thier für feine empfundenen Zuftände Heilmittel ſucht, bie
der Naturlauf ihm nicht alle von felbft entgegenbringt, fo
würde fein Organismus nur zu geringer und kurzdauernder
Selbfterhaltung fähig fein, und weit entfernt, jene fich felbft in
Bewegung ſetzende Mafchine zu fein, für melde eine ungenaue
153
Analyfe der Thatfachen ihn jo häufig angefehen hat, ift er nichts
als die eine Hälfte eines Ganzen, unfähig zu leben ohne die andere,
die Außenwelt und bie Geele.
Wie fehr hat iiberhaupt ber Verlauf unferer Betrachtung
jene Borurtbeile umgeftaltet, die uns ber unmittelbare Anblid
des Lebens erregt, jene Träume von Einheit Abgefchloffenheit
und Beftändigfeit der lebendigen Geftalt! Raum wiſſen wir noch
anzugeben, wo aud nur räumlich die Grenzen find, welche den
Organismus abfcheiden von feiner Umgebung. Die Luft in un⸗
ferer Lunge, wann fängt fie an zu und zu gehören und wann
hört fie auf, Beſtandtheil des Körpers zu fein? Iſt fie vom
Blut abjorbirt num unfer geworden, und war es nit, als fie
nod in den Lungenzellen fich befand ? Iſt diefer Speifefaft, nach⸗
dem er im die Chylusgefäße eingebrungen, fchon Theil unfers
Körpers, oder ift nicht er und das Blut nur ein Stud in den
Umfang des Leibes hineingezogener Außenwelt, oberflächlich durch
die lebendigen Kräfte verändert, aber der Theilnahme am Leben
doch nur noch entgegengehend? Und freifen nicht viele Stoffe,
wie die Löslichen Salze der Erdrinde, durch unfern Körper, durch
Blut und Organe hindurch, und bleiben ihm doch ftetS fremd ?
In feinem Augenblide enthält er nur das, was zu feinem eigent-
Iıhen Beftand gehört; ftetd treffen wir in ihm Stoffe an, die
erft fein werben jollen, ſtets andere, Die fein gewefen find; Die
Vorbereitung feiner Zukunft und die Trümmer der Vergangen-
beit gejellen fich in ihm mit dem lebendigen Stamme der Ge-
genwart und mit zufällig in ihn veriprengten Bruchftüden ber
Außenwelt.
Und eben jo wenig, wie im Raume, fließt fi im Laufe
feiner zeitlihen Entwidlung der Körper zu firenger Einheit ab.
Nicht aus eignen Mitteln ſich ergänzend wachſend und entfal-
tend, ift er vielmehr überall auf die mithelfende Begünftigung
154
der äußern Welt angewiefen. Sein Leben gleicht einem Stru⸗
del, ben ein beſonders geftaltetes Hinderniß im Ylußbett eines
Stromes erzeugt. Der allgemeine Naturlauf ift diefer Strom,
der organifche Körper das Hinderniß, an dem er fi bricht, und
deſſen eigenthilmliche Geftalt den gleichförmigen und geradlinigen
Andrang der Gewäffer in die wunderbaren Windungen und Kreu-
zungen bes Wirbel8 verwandelt. So lange die Form des Fluf-
bette8 biefelbe fein und fo lange die Wellen zuſtrömen werben,
wird unaufhörlih fi das Spiel der Bewegung erneuen, in
immer gleicher Geftalt, ſcheinbar unverändert, obwohl es Doc
von Augenblid zu Augenblid andere Fluten find, die kommend
e8 erzeugen und gehend es verlafien. Aber die Form des Fluß⸗
bette8 wird nicht bleiben; die Gewalt der Strömungen wird fie
ftetig ändern, und was dieſe nicht vermag, das wird bie eigne
noch zerftörendere Kraft des angeregten Strudels felbit vollbrin-
gen. Wie ein Meeresftrom durch feinen Wellenfhlag, zu dem
er durch die eigenthümliche Geftalt des Bodens genöthigt wird,
diefen felbft nivellirt und fo die Urfache feiner bejondern Bewe-
gung ſich felbft Hinwegräumt, jo Tehren fi auch die ausgelibten
Thätigfeiten des Lebens, alle Aeußerungen und Leiftungen feiner
Organifation, mit langſamer aber fiherer Gewalt gegen bie
Grundlage zerftörend zurüd, auf der fie beruhen. Der Strudel
von heute ift nicht der von geftern; der beftändige Wiedererjat
bringt wohl ähnliche, doch nie völlig gleiche Zuftände wieder.
Wir verlaffen dieſes Bild nit, ohme ihm eine letzte zu-
ſammenfaſſende Anfchauung der Lebensoorgänge zu entlehnen. Die
höchſten und edelften Erſcheinungen der Natur wie des geiftigen
Daſeins glaubt ein weitverbreiteter Wahn durch firenge Bedürf⸗
nißlofigfeit ausgezeichnet, durch unüberwindliche Starrheit ihres
Kernes ftegreih gegen alle Angriffe der äußern Welt, durch
Einfachheit ihres inneren Gefüges in der Stetigfeit ihrer Eut-
willung gefihert. In Wahrheit aber hat alles Höhere mehr
Borausfegungen als das minder Hochgeftellte, und die Kraft
feiner Eriftenz befteht nur in ber geiftuollen Berechnung, mit
155
der e8 die gejteigerte Vielfältigkeit feiner Bedürfniſſe zu befrie-
digen weiß. Nicht ein einfacher in ſich geſchloſſener und durch
feine Intenfität mächtiger Geftaltungstrieb befeelt die lebendigen
Körper, nit mit ungemöhnlicden unüberwindbaren Kräften
Ihließen ihre Beftandtheile fih zu einer dichteren Einheit zu⸗
fammen, als fie dem Unbelebten möglih wäre; auf beftändigem
Wechſel ihrer Maſſen berubend, find fie, verglichen mit dieſem,
Iodere und gebrechliche Gebilde. Aber an den glüdlichen Ver:
bältniffen, in denen fie ihre Theile untereinander verbunden dem
Naturlauf entgegenftellen, bricht ſich dennoch ber eindringende
Strom unzähliger phyſiſchen Ereigniffe und geftaltet fi zu einem
feitftehenden Bilde, das die Stoffe der Außenwelt in ſich hinein⸗
zieht eine Zeit lang fefthält und fie dann dem forınloferen Tret-
ben der unorganifhen Natur zurüdgibt. Nicht an ein feftes
Subftrat ift dieſes reiche Spiel der Ereigniffe gebunden, fondern
ihmebt, beweglich wie der farbige Glanz des Negenbogens, über
einem raſtlos veränberlihen Untergrunde. Ja fo wenig finden
wir in ben organiſchen Körpern jene einheimifche ſich ſelbſt ge-
nügende Lebenskraft, daß wir fie vielmehr nur wie jene Derter
im Raume anjehen können, an denen die Stoffe, die Kräfte und
Die Bewegungen des allgemeinen Naturlaufes in fo glüdlichen
Berhältniffen fi) kreuzen, daß veränderliche Maffen fich für eine
Zeit lang zu einer doch immer bald vergehenden Geftalt verdich—
ten und ihre Wechſelwirkungen eine melodiſch abgefchlofiene Reihe
aufblühender und verwelkender Entwidlung durchlaufen können.
Wie fehr das ſtill aufwachſende Bild der Pflanze und die be-
weglich fortichreitende Geftalt des Thieres uns verleiten mögen,
fie als fefte Einheiten und auf fih beruhende Ganze zu bewun-
dern; mie dringend endlich fittlihe Motive uns auffordern mögen,
ung als ſolche im Gegenfage zu der übrigen Welt zu fühlen,
welche das geftaltbare Material unjerer Handlungen umſchließt:
für die Wifjenfchaft dennoch, welche die leibliche Begründung un=
ſers Dafeins fucht, Tiegt die übrige Natur nicht wie ein frembes
formlojes Chaos um das einzelne Tebendige Gefchöpf ausgebreitet,
156
erft von feiner Lebenskraft Zuſammenhang Form und Entwid-
ung erwartend. So wie der Brennpunft einer Linfe die mär-
mende Kraft des Lichtes verbichtet, oder das zierlihe Bild einer
Geftalt entwirft, ohne fein eigne® Verbienft, fondern die zuſam—
menfdießenden Strahlen find es, die e8 ihm fchenfen, der Schau:
platz jo ansgezeichneter Erſcheinungen zu fein: fo verbienftlos
beinahe fammelt der Iebendige Körper die Stoffe und Bemegun-
gen der Umgebung zu dem geſchloſſenen Bilbe feiner eignen Ge-
ftalt. Wohl ift er zum Theil jelbft die Pinfe, deren brechende
Kraft die Strahlen vereinigt, aber auch diefe wirkſame Yorm
verdankt er einer Meberlieferung, in welde die Kräfte der Außen⸗
welt mitthätig eingriffen. So ift er, was er ift, al8 Ergebniß
dev Umftände, die ihn hervorbrachten; zu harmoniſcher Entwid-
fung erwählt, wenn fie günftig zu feiner Erzeugung liberein-
fimmten, zu ſiechem und kümmerlichem Dafein venrurtheilt, wenn
mißhellige Bedingungen fi) in feiner erften Anlage durchkreuzten.
Die unabläffige allgemeine Bewegung der Natur ift überall Die
umfaffende Strömung, in deren bewegteſtem Theile, nicht ein=
mal wie feſte Injeln, jondern nur wie bewegliche Wirbel die
lebendigen Gefchöpfe auftauchen und verjchwinden, indem Die
vorüberfließenden Maſſen augenblidlib eine Zuſammenlenkung
in eine eigenthümliche Bahn und eine Verdichtung zu beftimmter
Geftaltung erfahren, um bald durch biefelben Kräfte, von denen
fie in dieſen Durchſchnittspunkt zufannmengeführt wurden, im die
geſtaltloſe allgemeine Strömung wieder zerftreut zu werben.
Bweites Bud.
Die Seele.
Erſtes Kapitel.
Das Dafein der Seele.
Die Gründe für die Annahme ber Seele. — Freiheit des Willens. — Unvergleichbar:
feit der phyſiſchen unb ber pſychiſchen Vorgänge. — Nothwendigkeit zweier verfchies
benen Erflärungsgränbe. — Annahme ihrer Bereinigung in bemfelben Weien. —
Die Einheit des Bewußtfeind. — Was fie nicht iſt, und worin fie wirklich beftcht. —
Unmöglichkeit, fle aus ber Zufammenfeßung vieler Wirkungen zu erflären. — Das
beziehenbe Wifien im Gegenfag zu phyfiſcher Refultantenbilbung. — Neberfinnliche
Ratur ber Seele.
Un in dieſer beftändigen Flucht der Elemente, die einan=
ber fuchen und meiden, wo ift unfere eigne Stelle? Die Man
nigfaltigfeit unferd inmern Lebens, das Spiel der Erfenntniß,
Leid und Luft und die Regſamkeit wechlelnder Beftrebungen, wen
gehören fie an? Iſt dies Alles vielleicht nur eine feinere Form
des Scheines, ein Wiederglanz der inneren Bewegungen jenes
Wirbels, dem Farbenſpiele ähnlich, das der Leichtefte Staub bes
Waſſers über der jchrwerfälligeren Kreuzungen der Fluten ent-
widelt? Oder gibt e8 in aller diefer Aeußerlichleit des Durdhein-
andergehens noch einen ftillen Punkt wahrhafter Innerlichkeit, für
den alle lörperliche Bildung nur eine heimatliche Umgebung, und
alle Unruhe der Beränderung, welche durch die ſichtbare Geftalt
geht, nur eine wechjelnde Aufforderung ift, die Einheit feines
eignen Lebens in vielgeftaltiger Entwicklung zu bethätigen?
Entgegengefeßt bem unmittelbaren Augenfchein der Erfah:
rung hat die natürliche Ueberlegung des menfchlichen Gefchlechts
fich ftetS für dieſen Glauben entfchieven. Keine Beobachtung zeigt
und geiftiged Neben anders, al8 in beftändiger Verknüpfung mit
160
ber Eörperlichen Geftalt und ihrer Entwidlung; zufammen fehen
wir beide fi entfalten, und mit dem Zerfallen der körperlichen
Bildung verfchwindet ſpurlos für uns auch die Fülle und Macht
des Geiftes, der fie befeeltee Mit fo deutlichen Hinweiſungen
juht uns die Erfahrung davon zu überreden, daß alle innere
Regſamkeit aus der Verbindung der Stoffe entipringt und mit
ihrer Auflöfung verſchwindet; dennoch hat die lebendige Bildung
aller Völker, indem fie den Namen der Seele ſchuf, in ihm bie
Meberzeugung ausgebrüdt, daß nit nur eine Verfchiedenheit des
Ausfehens die inneren Erfheinungen von dem körperlichen Leben
ſcheidet, ſondern daß ein Element von eigenthümlicher Natur, anders
geartet als die geftaltbildenden Etoffe, der Welt der Empfindungen
Gefühle und Strebungen zu Grunde liegt und durch feine eigne
Einheit fie untereinander zu dem Ganzen einer in fich geichlof-
jenen Entwidlung zufammenhält. Ein fo allgemeines Vorurtbeil
wird nie entftehen ohne dringende Aufforderungen, welde in ber
Natur der Sache Liegen; dennoch dürfen wir es zunächſt nur
al8 ein Borurtbeil betrachten, deffen Prüfung Beftätigung oder
Widerlegung einer ausdrücklichen Unterfuchung vorbehalten bleiben
muß. Denn fo gewiß der allgemeine Inftinet der menſchlichen
Bildung nicht ohne tiefere Berechtigung unabweisbarer Bedürfniſſe
zur Ausprägung folder Auffaſſungsweiſen fchreitet, jo wenig dür⸗
fen wir als gewiß vorausfegen, daß er überall glüdlih in feinen
Ergebniffen ift und nicht auf unrichtigem Wege eine Befriedigung
juht, deren Trüglichleit fich dem geſchärften Blide der Willen-
ſchaft zulett nicht entziehen Tann. Und in der That, wenn wir
bie Gründe prüfen, welche der allgemeinen Meinung immer im
‚Stillen in Gedanken liegen, wo fie das geiftige Leben dem Ge-
biete der Natur zu entziehen fucht, jo werden wir finden, daß
fie fi nicht auf alle mit gleichem Rechte fügt, und daß nur in
einem kleinen Kreife von Erfcheinungen die entjcheidende Nöthi-
gung liegt, aus einen eigenthümlichen Wejen die. Erklärung ber
innern Ereigniffe herzuleiten.
*
—
A
7 — —
——
161
— ©: _
Drei Züge find es vornehmlich, welche das
unwiderrufliche Weife von allem Naturlauf zu trennen einen.
Auf leinen von ihnen legt die gewöhnliche Anficht mehr Gewicht,
als auf den zweifelbafteften von allen, auf die Freiheit der inneren
Selbſtbeſtimmung nämlich, die wir mit unmittelbarer Klarheit in
ung ſelbſt zu erfahren glauben, im Gegenfat zu der ununterbroche⸗
nen Nothwendigfeit, mit welder die Zuftände des Unbefeelten
ſich auseinander entwideln. Alles was unfer geiftiges Daſein aus⸗
zeichnet, alle Würde, die wir ihm retten zu müfjen glauben, aller
Werth unferer Perfönlichleit und unferer Handlungen jeheint un
an diefer Befreiung unſeres Weſens von dem Zwange der me=
chaniſchen Abfolge zu hängen, deren Gewalt nicht nur über das
Unbelebte, fondern aud über die Entwidlung unfers leiblichen
Lebens wir einpfinden. Und doch genügt eine Teichte Ueberlegung
zu der Einfiht, daß weder jene Freiheit als eine beobachtbare
Thatſache unſers innern Lebens vorliegt, noch unfere eigne Mei-
nung über den Werth, den wir ihr beilegen, überall mit ſich
ſelbſt in Uebereinſtimmung bleibt. Es ift wahr, daß unfere
Selbſtbeobachtung ung fehr häufig feine bedingenden Beweggründe
nachweiſt, aus denen mit kenntlicher Abhängigkeit unfere Entſchlüſſe
und andere Bewegungen unferd Innern herborgingen; aber fo
zerftreut und bruchſtückweis wendet fih auch unfere Aufmerkfam-
feit auf uns ſelbſt zurüd, daß ihrer unvollkommenen Ueberſicht
leiht das als freie Selbitbeftimmung ericheinen Tann, deſſen
zwingende Gründe fie vielleiht finden würde, wenn fie noch einen
Schritt in der Zergliederung umferer inneren Zuftände zuriidginge.
Es ift wahr, daß Eindrüde, die auf uns geſchehen, Rüdwirfun-
gen aus und hervorrufen, Die weder in ihrer Form noch in ihrer
Größe ihnen entiprechen, und daß in verſchiedenen Augenbliden
dem gleichen Anftoß, den wir von außen erfahren, die verſchie—
denartigften Yeußerungen antworten, Aber mit all diefem unbe=
rehenbaren Benehmen wiederholt doch unfer geiftiges Leben nur
die allgemeine Erfcheinung der Neizbarkeit, die dem leiblichen Da-
fein eben fo wie jelbft dem Unbelebten gemeinſam, nicht eine
Lotze I. 4. Aufl. 11
162
Befreiung von dem Zwange geſetzlicher Wirkſamkeit, fondern viel-
mehr der wahre Begriff diefer Wirffamteit felbft ifl. Denn nir-
gends trägt ja eine thätige Urfache die Wirkung fertig über auf
das Element, da8 von ihr leidet, fo daß fie von dieſem nur das
gleichlautende Echo ihres eignen Thuns zurüderhielte; überall
regt der geſchehene Eindrud nur die eigne Natur deffen zur
Aeußerung an, dem er geihah, und die Geftalt des kommenden
Erfolges ift, nicht minder als durch ihn felbft, durch die eigen-
thümlichen Thätigfeiten bedingt, die er eindringend in bem Lei⸗
enden medte. Zuweilen kennen wir das innere Geflige ber
Gegenſtände, welche der Reiz trifft, und wir vermögen feinen Weg
und die Verkettung der Rüdwirkungen zu verfolgen, die er fort-
fhreitend anregt; noch öfter find uns die inneren Berbältniffe
bes Gereizten unflar, und unfere Beobachtung umfaßt nur den
erften äußeren Anftoß und die legte Form der endlichen Rück-
wirkung; unbekannt in ber Mitte Tiegt die Menge der Bermitt-
Iungsgliever, melde das Ende mit dem Anfang nothwendig ver-
knüpfen. Im mancherlei Abftufungen zeigt und daher bie Reihe
der Erſcheinungen bald Erfolge, deren ſämmtliche Boransfegungen
deutlich in unfern Geſichtskreis fallen, und die uns deshalb als
völlig bedingte Folgen ihrer Vorangänge fi barftellen, bald
Ergebnifje, deren Geftalt, durch die verborgen bleibende Natur
verwidelter Mittelgliever auf das Wejentlichfte mit beftimmt, nun
in feiner faßlihen Beziehung zu dem einfachen Reize mehr fteht,
der fie zuerft veranlaßte. Immer Tiegt in ſolchen Fällen die Neigung
nabe, den nothwendigen Zuſammenhang abgebrochen zu glauben ;
wir find ihr begegnet in der Deutung des körperlichen Lebens;
wir treffen fle hier wieder an, wo die noch ungleich größere Ber-
widlung der mitwirtenden und doch meift verborgen bleibenden
Bedingungen die Rückwirkung der Anregung noch unähnlicher macht
und uns um fo lebhafter von der Freiheit urfachlofer Selbftbe-
ftimmung überredet. Ueberzeugen wir und nun von der Irrigfeit
bes Schluffes, melcher Die durchgehende Bebingtheit des geiftigen
Lebens leugnet, weil fie nicht überall nachweisbar ſei, jo innen wir
163
vielleicht verfuchen, die Freiheit al8 nothwendige Folge moraliicher
Wahrheiten oder als unabweisbare Borbedingung für die Erfüllung
fittlicher Aufgaben feftzuhalten. In der That würden wir einem
folgen Beweife, wenn er zmeifello® gelänge, reichlich den gleichen
Werth für die Begründung unferer Anfichten zugeftehen, den wir
einer beobachteten Thatſache beilegen. Aber wir haben bereits
erinnert, daß hierüber das allgemeine Urtheil nicht mit fih in
Mebereinftimmung ift; e8 wird uns häufig zweifelhaft, ob iiberhaupt,
und in welcher beitimmteren Geftalt für die Befriedigung mora-
liſcher Bebürfniffe jene bebingungslofe Freiheit förderlich oder noth-
wendig fei; nicht Allen Hat fie unentbehrlich gefchienen, und der
Verſuch, fie beftimmter ind Auge zu fafjen, führt zu Fragen, deren
Beantwortung, wie fie ausfalle, jedenfalls weit von der Klarheit
eines Gedankens entfernt iſt, der fich zur entfcheidenden Grund⸗
legung einer wichtigen Anficht eignen fol. Enblid, müfjen wir
hinzufligen, würde doch jeve Meinung nicht von einer Freiheit
bes inneren Lebens überhaupt, fondern nur von einer Freiheit
des Willens Tprechen wollen und können; in dem Verlaufe unferer
Borftellungen, unferer Gefühle und Begehrungen treten fo deutlich
und unverhillt die Spuren eimer allgemeinen Geſetzmäßigkeit her-
vor, daß nie eine Anficht gewagt hat, auch dieſe Ereigniffe dem
Gebiete einer mechaniſchen Nothwendigkeit zu entziehen. Eine
weiter forigefchrittene Unterfuchung würde vielleicht dieſes Be⸗
benfen befeitigen und uns zeigen Können, wie wenig wir Grund
haben, diefe Vereinigung von Freiheit und Mechanismus in dem
Wefen der Seele zu fcheuen, aber gewiß kann am Anfange ber
Betrachtung die offenbare Geltung allgemeiner Geſetzlichleit in
den größeren Theile unfers inneren Lebens dem Glauben an die
unbeobachtbare Freiheit in einem kleineren nur entgegen fein.
Aber eben fo wenig überzeugt doch die Erfahrung und von
ihrem Nichtuorhandenfein, und die Meinungen, die mit zubring-
licher Zuverſicht uns auf die beftändige Verknüpfung der geiftigen
Creigniffe mit Börperlihen Veränderungen binmeifen, deuten eine
befannte Thatſache mit irriger Willkür, wenn fie in ihr den Be-
11*
164
weis zu finden glauben, daß alles Geiftige vollkommen aus ben
Eigenjhaften der Materie erflärbar fei, von der es getragen wird.
Bon äußeren Eindrüden und ihren Wechſelwirkungen mit den
materiellen Beftandtheilen unferes Körpers zeigt und allerdings
eme allgemeine und unabläffig wiederholte Erfahrung die Ber-
änderungen unferer geiftigen Zuſtände abhängig. Unfere Empfin-
dungen wechjeln mit den mwechfelnden Erregungen unſerer Sinnes-
organe; andere Gefühle und Strebungen entitehen und, wenn
äußere Einflüfje oder die eignen ftetigen Ummandlungen der Teben-
digen Thätigfeiten unferem Körper veränderte Stimmungen gegeben
haben; in der weiteften Ausdehnung finden wir bie Lebhaftigleit
und Regſamkeit unſers Gedanfenlaufes an die Schwankungen der
körperlichen Zuſtände geknüpft, bald durch fie begümnftigt, bald
geſchmälert und gehemmt, und eine forgfältige Unterfuchung wird
zugeftehen müfjen, daß jelbft in den höchſten Erſcheinungen des
geiftigen Lebens, wie fie der gefchichtliche Verlauf der menſchlichen
Bildung hervorgebracht hat, noch immer fi Nachklänge des Ein-
fiufjes finden, mit welchen förperlihe Stimmungen, nicht allen
Zeitaltern gleich gegeben, auf die geiftige Entwidlung überwirfen.
Aber alle dieſe Thatjachen beweifen doch nur, daß die Ber-
änderungen körperlicher Elemente ein Reich von Bedingungen
darftellen, an welchen Dafein und Form unferer inneren Zuftände
mit Nothwendigfeit hängt, aber fie beweijen nicht, daß in jenen
Veränderungen die einzige und hinreichende Urſache Liegt, melde
aus eigner Kraft und ohne die Mitwirkung eine ganz anderen
Princips zu bedürfen, die Mannigfaltigleit des Seelenlebens aus
ſich allein erzeugt.
Ein zweiter Blid auf die Natur dieſes Zufammenhangs zeigt
bie luft, die fich bier zwifchen dem ſcheinbar genügenden Grunde
und feiner angeblichen Yolge befindet. Alles, was den materiellen
Beftandtheilen der äußeren Natur oder denen unfered eignen
Körpers begegnet, Alles, was ihnen als einzelnen oder als man-
nigfach verbundenen zuftoßen fan, die Gejammtheit aller jener
Beftimmungen der Ausdehnung Miſchung Dictigkeit und Be—
165
wegung, Died Alles ift völlig unvergleichbar mit der eigenthihn-
lihen Natur der geiftigen Yuftände, mit den Empfindungen, den
Gefühlen, den Strebungen, die wir tbatfächlih auf fie folgen
ſehen und irrthümlich aus ihnen entftehen zu fehen glauben.
Keine vergleichende Zergliederung würde in der hemifchen Zufam-
menfegung eines Nerven, in der Auffpannung, in der Lagerungs-
weife und der Beweglichkeit feiner kleinſten Theilden den Grund
entdeden, warum eine Schallmelle, die ihn mit ihren Nachwir-
kungen erreichte, in ihm mehr als eine Aenderung feiner phyſiſchen
Zuftände hervorrufen follte. Wie weit wir auch den eindringenden
Sinnesreiz durch den Nerven verfolgen, wie vielfach wir ihn feine
Form ändern und fih in immer feinere und zartere Bewegungen
umgeftalten lafjen, nie werden wir nachweifen können, daß es
von felbft in der Natur irgend einer fo erzeugten Bewegung Liege,
als Bewegung aufzubören und als Teuchtender Glanz al8 Ton
als Süßigkeit des Gefchmades wiedergeboren zu werben. Immer
bleibt der Sprung zwiſchen dem legten Zuftande der materiellen
Elemente, den wir erreichen können, und zwiſchen dem erften
Aufgehen der Empfindung gleih groß, und kaum wird Jemand
die eitle Hoffnung nähren, daß eine ausgebildetere Wiſſenſchaft
einen geheimnißvollen Uebergang da finden werde, wo mit der
einfachften Klarheit die Unmöglichkeit jedes ftetigen Uebergehens
fi uns aufdrängt. Auf der Anerkennung diefer völligen Unver-
gleihbarfeit aller phyſiſchen Vorgänge mit den Ereigniffen des
Bewußtſeins hat von jeher die Ueberzeugung von der Nothmen-
digkeit geruht, eine eigenthlimliche Grundlage für die Erflärung
des Geelenlebens zu fuchen.
In dem Imtereffe der Wiſſenſchaft Tiegt e8 ohne Zweifel,
eine Mannigfaltigfeit verfchtedener Erfcheinungen unter ein ein=
ziges Princip zufammenzufafjen, aber das größere und wefentlichere
Intereſſe alles Willens ift doch ſtets nur dies, das Geſchehende
auf diejenigen Bedingungen zurüdzuführen, von denen e8 in Wahr-
heit abhängt, und die Sehnfuht nad Einheit muß fi da der
Anerkennung einer Mehrheit verfchtevener Gründe unterorbnen,
166
wo die Thatfachen der Erfahrung uns fein Recht geben, Berfchie-
denes aus gleichem Duell abzuleiten. Kein Bedenken allgemeiner
Art darf uns daher abhalten, fir die beiden großen und geſchie—
denen Gruppen des phyſiſchen und des geiftigen Geſchehens eben
fo gefchtedene und auf einander nicht zurückführbare Erflärungs-
gründe anzunehmen; ohnehin würde jener Trieb nad Einheit doch
nur die Forderung einfchließen, daß in dem einen Ganzen bed
Weltbaues überhaupt fich das zulegt verbunden finde, was unferer
unmittelbaren Beobachtung fich getrennt zeigt; wir würden ver⸗
langen Können, daß aus einer Wurzel die verfchiedenen Zweige
ſtammen, aber nicht zugleih, daß die Zweige felbft zufammenfallen
oder der eine ftet8 nur aus bem andern, und nicht unabhängig neben
ihm aus der gemeinfamen Wurzel entfpringe. Ueberlaſſen wir
deshalb fpäteren Betrachtungen die Wieberaufnahme diefer Frage
und begnügen wir uns jegt mit dem Rechte, für Ereigniffe, die un-
vergleichbar find, auch gefchiedene Erflärungsgründe zu verlangen.
Und dieſes Recht nehmen wir bier nicht in anderer Weife
in Anſpruch als in der, in welcher e8 ung ſtets aud für Die Er-
ſcheinungen innerhalb des Gebietes der Natur jelbft zugeftanden
wird. Ueberall, wo wir ein Element Erfolge hervorbringen fehen,
bie wir weder aus feiner beftändigen Natur, noch aus ber Be—
wegung, in der es ſich augenbliclich befindet, verftehen können,
juhen wir den ergänzenden Grund diefer Wirkung in der anders
gearteten Natur eines zweiten Elementes, die, von jener Bewegung
getroffen und angeregt, aus fi) den Theil oder die Form bes
Erfolges erzeugt, Die wir vergeblih aus dem erften abzuleiten
verſuchen würden. Nicht ver Feuerfunke ift e8, der die Exploftons-
kraft dem Pulver mittheilt, denn auf andere Gegenftände fallend,
bringt er feine Wirkung ähnlicher Art hervor; weder in feiner
Temperatur ‚ no in der Art feiner Bewegung, noch im irgend
einer andern feiner Eigenfchaften würden wir den Grund finden,
ber ihn befähigte, aus fih allein heraus jene zerſtörende Kraft
zu entwideln; er findet fie vor in dem Pulver ‚ auf welches er
faͤllt; ober richtiger, ex findet fie auch bier nicht fertig vor, aber
167
ex trifft bier mehrere Stoffe in einer Verbindung an, die bei
dem Butritt der erhöhten Temperatur, die er binzubringt, fich mit
plöglicher Gewalt gasförmig ausdehnen muß. Yür die Form der
entftehenden Wirkung Liegt alfo der Grund in der Miſchung des
Pulvers allein, für ihren wirflihen Eintritt bringt die Glühhige
des Funkens die legte nothwendige ergänzende Bedingung hinzu.
Zu denfelben Schlüffen berechtigt und die Unvergleichbarfeit der
materiellen Zuftände und ihrer geiftigen Folgen. Wie feit bie
letzteren an jene als ihre Bedingungen gebunden find, den Grund
ihrer Form müſſen fie doch in einem andern PBrincip haben, ‚und
Alles, was wir als Thätigfeit oder Wirkſamkeit der Materie
denken Können, bringt nicht aus fich felbft das geiftige Leben her-
vor, ſondern veranlaßt nır fein Herbortreten durch die Anregung
zur Aeußerung, Die e8 einem anders gearteten Elemente zuführt.
Allein wir müfjen noch genauer die Folgerung bejchränfen,
Die wir aus Diefen Betrachtungen ziehen zu dürfen glauben. Wir
waren berechtigt, für die beiven abweichenden Gruppen von Er⸗
fcheinungen verſchiedene Erflärungsgründe zu fuchen, aber wir
haben darum noch nicht das Recht, diefe Gründe an verſchiedene
Gattungen von Wejen zu vertbeilen. Kann aus denjenigen Eigen-
‘haften, um bevenwillen wir die Materie Materie nennen, das
Auftreten eines geiftigen Zuftandes nicht abgeleitet werden: was
Bindert uns, in ben Zörperlichen Elementen noch neben jenen
Eigenſchaften einen Schag inneren Lebens anzunehmen, ber unferer
Aufmerkſamkeit fonft entgeht und eben nur in dem, mas wir
geiftigeß Xeben nennen, Gelegenheit zur Aeußerung findet? Warım
fol der Materie al8 einem beftändig todten Stoffe gegenüber
alle geiftige Regfamleit in das beſondere Weſen einer Seele ver-
bichtet werden, bie ihrerfeitö der Eigenſchaften entbehrte, mit denen
die körperlichen Elemente fih in der Natur Geltung verfchaffen ?
Könnte nicht der fihtbare Stoff unmittelbar ein doppeltes Leben
führen, als Materie nach außen erſcheinend und Feine Fähigfeit
168
verrathend, als die mechaniſchen Eigenſchaften, die wir Tennen,
innerlih dagegen geiftig bewegt, ben Wechjel feiner Zuftände
empfindend und mit Strebungen die Wirkſamleit begleitend,
deren allgemeine Gefeglichleit er freilich nicht mit Freiheit zu
ändern vermag?
Nur allmählich werben wir im Verlauf diefer Betrachtungen
die volle Antwort auf diefe Tragen geben Können; e8 muß jekt
genügen, zu zeigen, wie wenig ihre Bejahung an dieſem Anfange
der Unterfuhung den Stand der Sache ändern würde. Denn
eben ein Doppelweſen wiirde biefer empfindende und firebende
Stoff immer bleiben; jo ſehr aud die Einheit feines Weſens die
Eigenſchaften der Materialität und die der Geiftigfeit zuſammen⸗
hielte, fo unvergleihbar würden fie doch immer bleiben, und nie
. würden wir aus einer Veränderung feiner materiellen Zuftände Die
Nothwendigkeit ableiten Können, daß feine geiftige Seite folge-
recht eine entiprechende Veränderung erleiden müßte. Er würde
zwei Entwidlungsreihen erfahren, aus deren keiner ein Uebergang
in die andere denkbar wäre; äußerlich zufammengepaßt würden
wohl thatſächlich die Glieder der einen Reihe denen der andern
entiprehen, aber auch hier würde Die materiale Veränderung nur
deshalb eine geiftige nad) fich ziehen, weil fie auf der andern
Seite dieſes Doppelmefens die geiftige Natur ſchon vorfände, welche
fie weden Tann. Hierin liegt das Recht diefer Anfiht und zu—
gleich ihre Unfruchtbarkeit. Ihr Recht; denn darin allein befteht
ber ſchlimme und alle Weltauffafjung wahrhaft zerftörende Mate-
rialismus, daß man aus den Wechfelwirkungen der Stoffe, fofern
fie Stoffe find, aus Stoß und Drud, aus Spannung und Aus-
behnung, aus Mifhung und Zerfeßung, die Fülle des Geiftigen
als eine leichte Zugabe von felbft entftehen läßt; daß man glaubt,
jo ſelbſtverſtändlich, wie aus zwei gleichen und entgegengejegten
Bewegungen Ruhe, oder aus zwei verſchiedenen eine dritte in
mittlerer Richtung entfteht, fo gehe aus der Durchkreuzung ber
phuftihen Vorgänge die Mannigfaltigkeit des innern Lebens hervor.
Dies ift es, was jede ernfthafte Veberlegung immer wird zurüd-
169
weiſen müſſen, diefe Nachläſſigkeit des Gedankens, die jene Formen
des mechaniſchen Geſchehens, welchen überall in der Welt nur
der Beruf mechfelfeitiger Vermittlung zwiſchen dem Innern der
einzelnen Wefen obliegt, als das Urfprüngliche auffaßt, woraus
als beiläufiger Nebenerfolg alle Kraft und Regſamkeit dieſes In-
neren felbft entipringe.
Diefen Irrthum nun vermeidet die Auffaffung allerdings,
welche der Materie ein verborgenes geiftiges Leben zufchreibt;
denn nicht aus den phyſiſchen Eigenfchaften derjelben läßt fie das
Geiftige entipringen, fondern aus dem, was die Materie heimlich
Beſſeres ift, als fie ſcheint. Aber wir fehen in ihr feinen Vortheil,
den wir für die erfte Ausbildung unferer Anfichten benugen könnten.
Sind in demfelben Stoffe zwar thatſächlich, aber doch unableitbar
auseinander, die Eigenfchaften der Materialität und der Geiſtigkeit
vereinigt, jo wird alle auf die einzelnen Erſcheinungen gerichtete
Unterfuchung die Beränderungen der phyfifchen Seite dieſes Doppel-
weſens doch nur als Veranlafjungen für das Herportreten auch der
geiftigen Zuftände faffen können. Sie wiirde nicht erfläven können,
wie es zugehe, daß eine phyſiſche Veränderung nur darum eine
ihr ungleihartige geiftige nach ſich ziehe, weil daſſelbe Subject
der Träger beider wäre, und fie würde aus der Einheit der auf
fih wirkenden Subftanz die allgemeinen Geſetze, nach denen die
Aenderungen der eimen dieſer Zuſtandsreihen von den Aende—
rungen ber andern abhängen, um Nichts befjer entwideln können,
als es unter Borausfegung einer Wechſelwirkung zweier ver:
ſchiedenen Subjecte möglih wäre. Es kann fein, daß dennoch
in diefer Vereinigung alles inneren und äußern Geſchehens auf
daſſelbe Reale eine Wahrheit liegt, die an anderer Stelle und
in anderer Verwendung wichtig wird; hier erfcheint fie un—
fruchtbar. Und nit allen unfruchtbar; ſchon drängt ſich viel-
mehr eine dritte Betrachtung zu, weldye uns verbieten wird, hier
von ihr den Gebrauch zu machen, der uns vorgeichlagen wurde,
170
ALS die entſcheidende Thatſache der Erfahrung, weldye uns
nöthigt, in der Exrflärung des geiftigen Lebens an Die Stelle ber
Stoffe ein überfinnliches Weſen als Träger der Erſcheinungen
zu fegen, müſſen wir jene Einheit de8 Bewußtſeins bezeichnen,
ohne welde die Geſammtheit unferer inneren Zuftände nicht ein-
mal Gegenftand unferer Selbftbeobadhtung werden Könnte. Manche
Mifverftändniffe haben fih um den einfachen Namen gehäuft,
unter dem wir diefe Thatſache erwähnten, und nöthigen uns,
ausführlicher das zu bezeichnen, was wir mit ihr meinen.
So lange nicht befondere Beranlafjungen und zu anderen
Annahmen nöthigen, find wir gewöhnt, in jeder abgejchloffenen
lebendigen Geftalt eine Seele zur vermuthen, für deren inneres
Leben fie die umgebende Hülle und eine Zufammenftellung wir-
fungsfähiger Werkzeuge darbietet. Das gemöhnliche Leben gibt
und feine Gelegenheit zu dem Gedanken, daß außer der Seele,
die unfer eigne8 Ich bildet, in unferm Körper ſich noch andere
Weſen befinden, die auf gleiche Weiſe als Sammelpunkte aus und
eingehender Wirkungen die Erregungen, von denen fie erreicht
werden, zu einer Welt bewußter Yuftände in fich verarbeiten.
Die Beobachtung aller höheren Thiere erhält ung in dieſer Ge-
wohnheit oder führt doch nur durch einzelne Erfcheinungen, die
der Wiſſenſchaft näher Liegen als der unbefangenen Beobadtung
des Lebens, zu Zweifeln an dieſer Einheit des Bewußtſeins, welche
nur eine Seele der Zahl nad in jedem lebendigen indivinuellen
Gebilde vorausfegt. Die Aufmerkſamkeit auf niedere Thierklaflen
erinnert ung zuerft daran, daß wir zu fehr geneigt find, dieſes
thatfächlicde Verhalten als ein allgemein nothwendiges zu be=
traten. Die Theilftiide des zerfchnittenen Polypen ergänzen fich
nachwachſend zu vollftändigen Thieren, deren jedes völlig Die Summe
pſychiſcher Fähigkeiten entwickelt, die dem urfprünglichen unverleg-
ten Gefchöpfe zukam. Doc nicht jeder Schnitt, den wir beliebig
führten, würde diefe Wirkung haben; die Möglichkeit ber Ver—
vollftändigung jheint daran gebunden, daß in dem Theilftüd ein
vielleicht unbedeutender, aber doch beftimmter Betrag innerer
171
Organifation als entwidlungsfähiger Keim erhalten blieb. Nicht
blos die Fünftlihe Theilung zeigt diefe merkwürdigen Erſcheinun⸗
gen; in zahlreichen Thiergattungen erfolgt die Fortpflanzung durch
freiwillige Zerfällung des Körpers, deſſen Bruchſtücke zum heil
noch im Zuſammenhang mit ihm, zum Theil nad ihrer Abldfung
bie vollſtändige Geftalt und Organifation der Gattung ausbilden.
Noch andere endlich ſehen wir ftet8 fo leben, daß an einem ge⸗
meinjchaftlihen und ununterbrocdhenen Stamme, wie bie Knospen
bed Baumes, ſich einzelne Individuen entwideln, unabhängig von
einander in ber Ausübung der fpärlichen Aeußerungen lebendiger
Regſamkeit, die ihnen möglich find, und doch durch ihre Ber-
bindung unter einander gemeinſam manden äußern Einflüffen
unterworfen. Deutlich zeigen uns dieſe Thierkolonien, daß nicht
überall das Körperliche Maſſengebiet, in welchem die Lebenbigfeit
der einzelnen Seele fich geltend machen kann, völlig abgegrenzt
ift zu einer umfchriebenen Geftalt; an einzelnen Punften einer
zufammenbhängenden organiſchen Maſſe finden bier ſich mehrere
jelbftändige Wejen, deren Wirkungen in dem gemeinfchaftlichen
Stamme ſich freuzen mögen und nur in beſchränkter Weife jedem
einzelnen einen Spielraum feiner Willkür geftatten. Was hier
als beitändige Lebensform auftritt, mag in den Thieren, die
durch Theilung fi fortpflanzgen, nur eben in dieſem Vorgange
zu Tage fommen, während in jenen, Die durch Fünftliche Schnitte
ih zu mehreren Individuen fpalten laſſen, vielleicht niemals bie
Mehrheit der einzelnen Yebensfähigen Wefen, bie in den Grenzen
einer und berfelben Körpergeftalt vereinigt find, Gelegenheit zu
jelbftändiger Entwidlung findet, wenn nicht der Zufall oder will-
kürlicher Eingriff fie ihnen verſchafft. Nicht Die Seele des Polypen
würde der Schnitt getheilt haben, fondern da8 Körperliche Band,
das viele vorhandene Seelen in einer Verknüpfung zufammen-
hielt, welde die individuelle Ausbildung der einzelnen hinberte.
Irren wir und nicht in dem Rechte, diefe Vorgänge fo anzufehen,
fo Binnen wir gewiß auch nicht im Voraus beftimmen, wie weit
diefe Zerftrenung vieler Seelen in die gemeinfame Körpermaſſe aud)
172
in höheren Thiergattungen reichen möge. Ohne diefe Frage ent-
ſcheiden zu voollen, deren Beantwortung, fo meit fie möglich ift,
einer fpäteren Stelle paflender überlaffen bleibt, müffen wir bes-
halb hier erwähnen, daß die Einheit des Bewußtſeins nicht diefen
Sinn hat, die Zahl der Weſen zu beichränfen, die eine organiſche
Geftalt beleben, und daß fie am wenigften durch Berufung auf
die Erfcheinumgen, deren wir gedachten, in ihrer Geltung auf-
gehoben wird. Vielmehr von jedem einzelnen jener Theilſtücke
des Polypen würden wir behaupten, daß, wenn überhaupt eine
Seele fein bewegendes Brincip ift, von dieſer in derſelben Be-
deutung die Einheit des Bewußtſeins gelten müſſe, in welder
wir fie unferer eignen Berfönlichleit zufchreiben.
Diefe Bedeutung felbft nun ſuchen wir näher zu beſtimmen.
Berftändlich wird uns allerdings der Zuſammenhang unfer8 innern
Lebens nur dadurch, daß wir alle feine Ereigniffe auf das eine
Ich beziehen, das ebenfo ihrer gleichzeitigen Mannigfaltigfeit als
ihrer zeitlihen Aufeinanderfolge unverändert zu Grunde liegt.
Jeder Rüdblid auf Die Vergangenheit führt dieſes Bild des Ich
al8 den zufammenhaltenden Mittelpunkt mit fih; nur als feine
Zuftände oder Thätigfeiten, nicht als Ereigniffe, die frei für ſich
im Leeren ſchwebten, find alle unfere Borftellungen, ımfere Gefühle
und GStrebungen uns begreiflih. Aber unabläffig wird dennoch
dieſe Beziehung des innern Mannigfaltigen auf die Einheit des
Ih nicht von und vollzogen. Sie findet fih mit Deutlichkeit
doch eben nur in dem Rüdblid, den wir auf umfer Leben mit
gewiſſer Sammlung der zufammenfafjenden Aufmerkſamkeit richten.
Die einzelne Empfindung dagegen in dem Augenblid, in welchem
der Äußere Reiz fle erzeugt, das einzelne Gefühl, indem es aus
dem nützlichen oder ſchädlichen Eingriff der Außenwelt entipringt,
jelbft die Begierden und Strebungen, die eine vorübergehende
Veranlaſſung oft plöglih in uns erwedt, führen dieſe Hindeutung
auf die Einheit unſers Wefens, in der fie zufammengehören, mit
merfbarer Stärke keineswegs allgemein mit fih. Mande Ein
brüde bleiben unbewußt bei ihrer Entftehung und wir finden fie
173
zuweilen wie zufällig in uns auf, nachdem ihre bewirfenden Ur-
ſachen wieber verfchwunden find; andere ruhen durch Tange Zeit-
räume vergeſſen in uns, und felbft die beflifiene Aufmerkjamteit,
welche fie auffucht, vermag ihrer nicht habhaft zu merden; von
dem mannigfadhen Inhalt, der in gleicher Zeit unfer Bewußtſein
füllt, bleibt Vieles zufammenhanglos neben einander und vers
ſchmilzt weder zu dem Ganzen eines und deſſelben Gedankenkreiſes,
noch wird es in eine beutlihe Beziehung zu der Untbeilbarkeit
unſerer Perfönlichfeit geſetzt. Diefen Sinn kann mithin die Ein-
heit des Bewußtſeins, von der wir ſprechen, nicht haben, ein
beftändiges Bewußtſein der Einheit unferd Weſens zu fein, und
die Schlüffe bleiben untriftig für uns, die von einer folden An⸗
nahme auszugeben verſuchten.
Anderſeits Liegt jedoch in dem Thatbeftande, den wir zugaben,
Teine Schwierigfeit, welche die Folgerung aus der Natur unferes
Bewußtſeins auf die Einheit des feiner bemußten Weſens unmög-
ih machte. Denn nicht dies ift nothwendig und unerläßlich, daß
in jedem Augenblide und in Bezug auf alle feine Yuftände ein
Weſen die vereinigende Wirkfamfeit auslibe, deren Möglichkeit
ihm die Einheit jener Natur gewährt; der Erfolg jeder Kraft
hängt an Bedingungen und kann duch ungünftige gehindert wer⸗
den, ohne daß darum die Kraft nichtig wird, durch die er unter
günftigeren Bedingungen entftehen würde. Läßt die Seele Daher
manche ihrer Zuftände unverbunden, und obne fidh ihrer als
bloßer Zuftände ihrer eignen Subſtanz bewußt zu werben, fo
ift aus diefem Thatbeſtande Tein verneinender Schluß gegen die
Einheit ihre Weſens zu ziehen. Iſt Dagegen. die Ceele auch
nur felten, nur in beichräntter Ausdehnung, aber doc überhaupt
einmal fähig, Mannigfaltiges in die Einheit eines Bemußtjeind
zufammenzuziehen, fo reicht dieſer geringe Thatbeftand hin, um
den bejahenden Schluß auf die Untheilbarfeit des Weſens noth-
wendig zu machen, dem dieſe Leiftung gelingen kann. Ich vertraue
für den Augenblid auf die eigne Ueberredungskraft dieſes einfachen
Gedankens und behalte feine Erläuterung vor; aber ich füge hier
174
noch hinzu, daß ja felbft unfer Willen um den oben zugeftandenen
Thatbeftand der Zuſammenhangloſigkeit mander innern Zuftände
nur unter Borausfegung der Einheit des wiſſenden Weſens
begreiflih if. Es mag fein, daß im Augenblid der finnlichen
Wahrnehmung das Verhältniß der entftehenden Empfindung zu
der Einheit des Ich fih uns nicht aufprängt, Daß wir vielmehr
jelbftlo8 in den empfundenen Inhalt und verlieren; aber Die
Thatfache eben, daß dieſes Verhalten ftattfand, würde fpäter für
und nie zum Gegenftand der Wahrnehmung und Berwunderung
werden können, wenn nit die Empfindung doch fchon im Augen-
bli ihrer Entftehbung der Einheit unſers Weſens angehört hätte
und von ihr aufbewahrt wäre, um nun erft die verfpätete Aner-
fennung ihrer ftet3 beftandenen Yufammengehörigfeit mit unferem
Ich zu erlangen. Mögen daher immerhin viele Eindrüde in dem
Moment ihrer Entftehung vereinzelt bleiben, und mag erft eine
ipätere Nachbefinnung das Urtheil über ihre Beziehung zu
uns nachholen, fo Liegt doch in jener anfänglichen Zerftreuung
fein Grund gegen Die Einheit unferes geiftigen Weſens, in ber
Möglichkeit der fpätern Zufammenfafjung dagegen ein zwingender
Grund für ihre Annahme.
Ich entferne endlich ausdrücklich ein letztes Mißverſtändniß,
dem der Gedankengang der vorigen Bemerkungen doch vielleicht
noch ausgeſetzt fein dürfte. Denn dies iſt meine Meinung nicht, das
Bemußtfein, welches wir von der Einheit unſers Weſens haben,
verbürge an fi, durch das, was es jelbft ausfagt, auch die
Wirklichkeit diefer Wejenseinheit. Gewiß mit ſcheinbarem Rechte
wenigften® wiirde man dieſer Auffaffung einwerfen, daß mit faſt
unwiderſtehlicher Ueberredungskraft fih im Laufe unferer inneren
Entwidlung ger viele Ueberzeugungen einftellen, die trog ber
fiegreihen Klarheit, mit welder fie das unbefangene Gemüth
überwältigen, doch dem ſchärferen Nachdenken fich als Fehlſchlüſſe
darftellen, im Widerfpruch mit den Gefeßen des Dentens, welche
allein als der und unvermeidliche Maßſtab aller Wahrheit unferen
Zweifeln entzogen bleiben müſſen. So ſei auch jene Einheit des
175
Ich doch nur die Geftalt, in welder unfer eignes Weſen ſich
jelbft ericheint, und fo wenig wir an der Art, in welcher andere
Dinge und erfcheinend ſich darftellen, unmittelbar einen Anblid
ihrer wahren Natur befigen, fo wenig müſſe unfer eignes Wefen
eine untheilbare Einheit deshalb fein, weil wir felbft uns fo
vorkommen. Ich will nicht unterfuchen, ob nicht dieſer Gebante zu
jenen Uebergenauigfeiten des Nachgrübelns gehört, die im Stillen
fich ſelbſt um die Fehlſchlüſſe dreben, welche fie vermeiden möchten;
in der Form, in welcher er gewöhnlich geäußert wird, trifft er
das nicht, was wir bier zu ermeifen wünſchen. Denn nicht
darauf beruht unfer Glaube an die Einheit der Seele, daß wir
uns als foldhe Einheit ericheinen, fondern darauf, daß wir uns
überhaupt erfheinen Kinnen. Wäre der Inhalt defien, als
was wir uns erſchienen, ein völlig anderer, kämen wir ung felbft
vielmehr als eime zufammenbanglofe Bielheit vor, fo würden wir
auch daraus, aus der bloßen Möglichkeit, daß wir überhaupt
etwie und vorkommen, auf die nothmwendige Einheit unſeres We-
ſens zurüdihließen, Diesmal in vollem Widerſpruch mit dem,
was unfere Selbftbeobachtung uns als unfer eignes Bild vor-
bielte. Nicht darauf kommt e8 an, als was ein Weſen fich
jelbft erſcheint; kann es überhaupt fich felbft, oder kann Anderes
ihm erfcheinen, jo muß es nothwenbig in eimer vollfommenen
Untbeilbarkeit feiner Natur als Eines das Mannigfache des
Scheines zufammenfaflen können.
Was und in diefer Frage zu verwirren pflegt, Das iſt Das
etwas TLeichtfinnige Spiel, das wir fo oft und mit dem Begriffe
der Erſcheinung erlauben. Wir begnügen uns, ihm das Wejen
entgegenzufegen, das den Schein wirft, und wir vergeflen, daß
zur Möglichkeit des Scheines ein anderes Weſen hinzugedacht
werden muß, das ihn flieht. Aus der verborgenen Tiefe des An-
ſichſeienden bricht, wie wir meinen, die Erſcheinung als ein Glanz
hervor, der da ift, ehe ein Auge vorhanden ift, in welchem er
entftände, der fich ausbreitet in die Wirffichleit, gegenwärtig und
faßbar für den, ber ihn ergreifen will, aber auch dann nicht
174
noch Hinzu, daß ja jelbft unfer Wiffen um den oben zugeftandenen
Thatbeftand der Zufammenbanglofigfeit mander innern Zuftände
nur unter Borausfegung der Einheit des willenden Weſens
begreiflih if. Es mag fein, daß im Augenblid der finnlichen
Wahrnehmung das Berhältniß der entftehenden Empfindung zu
der Einheit des Ich fih uns nicht aufbrängt, daß wir vielmehr
felbftlo8 in den empfundenen Inhalt uns verlieren; aber Die
Thatfache eben, daß dieſes Verhalten fattfand, wiirde fpäter für
und nie zum Gegenftand der Wahrnehmung und Berwunderung
werben können, wenn nicht die Empfindung doch ſchon im Augen-
bli ihrer Entftehung der Einheit unfers Weſens angehört hätte
und von ihr aufbewahrt wäre, um nun erft die verfpätete Aner-
fennung ihrer ſtets beftandenen Yufammengehörigfeit mit unferem
Ich zu erlangen. Mögen daher immerhin viele Eindrüde in dem
Moment ihrer Entftehung vereinzelt bleiben, und mag erft eine
fpätere Nachbefinnung das Urtheil über ihre Beziehung zu
und nachholen, fo Tiegt Doch in jener anfänglichen Zerſtreuung
fein Grund gegen die Einheit unferes geiftigen Weſens, in ber
Möglichkeit der fpätern Zufammenfaffung dagegen ein zwingender
Grund für ihre Annahme.
Ich entferne endlich ausdrücklich ein letztes Mißverſtändniß,
dem der Gedankengang der vorigen Bemerkungen doch vielleicht
noch ausgejegt fein dürfte. Denn dies ift meine Meinung nicht, das
Bewußtſein, welches wir von der Einheit unjers Weſens haben,
verbürge an fi, durch das, mas es felbft ausfagt, auch Die
Wirklichkeit diefer Wefenseinheit. Gewiß mit ſcheinbarem Rechte
wenigftens wiirde man dieſer Auffafiung einwerfen, daß mit faft
unwiberftehlicher Ueberredungskraft fi im Laufe unferer inneren
Entwidlung gar viele Weberzeugungen einftellen, Die troß ber
fiegreihen Klarheit, mit welcher fie das unbefangene Gemüth
überwältigen, doch dem fchärferen Nachdenken ſich als Fehlſchlüſſe
darftellen, im Widerſpruch mit den Gejeten des Denkens, welche
allein als der uns unvermeidliche Maßſtab aller Wahrheit unferen
Zweifeln entzogen bleiben müſſen. So fei auch jene Einheit des
175
Ich doch nur die Geftalt, in welcher unfer eignes Weſen ſich
jelbft ericheint, und fo wenig wir an der Art, in welcher andere
Dinge uns erfcheinend ſich darftellen, unmittelbar einen Anblid
ihrer wahren Natur befigen, jo wenig müſſe unfer eignes Weſen
eine untheilbare Einheit deshalb fein, weil mir felbft uns fo
vorkommen. Ich will nicht unterfuchen, ob nicht dieſer Gedanke zu
jenen Uebergenauigfeiten des Nachgrübelns gehört, die im Stillen
fich ſelbſt um die Fehlſchlüſſe drehen, welche fie vermeiden möchten;
in der Form, in welder er gewöhnlich geäußert wird, trifft er
das nicht, was wir bier zu erweilen wünſchen. Denn nit
darauf beruht unfer Glaube an die Einheit der Seele, daß wir
und als ſolche Einheit erſcheinen, ſondern darauf, daß wir ung
überhaupt erſcheinen können. Wäre der Inhalt defien, als
was wir umd erfchienen, ein völlig anderer, kämen wir uns felbft
vielmehr als eine zuſammenhangloſe Bielheit vor, fo würden wir
auch Daraus, aus der bloßen Möglichkeit, daß wir überhaupt
etiwie und vorlommen, auf die nothwendige Einheit unferes We-
ſens zurücichliegen, diesmal in vollem Widerfpruch mit dem,
was unfere Selbftbeobachtung uns als unfer eignes Bild vor-
bielte. Nicht darauf kommt es an, als was ein Wefen fich
ſelbſt erſcheint; kann es überhaupt fich felbft, oder kann Anderes
ihm erfchernen, jo muß es nothwendig in einer volllommenen
Untheilbarkeit feiner Natur als Eines das Mannigfache des
Scheines zufammenfaflen Tönnen.
Was und in diefer Frage zu verwirren pflegt, das iſt das
etwas Teichtfinnige Spiel, das wir fo oft und mit dem Begriffe
der Erſcheinung erlauben. Wir begnügen uns, ihm das Weſen
entgegenzufegen, das den Schein wirft, und wir vergeflen, daß
zur Möglichleit des Scheine ein anderes Weſen hinzugebacht
werden muß, das ihn ſieht. Aus der verborgenen Tiefe des An-
fihfeienden bricht, wie wir meinen, die Erjcheinung als ein Glanz
hervor, der ba ift, ehe ein Auge vorhanden ift, in welchem er
entftände, der ſich ausbreitet in die Wirflichkeit, gegenwärtig und
faßber für den, der ihn ergreifen will, aber aud dann nicht
176
minder fortdauernd, wenn Niemand von ihm wüßte. Wir über-
jehen dabei, Daß auch in dem Gebiete der finnlichen Empfindung,
dem wir dieſes Bild entlehnen, der Glanz, welcher von den Ge-
genftänden ausgeht, eben nur von ihnen auszugehen fcheint, und
daß er felbft nur deswegen fcheinen Tann von ihnen zu fommen,
weil unfere Augen dabei find, aufnehmende Werkzeuge einer
wifjenden Seele, fir welde überhaupt Erfcheinungen entftehen
können. Nicht um uns herum breitet ſich des Lichtes Glanz aus,
fondern dieſe wie jede Erfcheinung hat Dafein nur in dem Be-
wußtſein defien, für welchen fie ift. Und von diefem Bewußtſein,
bon diefer Fähigkeit überhaupt, irgend etwas fich erfcheinen zu
laſſen, behaupten wir, daß fie nothwendig nur der untheilbaren
Einheit eines Weſens zukomme, und daß jeder Verſuch, fie einer
irgendwie verbundenen Mannigfaltigkeit zuzuſchreiben, durch fein
Miplingen unfere Weberzeugung von der überfinnlichen Einheit
der Seele befräftigen wird.
Kaum fohiene mir diefer einfache Gedanke eines weiteren
Beweiſes bebirftig, wenn nicht Doch der Verfuche, ihn zu umgeben,
fo viele wären. Denn immer noch erneuert ſich zuweilen Die
zuverfichtliche Behauptung, die zufanmmenfaflende Einheit des Be-
wußtſeins laſſe fi als der natürliche Erfolg der Wechſelwirkung
vieler Elemente und ihrer Zuftände begreifen. Verſuchen wir
darum zu erörtern, wie weit Die Möglichleit dieſer Erzeugung des
Einen aus der Bielheit reicht.
Die Zufammenfegung vieler räumlihen Bewegungen zu
einer gemeinfamen Refultante ift immer das Vorbild gewefen,
auf welches dieſe Verſuche mehr ober minder unmittelbar bie
Hoffnung ihres Gelingens ftüßten. So wie hier zwei Bewegungen
bon verſchiedener Richtung und Geſchwindigkeit fih zu einer
dritten völlig einfachen vereinigen, in der feine Erinnerung mehr
an den Unterfchieb ihrer beiden Urſprünge enthalten fei, ebenfo
177
werde aus der Mannigfaltigleit geiftiger Elementarbewegungen,
bie in den verſchiedenen Beftandtheilen des lebendigen Körpers
borgehn, die Einheit des Bewußtſeins als refultirende Bewegung
entfpringen. Aber die Ueberredungstraft diefer Analogie beruht
auf einer Ungenauigfeit ihres Ausdrucks und verſchwindet gänzlich,
wenn dieſe befeitigt wird. Denn nicht von zwei Bewegungen
ſchlechthin fpricht jener unzweifelhafte Lehrſatz der phyſiſchen Me-
chanik, Tondern nur von zwei Bewegungen, deren Ausführung von
irgend welchen Kräften einem und demfelben untheilbaren Maj-
jenpunfte in einem und demfelben Augenblide zugemuthet wird.
Die einfache Giltigfeit des Sates hört fogleih auf und weicht
einer vernwidelteren Berechnung des herauskommenden Erfolgs,
ſobald wir an die Stelle jenes untheilbaren Punktes ein wie
auch immer feſt verbundenes Syſtem vieler Maſſen fegen, und Die
verichiebenen Bewegungen auf verjchiedene Punkte diefer vereinigten
Bielheit wirken Iafjen. Und die einfache Nefultante ſelbſt, die
in dem erſten günftigeren alle entiteht, ift eben fo wenig eine
Bewegung Ihlehthin, deren Richtung und Geſchwindigkeit zwar
gefetglich beftimmt wäre, während die Maſſe unbeſtimmt bliebe,
bon der fie ausgeführt wird; fie ift natürlich nur als eine Be—
wegung befjelben untheilbaren Punktes zu denken, auf welchen Die
gleichzeitigen verſchiedenen Bewegungsantriebe einwirkten. Ergänzt
man diefe wenigen Nebengedanfen, die in der Grundlegung ber
Mechanik nie vergefien und nur in den kurzen Berufungen auf
Died Grundgejeg nicht weitläuftig wiederholt werden, To überſieht
man mit einem Blid die Hoffnungslofigfeit jedes Verſuchs, Die
Ableitung des einen Bewußtjeind aus der Wechſelwirkung vieler
Theile dur die Glaubwürdigkeit des unbeftrittenen mechaniſchen
Theorems zu empfehlen. Denn eben dieſen wejentlichen Beftand-
theil des Theorems pflegt jene Wbleitung zu vernadläffigen; fie
Ipriht gern von dem Zufammengeben der verſchiedenen Zuſtände,
die in verfchievenen Elementen ftattfinden, aber fie macht jenes
untheilbare Subject nicht nambaft, in welches fie einmlnden,
durch deffen Einheit fie überhaupt zur Erzeugung einer Refultante
Zope 1. 4. Aufl. 12
178
gendthigt werden und an welchem endlich, als fein Zuftand, dieſe
Refultante eine begreifliche Wirklichfeit allein erft haben Könnte,
Wie ein neues aus Nichts entftandenes Weſen ſchwebt über den
Wechſelwirkungen der vielen Elemente in haltlofer Selbftändigfeit
dieſes Bewußtſein, ein Bewußtſein ohne Jemand, deſſen Bewußt⸗
ſein es wäre.
Verſuchen wir nun, dieſen Mangel zu tilgen und die mög-
lichen Ergebnifle feftzubalten, zu denen diefer Weg führen Tann.
Nehmen wir zuerft an, jedes der vielen Elemente, deren Wechiel-
wirkung wir vorausfegen, verichmelze in ſich ſelbſt die Eindrücke,
Die e8 von andern erfährt, zu der Einheit eines refultirenden
Endzuftandes, fo würde die Summe diefer Refultanten zwar in
gewiffen Sinne fi als Gefammtzuftand der ganzen vereinigten
Bielheit jener Elemente faſſen laſſen, aber doch nicht in einem
Sinn, in welchem diefer Gefammtzuftand der von uns gefuchten
Einheit eines Bewußtſeins ähnlich wirbe. Denn im Grunde
gilt von allen Zuftänden der Thätigfeit oder des Leidens daſſelbe,
was wir von dem Bewußtjein behaupten: fie können alle in
ftrenger Bedeutung nur von untheilbaren Einheiten ausgefagt
werden. Stellen wir uns eine Anzahl von Atomen auf irgend
eine Weiſe zu einer unveränderlichen Verbindung vereinigt vor,
io daß fie jedem Bewegungsantrieb nur in Gemeinſchaſt folgen
können: fchreitet diefer ganze Körper gerablinig vorwärts, jo wirb
feine Bewegung doch nur die Summe der völlig gleichen Be—
wegungen fein, welche feine einzelnen Theile für fi ausführen.
Ya felbft dies ift zu viel gefagt, daß wir von einer Summe von
Bewegungen ſprechen; in Wirklichfeit geſchieht hier nur derfelbe
Borgang fo vielmal, als Atome vorhanden find, die ihn er-
leiden können, und diefe Vorgänge, an ſich von einander getrennt,
bilden weder eine Summe noch ein Ganze. Sie werden Dazu
erft unter einer von zwei Bedingungen. Laſſen wir zuerft alle
einzelnen Bewegungen jener Atome fi) auf ein und bafjelbe un—
theilbare Element übertragen, fo werben fie fi in dieſem aller=
dings zu der Einheit eines Zuſtandes fummiren, deſſen Subject
179
diefe8 Element ijt; aber hiermit wiirde zugleich die Yorm des
Ereigniſſes verändert und an die Stelle einer Gefammtbemwegung
Bieler nur ein Effect derjelben, die Bewegung einer Einheit
getreten fein. Ohne dieſe Aenderung hat die Gefammtbewegung
einer verbundenen Bielheit nur unter ber zweiten Bedingung
Wirklichkeit, dann nämlich, wenn das eine Bewußtfein eines Beob-
achters die Vorftellungen der vielen Einzelbemegungen, ohne fie
zu verichmelgen, auf einander bezieht und ihre bleibende Vielheit
Doch unter den Gedanken der Einheit zufammenfaßt. Denken wir
und ferner ein anderes Syſtem von Atomen, die unter einander
Ioderer verbunden und in Bewegungen von verſchiedenen Geſchwin—
digfeiten und Richtungen begriffen find, fo wiirde von einer Ge—
jemmtbewegung dieſes Syftems nur noch in dieſer zweiten Weife
zu reden fein. Wir Könnten allerdings die Größe der verfligbaren
Bewegung beftimmen, welde das ganze Syſtem nad Abzug der
entgegengejeßten Wirkungen, die ſich wechſelſeitig aufheben würden,
auf ein Element außer ihm zu übertragen vermag. Aber noch
deutlicher ift an dieſem Beifpiel al8 an dem vorigen, baß die
Einheit dieſes erzeugbaren Effecteß nicht gleichbedeutend mit ber
Geſammtbewegung des Syſtemes felbft ift, denn zu diefer gehörte
- ohne Zweifel auch die mannigfaltige Durcheinanderbewegung feiner
Theile, die in der Einfachheit jenes Ergebniffes verſchwunden ift.
Für das Ganze diefer Mannigfaltigfeit gibt e8 in der That nur
einen Ort, wo e8 als Einheit wirklich ift: die zufammenfaffenbe
Borftellung jenes Beobachters. In diefer allein hängt Das Ber
gangene mit dem Gegenwärtigen und dem Yufünftigen zufammen,
in der Wirklichkeit ift Das eine, menn das andere nicht ift; nur
in diefer Vorftelung hat jede Formenſchönheit, jeder Reichthum
und jede Bedeutung der Entwidlung wahrhaftes Dafein, denn
nur in ihr beftehen eigentlih Die Verhältniffe des einen zum
andern, auf denen dieſe Vorzüge alle beruhen; im Wirklichen
arbeitet jeder einzelne Theil wie im Finftern und fieht feine
Stellung zu den übrigen nicht, obgleich er die Einflüffe, die er
von ihnen leidet, vielleicht in da8 Gefühl eines ihm wiberfahrenden
12*
180
Zuftande8 verdichten mag. So werden alſo alle Leitungen einer
verbundenen Mehrheit entweder ſtets nur eine Mehrheit gefonderter
Leiftungen bleiben oder in eine nur dann wahrhaft verſchmelzen,
wenn fie auf die Einheit eines Weſens, als deſſen Zuſtände,
übertragen werden. Bon dem Bemwußtfein aber können wir Tagen,
Daß es als Thätigfeit eines untheilbaren Weſens wohl die Durch-
bringung des Mannigfadhen zu eimer Einbeit möglich made, Daß
aber nie aus der Wechſelwirkung des Mannigfachen allein die
Einheit eines Bewußtſeins entfpringen könne.
Von dieſen allgemeinen Erörterungen wenden wir uns noch
einmal zu unſerem eigentlichen Gegenſtande zurück. In den mannig-
fachen verbundenen Atomen des Körperd nehmen wir noch einmal
jenes innerliche feelifche Leben an, welches die Anficht, von der wir
ausgingen, aller Materie zutrauen zu müflen glaubte Möge
nun ein gemeinfamer Sinnedreiz, wie vorhin ein gemeinfamer
Bewegungsanftop, auf alle zugleich wirken, jo werben wir Die
entftebende Empfindung doch nirgend anders als in Dem Innern
jedes einzelnen Atomes fuchen Finnen. Sie wird fo oft da jein,
als es untheilbare Weſen in dieſer verbundenen Menge gibt,
aber dieſe vielen Empfindungen werden nirgend zu einer gemein=
famen Gefammtempfindung zufammenftoßen, e8 jei denn, Daß
außer ihnen allen ein bevorzugtes Weſen hinzugedacht wird, auf
welches alle ihre innern Zuſtände übertragen, dann wird dieſes
die Seele eines ſolchen Körpers fein. Und Iaffen wir wieder, wie
vorhin verſchiedene Bewegungen, fo jet verſchiedene Empfindungen
in den einzelnen Elementen dieſes Ganzen entjtehen, und nehmen
wir an, daß jevem die Möglichkeit gegeben fei, feine eigne Er—
regung irgendwie zur Anregung auch des anderen zu verwerthen,
fo wird auch hier wohl jedes einzelne Wefen nad) feiner eigen-
thümlichen Stellung zu den übrigen auf feine bejondere Weile von
ihren Einflüffen leiden und Die überall her empfangenen Eindrüde
in fich verfchmelzen oder verfnüpfen. Aber das neue Empfinden
oder Wiflen, das aus dieſen Wechſelwirkungen entjteht, wird Doch
ein Dafein immer wieder nur in den einzelnen Elementen haben,
181
deren jedes in feiner Einheit die mannigfaltigen Eindrücke zur
Mifhung zufammendrängt. Es war vielfach das gleihe Wiſſen
vorhanden, wenn jedes Element die Einflüffe aller andern in
gleicher Weife erlitt; e8 wird hier ein vielfach verſchiedenes Wiſſen
entftanden jein, wenn bie nicht gleichartigen Verhältniſſe, in
welchen die einzelnen zu einander ftehen, jedem von ihnen eine
befondere Mifhung der Eindrüde verurfachen, die bis zu ihm
reihen können. Aber feines von ihnen wird im letzteren alle
die Mannigfaltigfeit aller entftandenen Zuſtaͤnde überjehen: dieſer
Sefammtbetrag der Empfindung oder des Wiſſens wird als ſolcher
nur für einen neuen Beobadter außerhalb vorhanden fein, ber
wiederum in der Einheit feines untheilbaren Weſens die zeritreuten
Thatjachen zu eimem nur ihm erfcheinenden Totalbilde ſammelt.
Sp wie der Zeitgeift, die öffentliche Meinung, nicht neben und
zwiſchen den perjönlichen Weſen ſchwebt, fondern ihr Dafein ſtets
nur in dem Bewußtſein der Einzelnen bat, unvolllommen und
nur al8 Bruchftüd in denen, die ohne Ueberblid in Die Wechfel-
wirfungen verflodten find, welche fih um ihre Stellung herum
entipinnen, vollflommener nur in der Anfchauung deffen, welcher
die größte Menge fremder Stimmungen vergleidhend beurtbeilt,
jo werden bier die verfchiedenen geiftigen Elemente, welche Diefes
lebendige Syſtem zufammenfeßen, verſchiedene Anſchauungen des
Ganzen entwideln, in welchem fie befaßt find; die vollkommenſte
aber wird in jenem Elemente entftehen, das durch einen urfprüng-
lihen Vorzug feiner Natur oder dur die Gunft feiner Stellung
zu den übrigen, als beherrſchende Monade, alle Wechfelwirkungen
der Theile des Ganzen am Iebbafteften in fi fammelt und am
lebhafteften auf die fo ihm zu Theil gewordenen Eindrüde zurüd-
zuwirken vermag.
Auf diefe Vorſtellungsweiſe führt in Wahrheit der Verſuch
zurüd, die Einheit des Bewußtfeind aus der Wechſelwirkung Vieler
abzuleiten. Selbft unter der Vorausſetzung jenes feelifchen Lebens
aller Materie gelangen wir auf Diefem Wege zwar zu einer Aen⸗
derung, aber nicht zu einer Aufhebung des Gegenjates zwiſchen
182
Leib und Seele. Denn allerdings eine qualitative Verſchiedenheit
ihrer Naturen trennt beide unter dieſer VBorausfegung nicht; aber
in Eins verjchmelzen fie noch weniger; immer bleibt die eine und
individuelle herrſchende Seele in völliger Sonderung den gleidh-
artigen aber dienenden Monaden gegenüberftehen, deren verbundene
Menge den lebendigen Körper bildet. Es mag für den Augen-
blick dahingeftellt bleiben, ob für die Erflärung der Erſcheinungen
dieſe Auffafjung des Lebens, als einer Wechſelwirkung von Seelen
und Seelen, größere Vortheile bietet, als der Gegenſatz des
Geiſtes zu dem körperlichen Stoff, den wir unfern Betrachtungen
zu Grund legten. Iſt die herrichenne Monade diejenige Seele,
welche unfer Ich bildet, und deren innere Regungen wir zu ver-
ftehen fuchen, jo bleibt wenigftens uns, den Unterfuchenden, das
Innere jener andern Monaden völlig verichlofien; wir Tennen von
ihnen nur die MWechfelwirkungen, durch die fie und als Materie
ericheinen, und nur unter biefem Zitel und mit den Anfprüchen,
die durch ihn begründet find, werden fie von ung in der Unter-
ſuchung der einzelnen Vorgänge verwendet werben Können.
Nicht daraus ſchloſſen wir die Einheit der Seele, dag wir
uns als Einheit ericheinen; fondern Died, daß uns überhaupt
etwas erſcheinen kann, überzeugte und von der Ungetheiltheit unſers
geiftigen Weſens. Ich werde vielleicht iberzeugender fein, wenn
ich die unterfcheidende Natur des Bewußtſeins ausdrücklich ber-
vorhebe, Die ich bisher ſtillſchweigend vorausfegte. ‘Die Vorſtellung
von dem Berfchmelzen mehrerer Zuftände zu einem mittleren,
von vefultivenden Kräften oder Erfolgen, die aus der Kreuzung
einzelner Wirkſamkeiten entfprängen, haben nadtheilig genug auf
Die Erklärung der inneren Erſcheinungen eingemwirkt; es iſt ber
Mühe wertb, zu zeigen, wie ganz anders geartet die Natur des
Borftellens ift, und wie völlig und auf dieſem Gebiete die ge-
wohnten Betrachtungsmerfen der Naturmiffenichaften verlaffen,
183
denen das Bisherige nod eine unmittelbare Anwendbarkeit zus
zugeftehen ſchien.
Sehen wir in der Natur aus zwei Bewegungen bald Ruhe,
bald eine dritte mittlere entftehen, in welder fie unfenntlich
untergegangen find, To bietet fih uns Aehnliches im Bewußtſein
nirgend® dar. Unſere Borftellungen bewahren durch alle ver:
ſchiedenen Schickſale hindurch, die fie erfahren, denfelben Inhalt,
den fie früher befaßen, und nie jehen wir die Bilder zweier
Farben in unferer Erinnerung zu dem Gefanmtbild einer dritten
aus ihnen gemiſchten, nie die Empfindungen zweier Töne zu der
eines einfachen zwifchen ihnen gelegenen, niemals die VBorftellungen
von Luft und Leid zu der Ruhe eines gleichgiltigen Zuftandes ſich
mifchen und ausgleihen. Nur fo Lange verjchiedene der Außenwelt
entipringende Reize noch innerhalb des körperlichen Nervengebietes,
durch deſſen Vermittlung fie auf die Seele wirken, nad phyſiſchen
Geſetzen einen Mittelzuftand erzeugen, läßt ung biefer, als einfacher
Anftoß nun dem Geifte zugeführt, auch nur die einfadhe Mil:
empfindung entwideln, ftatt der beiden, die wir getrennt wahrgenont-
men haben würden, wenn die Reize und gefondert hätten zufommen
können. So milden ſich für unfere Empfindung wohl die Farben
an den Rändern, mit denen fie im Raum ſich unmittelbar berühren;
aber die Bilder der Farben, die in unferer Erinnerung raumlos
und ohne Scheidewand zufammen find, rinnen nicht in das ein-
förmige Grau zujammen, da8 wir als Mittelergebnig erwarten
müßten, wenn überhaupt das Berjchiedene in unferer Seele fich
ausgleichend verfchmölzge. Aber das Bemußtfein hält im Gegen-
theil das Berjchiedene auseinander in dem Augenblide ſelbſt, in
welchem es feine Vereinigung verſucht; nicht in der Miſchung läßt
ed die mannigfachen Eindrüde unkenntlich zu Grunde gehen, fon-
dern indem e8 jedem feine urſprüngliche Färbung läßt, beivegt es
fi) vergleihend zwijchen ihnen und wird ſich babei der Größe
und der Art des Weberganges bewußt, durch den e8 von dem
einen zum andern gelangte. In dieſer That des Beziehen und
des Vergleichens, den erften Keimen alles Urtheilens, befteht das,
184
was auf geiftigein Gebiet, völlig anders geartet, der Refultanten-
bildung phyſiſcher Ereigniffe entſpricht; hierin Liegt zugleich Die
wahre Bedeutung jener Einheit des Bewußtſeins.
Wenn zugleich ein ftärkerer und ein ſchwächerer Ton gleicher
Höhe und gleichen Klanges unfer Obr treffen, jo hören wir nur
denfelben Ton ftärker, nicht beide getrennt; ihre Wirkungen fallen
bereit in dem Gehörnerven zufammen und die Seele Tann in
dem einfachen Reize, der an fie gelangt, feinen Grund zu einer
Spaltung in zwei Wahrnehmungen finden. Aber wenn beide
Töne nad einander erllangen, jo daß das Sinnesorgan ihre Ein-
drücke gejondert leiten konnte, jo entſteht aus ihren Borftellungen,
welche die Erinnerung aufbewahrt und zu dem Zwecke der Ber-
gleihung in demfelben Augenblid beide wieder insg Bewußtfein
führt, nicht mehr die Vorſtellung eines dritten Tones von größe—
rer Stärke, ſondern beide, obwohl ohne Scheivewand in dem un-
räumlichen Auffafien gegenwärtig, bleiben als gejonderte einander
gegenüber. Und entftände jener mittlere Ton, jo wiirde er nicht
eine Bergleihung beider, fondern nur ein Zuwachs des zu ver
gleichenden Materials fein für ein Bewußtjein, das zu vergleichen
verftände. Die VBergleihung, welche wir wirklich vollziehen, be-
fteht in dem Bewußtwerden der eigenthümlichen Veränderung,
die unjer Zuftand erfährt, indem wir von dem einen Tone vor=
ftellend zum andern übergehen, und im ihr entjteht uns ftatt
eines dritten gleichen Tones ein ungleich größerer Gewinn: Die
Borftellung eines intenfiven Mehr oder Minder. Roth und Gelb
verichmelzen, wenn fie, jchon im Auge ſich mijchend, nur als ein-
facher mittlerer Reiz unferer Seele ſich nähern; in unferer Erin-
nerung bleiben die getrennt empfundenen getrennt und e8 entfteht
nicht aus ihnen der Eindrud des Orange; entftände er, jo wäre
auch durch ihn nur vergleichbares Material vermehrt, nicht die
Bergleihung vollzogen. Sie wird vollzogen, indem wir uns ber
Torm des Wechſels bewußt werden, den unfer Zuflend in dem
Mebergang von Roth zu Gelb erfährt, und wir gewinnen durch
fie die neue Vorftellung qualitativer Nehnlichkeit und Unähnlichkeit.
185
Bergleichen wir endlich einen Eindrud mit ſich felbft, fo ift nicht
das Ergebniß, daß der doppelt gedachte zu einer Verboppelung
feiner einfaden Stärke führte, fondern indem wir bie Thätigfeit
bes Vebergehens wahrnehmen, ohne eine Aenderung in ihrem
Ergebniffe zu bemerken, erlangen wir bie VBorftellung der Gleich:
heit. Wir haben feinen Grund, dieſe Beifpiele mehr zu häufen;
befannt genug ift Jedem das innere Leben, um fchon hier die
allgemeine Ueberzeugung zu erweden, daß alle höheren Aufgaben
unferer Erfenntniß und unferer ganzen geiftigen Bildung auf
derfelben Schonung beruhen, mit welcher das Bewußtſein das
Mannigfaltige der Eindrüde in feiner Mannigfaltigkeit, in allen
Unterfchieden feiner Färbung beftehen läßt, und daß nichts fo
weit von den nothwendigen Gewohnheiten der Seele entfernt ſein
fonn, als jene Bildung refultivender Mifchzuftände, mit deren
Hilfe man fo oft und fo unbedacht alle Weiterentwidlung, ja
jelbft alle urfprüngliche Entftehung unferer inneren Regungen er-
Hören zu innen glaubt.
Diefe Thaten nun eines beziehenden und vergleichenven
Wiffens wird kaum Jemand geneigt fein, noch als Handlungen
eines Aggregates Mehrerer zu betrachten. So lange e8 fih nur
darum handelte, daß alle Vorftellungen in demfelben Bemußtfein
verfammelt find, daß alle aufeinander Wechfelmirkungen ausüben
und wechjelfeitig fi} verbrängen oder hervorrufen, fo Lange konnte
man fich wenigften® leidlich dariiber täufchen, daß doch auch fchon
diefe Erfheinungen die Einheit ihres Trägers nothwendig machen.
Man konnte das Bewußtſein als einen Raum anjehen, in welchem
ſich dies mannigfaltige Spiel drängt, und dahin geftellt laſſen,
woher eigentlich die Beleuchtung des Gewußtwerdens ftammt, in
der e8 fich bewegt. Das thätige Element Dagegen, welches von
einem zum andern libergehend, beides beftehen läßt, aber fich der
Größe Art und Richtung feines Uebergehend bewußt wird, dieſes
eigenthiimlichite Band zwiſchen dem Bielfachen kann unmöglich ſelbſt
ein Bielfaches fein; wie alle Wirfungen überhaupt nur in ver
Einheit eines untheilbaren Weſens, in der fie ſich treffen, ver-
186
bunden werden, jo erfordert noch mehr dieſe beſondere Weile,
Mannigfaches zu verfnüpfen, die ftrenge Einheit des Verknüpfenden.
Jeder Berfuh, an ihre Stelle eine irgendwie verbundene Mehr:
beit zu jegen, wiirde auch hier nur zu den Folgen zurüdführen,
Die wir bereit8 erwähnten, und buch deren Wiederholung wir
nit ermüden wollen.
Die Notbmendigfeit, für zwei unvergleihbare Kreife von
Erſcheinungen zunächft zwei gefonderte Erflärungögründe zu ver
langen, verbot uns jeden Berfuh, dus Wirkungen materieller
Stoffe, jo fern fie materiell find, das innere Leben als einen
jelbftverftändlihen Erfolg ableiten zu wollen. Die andere Noth-
wendigfeit, Die Thatjache der Einheit des Bewußtſeins anzuerkennen
und die Einfiht in die Unmöglichkeit, dieſe Einheit aus der
Wechſelwirkung irgend welcher Vielheit zu erzeugen, Tieß uns auch
von der Annahme eines verborgenen feelifhen Lebens in alle
dem, was wir Materie nennen, feinen Bortheil für die Erklärung
der einzelnen Erjeheinungen hoffen. Wir drüden daher am ein-
fachiten das bisher erreichte Ergebniß in ber längft gemöhnlichen
Form einer Trennung der überfinnlichen Seele von dem finnlichen
Körper aus, gleichviel, worauf das Dajein oder die Ericheinung
des letzteren felbft beruhen möge. Unſer Weg wird noch lang fein,
und manche feiner Wendungen wird uns vielleicht neue Anfichten
auch über das eröffnen, was wir jegßt nur in Diefer erwähnten
Projection erbliden können. Für mißverſtändlich aber würden
wir eine Sehnfuht nach Einheit halten, die ſchon hier Diefen
Iharfen Gegenjaß in irgend einem Höheren zu vermitteln eilte, und
in Wirklichkeit nur feine nothmwendige und deutliche Auffaffung ver-
dunfeln würde. Wir leugnen nicht, daß es einen jo hohen Stanb-
punft der Betrachtung geben fann, für welchen der Unterſchied des
Geiftigen und Körperlichen in feinem Werthe verblaßt, oder als
eine Täufhung begriffen werden kann. Aber das Gebeihen
1837
unferer Anfichten hängt weniger von der Erreichung dieſes Staud-
punktes ab, als e8 Durch feine verfrühte Borausnahme gejchmälert
wird. Auch die Kämpfe und Mühen des Lebens ericheinen einem
geſammelten Weberblide zulett als eine Uebung, deren Werth
nicht eigentli in der Erreihung eines Zieles Tiegt; die irdiſchen
Zwecke mögen in nichtige Kleinheit zuſammenſchwinden im Ber-
gleih mit der endlichen Beitimmung, die wir ahnen; bittere
Gegenfäte unſeres Dafeins verlieren ihre Schärfe und Bedeutung,
an dem Ewigen und Unendlichen gemejjen, auf welches unfere
fehnfüchtigen Blicke fi) richten. Und doch werben wir in jenen
Vebungen fortfahren, diefen beſchränkten Zielen alle Wärme unferes
Gemüthes widmen, dieſe Gegenfäße empfinden und den Kampf
um fie immer wieder erneuern müfjen; unfer Leben würde nicht
edler werben durch die Geringſchätzung feiner Verbältniffe und
des Spielraums, den es unferer firebenden Kraft darbietet. So
mag auch jener Gegenjat zwiſchen körperlichem und geiftigem
Dafein fein letter und unverföhnlicher fein, aber unfer gegen:
wärtiges Leben fällt in eine Welt, in der er nod nicht gelöſt ift,
fondern als ungelöfter allen Beziehungen unſeres Denkens und
Handelns zu Grunde Tiegt. Und ebenjo wie er beftändig dem
Leben unentbehrlich fein wird, ift er zunächſt wenigſtens unent-
behrlich für die Wiſſenſchaft. Was uns als unvereinbar fich gibt,
haben wir zuerft jedes auf fein befonderes Princip zu gründen.
Kennen wir den natürlichen Wuchs und die Verzweigung jeder
einzelnen der Ericheinungsgruppen, Die wir fo gefchteven haben, fo
wird es fpäter möglich fein, von ihrer gemeinjamen Wurzel zu
reden. Gie zu früh vereinigen wollen, würde nur heißen, ihre
Ueberſicht trüben und den Werth verfälichen, den jeder Unterſchied
auch dann bat, wenn er nicht unaufheblich ift.
188
Zweites Kapitel.
Natur und Bermögen der Seele.
Die Mehrheit der Seelenvermögen. — Wängel ihrer Annahme. — Ihre Vereinbarkeit
mit der Einheit ber Seele. — Iinmittelbare unb erworbene Bermögen, Unmöglichkeit
eineß einzigen Urvermögense. — Borftelen, Fühlen und Wollen. — Beftänbige
Thättgkeit des ganzen Weſens der Seele. — Niebere und höhere Rüdwirtungen. —
Veränderlichleit der Seele und ihre Grenzen. — Das belannte und das unbekannte
Weſen der Seele.
Nur dazu haben uns die bisher betrachteten Erſcheinungen
beredhtigt, in der Seele jenes unbelannte Weſen zu ſehen, beflen
ungetheilte Einheit die Mannigfaltigfeit des inneren Lebens zu-
fammenhält: fie haben noch feine Aufklärung über die wejentliche
Natur gegeben, mit welcher die Seele dieſe leere Form der Einheit
ausfüllt und die buntfarbige Bielheit ihrer Zuſtände entwidelt.
Eine vollftändigere Ueberficht der inneren Erfahrung wird gleid-
wohl der einzige Weg zur Löſung auch dieſer Trage fein; wir
haben keine andere Einfiht in das Weſen der Seele außer ber-
jenigen, welche ung die Rückſchlüſſe von den beobachteten Thät-
ſachen unſeres Bewußtſeins gewähren. So müſſen wir ihre
Natur denken, wie fie jein muß, wenn fie das Toll leiden können,
was wir als ihre Zuftände, und das leiſten, was wir als ihre
Thätigkeiten in uns vorfinden. Bon einer Bergleihung ber
inneren Ereigniſſe werden wir deshalb ausgehen müſſen; Aehn-
liches zufammenftellend, Unähnliches fondernd, werden wir das
Mannigfache in Gruppen jammeln, deren jede das in ſich ver-
einigt, was durch die Gleichheit feines allgemeinen Gepräges
zufammengehört und von Anderögeartetem fich ſcheidet. Die
inneren Erſcheinungen find abweichend genug von einander, um
es wahrſcheinlich zu machen, daß biefe Vergleihung, fo Yange
fie feine anderen Geſichtspunkte einmifcht, mit der Auffindung
mehrerer gejonberten Gruppen enbigen wird, deren eigenthimliche
189 —
Unterſchiede auf einen gemeinfamen Ausbru
gelingt. Bon den veränderlichen äußeren Bedingungen,
die Thätigfeit der Seele weden, werden wir wohl jene kleineren
Unterfhiede abhängig denken, welche innerhalb jedes einzelnen
Kreifed die in ihm zufammengehörigen Aeußerungen trennen,
ohne die allgemeinere Aehnlichkeit ihres Charakters aufzuheben.
Aber für das Ganze jedes Kreifed von Erſcheinungen werden
wir Doch ber Seele eine eigentbümliche Anlage zufchreiben müfjen,
in der Weiſe thätig zu fein, die ſich in allen feinen befonderen
Gliedern gleihmäßig als berrihend erweiſt. Wie viele auf
einander nicht zurüdführbare Gruppen der Ereigniffe uns mithin
die Beobachtung übrig läßt, jo viele gejchiedene Vermögen der
Seele werden wir vorausfeßen müffen, aber wir werden über:
zeugt bleiben, daß fie dennody nicht als eine zufammenhanglofe
Mehrheit von Anlagen neben einander in ihre Natur eingeprägt
find, fondern daß zwiſchen ihnen eine Verwandtſchaft ftattfindet,
durch welche fie als verichievenartige Ausdrücke eines und deſſelben
Weſens zu dem Ganzen ſeiner vernünftigen Entwicklung zuſam⸗
menſtimmen.
So erwuchs die bekannte Lehre von den Seelenvermögen,
mit ihren erſten Keimen ſchon der gewöhnlichen Auffaſſung des
täglichen Lebens angehörend. Lange als Lieblingsgegenſtand der
Wiſſenſchaft gepflegt und mehrfach zu ausführlichen Lehrgebäuden
entwickelt, iſt ſie allmählich in Mißachtung gerathen und kaum
würde man gegenwärtig mehr in ihr ſehen wollen, als eine erſte
und vorläufige Ueberſicht der Thatſachen zum Zwecke einer Unter-
ſuchung, die nun erft auf fie folgen fol. Und in ber That
werben wir zugeftehen müffen, daß fie für die Aufflärung ber
Erſcheinungen im Einzelnen allzumenig leiftet. Es würde eine
Täuſchung fein, wenn man in dem Begriffe der Seelenvermögen
ein ebenfo wirkfames Mittel der Unterfuhung zu befigen glaubte,
wie die Naturmwiffenfchaft ein ſolches in dem Begriffe der wirkenden
Kraft gewonnen hatte. Was diefem feine Fruchtbarkeit gibt,
fehlt jenem, ber dagegen völlig die Fehler wiederholt, um beven
190
willen der verwandte Begriff der Lebenskraft ſich in vergeblichen
Berfuhen zur Erklärung der Tebendigen Ericheinungen erſchöpft.
Wo die Phnfit Gebrauch von ihrem Begriffe der Kraft madt,
begnügt fie fich nicht, Diefe durch die Form und das Ausfehen
ihres Erfolges zu charakterifiren; fie redet nicht von anziehenden
oder abftoßenden Kräften iiberhaupt, fondern fie fügt ein Gefet
hinzu, nad weldem die Größe ihrer Wirkſamkeit fich ändert,
wenn genau angebbare Bedingungen, an bie fie gebunden ift,
eine ebenfo beftimmt zu meſſende Beränderung ihres Werthes
erfahren. Nur dadurch ift fie in den Stand gefegt, das beftunmte
Ergebniß zu berechnen, welches jede Kraft unter gegebenen Ber-
hältniffen Tiefern wird; nur dadurch gelingt es ihr überhaupt, an
bie beftändig gleiche Wirkfamfeit derjelben Kraft die mannigfachften
Erfolge zu fnüpfen, die zunächſt zwar nur ihrer Größe nad fi
unterfeiden, aber in ihrem Zuſammentreffen mit anderen in
gleicher Weife beftimmten Wirkungen zu einer unüberſehbaren
Bielheit auch der formverſchiedenſten Ereigniffe führen. Der Be-
griff der Seelenvermögen bietet dieſe Vortheile nicht. Einfeitig
abgeleitet aus der allgemeinen Form, die einer Menge mannig-
faltiger Vorgänge gemeinfan zufommt, bejtimmt natürlich auch
rückwärts jedes derfelben nur im Allgemeinen wieder die Form,
die feinen Aeußerungen zukommt. So wird ohne Zweifel das
Borftelungdvermögen Borftellungen, das Gefühlsvermögen Ge-
fühle erzeugen, aber es fehlt an Regeln der Beurtbeilung, Die
über dieſe unnütze Gewißheit hinaus uns ſchließen Iehrten, melde
Borftellung unter welchen Umftänden entftehen oder was gefchehen
wird, wenn mehrere Aeußerungen befielben Vermögens zufam-
mentreffen.
Ueberall freilich hat aud die Naturwiſſenſchaft die Wirkungs-
gefege ihrer Kräfte nicht beftinnnen können; aber wo fie es nicht
vermochte, gibt fie eben zu, für bie wirfliche Erflärung der Erſchei⸗
nungen noch nicht hinlänglich vorbereitet zu fein. Selbft in folden
Fällen bietet ihr jedoch ihr Begriff der wirkenden Kraft noch Vor⸗
theile, die dem der Seelenvermögen abgehen. Die Wirkungen der
191
natürlichen Kräfte find untereinander ftet8 vergleichbar; denn wie
wunderfam verichieben auch die inneren Zuftände der Elemente fein
möchten: die äußeren Veränderungen, in denen fie fihtbar werben
innen, werben ſich zulegt immer auf Bewegungen im Raume zurüd-
führen laſſen, die nur nad) Geſchwindigkeit und Richtung unterfchte-
den find. Deshalb ift die Phyſik im Stande, die allgemeinen Rech⸗
nungsregeln der Mathematik auf fie anzumenden und mit Beftimmt-
heit den Erfolg anzugeben, welchen das Zufammentreffen mehrerer
Kräfte an demfelben Elemente hervorbringt; aus zwei einfachen
geradlinigen Bewegungen fehen wir bald das Gleichgewicht der Ruhe,
bald eine gleichförmige Geſchwindigkeit in mittlerer Richtung, bald
beftändige Kreisläufe in gefrümmten Bahnen entfiehen. Und um
diefer Vergleichbarkeit der Kräfte willen ift e8 jelbft dann, wenn
ihre Geſetze nicht genau befannt find, noch immer möglich, aus der
Form ihrer Wirkſamkeit wenigftens einen wahricheinlichen Weber:
ihlag des Erfolges zu entnehmen, den ihr Zuſammenwirken haben
wird, und beffen muthmaßlichen Werth zwiſchen beftimmte Grenzen
einzufchließen. Dem gegenüber ericheinen die Seelenvermögen al8
unvergleichhar unter einander; war doch jedes von ihnen eben nur
aus dem eigenthüimlichen Charakter feiner Neuerungen abgeleitet,
den man verzweifelte, mit dem unterfcheidenden Gepräge der anderen
auf einen gemeinfamen Geſichtspunkt zurüdzubringen. Wie Daher
eine That des Vorftellungsvermögend auf das Vermögen der Ge:
fühle einwirken, wie dieſes ferner Strebungen veranlaffen oder hem⸗
men werde, das errathen wir zwar ohne die Wiffenichaft Leiblich,
indem wir bem Inſtinete unferer inneren Erfahrung folgen; aber
in dem Begriffe diefer Vermögen Tiegt nichts, was uns befähigte,
biefen Tact des richtigen Urtheils zu einer Haren wiſſenſchaftlichen
Einſicht in die gegenfeitige Abhängigkeit Diefer Vorgänge zu fleigern.
Fügen wir endlich noch eines hinzu. Die Phyſik gibt mit Be-
ftimmtheit die Bedingungen an, unter denen überhaupt von einer
Wirkſamkeit der angenommenen $räfte die Rede fein kann. Sie
unterjcheidet jene Grundfräfte, die als beſtändig der Maſſe anhaf-
tend gedacht werden können, weil ihre Bedingungen beftändig reali⸗
192
firt find, und die deshalb ſtets vorhanden nur noch auf einen Gegen-
ftand zu warten fcheinen, an dem ihr Einfluß fihtbar werden Tann;
fie ftellt ihnen jene anderen Leiftungsfähigfeiten gegeniiber, bie ein
Clement nit von Anfang an befigt, fondern unter Umftänden er-
wirbt, und die deshalb, jet auftretend, dann wieder verichwindend,
eine wiſſenſchaftlich zu verfolgende Geſchichte ihres Entſtehens Haben.
Auch hierin befindet fih die pſychologiſche Lehre im Nachtheil. Sie
fonnte feines ihrer Vermögen als eine beftändig von der Seele aus⸗
geübte Thätigkeit faffen; ein Vorſtellen, das auf feinen Gegenftand,
ein Gefühl, das auf feine Färbung, ein Wille, der auf fein Ziel
noch wartete, erſchienen zu auffällig als widerfinnige Annahmen;
man fühlte, daß fie ſämmtlich nur Leiftungen find, zu deren Aus-
führung die Seele erft durch beftimmte Eindrüde angeregt und
befähigt wird; eben deshalb fette man fie unter dem Namen der
Bermögen den Kräften entgegen. Aber die Geſchichte ihres Zu—
ftandefommens aus dem Zuſammentreffen jener Eindrüde mit der
Natur der Seele hat man zu wenig verfolgt, und der Mangel dieſes
Nachweiſes ließ fich nicht dadurch ausgleichen, daß man claffificirend
Die verſchiedenen Vermögen nad der größeren Allgemeinheit ober
Beſonderheit ihrer Aeuperungen einander über- und unterorbnete.
Denn immer erichten jo Vieles gleich urfprünglih und neben ein-
ander, was in Wahrheit durch die fortichreitende Bildung des Le-
ben erft erworben und angelibt, fehr verſchiedene Stellen nady ein-
ander in der wirflihen Entwidlung des geiftigen Xebens einnimmt.
Die unbeſtimmten Borftellungen endlich von einem Schlummer und
dem nachfolgenden Erwachen einzelner Vermögen waren nicht geeig-
net, für die im Allgemeinen fehlende Einfiht in das Zufammen-
greifen und Die gegenfeitige Unterſtützung ihrer Wirkungen zu ent-
ſchädigen.
So verlor man den eigentlichen Zweck der wiſſenſchaftlichen
Unterſuchung aus den Augen, die Nachforſchung nach dem urjäd-
lihen Zuſammenhange, durch welchen Schritt für Schritt jedes ein-
zelne Ereigniß des Seelenlebens aus feinen Borangängen entfpringt
und feinerjeit8 auf Die Geftaltung des nächſten Augenblides Ein-
193
flug übt. Darauf aber muß jede Wiſſenſchaft, der ihre zukünftigen
Anwendungen am Herzen Liegen, bedacht fein, daß es ihr möglich
werde, aus dem vorhandenen Zuftande Vergangenes und Kommen=
des zu errathen. Und wo die uniiberjehbare Verwidlung der mit-
wirfenden Bedingungen, wie in dem Falle des Seelenlebens, die
erihöpfende Löſung diefer Aufgabe ſtets ummöglih machen wird,
müfjen wir doch wenigftens nad) einer ſolchen Ueberſicht des urſäch⸗
lihen Zufammenhangs ſtreben, weldhe im Ganzen und Großen mit
mehr Sicherheit, als die unbeftimmte Schägung eines natürlichen
Inſtinctes gewährt, die Umrifje des Künftigen und die vergangenen
Gründe der Gegenwart erkennen lehrt. Nur dieſe Kenntniß würde
uns befähigen, in der Erziehung die Gegenträfte in Bewegung zu
jegen, Die geeignet find, unerwünſchte Ergebnifje zum Beſſeren zu
wenden. Für dieſe Aufgabe bietet Die Lehre von den Seelenver-
mögen feine Löſung; fle wiederholt und eigentlich nur farbloſer und
bon ferne den allgemeinen Umriß der Ericheinungen, die wir in der
vollen Mannigfaltigkeit ihrer lebendigen Localfarben unmittelbar in
ung beobachten, aber fe ſchweigt über die unferer Beobachtung ent-
zogenen Ereignifje, die dieſes mannigfache Spiel eben jo ungefeben
hervorbringen, wie die unwahrnehmbaren Schwingungen des Aethers
die Welt des ſinnlichen Lichts und ſeiner wunderbaren Brechungen.
Nun könnte man geneigt ſein, dieſe Mangelhaftigkeit nicht
dem Grundgedanken, ſondern der noch unfertigen Ausführung der
Lehre zuzurechnen. Vielleicht, nachdem ſorgfältige Beobachtung von
den urſprünglichen Vermögen der Seele diejenigen abgetrennt haben
wird, die augenſcheinlich nur im Verlaufe der Bildung erworbene
Fähigkeiten find, gelangt fie noch dazu, für jene Uranlagen die Geſetze
ihrer Wirkfamfeit und ihres wechfelfeitigen Einflufjes zu entveden.
Aber ehe wir diefer Hoffnung einen Schritt weiter nachgehen, müſ⸗
jen wir eines Einwurfes gedenken, ber fie kurz abzufchneiden droht.
Jede Mehrheit urfprünglicher Vermögen wiberfpreche der Ein-
beit der Seele; fie zu Grunde zu legen, fei eben fo unvereinbar
Zope I. 4. Aufl. 13
194
mit der nöthigen Strenge des Gedankens, als unerſprießlich für
die Abſicht der Erflärung, deren Befriedigung verkürzt werbe, jo-
bald man eine Mamnigfaltigleit von Leiftungen, deren Herleitung
aus einer einzigen Duelle eben das Geſchäft der Wiſſenſchaft fein
müßte, al8 neben einander vorhandene und einer Erläuterung ihres
Urſprungs unbebürftige hinnehme. Man bat fich fo jehr gewöhnt,
hierin das Entfcheidendfte zu erbliden, was gegen die Lehre von den
Seelenvermögen eingemendet werden kann, daß wir falt zögern, eine
entgegengefegte Anficht gelten zu machen. Geſprochen bat man
bon jenen Vermögen allerdings häufig fo, als wären fie fertige,
zuſammenhanglos neben einander der Seele eingeprägte Anlagen;
und mit Recht ftellt man diefer unvolllommenen Schilderung bie
Forderung entgegen, alle verſchiedenen Eigenfchaften eines Weſens
nur als verfchiedene Ausdrüde feiner einen und ſtets fich gleichen
Natur anzufehen, erft durch die Wechſelwirkung ihr abgendthigt,
in melde fie mit anderen Elementen geräth. Aber im Streit mit
jener nadjläffigen Redeweiſe ſchätzt man vielleicht Neuheit und Werth
dieſes Einwurfes zu hoch. Daß die Körper nur farbig find im
Licht, hart nur, wenn eine eindringende Gewalt ihren Widerftand
weckt, flüfftg in diefer, fet in einer anderen Temperatur, das Alles
find Veberlegungen, welche die gemöhnlichfte Erfahrung anregt. Leicht
mußte man von ihnen aus zu der Weberzeugung gelangen, daß
wenigftens die ſinnlichen Eigenihaften der Dinge nicht fefte, ihnen
an fi eingeprägte Beitimmtheiten find, fondern werdende ent-
ftehende und vergehende Scheine, die für uns ihre Natur unter
wechſelnden Bedingungen wechſelnd annimmt. Aber weit näher
Tag e8 noch, diejelbe Anficht auf Die Vermögen der Seele anzuwen⸗
den, deren Name ſchon darauf deutete, daß fie nicht als fertige
Wirflichleiten, fondern eben nur als die verſchiedenen Möglichfeiten
der Aeußerung gelten follten, welche der einen Natur der Seele
zu Gebote ftehen, wenn fie von verfchtedenen Reizen, deren noth⸗
wendige Mitwirkung man nicht vergaß, zur Thätigfeit veranlaßt
wird. Vielleicht thun wir deshalb wohl, wenn wir mandes in
diefer Frage begangene Ungefchid des Ausdrucks auf fi beruhen
195
laſſen und es der hart angegriffenen Lehre zutrauen, baf fie na-
türlich won derfelben Weberzeugung ausging, welche ihr jener Vor—
wurf gegenüberftellt. Den erften Theil deffelben wenigftens ver-
dient fie nit; auch fie ſah alle Vermögen als Folgen der einen
Natur der Seele an, nur daß fie nicht glaubte, fie auch unter
einander in ſolche Abhängigkeit bringen zu müffen, daß aus einem
einzigen alle iibrigen hervorwüchſen. Ob fie nun darin Recht ge=
habt, und ob fie nicht die Anfprüche der Wiffenichaft verkürzt hat,
indem fie fih zu früh mit der Annahme urfprünglicher Anlagen
begnügte und ihre wirflihe Zurückführung auf einen Quell ver:
fäumte, dies ift ein anderer noch zu enticheidender Zweifel. Aber
andy über dieſen zweiten Theil des erwähnten Vorwurfes Finnen
wir eine jet weit verbreitete Meinung nicht völlig theilen.
Gewiß kann unſere Wiſſenſchaft nicht weiter gehen, als bie
Mittel unſerer Erkenntniß reichen, und ſie muß das als eine Reihe
gegebener Thatſachen hinnehmen, was ſie in Wahrheit aus einem
einzigen Grunde abzuleiten nicht vermag. Hierin um jeden Preis
zu Ende kommen zu wollen, führt nur in die Verſuchung, von dem
Gehalte des Thatſächlichen unbewußt etwas abzubrechen, um den
bequemeren Reſt leichter zu erflären. Auch in dieſer pſychologiſchen
Trage Tiegt eine ſolche Berfuchung nahe. Jene Forderung, welche
alle Aeußerungen eines Weſens nur als verfchievene Folgen feiner
einen Natur anzufehen befiehlt, erfennen wir al8 wohlberedhtigt
an, aber wir find nicht im Stande, ihr durch die wirfliche Aus-
führung in der Wiſſenſchaft Genüge zu leiſten. Aus wenigen Orten,
die ein Komet zu verfchiedenen Zeiten am Himmel einnahm, fchlie-
Ben wir auf die Bahn, die er ferner verfolgen muß; die Geſetze
der himmlischen Bewegungen erlauben ihm nicht, Diefe Orte ein-
zunehmen, ohne in nothmwenbiger Folge davon ſpäter auch Die anderen
zu durchlaufen, die mit ihnen zu einer gefeglich beftimmten Krüm—
mung zufammengehören. Eine gleiche Folgerichtigfeit fegen wir aud)
in dem Weſen der Seele voraus. Aeußert ihre Natur ſich gegen
den einen Reiz auf eine beftimmte Weife, fo ift num auch die andere
Aeußerung, mit der fie einem zweiten antworten wird, nicht mehr
13*
196
unbeftimmt oder ihrer Wahl überlafien; der eine Schritt entſcheidet
auch über alle übrigen, und welcherlei Eindrüde ber verjchiebenften
Art fie betreffen mögen, ihr Benehmen gegen jeden berfelben ift
bedingt durch das, welches fie gegen den einen beobachtete. So wer⸗
den auch in ihr die mannigfachen Rückwirkungen, melde ihr ver:
[chtedenartige Anregungen abgewinnen, nicht beziehungslos unter
einander fein, fondern zu dem Ganzen einer in folgerichtiger Viel⸗
feitigfeit fih ausbrüdenden Natur zufammenftimmen. Aber dieſe
Annahme, die wir bier jo unvermeidlich finden, wie dort, ift hier
nicht ebenfo fruchtbar, wie dort. Für den Kometen kennen wir
Die Gefege der Anziehung und der Beharrung als das verfnüpfende
Band, welches alle Theile feiner Laufbahn unter einander in einen
nachmeisbaren Zuſammenhang fett; für die Seele würden wir ein
ungleich tiefer liegendes Geſetz bedürfen, welches uns verſchiedene,
ihrer Form nach nicht vergleichbare Thätigleiten dennoch als Glie-
der einer und derſelben Entwidlungsreihe begreifen lehrte. Wir
müßten fagen können, warum ein Wefen, das auf Beranlafjung
der Aetherwellen Licht und Farben fteht, nothwendig Töne hören
müffe, wenn Luftſchwingungen auf feine Sinnesorgane wirken, ober
warum feine Natur, wenn fie unter gemwifjen Eindrücken anfchauliche
aber gleichgiltige Wahrnehmungen erzeugt, folgerichtig in Gefühle
der Luft und Unluft unter dem Einfluß anderer ausbrechen müfle.
Kaum dürfen wir ausdrüdlic erwähnen, daß diefe außerorbentliche
Aufgabe nie gelöft worden ift, und daß wir nirgends eine Ausficht
auf ihre mögliche Löſung ſehen; jede Piychologie wird Die Ueber-
zeugung theilen, daß diefe ununterbrodene Folgerichtigleit in der
Natur der Seele ftattfindet, aber feine wird ihr Geſetz auszufprechen
wiſſen. ALS Leitender Geſichtspunkt, der die Verknüpfung und die
Führung unferer Unterfuhungen im Allgemeinen beberricht, wird
daher jene Forderung nad folder Einheit der Seele ftet8 gelten
können, aber in der Ausführung unferer Erklärungen müfjen wir
und begnügen, verſchiedene Aeußerungsweiſen der Seele als ge-
gebene Thatfachen binzunehmen.
In der That haben Die Verſuche, die der Lehre von den Ber-
197
mögen gegenübergeftellt worden find, mit der Anerkennung einer
folden Mannigfaltigfeit geendigt. Aber fie haben unterſchieden zwi⸗
ſchen ber Bielheit diefer einfachen, gleich urſprünglichen Thätig-
feiten, die nicht aus einander, fondern nur gemeinfam aus der
Natur der Seele hervorgehen, und zwifchen jenen höheren Wirk-
ſamkeiten, die nicht gleich urfprüngliche Beſitzthümer derſelben bil-
den, jondern eben aus den Berfettungen jener einfachen Zuftände
entipringen, und um beren Erklärung man die Wiflenfchaft ver-
kürze, wenn man fie unmittelbar auf eigne ihnen gewidmete Ver⸗
mögen zurüdführe. Gegen diefen Vorwurf fih in allen Fällen zu
rechtfertigen, wird der Xehre von den Seelenvermögen nicht gelingen.
Sehen wir zum Beifpiel unter diefen auch Urtheilsfraft und Ein-
bildungsfraft neben anderen aufgeführt, fo werben wir ohne Be-
denfen zugeben, daß diefe beiden nicht zu dem angebornen Befit
der Seele gehören, jondern Fertigkeiten find, die fi durch Die
Bildung des Lebens, die eine langjam, Die andere fchnell, ent-
wideln. Wir werden zugleich zugeftehen, daß zur Erflärung ihrer
Entſtehung nicht als die Geſetze des BVorftellungslaufes nöthig
find, nad denen jede erworbene Wahrnehmung im Gebädhtnif
bebarren, und nachdem fie dem Bewußtfein verſchwunden ift, durch
Erneuerung anderer, mit denen fie früher verbunden war, der Er-
innerung wiedergegeben werden kann. In der Seele, bevor fie
Erfahrungen gemacht bat, werden wir die Fähigkeit nicht juchen,
Aehnlichkeiten und Unterfchieve der ankommenden Eindrüde mit
Leichtigfeit und Schärfe aufzufafien und jeden fofort unter die all-
gemeinen Geſichtspunkte unterzuoronen, die feinem Inhalte entipre-
den. Aber jede im Gedächtniß feftgehaltene Wahrnehmung, durch
eine nene ähnliche wiedererweckt, führt auch Die anderen mit ihr ver⸗
bundenen in das Bewußtſein zurüd, die dem neuen Eindrud fremd
find, und fo fordert ſie auf zu fondernden und verbindenden Verglei-
Hungen. Jede Wiederholung diefer einfachen Vorfälle vermehrt bie
Anzahl der Gefihtspuntte, deren Erinnerung fpäter neuen Beobach⸗
tungen entgegenfommt und ihre Einordnung in den Kreis ver-
wandten Inhaltes begünftigt.. So entwidelt fih allmählich und
198
wachſend die Sicherheit des Urtheild, indem Schritt für Schritt
jede neu erworbene Erfenntniß zu dem Stamme von Einſicht ge⸗
ſchlagen wird, durch deffen zunehmende Verzweigung die anfangs
ſchwierige und oft fruchtloſe Arbeit zulegt mit der Leichtigfeit eines
ſcheinbar angeborenen Vermögens erfolgt. Noch weniger möchten
wir von einer urſprünglich fertigen Fähigkeit die Leiftungen der
Einbildungskraft abhängig machen, Leiftungen von jo buntfarbig
verjchiedenem Anſehen, daß zu ihrer Ausführung weit weniger die
Volgerichtigkeit einer einzigen an ein beftändiges Wirkungsgefet ge-
bundenen Kraft, als vielmehr eine allgemeine Ungebundenheit der
Kräfte förderlich ſcheinen könnte. In der That freilich Liegt der
Grund diefer Fähigkeit nicht in einer ſolchen Geſetzloſigkeit, aber
doch darin, daß nicht eine befondere Kraft ihre Erfolge vermittelt.
Eine glüdlihe Mannigfaltigleit der gemachten Erfahrungen bat
dem Borftellungslauf einen hinlänglicden Reichthum von Eindrük⸗
fen zugeführt, mit denen er ſchalten Tann; günftige andere Umftände,
der Eörperlichen Bildung und dem geiftigen Naturell angehörig,
vereinigen fich zugleich, um feinem Spiele alle jene Beweglichkeit
zu laſſen, mit welder er von felbft die mannigfadhften Verbin⸗
dungen ber Borftellungen erzeugt, Verwandtes einander anklingen
läßt, Entgegengefegtes contraftirt und angefangene Gedanfenreihen
fortfeßt. So haben dieſe beiden Vermögen ihre Gefchichte, wir
innen ihre Ausbildung durch die wachſende Erfahrung, ihre Ver⸗
fümmerung durch ärmlichen Inhalt dev Eindrüde, ihre Mißleitung
durch einfeitige Füihrung des Lebens und kranfhafte Hemmungen
verfolgen, und zur Erflärung dieſer Ereignifje bebürfen wir nicht
der Annahme bejonderer Anlagen, die diefen Leiftungen gewidmet
wären. Beide fegen zur Durchführung ihrer Verrichtungen bie
Thätigleit anderer Vermögen voraus; aber ihre eignen Arbeiten
laſſen fi aus biefen auch vollftändig begreifen.
Läßt ſich num dieſelbe Betrachtung weiter fortfegen, jo daß zu⸗
legt nur eine einzige wrfprüngliche Aeußerungsweiſe der Seele zu⸗
199
rüdbliebe, aus deren gemeinfamer Wurzel die übrigen ſcheinbaren
Bermögen hervorwüchſen? Sind diefe vielleicht den Blättern Blü⸗
then und Yrüchten ähnlich, die ſämmtlich Erzeugniffe derfelben Trieb-
kraft, ihre abweichenden Formen theils der Verſchiedenheit der äuße⸗
ven Reize verdanken, theils der Gunft der Umftände, die dem höheren
Erzeugniß geftattet, die Bollendung des nächftniedrigeren zu feinem
Ausgangspunkt zu nehmen? Diefe Frage bat die frühere Pſycho⸗
Iogie verneint; fie hat vor Allem geglaubt, daß Gefühl und Wille
eigenthilmliche Elemente enthalten, welche weder aus der Natur des
Borftellens fließen, noch aus dem allgemeinen Charakter des Be-
wußtſeins, an dem beide mit dieſem zugleich Theil haben; dem Ver⸗
mögen des Vorſtellens wurden fie Deshalb als zwei ebenfo urfprüng-
liche Fähigkeiten zugefellt, und neuere Auffafjungen fcheinen nicht
glüädiih in der Widerlegung der Gründe, die zu dieſer Dreiheit
der Urvermögen veranlaßten. Zwar nicht das können wir behaup-
ten wollen, Daß Borftellen, Gefühl und Wille als drei unabhängige
Entwidlungsreihen mit geſchiedenen Wurzeln entipringend ſich in
ben Boden der Seele theilen, und, jede für ſich fortmachlend, nur
mit ihren legten Berzweigungen fi) zu mannigfadhen Wechfel-
wirkungen berühren. Yu dentlic zeigt die Beobachtung, daß mei-
ſtens Ereigniffe des Vorftellungslaufes die Anknüpfungspunkte der
Gefühle find und daR aus diefen, aus Luft und Unluft, fic
begehrende und abſtoßende Strebungen entwideln. Aber dieſe offen
vorliegende Abhängigkeit entfcheidet Doch nicht darüber, ob bier das
borangehende Ereigniß in der That als die volle und hinreichende
bewirfende Urſache aus eigner Kraft das nachfolgende erzeugt,
oder ob e8 nur als veranlafiende Gelegenheit dieſes nach fich zieht,
indem es zum Theil mit der fremden Kraft einer unferer Beobach-
tung entgebenden, im Stillen mithelfenden Bedingung wirkfam
if. Die genauere Zergliederung bes gegebenen Thatbeſtandes
muß diefen Zweifel befeitigen., Wo es ums gelingt, in dem Ge-
gebenen Punkt für Punkt alle Keime und Beitandtbeile des Künf-
tigen zu finden und dieſe Keime zugleich in ihm in einer Bewe-
gung anzutreffen, aus deren Fortſetzung von ſelbſt Die neue Geftalt
200
des fpäteren Erfolges fih herausbilden muß, da werben wir das
Frühere als die genügende Urſache deſſelben betrachten bitrfen.
Wo der Erfolg dagegen einen Reſt zeigt, der nicht aus den bebingen-
ben Umftänden ſich erzeugen läßt, fondern fremd zu ihnen hinzutritt,
da werben wir fchließen, Daß jene Umſtände allein nicht den vollftän-
Digen Grund der fpäteren Erſcheinung enthielten, fondern daß um-
beobachtet von und eine außer ihnen liegende Bedingung, bie wir
nun auffuchen müfjen, zu ihrer Ergänzung binzugetreten war.
Die Vergleihung jener geiftigen Erſcheinungen nöthigt ung,
wenn ir nicht irren, zu dieſer letzteren Annahme. Betrachten wir
Die Seele nur als vorftellendes Wefen, jo werben wir in feiner
nod fo eigenthümlichen Lage, in welde fie duch die Ausübung
dieſer Thätigfeit geriethe, einen binlänglichen Grund entbeden, ber
fie nöthigte, nun aus dieſer Weife ihres Aenßerns hinauszugehen
und Gefühle der Luft und Unluft in fi zu entwideln. Allerdings
kann e8 fcheinen, als verftände im Gegentbeil nichts To ſehr ſich
von jelbft, al8 daß unverſöhnte Gegenjäge zwiſchen mannigfachen
Borftellungen, deren Widerftreit der Seele Gewalt anthut, ihr
Unluft erregen und daß aus diefer ein Streben nad heilender
Berbefjerung entipringen müſſe. Aber nur uns fcheint dies fo,
die wir eben mehr als vorftellende Weſen find; nicht von felbft
verſteht fi) die Nothwendigkeit jener Aufeinanderfolge, ſondern
fie verfteht fi) aus dem allgemeinen Herfommen unferer inne-
ven Erfahrung, Die uns Längft an ihre thatfächliche Unvermeid-
lichfeit gewöhnt hat. Dieſe allein läßt uns darüber hinmwegfehen,
daß in Wahrheit hier zwifchen jedem vorangehenden und dem folgen-
ben Gliede der Reihe eine Lücke ift, die wir nur durch Hinzunahme
einer noch unbeobachteten Bebingung ausfüllen Können. Sehen wir
ab von dieſer Erfahrung, fo wide bie blos vorftellende Seele
feinen Grund in fi finden, eine innere Veränderung, wäre fie
ſelbſt gefahrdrohend für die Fortdauer ihres Dafeins, anders als
mit ber gleichgiltigen Schärfe der Beobachtung anfzufafien, mit
ber fie jeden anderen Widerſtreit von Kräften betrachten würde;
entftände ferner aus anderen Quellen doch neben ber Wahrneh-
201
mung noch ein Gefühl, fo wiirde wieder die blos fühlende Seele
Telbft in dem höchſten Schmerze weder Gund noch Befähigung in fidh
finden, zu einem Streben nad Veränderung überzugehen; fe wiirde
leiden, ohne zum Wollen aufgeregt zu werden. Da dies nun nicht jo
ift, und damit es anders fein Hinne, muß die Fähigkeit, Luft und
Unluft zu fühlen, urfprünglid in der Seele liegen, und bie
Ereignifje des Borftellungslaufes, zurückwirkend auf die Natur
der ©eele, weden fie zur Aeußerung, ohne fie erft aus fi zu
erzeugen; welche Gefühle ferner das Gemüth beherrſchen mögen,
fie bringen nicht ein Streben hervor, jondern fie werden nur
zu Beweggrümden für ein vorhandenes Vermögen des Wollens,
das fie in der Seele vorfinden, ohne e8 ihr jemals geben zu
können, wenn es ihr fehlte. Diefe Ueberzeugung würden wir
keineswegs für erjegt halten durch ein Zugeſtändniß, mit dem
man uns entgegentommen könnte: daß ja allerdings irgend eine
thatfähliche Lage des Vorftellungsverlaufes noch nicht felber das
Gefühl der Luft oder Unluft oder das Streben fei, das aus ihr
bervorgehe, daß aber doch eben Gefühl und Streben nichts An-
deres ferien, als die Formen, unter welchen jener Thatbeſtand
von dem Bewußtſein aufgefaßt werde. Wir würden vielmehr
hinzufügen müfjen, Daß gerade diefe Formen der Auffaffung nicht
unbedeutende Beimwerle find, deren man gelegentlich gedenken
Bnnte, als fpielten fie nırr neben jenem Thatbeftand des Vorftel-
lungslaufes, in dem allein das Weſen der Sache läge, nebenher;
das Wefentliche Tiegt hier vielmehr eben in dieſer Art des Er-
ſcheinens. Als Gefühle und Strebungen find die Gefühle und
Strebungen von Werth fiir das geiftige Leben, deſſen Bedeutung
nicht darin befteht, daß allerhand Bermwidlungen der Vorftellungen
eintreten, die beiläufig unter jenen Formen zum Bemußtfein kom⸗
men, fondern darin, daß die Natur der Seele im Stande ift, ſich
irgend etwas als Gefühl und Streben erjheinen zu laffen.
Sp würden num diefe drei Urvermögen fi als ftufenmweis
höhere Anlagen darftellen, und die Aeußerung der einen die Thä-
tigleit der folgenden auslöfen. Aber dies wird doch nur dann
202
die Borftellung fein, die wir von ihnen erwecken wollen, wenn wir feft-
halten, daß uns in dem Weſen der Seele dennoch für Eines gilt,
was fir unfere Erkenntniß in dieſe Dreibeit auseinanderfällt. Nicht
fo ſtückweis tritt fie felbft in ihre Aeußerungen ein, daß einer ihrer
Theile erwachte und die anderen fortſchlummerten; in jeder Form
ihres Wirkens ift vielmehr die ganze Seele thätig; fie läßt ſchon
im Borftellen nicht nur eine Seite ihres Wefend wirken, ſondern
gibt dem ganzen einen einfeitigen Ausorud, weil fie einer beftimmt-
ten Anregung nicht mit allen, fondern nur mit einer beſtimmten
Möglichkeit der Aeußerung antworten kann. Bergleihen wir Die
Bier mit der Fünf, fo zeigt fie fih um eine Einheit Heiner, aber
unaufgefordert fett fie nicht hinzu, daß fie auch Die Hälfte Der
Acht und das Doppelte der Zwei fei; es bedarf neuer Vergleicdh-
ungen, damit fie auch an Diefe VBerhältnifje erinnere; aber in jedem
berjelben drückt ſich doch die ganze Natur der Bier aus, mur einfeitig
nad) der Richtung allein, in welcher ihr Veranlaſſung gegeben war.
Der kehren wir noch einmal zu einem früher gebrauchten Ber-
"gleiche zurüd. Faſſen wir einen bewegten Körper in einem einzigen
Punkte feiner Bahn ins Auge, fo kann Niemand jagen, mit welcher
Richtung und Geſchwindigkeit er durch ihn hindurch geht, und ben-
noch wirkt in ihm auch in dieſem Augenblide vollftändig die
Bewegung, welche über die Fortfegung feiner Bahn im nächften
entfcheidet. Beobachten wir die Seele nur in ihrem Borftellen,
fo liegt in dieſem einen Element ihres Lebens für uns nicht ihre
ganze Natur ausgeiprochen, aus der im nächften Augenblide ber
Mebergang in Gefühl und Streben erfolgen kann; dennoch ift auch
in diefem Bruchftüd ihres Entwillungsganges diefe volle Natur
wirkſam vorhanden. Eime göttliche Einfiht würde nicht erft aus
einem ausgedehnten Theile feiner Bahn die Bewegung eined Kör-
pers erkennen, fondern fie unmittelbar in jedem untheilbaren Punkte
anſchauen; fie würde eben fo in jeder einzelnen Aeußerung ber
Seele ihre ganze Natur gegenwärtig fehen und die Nothmendig-
feit in ihr wahrnehmen, welche unter anderen Bebingungen zu
anderen Formen der Wirkfamkeit führen muß. Unferer. menfch-
203
lichen Exfenntniß bleibt nichts übrig, als dieſe Fälle nach und
nach zu erihöpfen und eingeben? zu fein, daß, mo wir eine Mehr-
beit der Anlagen jehen, dennod in der Natur der Seele nur bie
Einheit eines Weſens zu Grunde Liegt. Indeſſen haben wir
doch nicht Urſache, dieſe Annahme verichiedener Vermögen Lediglich
als einen Behelf für die Schwäche der menſchlichen Erkenntniß
anzufehen; fie entipricht vielmehr in gewiffen Sinne dem Weſen
der Sade. Auch eine göttliche Einſicht fände vielleicht in dem
Begriffe des Vorſtellens allein feine Nothwendigleit, um deren
willen das Gefühl aus ihm folgen müßte; fie wiirde nur in dem
ganzen vernimftigen Sinne des. Seelenlebens klarer als wir den
Grund fehen, der beiden Erfheinungen zufammenzufein und auf
einander zu folgen gebietet, gleich der belebenden Idee eines Ge:
dichtes, bie feft und mit zwingender Gewalt mannigfache Beitand-
theile an einander feſſelt, deren feinet aus eigner Macht den
anderen aus fi entwidelt hätte.
Bielleiht zu Lange ſchon haben wir dieſen Ueberlegungen nach:
gebangen, aber fie treffen jo jehr die wejentlichften Vorftellungen,
die unferen Gedanken über das Leben der Seele zu Grunde
liegen, daß wir noch einen Augenblid bei der allgemeinen Anficht
der inneren Ereigniffe verweilen müfjen, die als nächſte Yolge aus
ihnen hervorgeht. Wir haben erwähnt, daß jede Auffaffung zuletzt
mit der Anerkennung einer Vielheit auf einander nicht zurüdführ-
barer Aeuferungsweifen der Seele jchließt. Eine Xehre, melcer
bie Pſychologie große Fortſchritte verdankt, beſchränkt jedoch biefe
Anerkennung auf jene Rücdwirkungen, melde die Seele in un-
mittelbarer Wechſelwirkung mit äußeren Reizen entwidelt, auf
die einfachen Empfindungen. Dieje urfprünglicften Aeußerungen,
mit denen das Xeben der Seele anhebt, betrachtet auch fie als
nicht zurüdführbar auf einander, und fie meint nicht, fagen zu
Unnen, warum das Weſen, dem Licht und Farben ericdheinen,
204
andere Eindrüde als Töne auffaffen müſſe. Alle anderen höheren
Thätigfeiten Dagegen, die in der Verarbeitung und der gegenfeitigen
Wechſelwirkung diefer inneren Zuſtände entftehen, ſollen zugleich
auch völlig aus ihnen entftehen; nachdem Die Seele einmal jenes
urfprünglide Material, die Welt der Empfindungen, aus ihrer
Natur erzeugt, zieht fi ihre wirkende Thätigkeit zurück; fie über-
läßt diefe Erzengniſſe ihres Thuns fich felbft und den allgemeinen
Geſetzen ihrer Wechſelwirkung, ohne wieder mit ihrer vollen Natur
felbft handelnd einzugreifen und den herbeigeführten Berhältniffen
neue Wendungen zu geben, die nicht von felbft aus ihnen nach
der Folgerichtigleit ihres mechanifhen Verlaufes hernorgingen.
So ift die Seele nur noch der Schauplak für das, was zwiſchen
den Empfindungen und Borftellungen gefhieht, allerdings ein
ſolcher, der alles auf ihm Gefchehende mit Bewußtſein begleitet,
aber ohne viel anderen Einfluß darauf auszuüben, als den Des
Umfaſſens und Zufammenhaltens, womit jeder Rahmen den um—
ſchloſſenen Gemälde dient. Dies ift der Punkt, dem unfere Be—
trachtungsweiſe entgegen treten möchte. Nicht nur einmal, nicht
nur in der Entwidlung der einfachen Empfindungen tft Die Seele
in diefer ſchöpferiſchen Weile thätig; mögen dieſe erſten Erzeugnifſe
immerhin einem gefeglihen Mechanismus anbeimfallen, und Der
Lauf der Borftellungen feine Verknüpfungen und Trennungen,
fein Bergeflen und Wiedererinnern von jelbft und ohne einen
neuen Eingriff der Seele zu Stande bringen, jo ift doch damit
das geiftige Leben nicht abgeſchloſſen, und die höheren Thätigkeiten,
auf denen fein Werth beruht, gehen aus diefem mechaniſchen
Treiben nicht won felbft hervor. Der ganze nothwendige Ab-
lauf dieſer inneren Ereigniffe erzeugt nur Beranlaffungen, Die
dadurch allein, daß fie auf das ſtets gegenwärtige ganze Weſen
der Seele zurüdwirten, aus dieſem neue Yormen der Wirfung
beroorloden, die fie für fih allein nicht erzengt hätten. Gegen
jeden einzelnen ihrer inneren Zuftände befindet fi Die Seele in
berfelben Lage, in welcher fie fidh gegenüber den äußeren Empfin-
bungsreizen befand; auf jeden Tann fie mit einer Geftalt der
205
Thätigkeit antworten, die wir nicht aus jenen Zuſtänden ableiten
können, weil fie in der That nicht in ihnen allem Yiegt, die wir
vielmehr an diefe Zuftände nur anknüpfen können, nachdem ung
die Erfahrung gelehrt hat, daß eben diefe neue Form des Wir⸗
kens es ift, die von ihnen als Reizen einer höheren Orbnung in
dem Wefen der Seele gewedt wird.
Wir wollen nicht vermeiden, denſelben Gedanken noch ein-
mal fo zu wieverholen, wie ihn eine naheliegende und doch gefähr-
liche Bergleihung des geiftigen Lebens mit der Entwidlung eines
organiſchen Geſchöpfes anregt. Die Seele bildet fi nicht jo aus,
wie die Pflanze. Die Geftalt der letteren geht aus einer An⸗
zahl mefentlich gefchiebener felbftändiger Theile hervor, die Außer:
lich in beftimmter Form verbunden, nad den allgemeinen Geſetzen
des Raturlaufes die fortſchreitende Geftaltung herborbringen; und
auch das Leben der vollendeten Pflanze ift eine Summe von
Wirkungen, die zwifchen verfchiedenen, jelbitändig bleibenden Thei-
len gefchehen und, wie das Leben einer Gefellfichaft, beftimmte
Formen des Verlaufs durch die Stellung und Die Thätigkeit ihrer
zufanmenwirfenden Glieder annehmen. Solchen Theilen fünnen
wir die einzelnen Elemente des Seelenlebens nur mit vorſichtiger
Beſchränkung vergleihen; denn dieſe Elemente find nicht felbftän-
dige Atome, fondern ſtets doch nur Zuſtände des einen Weſens,
aus dem fie nicht beraustreten innen. Für fie gibt es Daher
nicht einen gleichgiltigen Schauplag, auf defien theilnahmlojem
Grund und Boden fie ungeftört ſich ihren Wechſelwirkungen über-
laſſen Könnten, einzig den Geboten eine® allgemeinen Mechanis-
mus unterworfen. Für ihr ſpäteres Verhalten ift vielmehr auch
der Boden reizbar, auf dem fie fi bewegen; nicht nur einmal
hat die Natur der Seele fie hervorgebracht und entläßt fie dann,
fo wie man fih vorftellt, daß die Erde die Thiere erzeuge, um
ihren freien Bewegungen künftig nur als gebuldiger Schauplag
zu dienen; fie fühlt vielmehr jeden Schritt, den der Verlauf ber
Borftellungen in ihr thut, und durch ihn gereizt, tritt fie hier
und da wieder felbfthandelnd hervor und führt in das ſcheinbar
206
fich jelbft überlaffene Getriebe derfelben neue Elemente ein, deren
Grund wir vergebli in diefem allein fuchen würden. Dies ift
feine Gefeglofigfeit, fondern jene Gejetlichleit von mehr verwidelter
Form, die wir früher ſchon ald einen allgemeinen mögligen Fall
bezeichneten, und von welder nur die Erfahrung ums verfichern
fonnte, daß fie in der körperlichen Welt nicht in diefer Weile
ftattfinde. In der Entwidlung des Organismus ift baher der
Erfolg, den die Wechjelwirfung zweier Elemente haben wird,
völlig beftimmt durch die allgemeinen Gefeße des Naturlaufes
und die gegebenen Umftände des Augenblicks; in dem geiftigen
Leben Dagegen tft zu jeden zwei Zuftänden und zu den Geſetzen,
bie über ihre Wechſelwirkung gelten, die Natur dyr Segle ein
beftändig vorhandenes viertes Element, das den Tonifitendek: Er-
folg jo mitbedingt und umgeftaltet, wie etwa Die Berücfihligung
eines widerſtehenden Mittel8 die Berechnung einer Bewegung um⸗
ändern kann, die flir einen leeren Raum gemadt worden war.
Es wird allerdingd Reihen von Ereignifien in unferem Innern
geben können, in deren Verlauf diefes vierte Element nicht um⸗
geftaltend eingreift, und dieſe werden in emem fortlaufenden
Mechanismus fih völlig auseinander zu entwideln ſcheinen; aber
nur eine genaue innere Beobachtung kann uns über die Ans:
dehnungdgrenzen dieſes Verhaltens aufklären, defien Vorkommen
allgemein anzunehmen wir nicht berechtigt find.
Wir verlaffen diefe Betrachtungen, aus denen einige Folge:
rungen zu ziehen fpäteren Gelegenheiten aufgehoben bleibt, und
wenden uns einem längft zu erwartenden Zweifel zu, der an eine
ſtillſchweigend von uns benutte VBorausfegung anknüpfen wird.
Offenbar ift fir uns die Seele unter den Begriff eines reizbaren
Weſens gefallen. Nicht von ſelbſt und ohne fremde Anregung
ftrebt ihre Natur zur Thätigkeit oder vermag fie, fih Ziel und
Richtung ihres Thuns vorzuzeichnen, fondern Eindrüde, Die von
207
außen an fie gelangen, rufen fie zu Rückwirkungen auf, aus beren
weiteren Wechſelwirkungen die Mannigfaltigkeit des inneren Lebens
entfpringt. Der eignen Natur der Seele gehört dabei die eigen-
thumliche Form der Aeußerung an, fie bleibt die Duelle bes
Empfindens, der Gefühle, des Strebend; in den Reizen Tiegen
nur die Beweggründe, welche die beſtimmte Reihenfolge ihrer
Henferungen bebingen und ihren an ſich unentfchiedenen Yähig-
feiten ihre Richtung geben. Aber wir künnen dieſe Vorftellungen
nicht begen, ohne, wie es fcheint, dem Weſen ber Seele eine
Beränderlichleit zuzufchreiben, die uns in Widerſpruch mit jener
firengen Einheit zu bringen droht, in welde für Veränderung
fein Pla fein fcheint. Wir können dieſe Folgerung nicht ab-
Ich; GEWIE wird nur dann ein äußerer Reiz ein zwingender
nd für die Entfaltung einer Rückwirkung fein, wenn er
im Stande gewefen ift, einen wirklichen Eindrud auf Die Seele
bervorzubringen, von dem" ihr Weſen etwas leidet. Nicht die
bloße Drohung der Störung kann die Seele zur abwehrenben
Thätigleit aufregen; denn jede Drohung, fo lange fie von dem
Bedrohten nicht empfunden wird, tft nicht fiir ihm vorhanden;
ſobald fie ihm merklich wird, ift fie bereits zu einer Veränderung
feineg Weſens geworden. Widerſpricht e8 den Gefegen unferes
Denkens, aus der ſich gleichbleibenden Einheit eines Weſens von
jelbft Antriebe zu vielfäftigen Handlungen hervorgehen zu laſſen,
fo ift e8 nöthig zuzugeben, daß die Seele, indem fie handelt, eine
andere ift, al8 zuvor, da fie ruhte; denn nur weil fle verändert
ift, kann fie der hinlängliche Grund fiir ein verändertes Ver—
halten fein. :
Es wird nicht möglich fein, dieſer Forderung zu entgehen
und von ber Seele die Veränderlichkeit durch denſelben Kunft-
griff abzuhalten, durch welchen die Naturwiſſenſchaft die materiellen
Atome als völlig ſtarre und unwandelbare Träger der derſchieden⸗
artigften Erſcheinungen auffaffen Tann. So wie fiir unfer Auge
entfernte Gegenftände, im Raum zuſammenrückend, zu einem Ein-
drude verfchmelgen, näher kommend fich wieder in die Vielheit
208
einzelner Theile auflöfen, jo mag überhaupt der Naturlauf für
uns, die Beobadhter, eine Menge fcheinbarer Veränderungen ber-
beiführen, in denen doch in Wirklichleit Die äußeren Gegenftände
geblieben find, was fie waren. Indem die Atome, innerlich
vollkommen unmwandelbar, in wechjelnde und mannigfaltige äußere
Beziehungen zu einander gerathen, ihre Lage, Entfernung, Be⸗
wegung beftändig ändern, bringen fie auf ung Eindrüde ebenfo
wechlelnder Art hervor, und in ber That flarr und undurch⸗
dringlich, ſcheinen fie für unfere zuſammenfaſſende Beobachtung
bald zu verfchmelzen, bald fich zu trennen, bald in ihren Eigen-
ſchaften völlig andere zu werben. Allein wenn wir auf dieſe
Weile die Veränderungen in der äußern Welt auf einen nur in
und erzeugten Schein zurüdführen, während die Wirflichfeit nur
unweſentliche Beziehungen der unwandelbaren Elemente megpiele,
jo Eönnen wir doch nicht wieder auch die Entftehung dieſes Scheines
in ung nur für einen Schein erflären, der einem zweiten Beobachter
wohl eine Aenderung unferes Weſens einzufchliegen fcheine, ohne
daß ſie wirklich in uns ftattfinde. Das beobachtende Weſen er-
fährt. vielmehr wirflih eine Veränderung, nicht feiner äußeren
Lage, jondern feine inneren Zuftandes, wenn es vorftellend den
Wedel des Aeußeren auffaßt und von einer Borftellung zur
andern übergeht. Könnte e8 daher gelingen, die VBeränberlichkeit
aus der ganzen äußeren Welt zu entfernen, jo würde ſie um fo
unvermeidliher an dem Weſen der Seele haften. Geben wir
deshalb diefe Veränderlichleit zu und machen wir nicht den hoff-
nungsloſen Verſuch, einen Kunftgriff zu entdeden, durch welchen
die Eigenfhaft einer unftörbaren Unveränderlichleit verträglich
würde mit der Beſtimmung eined Weſens, das zur einer inneren
Entwicklung berufen if. Wir glauben nicht durch dieſes Zuge-
ftändniß etwas einzubüßen, was wir im Intereſſe der Unterfuchung
beibehalten müßten. Suden wir zu einem Kreife von Er-
ſcheinungen ein Wejen, das ihr Träger fei, jo müſſen wir es
wohl feft und felbftändig genug denken, damit es ben mannig-
faltigen Ereigniffen an ſich einen baltbaren Stützpunkt biete, aber
209
ihm jene unerfdjütterliche Starrheit völliger Unbeweglichkeit beizu⸗
legen, baben wir feinen Grund; wir würden dadurch feinen Be=
griff vielmehr unbraudhbar machen. Indem wir einfeitig für feine
Veftigfeit forgten, hätten wir es untauglich gemacht, die viel
wefentlichere Beftimmung zu erfüllen, ein Mittelpunft der aus⸗
und eingehenden Wirkungen zu fein, aus denen der zu erklärende
Kreis von Ereigniffen befleht. Nur Weniges werden wir Hinzu-
fügen müfjen, um die Beforgnifle zu gerftreuen, die fih am biefe
Borftellung einer veränderlihen Seele knüpfen möchten.
Sie ſchließt vor Allem nicht die Gefahr eines planloſen An⸗
Deröwerdens, einer beftändigen Aufeinanderfolge immer neuer Zu⸗
ftände ein, in deren Flucht alle Einheit des urfprünglichen Weſens
zu Grunde ginge. Kein Ding in der Welt ift ein gleichgiltiger
Traftlofer Stoff, jo daß nur äußere Eindrüde ihm feine Beichaffen-
heit gäben und er jelbft nur als Das Mittel diente, durch die
Härte feiner Realität dieſen wechfelnden Inhalt in der Wirklichkeit
zu befeftigen, dem Halten gleich, deſſen Haltbarkeit theilnahmlos
die verfhiebenften Gewänder tragen kann. Kein Ding läßt fi
durch die Reihenfolge äußerer Einwirkungen jo aus einer Geftalt
in die andere treiben, daß am Ende einer Anzahl von Metamor⸗
phofen in dem völlig neu gewordenen feine Erinnerung mehr an
feine frühere Natur zu finden wäre. Das, was ein Weſen zu-
nächſt nur von außen zu leiden fcheint, ift in Wirklichkeit Doch
allemal eine Aeußerung feiner eignen thätigen Natur, nur an-
geregt, aber nicht gemacht durch den fremden Anftoß. Im jedem
Augenblide feines Veränderungslaufes ift Daher der gegenwärtige
Zuſtand eines Weſens zugleich eine mitwirffame und vielleicht Die
mächtigfte Bedingung, welche den Erfolg des nächſtlommenden Ein-
brudes mitbeftimmt. Nichts hindert ung num, die urfprüngliche
Natur eined Wejend mächtig genug zu denken, damit durch alle
Glieder einer ausgedehnten Veränderungsreibe ihr Einfluß als der
kräftigſte fortwirkt, und fie alle dadurch in einen folgerichtigen Zu⸗
fammenhang tieten, dem innere Einheit fo wenig fehlt, als der
Melodie, die ſich in einer Vielheit ſich folgender un ent⸗
Loge 1. 4. Aufl.
210
widelt. Ich weiß nicht , was uns antreiben könnte, bon einer
Subftanz, die wechſelnden Ericheinungen zu Grunde liegt, mehr
als diefe Art der Einheit mit fich felbft zu fordern; die Geele
aber Teiftet dennoch mehr. Sie ift nicht allein Der Träger ihrer
Zuftände, fondern fie weiß ſich auch als folden; und indem fie
im Gebächtniß das früher Erlebte neben den Eimbrüden der
Gegenwart aufbewahrt, bietet fie nicht allein für einen Beobachter
außer ihr das Schaufpiel einer folgerichtigen Veränderungsreihe,
fondern faßt in fi) felbft die verſchiedenen Entwidlungen ihres
veränberlichen Weſens im eine Einheit von höherer Bedeutung
zufammen, als fie je der unergiebigen Starrheit einer unflör-
baren Subftanz zukommen würde.
Wir haben Hiermit nur die allgemeine Form der Borftellung
angebeutet, in welcher wir dieſe Frage faflen wirrden. Eine genaue
Ueberficht der wirflichen Erfcheinungen des Seelenlebens wilrde und
zeigen, daß es noch lange nicht jenen großen Spielraum der Ber-
änderlichtett befigt, den wir durch dieſe Borftellungsweife recht⸗
fertigen könnten. In der Natur, wie wir früber fahen, findet Feine
bleibende Veränderung der Atome ftatt, Teine ſolche wenigfteng,
die fich durch neue Formen der Wirkung nad außen werriethe;
mit dem Aufhören der ändernden Bedingungen kehren die alten
Eigenſchaften wieder. Dies iſt gewiß nicht überall jo im Seelen-
leben, deſſen Entwicklungsfähigkeit vielmehr auf der Vervollkomm⸗
nung der Rüdwirkungen durch die gemöhnende Uebung beruht.
Aber ein großes Gebiet finden wir doch fogleich, in welchem bie
Stetigfeit des Verhaltens fich der Weile der phyſiſchen Wirkungen
nähert. Alle Sinneseindrüde, jo oft fie auch bereit8 wahrgenom⸗
men fein mögen, ermwedfen Doch immer wieder dieſelben Empfin-
dungen; immer bleibt das Roth roth, immer find Drud und Hitze
fchmerzlich und diefelben körperlichen Bedürfniſſe erwedien ſtets wie-
der diefelben Strebungen. Dies Alles fcheint ſich jo von ſelbſt
zu verfiehen, daß e8 befremden mag, e8 erwähnt zu jehen. In
ber That aber ift Doch jede einzelne Empfindung eine Veränderung
in dem Weſen der Seele; daß ibre Natur nun die Fähigkeit be-
211
fit, alle die Erſchütterungen, melde zahllofe Eindrüde ihr beftän-
big zuführen, fo auszugleichen, daß fie jedem fpäteren mit derſelben
Unbefangenheit entgegentommen Tann, biefe Thatfache verftehen
wir zwar leicht in ihrer Zwedmäßigfeit für die Aufgaben der
geiftigen Bildung, über ihr mechaniſches Zuſtandekommen, wenn
wir fo fagen dürfen, begreift fi nicht von ſelbſt. Wir können
dieſelbe Stetigfeit in den Gefegen bemerfen, nach denen Gebädht:
niß und Erinnerung die Borftellungen feithalten, verknüpfen und
wiederbringen; unverändert bleiben ferner die Verfahrungsweiſen
des Verftandes in der Verfnüpfung und Beurtbeilung der gege-
benen Eindrüde; überall ſehen wir, daß die unzähligen Einflüffe,
welche die Seele nicht ohne innere Veränderung aufnehmen kann,
doch die Beftändigfeit und Folgerichtigfeit der Kräfte nicht ftören,
mit denen fie fi) bearbeitend auf dieſe Eindrüde zuriidiwendet ;
nur eine größere Gewandtheit fcheint allen diefen Kräften mit
. der wachfenden Uebung zu Theil zu werben, durch welche fle mit
den Derwidlungen der Gegenftände ihres Angriffd vertraut ges
worden find. So ‚wenig jehen wir alfo die Veränderung der
Seele faffungslos ins Unbeftinnnte geben, fo fehr drängt fich
vielmehr die beftändige formgebende Nachwirkung ihrer urfprüng-
lichen Natur hervor, daß wir von ihrer Veränderung überhaupt
faft nur um des logiſchen Intereſſes willen ſprechen Tonnten,
das ung ihre Entwicklung nicht an den ihr widerfprechenden Be-
griff innerlicher Unbewegtheit Inüpfen Tief. In Wahrheit aber,
ihrer Bedeutung und ihrem Werthe nach ift Die Yolgerichtigfeit
der innern Entwidlung jo groß, daß fie ftetd ums mehr das
Bild beftändiger Gleichheit mit ſich felbft, als das einer fort-
fchreitenden Umwandlung gewährt.
Worin aber befteht num endlich das, was in diefer Entiwid-
lung fich gleich bleibt, worin jenes urfprüngliche Weſen und jenes
Was der Seele, defien nähere Darftellung der Anfang dieſes Ab-
ſchnittes zu verfpresden ſchien? Wir würden a wie jedes
14*
212
Wefen fih nur nad den Folgen erkennen läßt, mit denen e8 in
unfere Beobachtung fällt, fo Können wir auch von der Seele nur
jagen, daß fe das fei, was die Fähigfeit zu diefer Entwicklung in
fih trage. Diefe Antwort wird Niemand befriedigen. Ale Vor⸗
ftellungen, alle Gedanken, Gefühle und Strebungen, würde man
ung einmwenden, find nur Handlungen ber Seele, burd irgend
welche Bebingungen ihr abgenöthigt; wir aber wollen wiſſen,
nicht wie die Seele handle, fondern was fie an fich fein möge, um
fo handeln zu können, und welches ihre urfprüngliche Natur fein
müffe, um dieje Fähigkeiten in fich hegen zu können. Auf diefe
verihärfte Frage Könnten wir am einfachiten zugeftehen, daß dieſes
Was der Seele ung ftet8 unbelannt bleiben werde; allein wir wür-
den Durch dieſes Zugeſtändniß den Schein erwecken, als ginge durch
biefe Unfenntniß uns Vieles verloren, worauf unfere Unterfuchung
Werth legen müßte, und als wäre und in Bezug auf die Seele
eine Schwierigfeit unlösbar, die in Betreff aller anderen Ding,
fih mit Leichtigkeit binwegräumen ließe.
Wie wenig zunächft das Letztere der Fall ift, Tann eine füge
tige Meberlegung der Kenntnifje lehren, die wir über das Weſen
natürlicher Dinge zu haben glauben. Wenn wir Hagen, daß wir
die Natur der Seele nie fo zu Gefiht bekommen, wie fie an fich
und abgefehen von jeder einzelnen Bedingung tft, welche ihr eine
beftimmte Aeußerung entlodt, jo müflen wir dieſelbe Klage viel-
mehr auf unfere Borftellungen aller Dinge ausdehnen. Wir Denken
zu wiffen, was das Waffer ift und was das Quedfilber, und doch
können wir feines von beiden durch beftändige Eigenfchaften kenn⸗
zeichnen, die ihm abgeſehen von allen äußeren Bedingungen zu-
fommen. Beide find bei gewöhnlicher Temperatur flüffig, beide bei
erhöhter gasförmig, beide bei erniedrigter feit; aber mas find fie
abgefeben von aller Temperatur? Wir willen ed nicht, wir
fühlen ſelbſt das Bedürfniß nicht, e8 zu wiflen, da wir einfeben,
daß nie in der Welt einer von beiden Stoffen fih dem Ein-
flufle diefer Bedingungen ganz entziehen kann; wir begnügen und
daher, das Wafler als den Körper anzufehen, ber bei biefer
213
der außerbem feine Gleichheit mit fich felbft durch bie beftän-
digen Rückwirkungen beweift, die er unter gleichen Bedingungen
immer gleich ausübt. Und dbaffelbe gilt von Allem, was wir
finnlich beobachten. Alles nehmen wir anfänglich in einem feiner
einzelnen möglichen Zuftände wahr, den wir jo lange für feine volle
beftändige Natur halten, bis die Erfahrung uns lehrt, daß andere
Bedingungen andere Zuftände herbeiführen. Dann verfnüpfen wir
die verſchiedenen Eriheinungen unter einander als die wandel⸗
baren mehreren Formen eines und befielben Weſens, welches wir
fortfahren mit demfelben Namen zu nennen, obgleich wir es nicht
mehr durch eine einzige beftimmte Eigenfchaft bezeichnen, ſondern
nur noch als das Unbekannte auffefjen können, das fähig ıft, in
diefem Kreife von Formen ſich bin und her zu verwandeln, ohne
jemals doch aus ihm herauszutreten und in Anderes überzugehen.
Nichts jo Feſtes und Unmandelbares gibt es, das diefem Schid-
fal fich entziehen Könnte; alle unfere Definitionen wirklicher Gegen-
ftände find bupotbetifche, und fie bezeichnen unvermeidlich das Ver⸗
langte als dasjenige, was unter der einen Bedingung jo, unter
einer anderen ſich anders darftellen wird. Geben wir deshalb zu,
daß das Wefen der Seele unbelannt fei, jo thun wir es nur in
diefem Sinne, welcher zugleich die Unmöglichkeit einjchließt, zu
fagen, mie das Weſen irgend eines Dinges fein werde, wenn man
jede Bedingung entfernt denkt, welche ihm Gelegenheit zu irgend
einer Aeußerung gäbe. So unfagbar es ift, wie die Dinge im
Binftern ausfehen, jo widerfprechend die Forderung zu wiffen,
wie die Seele ift, bevor fie im irgend eine ber Lagen eintritt,
innerhalb deren allein ihr Leben fich entfaltet.
Doch nichts ſcheint hierdurch gewonnen, als daß wir für die
Pſychologie den Vorwurf der Unwiſſenheit mildern, indem wir ihn
über Die ganze menſchliche Erkenntniß ausdehnen. Aber wenn es
wahr ift, daß das Weſen der Dinge in diefem Sinne uns unbe-
214
kannt ift, ift e8 dann gleich wahr, daß wir durch dieſe Unfenntniß
viel verlieren, und müſſen wir in diefem Weſen, Das uns entgeht,
eben das Wefentliche fuchen, welches wir nicht vermiflen möchten ?
Ich glaube nicht, daß wir dieſe Frage bejahen dürfen, und in der
That denten wir über fie im Leben anders, als wir in der Wiflen-
haft zumeilen denken zu müſſen glauben. In der Summe der
Renntniffe, in der Stimmung des Gemüthes, den Gefinnungen des
Charakter8 und in der eigenthümlichen Wechſelwirkung diejer Ele⸗
mente unter einander glauben wir die volle Berfönlichleit eines An⸗
deren gegenwärtig, bat unjere Menſchenkenntniß dieſen Beftand
durchdrungen, fo meinen wir nicht, daß unfere Einficht in das
innerfte Weſen des Menfchen noch gewinnen wirrde durch den Nad-
weis deſſen, was er urfprünglich war, ehe er im Lauf der Bildung
dieſe Fülle feines inneren Dafeins gewann, oder was er jetzt noch
im Grunde ift und als was er fich jett noch zeigen wide, wenn
man alle dieſe Ergebniffe des früheren Lebens zugleich mit allen
Bedingungen, die num noch auf ihn wirken Einnten, von ihm hin⸗
wegnähme. Wohl geben wir zu, daß dieſes geiftige Leben ſich nicht
hätte entwideln Können, ohne daß eine uranfängliche noch äuße⸗
rungslofe Seele vorangegangen wäre, am fi dem Einfluffe der
erwedenden Lebensbedingungen darzubieten; aber fie, die und fonft
als das eigentlichjte und tieffte Weſen der Sache erjcheint, kommt
und hier nur noch wie eine unentbehrliche, aber an fich ſelbſt würde⸗
Iofe Borbedingung, als ein vorauszujegendes Mittel zu dieſer Ent-
widlung vor, im welcher ſelbſt erft aller Werth und alle wejentliche
Bedeutung liegt. Darin ſcheint uns jegt da8 wahre Weſen zu
liegen, wozu das ſich Entwidelnde geworben ift, und fo wenig wir
glauben, an der entfalteten und blühenden Pflanze ein Geringeres
zu befigen, al8 an dem einförmigen und geftaltlofen Keime, dem fie
entiprang, jo wenig find wir bier geneigt, die BVorftellungen, Die
wir mitdenfen, die Gefühle und Strebungen, die wir mit aller
Wärme unferer Theilnahme begleiten und mit empfinden, als
einen kärglichen Erjag für die Anſchauung des unentfalteten ur-
Iprünglihen Was der Seele zu bedauern.
215
Fällt es uns nun dennoch fo ſchwer, das Suchen nach dieſem
Unauffindbaren ganz aufzugeben, fo rührt dies von einem andern
Verlangen ber, das ſich in der Frage nach dem Wefen eines Dinges
verbirgt. Nicht blos der Keim foll es fein, aus dem die Tpätere
Erſcheinung ſich entfaltet, jo daß wir in ihrem Inhalt auch den fei-
nigen hätten; jondern das Weſen muß zugleich das fein, mas jenen
Inhalt in der Wirklichkeit befeftigt, ihn, dem an fih nur denkbaren
jene harte und ſtarke Realität gibt, durch die er al8 Wirken des und
Leidendes in der Welt der Dinge Plat ninmt. Das Wefen ift
zugleich das Band, das mit feiner unveränderlicen Natur die ein-
zelnen Erſcheinungen an ſich verſammelt, e8 möglih macht, daß
unfere Vorftelungen und alle unjere inneren Zuſtände fi er-
halten, dauern und zu fruchtbarer Wechſelwirkung zufammtenftoßen
Knmen. So zeigt fi, daß wir in dem Wefen der Seele nicht allein
den Grund für die Form und den Inhalt der inneren Entwid-
lung fuchen, fondern noch mehr vielleicht die Urſache, die beiden
Wirklichkeit gibt. Das ift es, was. wir wifjen wollen, wie es zu-
gehe, daß dies innere Xeben fein Tann, durch welchen Zauber e8
dem fchaffenden Weltgeift gelinge, in dev Mitte dieſer wandelbaren
Ereigniffe etwas Unauflösliches, Feſtes zu geftalten, das fie alle in
fi hegt, an fich trägt und ihnen den Halt des Dafeins gibt, dem
Gerippe ähnlich, an deſſen Starrheit die blühende Fülle der Ge-
ftalt befeftigt ift. Diefe Frage natürlich ift jedem Nachdenken un-
löslich; nie werden wir entdeden, wie Sein und Dafein gemacht
wirb, oder was das iſt, woraus die Dinge beftehen. Aber biefe
Frage wäre auch nur Dann wichtig fin ung, wenn unſere Erkennt⸗
niß die Aufgabe Hätte, Die Welt zu ſchaffen. Ihre Beftimmung
ift es jebod nur, das Vorhandene aufzufafen, und gern geſteht
fie fih, daß alles Sem ein Wunder ift, das ald Thatſache von
ihr anerkannt, aber nie in der Weife feines Hergangs enträthjelt
werden kann. Im diefem Sinne ift das Dafein aller Dinge für
uns unergründlich; aber diefer Heft, den unfer Wiffen läßt, befteht
nicht in dem Kerne der Dinge, fondern eher in einer Schale, nicht
in dem Inhalte ihres Wefens, fondern in der Art der Segung,
216.
durch welche e8 befteht. Was die Dinge find, ift uns beshalb
nit unverſtändlich; denn dieſen Inhalt entfalten fie in ihrem
Erſcheinen; wie fie überhaupt fein und ericheinen Lönnen, ift das
allen gemeinjchaftliche Räthfel.
Dritte Kapitel.
Bon dem Berlaufe der Borftellungen.
Das Beharren ber Vorſtellungen und ihr Vergeſſenwerden. — Ihr gegenſeitiger Druck
und die Enge bed Bewußtſeins. — Die verſchiedene Stärke der Empftudungen.
Klarheitsgrade der Erinnerungsbilder. — Der Gegenfat ber Borftellungen. — Der
innere Sinn. — Leitung be Borftellungslaufes durch bie Geſetze der Affectation
und Reprobuction.
So wie im leiblichen Leben eine Zeit unbeobachteter Wirk:
famfeit vorangeht, in der überräfchende Neubildungen und Im:
geftaltungen fi drängten, während nad der Geburt kaum mehr
als ein gleichförmiges ſtilles Fortwachſen Längft feitgeftellter Formen
übrig bleibt, fo finden wir aud in unferer Seele die bleibenven
Gewohnheiten ihres Wirkens ſchon als gegebene Thatſache vor,
jobald wir zuerft mit abfichtlicher Aufmerkſamkeit ihre Entwidlung
zum Gegenſtand unſeres Nachdenkens machen. Was noch vor
unferen Augen gejchieht, das ſcheint uns Nichts zur fein, als eine
beftändige Uebung von Kräften, bie längft gebildet find, ein
immer zunehmender Anfag von Erfenntniffen, in Formen gegoffen,
die aus früherer, unbewußt gebliebener Arbeit des Geiftes nım
ſchon fertig ihnen entgegenfommen, eine Ausbreitung endlich
unferer Gefühle und Begehrungen über den wachſenden Kreis
von Beziehungspunkten, den die Erfahrung, von Tag zu Tag
fih mehrend, uns für fie darbietet. In allen diefen Vorgängen
liegen ohne Zweifel noch ſehr enfcheidende Gründe, welche bie
eigenthiimliche Geſtalt und den Werth der höheren menſchlichen
Ausbildung bedingen; aber da, wo es fih noch nicht um bie
Entftehung der Humanität handelt, fondern um Natur und Ent⸗
widlung der allgemeinen Seelenfähigfeiten, aus deren befonderer
217
Anwendung diefe hervorgeht, da fcheint Die innere Beobachtung ung
wenig Aufichluß zu verſprechen. Das Meifte von dem, was wir
wiſſen möchten, Tiegt gleich den erften großen Bildungsepochen un:
jere8 Erdkörpers vor aller Erfahrung, und nur durch Vermuthun⸗
gen Können wir von den verhältnißmäßig doch immer einförmigen
und befhränften Vorgängen, die unfer Inneres noch jetzt bewegen,
auf die Ereignifje zuritdichliegen, durch welche Die Urzeit unſerer
Geele fiir die fernere Entwicklung den feſten Boden bereitet bat.
Und noch weit mehr als die Geologie, werben mir bon
diefen Schwierigkeiten gebrüdt; denn dunkel find felbft die Geſetze,
nach denen das noch Geſchehende ſich in und ereignet, und mit
deren Hilfe allein wir den früheren Thatbeftand errathen müßten.
Unzählige Eindrüde haben ſchon früher von und Befig genommen
und ihre nachwirkende Kraft übt in jedem Wugenblide auf das
Schickſal jedes fpäteren einen mitbeitimmenden Einfluß, den wir
faum völlig von dem trennen können, was bie ſtets gleichen all-
gemeinen Geſetze des inneren Lebens für ſich allein gebieten
witrden. Und es ift uns nicht möglich, gleich der Natunviffen-
haft im Experiment künftlich die verfchiedenen Kräfte zu jondern,
um den Beitrag zu beftimmen, den jede einzelne zu dieſem zu:
fammengejegten Erfolge liefert. Denn außer Stande, unſer
vergangenes Leben ungefchehen zu machen, können wir un® nie
von dem dunklen, feiner Zergliederung fähigen Drude befreien,
durch den es alle fpätere Gefchichte des Bewußtſeins mitbebingt;
und nie tritt für und eine Gelegenheit ein, jene einfachen und
elementaren Wirkungen zu beobadhten, aus denen der unendlich
verwidelte Zuftand, in dem wir uns befinden, hervorgegangen fein
muß. So bleibt ung faum etwas Anderes übrig, als zunächft und
an bie großen umd nicht leicht zu mißdeutenden Umriffe defien zu
halten, was unfere innere Erfahrung noch darbietet. Indem wir
dann die allgemeinen Bermuthungen, die ſich aus dieſer Ueberficht
entwideln, verfuchsmeife ſchärfer ausprägen und die größere oder
geringere Viebereinftimmung ihrer Folgen ınit dem Thatbeftande der
Beobachtung prüfen, Können wir fo vielleicht auf weitem Ummege
218
zu einer beſtimmteren Einfiht in die Geſetze des geiftigen Lebens
gelangen.
So unendlich verſchieden num dieſes Leben für jeden Einzelnen
verläuft, fo bat doch der übereinſtimmende Eindrud aller Selbft-
beobadytung zeitig und allgemein die Borftellung von einem Me-
hanismus hervorgebracht, dem der Lauf der inneren &reigniffe
vielleicht überall und fidher in großer Ausdehnung unterworfen fei,
in anderen Formen zwar und nad anderen bejonderen Geſetzen,
als fie der äußere Naturlauf darbietet, aber mit gleicher durch⸗
gängiger Abhängigfeit jedes einzelnen Ereigniſſes von feinen vor-
angehenden Bedingungen. So deutlich indeſſen biefer pfychifche
Mechanismus fih in den Erſcheinungen des Gedächtniſſes und
der Wiedererinmerung, in der Abhängigleit unferer Gefühle und
Strebungen von gewiflen Einbrüden zeigt, durch welche fie vegel-
mäßig hervorgerufen werben; fo ſicher und mit richtigem Tact
wir ſelbſt im alltäglichen Leben auf feine unbeirrte Wirkfamteit
rechten, jo wenig find wir doch im Stande, die Regeln, denen er
folgt, mit der Schärfe von Naturgefegen anzugeben. Denn die
Schmierigfeiten der inneren Beobachtung, deren wir ſchon gedachten,
werden dadurch vermehrt, daß feine allgemeine, für fi felbft
gewiſſe Lehre über die nothwendigen Wechfelmwirkungen, in denen
bie Zuftände jedes Weſens unter ſich ftehen müßten, uns bier
aushelfend entgegenkommt. “Die meiften der Grundzüge, Die mir
in dem Verhalten des geiftigen Lebens bemerken, können wir
nur als thatſächliche Einrihtungen anfehen, deren Werth für die
höhere Ausbildung wir zwar häufig volllommen begreifen, aber
wir Können nicht nachweilen, daß gerade diefe Formen bed Be—
nehmens für jedes überfinnliche Weien, das einer unbeftimmten
Bielbeit äußerer Eindrüde offen fteht, die nothwendigen Folgen
biefer feiner Natur fein müßten. Man fteht leicht, wie nad
theilig dieſe Tage der Sachen fir die Bebürfniffe der Erflärung
if. Sind wir nur auf eine Sammlung erfahrungsmäßiger That-
ſachen angewieſen, fo dürfen wir nicht über das hinausgehen, was
bie Erfahrung felbft uns jagt; vermöchten wir biefelben That-
219
ſachen in ihrem nothwendigen Hervorgehen aus der Natur der
Seele zu verfolgen, jo würden wir ihnen leicht einen ftrengeren
und tieferen Ausdruck geben innen, der und den Zugang zu
einer Menge jegt verfagter Yolgerungen eröffnete. Dieſe Schwie-
rigleiten ift man fehr geneigt geringer zu fchägen, als fie find;
duch die Erfolge der Naturwiſſenſchaft vermöhnt, pflegt man zu
oft Säge, die für die Erklärung phyſiſcher Vorgänge eine unbe-
frittene Geltung befigen, fir allgemeine und nothwendige Wahr-
beiten anzufeben und vergigt dariiber, daß alle unbefangene Beob-
achtung des inneren Lebens und durchaus andere, mit den Natur⸗
eriheinungen kaum noch vergleichbare Formen des Geſchehens und
Wirkens darbietet. Ueber die Bewegung des Stoffes befigen wir
eine Summe wifjenfhaftlic genauer Geſetze, über die Aeußerungen
der Seele eine Anzahl empirifcher Anſchauungen, aber noch fehlt
ung das Dritte und Höhere, deſſen wir bebürften: eine allgemeine
Lehre, die uns die Geſetze aufiwtefe, nach denen die Zuftände ber
Weſen überhaupt ſich richten, und aus welcher als zwei ver-
ſchiedene Anwendungen die Wiſſenſchaft vom Naturlauf und die
‚von dem geiftigen Leben hervorgehen könnten.
Zu den einfachiten Thatſachen, in denen der piychiiche Me—
chanismus fich zeigt, gehört die befannte Wahrnehmung, daß von
den unzähligen Borftellungen, die wir äußeren Eindrüden ver-
banken, in jedem Yugenblide nur wenige und gegenwärtig find;
die meiften find dem Bewußtſein verſchwunden, ohne deshalb zu=
gleich der Seele überhaupt verloren zu fein; denn ohne Erneuerung
bes äußeren Einvrudes kehren die vergeflenen ber Erinnerung
wieder. Man hat diefe Thatjachen fo gebeutet, daß man die
ewige Fortdauer jeder einmal erregten Borftellung als das natür-
licherweiſe zu erwartende Verhalten anfah; nur für das Vergeſſen⸗
werben juchte man eine Erflärung und glaubte fie leicht in dem
wechſelſeitigen Drude zu finden, durch welchen die mannigfaltigen
einander begegnenven Vorftellungen fi aus dem Bemwußtfein zu
220
verdrängen ftreben. Aber vergeblich würden wir verfuchen, jene
Unvergänglichleit der Vorftellungen als die felbftverftändliche
Folge eines allgemeinen Gefeges der Beharrung darzuftellen, nad)
welchem jeder einmal erregte Zuſtand eines Weſens, fich ſelbſt
überlofien, fo lange fortdauern müßte, bis eine neue dazwiſchen
fommende Wirkung ihn änderte oder aufhöbe. Die Analogie Der
Naturwiſſenſchaft, die fich dieſes Geſetzes als eines der vorzüg⸗
Tichften Hilfsmittel in der Lehre von den Bewegungen der Körper
bedient, reiht um eines nahe liegenden Unterſchiedes in der
Natur beider Fälle willen nicht aus, feine Anwendbarkeit auf Die
Borgänge des Seelenlebens zu fihern. Denn der Körper leidet
nichts von feiner Bewegung, die für ihn nur ein äußerlicher
Wechſel der Orte ift, von denen Feiner fin ihn mehr Werth bat
al8 der andere, dieſem Wechfel zu widerfiehen wird mithin feine
eigne Natur weder Grund noch Fähigkeit befiten. Das Bor-
ftellen dagegen tft als inneres Ereigniß nothwendig zugleich fiir
das Wefen, in dem es geichiebt, eine Störung feines uriprling-
lichen Zuftandes; mit dem gleichen Rechte nun, wie es fcheint,
mit weldem wir ein ewiges Beharren der einmal erregten Bor-
ftellung erwarten, könnten wir baffelbe Gefeß auf die Natur der
Seele anwenden; wir Kinnten in ihr ein Beſtreben zur Feft-
haltung ihres früheren Zuftandes vermuthen, Durch welches fie
jeden ihr aufgebrängten einzelnen Eindrud nad dem Aufbören
der äußeren Gewalt, bie ihn erzwang, wieber zu befeitigen fuchte.
Ohne in das unentfchiedene Fin und Wider einzugehen, in welches
der Streit diefer Anfichten auslaufen würde, wollen wir uns ein-
facher mit dem Belenntniß begnügen, daß die Tchatfachen bes
Bewußtſeins die Annahme jener Yortdaner der Eindrüde nöthig
machen, und der Zukunft möge der Verſuch überlaffen bleiben,
dieſes thatſächliche Verhalten als die unvermeidliche Folge bes
Weſens der Seele zu begreifen. Fremdartig und-als eine fonber-
bare Einzelbeit tritt e8 auch für uns nicht auf; beruht doch auf
diefer Feſthaltung der Eindrüde die Erfüllung des Berufes, der
dem geiftigen Leben gefallen ift: zu vereinigen, was in Raum und
221
Zeit beziehungslos auseinanderfällt, und dem Bergangenen einen
mitwirkenden Einfluß auf die Gegenwart dur fein zurüdgeblie-
benes Bild zu fihern, lange nachdem es felbit aus der Wirflich-
keit des Naturlaufes ausgefchieden ift.
So wenig wir num die Beharrung der Borftellungen Teugnen,
jo wenig können wir auch zögern, in dem Einfluffe, welchen fie auf
einander äußern, den Grund ihrer Verdrängung aus dem Bewußt⸗
jein anzuerkennen. Aber während die Erfahrung überall zur An-
nahme dieſes Einfluffes drängt, find wir fehr wenig im Stande,
einen Grund für die Nothmendigfeit feines Vorkommens nachzu⸗
weifen. &8 reicht nicht bin, ſich auf Die Wefenseinheit der Seele zu
berufen, welche ihren verſchiedenen Zuftänden nicht geftatte, unver-
bunden und wirkungslos neben einander zu verlaufen. Denn diefe
Einbeit ließe ung zunächſt nicht8 Anderes als das Beftreben erwar-
ten, alle Unähnlichfeit der inneren Zuftände in einen gleihförmigen
Geſammtzuſtand zu verjchmelzen. Aber wir wiſſen, daß eine folche
Neigung weder in dem bewußten Vorftellungslauf vorhanden ift,
denn alle Mannigfaltigfeit der Eindrücke bleibt in ihm erhalten, noch
daß fie in jenen unbewußten Zuftänden vorkommen kann, in welche
die verſchwindenden Borftellungen ſich verwandeln, dem fle ehren
aus dieſer Vergeflenheit mit ungetrübter Schärfe der Gegenjäte
wieder, die fie im Bewußtſein befaßen. Völlig würden wir uns
alfo in jener Erwartung getäufcht haben, die wir auf die Einheit
der Seele gründen zu Finnen glaubten, und dies Mißlingen macht
und darauf aufmerffam, daß überhaupt wohl die Einheit eines
Weſens im Allgemeinen zu einer Wechſelwirkung feiner verichie-
denen Zuftände drängen möge, daß aber die beſtimmte Form
oder der Sinn, in welchem diefe Wirkung gejchiebt, won der be-
ſonderen Natur jedes einzelnen Weſens abhänge. Daß die Vor-
ftellungen fi nicht zu einem Mittleren miſchen, fondern nur die
Beleuchtung durch das Bewußtjein einander ftreitig machen, da⸗
von müfjen wir den Grund in dem fuchen, was die Seele zur
Seele macht, oder in dem, wodurch das Bewußtſein fi von an⸗
deren Aeußerungen ihrer Thätigleit unterſcheidet.
222
Ueber die Schwierigfeiten nun, weldhe die Natur des Bewußt⸗
ſeins darbietet, tröften wir uns im täglichen Leben mit fo umvoll-
kommenen Borftellungen, daß wir kaum Beranlafiung hätten, auf
diefe gewöhnlichen Auffaflungen zurückzukommen, wenn nicht die
Auffälligfeit ihrer Mängel uns die Räthfel verdeutlichte, welche fie
ungelöft laſſen. Wir betrachten wohl das Bewußtfein als einen
Raum von begrenzter Weite, in welchem die Eindrüde fi ibre
Pläge ftreitig machen; wir kümmern und wenig dabei um den
Grund, welcher der Ausdehnung diefe8 Raumes Schranken zieht,
und ebenfo wenig um die Urfache, welche die Eindrüde veranlaßt,
in ihn einzubringen; indem wir endlich an dem Bilde Körperlicher
Geftalten hängen, deren jede freilich durch ihre Undurchdringlichkeit
der andern den Plat entzieht, den fie felbft einnimmt, finden
wir e8 felbitverftändlich, daß in dem begrenzten Raume des Be-
wußtſeins auch nur eine endliche Menge der Borftellungen neben-
einander fein inne. So haben wir lediglich unter dem Schute
eines ganz unberechtigten Bildes den Gebanten an eine Unver-
träglichfeit der Vorftellungen untereinander und an die Nothwen⸗
digkeit eines Drudes, den fie gegenfeitig ausüben, nebenher er-
lichen. Oder wir Iprechen von dem Bewußtſein wie von einem
Lichte von vielleicht veränderlicher, aber Doch immer nur enblicher
Stärke der Helligkeit, und finden e8 dann natirlih, daß fein
Borrath von Erleuchtungskraft fi über die vorhandene Menge
ber Eindrücke vertbeile, durch Zerftreuung auf eine größere Biel-
heit ſich abſchwächend, durch Einſchränkung auf Weniges ſich deut-
licher fammelnd. Und bei diefer Vergleihung verläßt uns fogar
das Bild, dem wir folgen wollten. Denn jebed Licht, rundum
fi verbreitend, erleuchtet das Viele nicht ſchwächer als Das
Wenige, und man fieht nicht feine Strahlen von dem Punlte,
wo fie nichtS zu beleuchten fanden, in frummlinigen Bahnen um—
ſchwenken, um ſich gefammelter auf die geringere Anzahl vorhan⸗
dener Gegenftände zu merfen. Nur dann werden die vielen
ſchwächer beleuchtet, wenn fie einander deckend ſich das Licht ent-
zieben, und gerade die war es, was zu erflären war, wie es
223
geihehen könne, daß zwiſchen den Vorftellungen Verhältniffe ein-
treten, in denen die eine der andern die Möglichfeit des Gewußt⸗
werdens entziehe. Und nur wenig würden wir gewinnen, wenn
wir, dieſe räumlichen Gleichniffe verlaffenn, das Bewußtſein über⸗
haupt als eine erichöpfbare Kraft bezeichneten, die nur einen be-
grenzten Aufwand von Thätigkeit machen könne. ‘Denn immer
wirde der Grund dafür mangeln, daß einzelne Borftellungen
allein von ihr Tebendig erfaßt, andere ganz fallen gelafien werben;
wir würden nicht wiflen, warum ftatt einer Dämmerung, bie
mit immer abnehmender Helligfeit fich über eine ſtets anwachſende
Zahl der Eindrüde verbreitete, diefer Wechſel voller Beleuchtung
und völligen Dunkels eintreten müßte, in welchem die Vorftel-
lungen auftauchen und wieder verſchwinden.
Doch auch fir diefe Frage bat unfere gemöhnlicde Meinung
eine Antwort, die etwas tiefer eingehend auch uns zu weiterem
Eingehen nöthigt. Bon allen jenen Reizen, welche ber Seele
bon außen zukommen, läßt man in ihr zunächſt Eindrücke ent⸗
ftehen, die als ſolche noch nicht Empfindungen, noch nicht Bor-
ftellungen find, fondern als eine angebäufte Summe innerer
Zuftände eine Bewußtſeins noch warten, das fie wahrnehmen
und durch fein Wahrnehmen fle erft zu Empfindungen verflären
wird. Bon der Eigentbümlichfeit diefer Eindrüde können wir und
natürlich nie eine Anfchauung bilden, weil fie als das, was fie
find, ftet8 dem Bemwußtfein entzogen bleiben, und aufhören zu
fein, was fie waren, fobald fie von ihm ergriffen werben; ihre
unendliche Anzahl aber erfcheint uns als eine verkleinerte und
angenäherte Wiederholung ber äußeren Welt, zwar in das
Innere der Seele verfegt, dem Bewußtſein jedoch nod eben fo
fremd, mie Alles, was noch ohne eine Wechſelwirkung mit uns
in äußerer Ferne ruht. Bon diefen Einvrüden gelte das Gefet
beftändiger Beharrung; einmal entftanden, vergehen fie nicht
wieder; aber veränderlich fei ihr Verhalten zu der wifjenden
Thätigfeit umferes Geiſtes, die mie ein wandelndes Licht bald
dem einen, bald dem andern fi) zumendenb, fie bald wahr:
224
nehme, bald in das bewußtloſe Dafein verborgener Eindrüde.
zurückfallen Laffe.
Es ift nicht ohne Imtereffe, den verſchwiegenen Vorausſetz⸗
ungen nachzugehen, auf denen diefe Auffaffung beruht. Wo wir
durch einen äuferen Reiz irgend ein Element zu einer Berän-
derung bemogen jehen, deren beftimmte Geftalt diefes nur aus
feiner eignen Natur, nit aus der des Reizes entlehnt, da
werden wir das Ganze befien, was in dem Elemente geſchieht,
in Gedanken ſtets al8 eine Aufeinanderfolge zweier Ereigniffe,
eines Eindrudes und einer lebendigen Rückwirkung gegen ihn,
betrachten innen. Unfere Beobachtungen im Leben pflegen ſich
nun auf zuſammengeſetzte Gebilde zu beziehen, und bier bedarf
e8 einiges Zeitverlaufes, ehe Die Erfchütterung des einen Theiles,
den der Eindrud zunächſt getroffen bat, fi über das Ganze
verbreitet und dur Anregung der übrigen einen Rüdichlag
gegen die urſprüngliche Störung hervorruft. So gewöhnen wir
uns an die Vorftellung einer Kluft zwilchen dem Leiden und ber
Thätigfeit, die ihm antwortet. Wenden wir nun unfere Gedanken
auf die einfache Natur der Seele, fo erſcheint dieſelbe Vorftellung
nicht mehr gleich zwingend. Gewiß wirb jeder äußere Reiz fie
nur dadurch zum Handeln bringen, daß fie von ihm leidet, denn
er wäre nicht fir fie vorhanden, Litte fie nicht; gewiß werben
auch ihre inneren Veränderungen, ihr Leiden ſowohl als ihre
thätige Rüdwirkung fih nur in einem Zeitverlauf entwideln;
aber nothwendig wenigftens ift e8 nicht, daß dieſe beiden für
unfere denkende Auffaffung unterſcheidbaren Theile des ganzen
Borganges in verfchievenen Zeitabichnitten auf einander folgen,
oder daß zu dem Eindrude der äußeren Reize erjt noch irgend
eine andere ergänzende Bedingung binzutreten müſſe, um ihm,
dem an fih unbewußten, die Aufmerkſamkeit des Bewußtſeins
zuzumwenden. In jedem untheilbaren Augenblide vielmehr können
wir beide als gleichzeitig, als jo in einander verſchmolzen betrach-
ten, daß die verſchiedenen Namen, die wir ihnen geben, nicht mehr
zwei Vorgänge bezeichnen, fondern den einen und ungetheilten
225
unter verichiedenen Gefthtspunften auffaffen. Denn auch das, was
wir Leiden nennen, ift ja nicht eine fertig in das Leidende ges
brachte Veränderung, von der es nur einen Drud überhaupt em⸗
pfände, ohne ſich in einer beftimmten Form und Weiſe bebriidt
zu fühlen. Inter demfelben Eindrud leiden verſchiedene verſchie⸗
den; fo num zu leiden und nicht anders, ift ſelbſt ſchon eine Rück⸗
wirkung, in ber fi die innerfte Natur eines jeden lebendig
gelten macht.
Menden wir und nun zu der unmittelbaren Empfindung,
welche uns ein äußerer Sinnesreiz veranlaßt, jo müffen wir ge-
ftehen, daß das ganze Ausſehen diefer einfachen Vorgänge wenig
für jene trennende, weit mehr für dieſe vereinigende Auffaflung
ſpricht. Wir willen nicht, warum die Lichtwelle, die unjer Auge
trifft, durch ihre Nachwirkung auf die Seele zuerft einen unſagba⸗
ren unbewußten Eindrud berborbringen müßte, dem nım erft als
eine Rückwirkung die Empfindung folgte, für die er als Blau ober
Roth erſchiene. Das Sehen diefer beftimmten Farbe, das Hören
dieſes beftimmten Tones läßt fih unftreitig unmittelbar als der
eine ungetbeilte Zuftand faflen, in den die Seele gerätb, und wir
nennen ihn Eindrud, wenn wir an feine Berurfahung durch einen
äußeren Reiz benfen, lebendige Rückwirkung aber, fobald wir uns
erinnern, daß derfelbe Reiz in anderen Naturen andere Zuſtände
vege gemacht haben würde, die Form des bier vorhandenen mithin
von dem Weſen diefer Seele abhängt. Nicht anders feinen wir
diefe Vorgänge auffaffen zu müſſen, als fo, wie wir auch die Mit-
theilung der Bewegung zwiſchen unelaftifchen materiellen Punkten
beurtheilen. Wir meinen nicht, daß der geftoßene Körper zuerft
nur empfangend die Geſchwindigkeit und Richtung aufnehme, die
ibm der Stoß zu geben ftrebt, und daß er Dann erſt vermöge ber
Bewegung, in welcher er fidy bereit8 befand, auf diefen Eindrud
zurückwirkend, jene mittlere reſultirende Bahn beftimme, die er
wirklich durchlaufen wird. Vom erften Augenblide des Stoßes
an kommt vielmehr nichts in ihm zur Wirflichleit, als dieſe eine
und ungetheilte Bewegung, in welcher der mitgetheilte Eindrud
Zope I. 4. Aufl. 15
226
und die Wirffamleit des urfprüngliden Zuftandes ununtericheib-
bar verfchmolgen find. Bon ſolchen Ueberlegungen geleitet, würden
wir es ablehnen Können, unbewußte Erregungen in der Seele der
bewußten Empfindung voranzudenken; nicht nur müßig, fondern
vielleicht widerfinnig erfchtene es, in dem Geifte, der Iauter Be-
wußtſein und Licht fei, einen dunklen Grund der Nacht zu ſuchen,
aus dem als eine fpätergeborne Erſcheinung fich die Helle ver Ge-
danken entwidle. Und in der That bat hieraus ſich eine piycho-
logiſche Anficht gebildet, welde die bewußten Empfindungen als
die Urvorgänge des Seelenlebend betrachtet und alle übrigen Er-
eigniffe aus ihren Wechſelwirkungen ableitet.
Die nöthige Rüdfiht auf die vergeflenen Borftellungen än-
dert einigermaßen diefen Stand der Sade. Gewiß dürfen wir
e8 dem Sprachgebrauche nicht verargen, wenn er das, was einft
Borftellung war, auch dann nod fo zu nennen fortfährt, wenn
es längſt das weſentliche Merkmal eingebüßt bat, um deswillen
ihm dieſer Name zufam. Aber die erflärende Unterfuhung muß
fih dod der Ungenauigfeit diefer Ausdrucksweiſe erinnern; fie muß
zugeben, daß die Namen der vergefienen oder unbewußten Bor-
ftellungen etwas bezeichnen, was in feiner Weife mehr Borftellung
ift, und daß diefe in ſich widerſprechenden Benennungen nur als
Erinnertingen an den Urfprung, aber nicht al8 Behauptungen über
die gegenwärtige Natur der durch fie angebeuteten Zuftände zu
dulden find. Wie fehr man dann auch fortführe, alles unbewußte
Geſchehen in uns nur aus der Hemmung der Borftellungen ab-
zuleiten, immer würde aud fo diefe Auffaffung das Geſtändniß
einichließen, daß es doch eben außer dem Bemußtfein noch andere
Zuftände der Seele gebe, in weldhe das Bewußtfein fi) verwan-
deln könne. Müſſen wir aber dies einmal zugeben, jo wird es
[mer fein, die Grenzen der Folgerungen zu beftimmen, die ſich
daraus ziehen Taffen. Eine beftändige Wechſelwirkung zwiſchen
dem hellen Xeben des Bewußtſeins umd dem bunflen Grunde des
Unbewußten haben wir damit einmal zugeftanden, und num ge—
winnt aud) die andere früher erwähnte Anficht wieder Boden, wenn
227
fie das Borftellen überhaupt als eine wandelbare Thätigkeit be-
tradtet, Die zu dem aufbewahrten Reichthume unbewußter Ein-
drücke bald hinzutritt, bald fi von ihnen abmwenbet.
In dem Gegenfat diefer beiden Meinungen liegt wohl einer
der hauptſächlichſten von jenen Gründen, welche die pfychologiſchen
Anfihten auch der Gegenwart nad verſchiedenen Wegen ausein⸗
ander gehen laſſen. Für beide muß es die weſentlichſte Aufgabe
fein, Erflärungen der beftimmten Reihenfolge und der Ordnung
überhaupt zu finden, bie fich in dem Wechſel umferer Borftellungen
zeigt. Die eine wird bie Frage ſich fo ftellen, daß fie nach den
Regeln des Mehanismus fucht, durch welchen die bewußten Zu-
flände einander verdrängen; die andere wird nad) den Gründen
forſchen müſſen, durch welche die einzelnen unbewußten Einbritde
die Aufmerkſamleit des Vorftellens auf ſich ziehen und von anderen
ablenten. Beide werden in ihren Ergebniffen mehrfach zuſammen⸗
treffen, wie fle denn beide von der Betrachtung eines und befjelben
Thatbeſtandes fi) müſſen Leiten laſſen; dennoch bleibt die Ver⸗
ſchiedenheit in der Art ihres Vorgehens beträchtlich genug, um
noch emige Augenblide unfere Erwartung zu fpannen.
In der größeren oder geringeren Stärle der Vorftellungen
wird natürlich die erſte Anficht den Grund für das Maß des
drängenben Einfluffes finden, welchen fie auf einander üben. Doch
find die Vorftellungen nicht urfprünglich mit abftoßenden Kräften
begabt; eine Nothmwendigfeit ihrer Wechſelwirkung überhaupt tritt
erft dadurch ein, daß die Einheit der Seele fie zu verbinden ftrebt,
ihre Gegenfäte unter einander aber diefer Bereinigung widerftehen.
Deshalb wird die Weite des Gegenfages, ber zwei Borftellungen
trennt, im Allgemeinen Die Lebhaftigfeit ihrer Wirkung auf einan-
der, ihre Stärke dagegen das Maß des Leidens beftimmen, welches
in diefer Wechſelwirkung jebe einzelne der andern zufligt oder
von ihr erfährt. Daß nun diefer Kampf, obwohl angeregt durch
15*
228
Die Gegenfäge der Borftellungen, doch nicht mit einer Ausgleihung
derfelben endet, fondern daß nur die Stärke der ftreitenden Bor-
ftellungen ohne Aenderung ihres entgegengelegten Inhalt vers
mindert wird, diefen Umftand wird die erwähnte Anficht am beften
tbun, fr eine ebenfo unerwartete als unerflärliche Thatſache
auszugeben, zu deren Annahme die Beobadhtung zwingt. Erſt
nad dem Zugeftändniß dieſes Punktes beginnt die Möglichkeit,
die verwickelteren Erſcheinungen auf ihn zurückzuführen; bie innere
Nothwendigkeit feined eignen Vorkommens entgeht uns völlig
und wir gewinnen nicht8 duch das Bemühen, diefe Lüde durch
täufchende Reden zu füllen.
Aber auch jene Begriffe der Stärke und des Gegenfates, an
die wir in der Berechnung phyſiſcher Ereigniffe gewöhnt find,
bieten bei ihrem beabſichtigten Gebrauche zur Exflärung bes Vor⸗
ftellungslaufes mehrfache Schwierigleit. Den Empfindingen, d. h.
jenen Borftellungen, welche durch Die gegemwärtige Einwirkung
eines äußeren Reizes in uns erregt werden, kommt ohne Zweifel
eine gradweis verſchiedene Stärke zu, denn Feine von ihnen ift
eine reine und gleichgiltige Darftellung ihres Inhaltes; jede wird
vielmehr zugleich als eine größere oder geringere Erſchütterung,
als ein mehr oder minder eingreifender Zuſtand unſeres eignen
Weſens von ung gefühlt. Nicht nur an fi ift das blendende
Licht ein Stärferes, als der ſanfte Schimmer, fondern auch uns
begegnet mehr, wenn wir jenes, als wenn wir dieſen jehen; nicht
blos an ſich ift der Iautere Klang ein größerer Stoff für unfere
Wahrnehmung, jondern auch feine Wahrnehmung ift ein ftärkerer
Eindrud in uns, als die des leiſeren Tones. Und nicht nur die
Empfindungen deffelben Sinnes find in dieſer Weife vergleichbar;
aud) die Erregungen des einen können als größere oder geringere
Erihütterungen unjeres Innern mit denen eines andern zufanmen-
geftellt werden. Denken wir uns deshalb eine Seele, deren Bes
wußtfein noch von feiner Erinnerung früherer Erfabrungen be-
herrſcht wird, einer Mannigfaltigfeit äußerer Reize zum erften
Mal ausgelegt, jo werden wir e8 mahricheinlich finden, Daß die
229
Empfindung des ftärferen Inhaltes Die des ſchwächeren verdrängen
wird. In der ausgebildeten und durch Erfahrung erzogenen Seele
finden wir die Ereigniffe nicht mehr fo einfach; wir wiffen, daß
ein leiſes Geräuſch unfere Aufmerkſamkeit von lautem Lärmen ab-
ziehen Tann, und daß überhaupt die Macht, welche die Borftellun-
gen über die Richtung unferes Gedantenlaufes ausiiben, nicht
mehr im Berbältniß zu der Stärfe des finnlichen Inhaltes fteht,
ben fie wahrnehmen. Im Fortſchritt des Lebens hat ſich vielmehr
an die Eindrücke ein überwiegendes Interefje gelnüpft, das nur
noh an den Werth gebunden tft, welchen fie al8 vorbedeutende,
begleitende oder nachbildende Zeichen anderer Ereigniffe befigen.
So beftimmt für die Zukunft die Erfahrung, die filr jeden eine
andere ift, auch für jeden die Werthe der einzelnen Borftellungen
. anders und beſtimmt fie felbft für den Einzelnen nicht unveränder-
lich. Nur die beharrlice Natur des Geiftes und die nicht min-
ber beftändigen Grundzüge der Törperlihen Organifation forgen
dafür, daß diefe Verſchiedenheit nicht ind Ungemefjene geht, indem
die überwältigende Kraft, mit welcher einzelne finnlihe und in⸗
tellectuelle Eindrüde in Alle gleichmäßig eingreifen, überall die
Werthbeftimmungen des BVorgeftellten auf ein gewiſſes Maß der
Bergleihbarkeit und Berechenbarkeit zurückbringt.
So ſcheint e8, als wenn wir dreifach untericheiden müßten,
zuerit das Mehr oder Minder des vorgeftellten Inhaltes, dann
die Stärke der Erregung, die er uns zufügt, endlich die Macht,
welche fein Eindrud über unfern Vorftelungslauf ausübt; und
nur in der Empfindung der noch erfahrungslofen Seele würden
diefe verſchiedenen Beftimmungen vollftändig zufammtenfallen. Aber
in unferer Erinnerung verſchwindet das zweite diefer Glieder. In—
bem fie den Inhalt früherer Empfindungen getreu nah Art und
Stärke wieberholt, wiederholt fie nicht gleichzeitig Die Erſchütterung,
Die wir von ihnen erfuhren, oder wo fie dies zu thun ſcheint, fügt
fie Doch in Wahrheit vielmehr das bloße Bild des früheren Er-
griffenfeins als eine zweite Vorftellung zu der wiebererzeugten An-
ſchauung des früheren Inhaltes hinzu. Das Rollen des Donners
230
ift in unferer Erinnerung, fo deutlich fie auch feine Eigenthüm⸗
lichleit und feine Stärke wiedergibt, Doc feine gewaltigere Erre⸗
gung als die gleich deutliche VBorftellung des leiſeſten Tones; wir
gedenken vielleicht wohl der ftärkeren Erſchütterung mit, die ber
beftigere Klang uns zufügte, aber auch dieſe Vorftellung der leb⸗
hafteren Erregung ift nicht jet wieder eine größere Bewegung im
uns, als die gleich deutliche des geringeren Ergriffenfeind. Wir
unterfcheiden in der Erinnerung die verſchiedenen Gewichte zweier
Segenftände, aber die genaue Wiebervorftellung bes ſtärkern
Druckes, den uns ber eine verurfachte, iſt nicht auch jetzt wieder
ein flärferes Ergriffenfein fir uns, als das nicht minder genaue
Nachgefühl der geringeren Laft. Die Borftellung des Schmerzes
ift nicht Schmerz, die der Luft nicht Luft felber; leidlos und
freudlos erzeugt das Bewußtfein wie aus einer ficheren Höhe
herab den Inhalt vergangener Eindrüde mit aller Mannigfal-
tigleit feiner inneren Berhältniffe, jelbft mit den Bildern der
Gefühle, die fih an ihn Mmüpften, aber nie trübt es die Auf-
fung feiner Aufgabe dadurch, daß es an der Stelle der Bilder
ben Eindrud felbft mwiederfehren ließe. Ausdrücklich als abweſend
ftellt e8 das Vorgeftellte vor, und ohne von dem Größeren mehr
als von dem Kleineren ergriffen zu werben, wiederholt e8 mit
gleicher Leichtigkeit beide, gleich zweien Schatten, von denen feiner
fhwerer iſt als der andere, wie verſchieden auch Die Gewichte
der Körper fein mögen, denen fie entſprechen.
So würde mithin der Gebantenlauf der Erinnerung zwar
großen und kleinen, ftarten und ſchwachen Inhalt dem Bewußt⸗
fein wiederbringen, aber die vorftellende Thätigfeit,, die er dazu
verwendet, würde gradlos überall diefelbe fein. Und doch wilde
nur von Unterfchieden dieſer Legteren die Wechſelwirkung der Bor-
ftellungen, da ihre Inhalte ſich nicht miſchen, abhängig fein kön—
nen, denn nur in der unmittelbaren Empfindung würde die Größe
des Borgeftellten, da fie zufammenfällt mit der Stärke der Erre-
gung, den Sieg bes einen Eindrudes über den anderen entſcheiden.
Wenn wir deshalb von einer Stärke der Borftellungen fo ſprechen,
231
daß wir von ihr das Schickſal der VBorftellungen im Streite gegen
einander beftimmt denken, fo kann e8 nur noch in jener dritten
Bedeutung gefchehen, in welcher fle Die Macht ift, welche jede ein⸗
zelne Borftelung auf die Richtung des Gedankenlaufes ausübt.
Aber dieſe Macht ift nicht mehr eine vorher Hare Eigenſchaft,
durch weldhe wir den ferneren Erfolg erläutern Tünnten, fondern
fie ift die Fähigkeit felbft, deren Gründe wir fuchen. Bon einer
Stärke in dieſem Sinne die Leiftungen der Borftellungen berzu-
leiten, würde nicht mehr Aufflärung gewähren, als die Behaup-
tung, daß im Kampfe derjenige zu fliegen pflege, der aus unbekannt
bleibenden Gründen die Oberhand erhalte. Aber ehe wir dieſe
noch unbelannten Gründe anderöwo fuchen, müſſen mir noch
einige Berhältniffe erwähnen, die dem Gedanken einer veränber-
lihen oder verſchiedenen Stärke der Vorſtellungen doch einige
Unterftügung zu gewähren jcheinen.
Man ift völlig an die Meinung gewöhnt, daß jeder Inhalt,
ohne daß er felbft verändert würde, in unzählig verfchiebenen Gra⸗
den ber Klarheit oder Stärke gedacht werben könne, und eben, in-
dem’ fie abwärts Die Stufenreihe diefer Grade durchlaufen, follen
die Borftelungen allmählich und ftetig ſich verdunkelnd aus dem
Bewußtfein verfhwinden. Aber dies ift die Beſchreibung eines
Ereigniffes, das Niemand beobachtet haben Tann, da die beobach⸗
tende Aufmerkſamkeit eben die Möglichkeit feines Eintreten auf-
heben würde. Exft fpäter, wenn wir inne werden, daß eine Vor-
ftellung eine Zeit hindurch in unferem Bewußtſein gefehlt bat,
beantworten wir ung die Frage nad) der Art ihres Verſchwindens
durch Diefe Bermuthung eines allmählichen Erlöſchens, für deren
Nichtigkeit die wirkliche Beobachtung, fo weit fie der Sade fid
nähern kann, durchaus fein Zeugniß ablegt. Erinnern wir uns
des inneren Zuſtandes, in dem wir uns befanden, wenn eine
ſtark angeregte Vorftellung längere Zeit in uns lebendig war und
nach und nad zu verſchwinden fchien, fo werden wir ſtets finden,
daß fie nicht ftetig verdunkelt wurde, fondern mit vielen und ſcharfen
Unterbrechungen bald im Bewußtſein war, bald nicht. Jeder neue
232
Eindrud, defien Inhalt in irgend einer Beziehung zu jener Bor-
ftellung ftand, führte fie augenblicklich wieder in die Erinnerung
zurüd, durch jeden fremden, in feiner Neuheit auffallenden warb
fie augenbfidlid wieder verdrängt; jo glich fie einem ſchwimmen⸗
den Körper, der durch wechſelnde Wellen bald plötzlich verichlungen,
bald ebenfo geſchwind gehoben, in dem einen Augenblid ganz ſicht⸗
bar iſt und im anderen gänzlich umfichtbar. Was wir bier als all-
mählie Verdunkelung deuten, find zum Theil die wachſenden
Pauſen, welde die Wiedererfheinungen der Borftellung unter-
brechen, theils eine andere Eigenthümlichkeit, deren wir fpäter ge⸗
denken werben.
Theilen wir nun die vielgeftaltige Menge der Borftellungen
in die einfachen Eindrüde der finnliden Empfindung und in die
zufammengefegten Bilder, Die aus biefen durch mannigfacdhe Ber-
fnüpfung entfteben, fo würden wir nicht angeben künnen, worin
für die erfterem die Verſchiedenheit ihrer Stärke befteben follte,
wenn wir nicht den vorgeſtellten Inhalt unvermerkt verändern.
Denjelben Ton von derjelben Höhe und Stärke, von gleichen
Klange des Inſtrumentes, Können wir nicht mehr oder weniger
deutlich vorftellen, wir haben entweder feine Borftellung, oder wir
haben fte nicht, oder enblich wir fehlen gegen unfere eigne Boraus-
fegung, indem wir die Borftellung eines ſtärkeren oder ſchwächeren,
alſo eines anderen Tones an die Stelle einer ftärkeren oder ſchwä⸗
cheren Borftellung deſſelben Tones fegen. Und ebenfo dieſelbe Schatz
tirung derſelben Farbe Können wir nicht in derſelben Helligkeit
ihrer Beleuchtung nun noch mehr oder minder deutlich vorftellen;
wohl aber, wenn fie und durch einen Namen ober eine Befchrei-
bung angedeutet war, fünnen wir in dem Berfuche, uns ihrer zu
erinnern, ungewiß ſchwanken zwifchen mehreren verwandten Far:
benbilbern, die ſich anbieten und von denen wir nicht wiffen, wel-
ches das verlangte if. Damm beuten wir fälfchlich unjeren in-
neren Zuftend fo, als hätten wir Die Borftellung wirklich, nur
in geringer Klarheit, während wir fie in der That nicht haben,
fondern fie herausſuchen aus einer Menge, mit berem Anzahl
233
unfere Ungewißheit, alfo die fcheinbare Unflarheit der Borftellung
wädhlt.
Noch weniger gehen unfere zuſammengeſetzten Anfchauungen
durch fietige Verdunkelung zu Grunde, durch welche ihr ganzes
Bild allmählich ſchwächer beleuchtet verblaßte; fondern fle werben
unklar, indem fie wie verwefend ſich auflöfen. Bon einem geſehe⸗
nen Gegenftande fallen in unferer Erinnerung einzelne minder
beadytete Theile aus und die beftimmte Verbindungsweife, in ber
fie mit anderen zufammengebörten, wird völlig vergeflen; bet dem
Berfude, im Gedächtniß das Bild nachzuzeichnen, irren wir rath⸗
108 zwiſchen den manderlei Möglichkeiten, die entftandenen Lücken
auszufüllen oder die Einzelheiten zu verknüpfen, die uns nod in
voller Klarheit vorſchweben. Sp entjteht auch bier eine ſcheinbare
Unklarheit der Vorſtellung, die in geradem Verhältniſſe mit der
Weite des Spielraumes wächft, der unferer ergänzenden Phantaſie
gelafien ift. Vollkommen Kar ift Dagegen jede Borftellung, deren
Theile vollftändig und zugleich mit zweifellofer Beftimmtbeit ihrer
gegenfeitigen Beziehungen gedacht werben, und. diefe Klarheit ift
an fich weder einer Steigerung noch einer Minderung fähig. Den-
noch ſcheint e8 uns häufig fo, als ob felbft ein längft vollftän-
dig vorgeftellter Inhalt noch an Stärke feines Vorgeſtelltwerdens
zunehmen Hinne; in der That aber wird er in folden Fällen um
einen nenen Gehalt vermehrt. So wie er unflar wird durch ent-
ſtehende Lücken, die feinen Beftand verkleinern, fo fcheint er an Klar⸗
beit noch zuzunehmen, jobald über feinen eignen Beitand binaus
nod die mannigfachen Beziehungen in das Bewußtſein treten, Die
ihn nach allen Seiten hin mit anderem Inhalte verknüpfen. Es
ift nicht möglich, den Kreis oder das Dreied mehr oder weniger
vorzuftellen; man hat entweder ihr richtiges Bild oder hat e8 nicht;
aber gleichwohl feheint die Anfchauung beider an Klarheit zu mach-
fen, wenn unfere geometrifche Bildung die zahlreichen wichtigen Be-
ziehungen, durch die beide Figuren fi auszeichnen, fogleih mit
erinnert. Dies ift eine Klarheit in dem Sinne, in mweldem wir
fie als gradweis verfchieden zugaben; eine Macht nämlich, Die der
234
Vorſtellung nit aus einer eignen Stärke, fondern aus ihren
Connexionen erwächft. Unklarer fcheint uns deshalb in unferem
Bewußtſein eine früher lebhafte Borftellung dann zu werben, wenn
fie aus irgend einer Urfache allmählich abläßt, alle die anderen
in bie Erinnerung mitzubringen, die fi im erften Augenblide
ihrer größten Lebhaftigfeit an fie knüpften, oder auf deren Mit-
gegenwart eben dieſe Lebhaftigkeit ſelbſt beruhte. So verflingt,
wie wir oben erwähnten, eine angeregte Borftellung in uns, indem
fie bald auftauchend, bald verichwindend, bei jever jpäteren Rüdkfehr
einen Heineren Theil der Nebengedanten mit fih führt, von denen
fie anfangs begleitet war. Deshalb ſcheint uns auch nachher, wenn
wir auf einen vergangenen Borftellungslauf zurückblicken, ein einzel-
ner Eindrud nur mit geringer Klarheit ober nur in niedrigerer Höhe
durch das Bewußtſein gezogen zu fein, wenn er in Der That zwar mit
derfelben gradlojen Deutlichkeit, wie jeder andere, auftrat, aber zu we-
nige Nebenvorftellungen anregte, durch die er Längere Zeit fich Hätte
halten und auf die Richtung unferer Gedanken Einfluß üben Können.
Sp kommen wir endlidh zu der Behauptung zurüd, daß die
Macht, mit welcher die mannigfachen Vorftellungen einander be-
fämpfen, nicht abbängig ift von einem beftimmten Grade der Stärke,
den jede einzelne entweder urfprünglich gehabt hätte, oder bald
größer bald Heiner in jedem Augenblid aus irgend welden Grün-
den erlangte. Was wir als die Stärke der Borftellungen bisher
fennen lernten, befteht nicht in einer gradweis beftimmbaren In-
tenfität des Wiflens um fie, fondern in einer ertenfiv meßbaren
Bolftändigfeit ihres nothwendigen Inhaltes und in dem veränber-
lichen Reichthum überzähliger Elemente, welche fih an den Iu-
haltsbeſtand jeder einzelnen anknüpfen. Doc findet vielleicht eine
genauere Nachforſchung noch Etwas, was wir bisher in den That⸗
jachen überjehen haben; aber ehe wir uns bazu menden, bebarf
das andere Element, auf das man fi) in der Betrachtung Des
Borftelungslaufes zu fiüten pflegt, der Gegenſatz der einzelnen
Eindrüde unter einander, eine kurze Berlidfichtigung.
In der Empfindung, fo lange wir alſo gegenwärtige äußere
235
Eindrüde wahrnehmen, jehen wir unfer Bewußtfein der größten
Mannigfaltigkeit zugänglid. Unzählige Farbenpunkte unterfcheibet
unfer Auge mit einem einzigen Blid, nnd wo dieſe verfchiedenen
Eindrüde einander zu trüben feinen, haben wir Grund, diefen
Erfolg nicht von einer Wechſelwirkung der ſchon gebildeten Farben⸗
borftellungen, fondern von Störungen abzuleiten, welde die lörper-
lichen Erregungen in den Elementen des Sinnesorganes durch ein-
ander erfahren, noch ehe ihre legte Endwirkung für die Seele zur
Beranlafjung der Empfindung wird. Am menigften dürften wir
annehmen, daß in irgend einem früheren Alter die Farbenpunkte
für das Auge, die Töne fir das Obr nur ein unterfchieblofes Ge-
miſch Darböten, aus welchem erft die wachlende Aufmerkfamfeit die
einzelnen Elemente ſchiede. Denn weder einen Beweggrund wiirde
biefe, noch eine Regel des Scheidens haben, wenn nicht der Ein-
druck verſchiedenartige Beitandtheile ſchon erkennbar darböte, zwi-
ſchen denen fie die Theilſtriche wohl vertiefen und zufchärfen, aber da
nicht ziehen kann, wo fie durch Feine Andeutung vorgezeichnet find.
Ohne Zweifel ift Daher das Bewußtfein weder zu eng für eine
Bielheit von Empfindungen, no iſt in ihm irgend eine Neigung,
bie einmal gebildeten verichiebenartigen Borftellungen zu irgend
einem Mittleren zu verſchmelzen. Diefe mehrfach erwähnte Eigen⸗
tbümlichleit nun macht uns zwar mißtrauiſch gegen die Annahme,
daß ber Gegenfat der Borftellungsinhalte gleihwohl maßgebend
fein ſolle für die Lebhaftigfeit, mit welcher fie fih aus dem Be⸗
wußtſein zu verbrängen fuchen; aber fie macht body dieſen Einfluß
nit fo unmöglich, dag wir nicht zuvor die Entfcheivung der Er⸗
fabrung einholen müßten. Sehr deutlich nun find unfere Selbft-
beobachtungen in diefem Punkte überhaupt nicht; dennoch feinen -
fie jene Annahme in feiner Weife zu beftätigen. Es bat immer
große Schwierigkeiten, zwei VBorftellungen unverbunden neben ein-
ander zu fafien; jo weit es indeſſen gelingt, finden wir die gleich⸗
zeitige Borftellung von Weiß und Schwarz nicht ſchwerer als Die
von Roth und Orange, den Verſuch, Süß und Sauer zugleich zu
denken, nicht mißlicher, als den, zwei äbnlidhe Süßigfeiten zu
236
vereinigen. Es ſcheint uns im Gegentheil, als wenn die äußer-
ften Gegenfäge, die wir in dem Inhalte der Vorftellungen errei-
hen können, mit größerer Leichtigfeit neben einander gedacht wür⸗
den, als Verſchiedenheiten, deren Weite ein beftimntes Maß bat.
Die Vorftellimgen des Lichtes und der Finfterniß, des Großen und
bes Kleinen, des Pofttiven und des Negativen, und unzählige &hn-
liche finden wir fo im Bemwußtfein verbunden, daß das eine Glied
nicht ohne das andere gedacht wird, und wenn es und unmöglich
ift, Diefe entgegengejeßten als gleichzeitige Merkmale Eines und
Defielben zu faflen, jo bat e8 dagegen feine Schwierigfeit, fie auf
Verſchiedenes zu vertbeilen, und dies reicht hier völlig bin, wo
es ſich nicht um Die Berträglichleit der Eigenfchaften an den Din-
gen, fondern um die Vereinbarkeit ihrer Vorſtellungen in unferem
Bemußtfein handelt. Störten in der That die Vorftellungen ein-
ander nad Maßgabe der Gegenfäte in ihrem Inhalte fo, daß
die unähnlicheren fich mehr von ihrer Klarheit raubten, als Die
äbnliheren, fo wiirde Daraus die fonderbare Folge entfpringen,
Daß nun auch unfere vergleichende Beobachtung die Meinen Unter-
ſchiede Haxer faſſen müßte als die großen. Aber alle Ausbildung
unferer Gedanken beruht vielmehr darauf, daß das Bewußtſein voll-
kommen unbefangen durch den Inhalt bleibt, und daß es, um die
Berhältniffe zwifchen dem gegebenen Mannigfaltigen unparteiiſch
aufzufafien, eben durch dieſe Berhältniffe in feinen Verrichtungen
nicht gehemmt oder gefördert wird. Zugeben binfen wir wohl,
daß durch Die verfchiedenen Beziehungen zwifchen den Vorftellungs-
inhalten Gefühle in un® erregt werben, melde das Maß der
Aufmerkſamleit beftimmen, die wir dem einen von ihnen mehr
als dem anderen zuwenden; allein abgejehen von dieſen Wirkungen,
die einem anderen Zwecke des geiftigen Lebens dienen, glauben wir
die Behauptung ausſprechen zu Dürfen, daß für bie gegenfettige
Berdunlelung oder Verdrängung der VBorftellungen durch einanber
ber Gegenſatzgrad ihrer Inhalte ohne alle Bebeutung if. Dean
kann an diefem Ergebniß Anſtoß nehmen, weil man es in Wider-
ftreit glaubt mit dem allgemein nothwendigen Sage, nach welchem
237
entgegengefeßte Zuftände eines und befielben Weſens einander auf⸗
heben müſſen. Aber wie es fih aud um die Gültigkeit dieſes
Satzes verhalten möge, jene Erfahrungen lehren uns eben, daß
die Thätigfeiten, durch welche wir entgegengeleßte Inhalte vor⸗
ftellen, entweder nicht entgegengefegt find, oder nit in einem
ſolchen Sinne, in welchem ihr vielleicht vorhandener Gegenfaß zum
Grunde einer Gegenwirkung werden müßte Auch bier lernen
wir nur, wie durchaus anders fi das Gefchehen im Geifte ver-
hält, als die Ereignifjfe in der Natur, und wie jehr ung bie vor⸗
eilige Anwendung von Erlenntniffen irre führen muß, die in der
Naturwiſſenſchaft unbeftritten gelten, weil man die Punkte genau
fennt, auf die fie anzıtwenden find, während auf dem Gebiete des
geiftigen Lebens ihre vielleicht auch hier allgemeine Giltigkeit vor⸗
läufig nutzlos für uns wird, da wir nicht die Urvorgänge, auf
die fie fich beziehen müßten, fondern vielfach vermittelte Folgen
derfelben vor uns haben.
Keine unſerer Fragen ift bisher beantwortet. Für die Noth-
wendigfeit, daß überhaupt das Bewußtſein nur eine begrenzte
Menge von Borftellungen faffe, haben wir feinen zwingenden
Grund gefunden. Und festen wir fie als eine Thatſache voraus,
fo jchien weder in dem Begriffe einer verſchiedenen Stärke ber
Borftellungen, nod in dem ihrer Inhaltögegenjäge ein Erflärungs-
mittel für die Größe der Macht gegeben, mit welcher, jede ber:
jelben fi gelten madt und zu ihrem Theile die Richtung bes
Sedantenlaufes bedingt. No einmal müſſen wir verfuchen, in
dem jet verfleinerten Kreife möglicher Annahmen eine taugliche
zu finden.
Jene Enge des Bewußtſeins nun, die den erften Gegen:
ftand unferer Fragen ausmachte, findet im Grunde nicht ftatt
fir die wirflide Empfindung äußerer Eindrüde. Alle unfere
Sinne können zugleich thätig fein und eine unermeßliche Mannig-
238
faltigleit einzelner Reize aufnehmen, deren jeder, fo lange nicht
körperliche Zwiſchenwirkungen feine Sortleitung zu der Seele
hemmen, durch eine bewußte Vorftellung wahrgenommen wird.
Man mag immerhin behaupten, daß von fo vielen Eindrüden doch
Die meiften nur bunfel und unflar aufgefaßt werden; die Mög-
lichkeit, fich ihrer und ſelbſt ihrer Unflarheit fpäter zu erinnern,
beweift uns doch, daß fie wirklich im Bewußtſein geweſen find,
nur daß fie weder durch eine überwiegende finnlidde Erregung
noch durch einen größeren Werth ihrer Bedeutung Die anderen
verdrängen und ſich als richtungbeftimmende Mächte im Gedan⸗
fenlauf hervorthun konnten. Es fcheint völlig anders, wenn wir,
ohne von gegenwärtigen Sinneßreizen genöthigt zu fein, in Der
Erinnerung das abmefende oder vergangene Manmigfaltige zu
wiederholen ſuchen. Faft nur nad emanber Tehren Hier Die
Theile des Gefehenen und Gehörten zurüd, die in der wirflichen
Empfindung gleichzeitig erjchienen; und die Gebanfen, welche
weniger unmittelbar ein Nachbild finnlicher Einbrüde find, bilden
in unferem Inneren ftetd einen fchmalen und dünnen Strom.
der wohl häufig und in ſcharfen Sprüngen fi von einer Bor-
ftellung zur andern wendet und in kurzen Abwechfelungen Biel-
faches durchläuft, aber faft ganz die Fähigkeit verloren zu haben
ſcheint, gleich dem Blicke des Auges eine unzählbare Vielheit zu-
gleich zu umfaflen. So ift e8, als weite nur der Zwang, Den
die andringenden Reize der Außenwelt uns anthun, das Bewußt-
fein aus, während es in der Erinnerung fich felbft überlaffen
fi zu einer Enge zuſammenzieht, die kaum Mehreres neben ein-
ander, fondern nur Mannigfaches nad einander faßt. Dennoch
würden wir zu viel behaupten, wenn wir dies Letztere in voller
Strenge ausfprechen wollten. Denn obgleich es fehr ſchwierig
fein würde, durch unmittelbare Beobachtung zur entfcheiden, ob
mehrere Borftellungen zugleidy im Bewußtſein vorkommen Einen,
und ob nicht vielmehr überall und nur die Raſchheit der Ab-
wechſelung mit dieſem Scheine täufcht, jo nöthigt uns doch Die
Thatſache, daß wir überhaupt Vergleiche anftellen Tönnen, zu der
239
Annahme einer möglichen Gleichzeitigleit. Denn wer vergleicht,
gebt nicht blos von dem Borftellen des einen der verglichenen
Glieder zu dem Norftellen des andern über; um den Vergleich
zu vollziehen, muß er nothwendig in einem untheilbaren Bewußt⸗
fein beide und zugleich die Form feines Weberganges zwifchen
beiden zuſammenfaſſen. Wenn wir eine Bergleichung mittheilen
wollen, find wir dur die Natur der Sprache genöthigt, bie
Namen beider verglichenen Glieder und die Bezeichnung ber Be:
ziehung zwiſchen ihnen zeitlich auf einander folgen zu laſſen und
Died verurfacht und wohl die Täufchung, al8 fände in der Bor-
ftellung, die wir mittbeilen wollen, das gleide Nacheinander
ftatt; aber zugleich vechnen wir body darauf, baß in dem Bewußt⸗
ſein des Anderen unfere Ausſage nicht drei getrennte Vorftellungen,
fondern die eine Vorſtellung einer Beziehung zwifchen zwei andern
veranlaflen wird. Obgleich wir endlich, gemöhnt an den Gebraud
der Sprache, auch unferen verjchwiegenen Gedankengang in die
Form einer innerlichen Rede bringen, fo ift Doch offenbar auch
hier die Reihenfolge, in melder zeitlich die Worte für unfere
Borftellungen fih verfnüpfen, nur eine Nachzeichnung der Be-
ziehungen, die wir zwifchen ihren Inhalten früher vorftellten, und
dieſe Gewohnheit des innerlichen Sprechens verzögert eigentlich
den Gebantenlauf, indem fie das urſprünglich Gleichzeitige in
eine Reihe auflöft.
Bürgen und nun diefe Thaten des beziehenden Wiffens für
die Gleichzeitigfeit einer Mehrheit von Vorftellungen, fo ſcheinen
fie zugleich die Bedingungen des Stattfindens berfelben zu lehren.
Nur für unverbundenes Biele hat das Bewußtſein feinen Raum;
es ift nicht zu eng für eine Mannigfaltigfeit, deren Glieder wir
durch Beziehungen getheilt geordnet und verbunden benfen. Zwei
Eindrüde zugleich, aber ohne irgend ein gegenfeitiges Verhältniß
borzuftellen gelingt uns nicht; das Bewußtſein bebarf einer An-
ſchauung bes Weges, den e8 felbit von einem zum andern zurüd-
zulegen hätte; mit diefer umfpannt es die größere Vielheit leichter
als die Heinere ohne fie. Seine Faſſungskraft ift deshalb ftei-
240
gender Ausbildimg fähig. Zuſammengeſetzte finnlihe Bilder wie-
derbolt die Erinnerung leichter, je geübter wir waren, fchon in
der Wahrnehmung uns nicht nur leidend ihren Eindrud hin—
zugeben, fondern die Berhältniffe ihrer Theile nachzuzeichnen.
Die gleichzeitigen Töne einer Muſik werden von Jedem als ſolche
empfunden, aber ſchwer von dem erinnert, für den ſie nur eine
zufammenhangloje Vielheit waren; das muſikaliſch gebildete Ohr
faßt fie von Anfang an als ein beziehungsreihes Ganze auf,
befien innere Organifation durch den vorhergehenden Berlauf ber
Melodie vorbereitet war. Jedes räumlide Bild haftet fefter in
unferm Gebächtniß, wenn wir ım Stande find, feinen anſchau⸗
lihen Eindrud in eine Beſchreibung aufzuldjen. Wenn wir von
dem einen Theile eines Gebäudes jagen, daß er auf dem andern
ruhe, einen dritten ſtütze, gegen einen vierten fich unter beftimmtem
Winkel neige, vermehren wir zunäcft die Menge der feſtzuhalten⸗
den Borftellungen; aber in Diefem ſprachlichen Ausdruck durch
Süße verwandelt fi das ruhende Nebeneinander der Theile in
eine Reihe von Wechſelwirkungen, die zwifchen ihnen ftattzufinben
- feinen und fie deutlicher gegenfeitig verbinden, als die unzer-
gliederte Anſchauung. Je reicher die Bildung des Geifled wird,
je feiner fie die vereinigenden Beziehungen entlegener Gedanuken
zu finden weiß, um fo mehr wächſt die Weite des Bewußtſeins
auch für Vorftellungen, deren Inhalt nicht mehr durch räumliche
und zeitliche Sormen, jondern durch Zufammenhänge innerer Ab-
hängigfeit verbunden ift.
Erſchien uns nun in der Empfindung das Bewußtſein durch
bie Gewalt der äußeren Reize, die gebieterifch ihre Berüdfihtigung
verlangen, einer unbegrenzten Bielheit leidentlicher Zuftände zu—
gänglich, To ftellt fich dieſes Wiffen der Erinnerung mehr als
eine von dem Geifte ausgeübte beziehende Thätigleit bar. So
lange wir das Bewußtjein als einen Raum behandelten, im
241
welchen die Vorftellungen aus eigner Kraft auf und ab fteigen,
fehlte e8 uns am einem Grunde für die enge Begrenztheit feiner
Ausdehnung und die Bielheit gleichzeitiger Zuftände konnte ung
nicht unmöglich ſcheinen; natürlicher glauben wir Dagegen voraus-
fegen zu müſſen, daß die Einheit der Seele eine gleichzeitige
Menge unverbundener Handlungen ausichließt, und daß fie nur
das umfaßt, mas fe in der Einheit einer einzigen Handlung
zufammenbalten kann. So ſchiene die Anficht, welche das Vor⸗
ſtellen als einen beweglichen inneren Sinn die Eindrücke hervor⸗
heben laßt, leichter zu der Enge des Bewußtſeins zu führen, nad)
deren Gründen wir fragten. Doch enthält fie noch keinen Nach:
weis der Gefeße, nach denen dies wandelnde Licht der beziehenden
Aufmerkſamkeit die Richtung ſeines Weges wählt. Nicht unbe-
ftimmt in das Leere hinaus wird es fuchend geben können, ſondern
wenn es thätig feine Gegenftände zu erfaffen jcheint, wird feine
Thätigfeit doch nur in der Wahl beftehen, mit der es von ben
vielen Eindrüden, Die fih ihm entgegenfommend aufprängen, Die
einen aufnimmt und die andern fallen läßt.
Es find befannte Thatſachen, auf die wir hiermit hindeuten.
Daß ein neu erzeugter Eindrud die vergeffene Vorftellung eines
früheren gleichen wiederbelebt oder fie in das Bewußtjein repro⸗
ducirt, ift das einfachfte der allgemeinen Gefege, welche den Lauf
der Erinnerung beherrihen. Aber dieſe Wieberermedung ift doch
nur infofern von Werth für unfer inneres Leben, als fie nicht
nur das Vergeſſene wieberbringt, jondern zugleich da8 Bewußtſein
feiner Gleichheit mit dem neuen Eindrud vermittelt. Neues und
Altes darf deshalb nicht völlig zufammenfallen, ſondern beide
mäüffen als zwei gefchiedene Fälle der gleichen Borftellung aner-
kannt werben, und dies ift nur möglich, ſobald beide durch Neben:
züge, die fi an fie knüpfen, unterfcheibbar find. Der Gewinn
jener unmittelbaren Reproduction berubt Daher auf der Möglicdh-
feit, daß der wiebererwedte Inhalt auch Die andern mit ſich ins
Bewußtſein zurüdführt, mit denen er früher verbunden war, be⸗
ftänden dieſe au in Nichts weiter, als in bem dunklen Gefühl
Loge I. 4. Aufl. 16
242
ber allgemeinen Gemüthslage, in welche feine frühere Wahrnehmung
fiel, und die verfchieden wäre von der Stimmung, welche feinen
neuen Eindrud begleitet. Mit den Namen der Affociationen
pflegt man dies gegenfeitige Haften der Eindrüde an einander zu
bezeichnen, das wir auch in ihrem unbewußten Zuftande als
fortbeftehend betrachten müffen, um ihr gemeinſchaftliches Hervor⸗
treten im Augenblide der Wiederbelebung zu begreifen. Ber
geblich würde jede Bernühung fein, von der Art und Weiſe dieſes
Haftens irgend eine anfchauliche Borftellung zu gewinnen; nur
in feinem Erfolge bemerkbar, iſt e8 an ſich aller Beobachtung
entzogen und hat nirgends eine Analogie in dem Gebiete ber
Naturerfheinungen. Ohne deshalb zu fragen, durch meldes
Bindemittel die Haltbarkeit dieſer Vorſtellungsverknüpfungen be-
wirkt werde, können wir nur die Bedingungen zu bezeichnen fuchen,
unter denen fie auf übrigens unbegreiflihe Weiſe jtattfinden.
Alle Afjociationen der Borftellungen laſſen fih nun auf den
gemeinfamen Geſichtspunkt zurückführen, daß die Eeele die Summe
aller ihrer gleichzeitigen Zuftände nicht chemiſch zu einem einfür-
migen Mittelzuftand, wohl aber mechaniſch als Theile zu einen zu
fammenhängenden Ganzen verbindet, und daß fie ebenfo bie zeitlich
ablaufende Reihe ihrer Veränderungen zu einer Melodie verknüpft,
in welcher die Glieder am fefteften zufammenhängen, die ohne Da:
zwiſchentreten anderer fich unmittelbar berühren. Gebe Reprobuc-
tion beruht dem entipredhend darauf, daß das Wiederbelebte nicht
allein auftauchen kann, fondern das Ganze mit fich zu bringen
ftrebt, deffen Theil e8 früher bildete, und aus dem Ganzen zunaͤchſt
ben andern einzelnen Theil, mit dem e8 am engften verbunden war.
Auf diefen gemeinfamen Ausdruck laſſen ſich die einzelnen Fälle
zurüdführen, die man zu unterfcheiden pflegt. Er umfaßt vor
Allem nicht allein die Afiociationen der Vorftellungen, auf die unfer
Zufammenhang ung bier zunächſt führte, ſondern ſchließt die zahl-
veihen Verknüpfungen mit ein, die in ganz ähnlicher Weife zwiſchen
Gefühlen, zwiſchen Strebungen unter einander oder zwiſchen Vor⸗
ftellungen und Gefühlen, Gefühlen und Strebungen ftattfinden,
243
und deren mitbeftimmender Einfluß in einem vollftändigen Gemälde
auch des BVorftellungslaufes für ſich nie überſehen werden barf.
Wir finden ferner in ihn eingejchloffen die Affoctatton, durch welche
die Bilder einzelner räumlicher Geftalttheile einander und das
Ganze zurüdrufen. Denn jede Raumgeftalt läßt uns ihre Theile
entweder gleichzeitig überſehen, oder wir werden uns ihrer in einer
Reihenfolge nachbildender Bewegungen unſeres Blickes bemußt.
Jede andere innerlihere Beziehung ferner, durch die wir früher
einmal Mannigfaches zu dem Ganzen eines Gedankens verknüpft
hätten, würde ebenfo nur in einem gleichzeitigen Vorftellen oder
in dem ununterbrodhenen Zuge eines zeitlich verlaufenden für uns
faßbar gemwefen fein. Eyinnert ung endlich oft ein Eindrud an
einen andern ähnlichen, mit dem er doch früher nie in gleichzeitiger
Wahrnehmung gegeben war, fo erforbert Doch auch dieſer jehr häufige
Borgang Feine befondere Erflärung. Er beruht zum Theil auf der
unmittelbaren Wiederbelebung des Gleichen durch das Gleiche; Die
frühere Vorftellung deffen, was beiden Eindrücken gemeinfhaftlic
ift, ftrebt zurüdzufehren und führt num durch mittelbare Reprodue—
tion auch die befonderen Züge mit fi, um deren willen das Alte
dem Neuen nur noch ähnlich, nicht gleich iſt. Einfache Vorftellun-
gen, deren Aehnlichfeit in einer ebenfo einfachen unfagbaren Ber-
wandtſchaft ihres Inhaltes befteht, rufen einander mit geringer Leb⸗
haftigkeit hervor; eine Farbe erinnert nur wenig an andere Farben ;
ein Ton faum an die Manmnigfaltigfeit der Scala; viel kraftvoller
reproduciren beide das Ganze, als deſſen Theil fte früher auftraten,
die Farbe, die Geftalt der Blume, an der fie erſchien, die Töne, die
Melodie, die mit ihnen begann. ‘Das Wort, als eine Reihe von
Tönen, erinnert wohl an gleichgebaute, und wir vermwechjeln es;
aber doch Iebhafter an das Bild der Sache, mit dem es zu einem
afioeiirten Ganzen verbunden war. In zufammengefegten Bor-
ftellungen pflegt überall die Verbindungsform des Mannigfachen in
unferer Erinnerung über den Eindrud zu überwiegen, den die un=
mittelbare beſondere Eigenſchaft der Theile gibt; diefelbe Form ber
Buchſtaben erlennt ſchon das Tindliche Auge wieder, ohne Durch die
16*
244
Berichiedenheit ihrer Färbung fi aufhalten zu laſſen. Auf Das
Lebhaftefte erinnern daher Bilder an einander, deren vielleicht äußerfi
verfchiebene Beftandtheile doch in gleicher Art der Verzeihnung,
nach einem gleichen Schema des Zuſammenhangs, fi gruppirten.
Die Richtung, welche der Verlauf der geiftigen Ausbildung nimmt,
bevorzugt allmählich Die eine Diefer Reproductionsweiſen vor ben
andern; je häufiger unfere Aufmerkſamkeit auf Die gleigen und
ähnlichen Verknüpfungsformen des Mannigfachen gerichtet geweſen
ift, um fo leichter überficht fie das Verſchiedene, das jelbft in
diefen vorkommt, und hält die allgemeineren Aehnlichkeiten feft;
fie gewöhnt fih, auch die innerlichen und unanfhauliden Zu—
fammenbänge aufzufaffen, und fir ihre Erinnerung wird das,
was unter allgemeinen Geſichtspunkten begrifflich zufammengehört,
näber verwandt, als dasjenige, was feinem Wefen nad einander
fremd nur durch gleichzeitige Wahrnehmung fih im Bewußtfein
zufammenfand. Dann pflegt nicht felten die Schärfe des Gedächt-
niſſes fir die Reihenfolge der Vorfälle des Lebens abzunehmen,
während feine Treue für die allgemeinen Beziehungen zwiſchen
den Naturen der Dinge wächſt. Aber e8 muß binreiden, an
dieſe Verhältniffe erinnert zu haben, deren reihe Mannigfaltig-
feit bier zu erjhöpfen völlig unmöglich fein wiirde.
So ift durch den Mechanismus der Affociationen dem Ge—
panfenlauf eine Bielheit möglicher Wege eröffnet, die er ein-
fchlagen kann und zwiſchen denen er wählen muß. Indem num
jede der eben vorhandenen Vorftellungen alle jene andern wieber-
zubringen ftrebt, mit denen fie im Laufe des Lebens nad und
nad) verknüpft worden ift, wird die Entſcheidung darüber, was
von al diefer Fülle in jedem Augenblide zuerft in das Bewußt⸗
fein zurüdtehren fol, von einem Zufammenfluß verichiedener Be—
dingungen abhängen. Je größer die Anzahl der ähnlichen Züge
ift, welche irgend eine vergeſſene Vorſtellung mit der eben herr⸗
ſchenden theilt, um jo leichter wird fie Durch dieſe wieder erweckt
werben, denn um fo zahlreicher find bie einzelnen Fäden bes
Bandes, welches beide vereinigt. Aber die wirkjame Verwandt⸗
245
haft zwifchen ihnen wird doch nicht allein in der Wehnlichkeit
ihrer Inhalte beſtehen; auch ohne dieſe Webereinftimmung kann
in fehr mannigfaltiger mittelbarer Weife eine Borftellung mehr
oder weniger eng mit dem Sinne einer eben ablaufenden Gedan⸗
kenreihe zuſammenhängen, mit welcher fie frühere Weberlegungen
als weſentlichen Beziehungspunkt, al8 Beſtandtheil, als Beiſpiel,
als begleitendes Phänomen, verbunden haben. Selbſt eine form⸗
lofe Stimmung des Gemüthes wird zwei Vorftellungsgruppen,
welche fie mit gleicher Färbung begleitete, troß der Verſchiedenheit
ihrer Inhalte einander verwandter erjcheinen laſſen, als andere
von ähbnlicherem Gepräge. An die Stelle eines feiten Gegen:
ſatzes zwiſchen den Vorftellungen, welcher maßgebend für die Leb⸗
baftigfeit ihrer gegenfeitigen Verdrängung ober Wiederbelebung
wäre, haben wir daher eine für jeden Augenblid neu beftimmte
Größe ihrer Verwandtſchaft zu fegen, die fi) ändert, wie der
Contraſt zweier Yarben mit dem Hintergrunde wechſelt, auf den
fie aufgetragen find. Und ebenfo wandelbar ift die andere Be-
dingung für die Richtung des Gebanfenlaufes, die Größe des In-
tereſſes, die jeder Borftellung zukommt, und welche die Stärke
ausmacht, mit der fie im Bewußtfein fich gelten zu machen jucht.
Kein fpäterer Augenblid bringt dieſelbe Geſammtſumme von Bor-
ſtellungen, Gefühlen und Strebungen und diefelbe Körperliche
Stimmung wieder, im Zufammenhang mit denen früher dem
Eindrud die Höhe ſeines Intereſſes zugemefjen war. Nicht mit
diefem alten Werthe wirft er daher für die Beſtimmung des
weiteren Gebantenlaufes mit, fondern mit dem neubeftimmten
Grade defjelben, den er zu gewinnen vermochte, indem er mit
jenem, welden er früher befaß, in diefen neuen Streit mit
neuen Berhältniffen eintrat. “
Die Entwillung eines Vorſtellungszuges geftaltet ſich unter
diefen Bedingungen zu dem wandelbaren und veränderlichen Schau⸗
fpiel, das wir alle in uns kennen, und deſſen fcheinbar vegellofer
Wechſel und häufig in Verwunderung fest, weil wir feine leiten-
den Gründe nie zu überfehen im Stande find, ‘Denn der boll-
246
ftändige Grund für die Geftalt jedes nüchſten Augenblid8 Tiegt
nur in dem vollftändigen Gefammtzuftande unferer Seele während
des gegenwärtigen; aber von ihm zeigt uns unfere Gelbftbeob-
achtung immer nur wenige Bruchſtücke; wir werden und wohl
der Reihenfolge unferer vorangegangenen Borftellungen bewußt,
aber nie find wir in der Lage, zugleich die Eigenthümlichkeiten
unferer körperlichen Stimmung, unferer Gemüthslage, unferer
Strebungen, endlich die bejonderen Wechjelbeziehungen zu zerglie=
dern, in melde alle diefe Elemente zu einander verflocdhten waren.
Und doch hängt nur von der Summe aller diefer Bedingungen
zujammengenommen aud der Fleinfte und unbebeutendfte Zug
unſeres Vorftellungslaufes ab; denn nicht in einem fonft leeren
Bemußtfein ereignet er fih ja iiberhaupt, ſondern nur in der
ganzen vollftändigen Iebendigen Seele, die immer zugleih in
jenen andern Richtungen thätig ift und im dieſen wieder nicht
thätig fein kann, ohne vermöge der Einheit ihres Weſens deſſen
auch in ihrem Vorſtellen eingedenf zu fein.
Biertes Kapitel.
Die Formen des beziehenden Wiffens.
Die Verbältniffe zwifgen den einzelnen Vorſtellungen als Gegenftände neuer Borftel-
lungen. — Wechfel des Wiffend und Willen vom Wechſel. — Angeborene Ideen. —
Die räumlich zeitliche Weltauffaffung der Sinnlichkeit. — Die denkende Weltauffaf-
fung des Verſtandes. — Der Begriff, das Urtheil, ver Schluß. — Das zufammen-
fafiende Beſtreben ber Vernunft.
Jede Rede verftehen wir nur, wenn unfere Erinnerung bie
früheren Worte aufbewahrt, während wir die fpäteren hören. Und
nicht Died allein; auch die Reihenfolge, in welder die einzelnen
uns zugezählt werden, muß bis zum Scluffe der Rede irgendwie
in unferem Bemwußtfein wirffam erhalten bleiben; denn nicht ohne
dieſe zeitliche Abfolge fonnte der Sprechende vollftändig Die innere
Berfnüpfung des Vorftellungsganzen bezeichnen, das er und mit-
247
zutheilen wünſcht, und ber Hörende dürfte die zeitliche Ordnung
ber Worte erft dann vergefien, wenn er den Sinn dieſes Ganzen
in fih aufgenommen bat.
Zwei verjchiedene Leiftungen finden wir hierin eingejchloffen.
Ich erwähne diejenige zuerft, die in etwas veicherer Ausführung
zu den befannteften Erſcheinungen gehört: die Fähigfeit, auch in
Ipäterer Nacherinnerung eine Reihe von Eindrüden, eine Gefchichte,
Melodie oder Rede, in derſelben Aufeinanderfolge ihrer Beſtand⸗
tbeile zurüdzurufen, in welder eine frühere Wahrnehmung fie
darbot. Unmöglich wäre offenbar diefe geordnete Wiederholung,
ebenfo unmöglih auch ſchon jene erfte verftehende Zuſammen⸗
faſſung de8 Mannigfachen in der Wahrnehmung, wenn die zu-
rüdbleibenden Erinnerungsbilver aller früheren Eindrüde mit denen
der fpäteren nur überhaupt in einen Knäuel verſchmölzen; irgend
eine beftimmte Gliederung muß ſogleich zwiſchen ihnen geftiftet
worden fein und fie mit Auswahl und Abftufung gefondert und
verbunden haben. Nur unter diefer Bedingung kann es gefchehen,
daß der Hörende mit der Vielheit der nad) und nad vernommenen
Worte einen Sinn verbinde, und daß dem Erinnernden jekt diefe
vielen nicht in einem formlofen Schwalle zurüdfehren, fondern
in berfelben Reihenfolge, die fie in der urſprünglichen Wahr:
nehmung hatten, vor feinem Berwußtfein fi wieder entwideln.
Man bat weitere Rechenſchaft von der Art diefer Gliederung
zu geben verfuht. Wenn eine Reihe finnlicher Neize nad und
nad auf uns einmwirkt, jo begegne jchon der erfte einer hemmen-
den Rückwirkung von Geiten des übrigen Inhalts, den er ftet8
im Bewußtjein bereit8 borfinde; unvermeidlich werde deshalb die
Stärke des von ihm erzeugten Eindrucks ſchon eine Verminderung
bi8 zu dem Augenblide erlitten haben, in welchem der zweite Reiz
der Reihe zu unjerer Wahrnehmung kommt. Nicht mit dem
urſprünglichen Eindrud des erften Reihengliedes, fondern nur mit
dem noch vorhandenen abgeſchwächten Klarheitörefte defjelben, ver-
bindet fi) num der Eindruck des zweiten Gliedes, denn dieſen
Reſt allein trifft e8 im Bewußtſein noch wirfiih an. Auch dieſe
248
Berbindung aber unterliegt demfelben hemmenden Einfluß, und
beide Beftandtheile derjelben werden eine neue Verminderung
ihrer Stärke bis zu dem Beitpunfte erlitten haben, in weldem
der dritte Reiz unfere Wahrnehmung erwedt. Auch Diefer dritte
verknüpft fich daher weber mit dem erften felbit, noch mit dem
zweiten jelbft, am wenigften gleich innig mit beiden; er lann ſich
nur zu dem gejellen, was er jet no im Bewußtſein vorfinbet,
zu jener Combination nämlich, in welder ein zweiter Klarheits⸗
reſt des erften Eindrucks mit einem erften Klarheitsreſt des zwei-
ten verbunden ift. Die Fortſetzung dieſer Betrachtung würde mit:
hin zeigen, daß jeder fpätere Eindrud ſich mit einer Gruppe ver-
fnüpft, die fir feinen andern die gleiche ift, und in welcher jedes
frühere Glied der Reihe durch einen um jo ſchwächeren Klarheitd-
reſt vertreten ift, je länger die Neibe geworden und je näher es
felbft an deren Anfange Tiegt. Die Wiebererinnerung der Reihe
folgt dann denfelben Abftufungen. Das Anfangsglied, wenn feine
Borftelung im Bewußtfein auf irgend eine Art erneuert worden
ift, hebt nicht auf eimmal und mit gleicher Kraft alle übrigen
Glieder empor; erft wenn e8 felbft bis zu jenem erften Klarheitd-
refte gehemmt ift, mit dem in der urfprünglichen Wahrnehmung
fih das zweite Glied verbunden hatte, zieht e8 num auch Dies
zweite in das Bewußtſein zurüd; erft dann taucht das britte
Glied auf, wenn gegen den Widerftand, den die übrige Anfüllung
des Bewußtſeins auch dieſem Vorgang leiftet, die Wiederbelebung
des zweiten gelungen und die Combination der erften beiden bis
zu dem Klarheitsreſte gehemmt ift, mit dem allein dies dritte
Glied fih früher verknüpfen konnte.
Wenn ed nur um einen Grund für die Ordnung zu thun
wäre, in welcher die Erinnerung die Glieder der wahrgenommenen
Reihe wiederholt, jo reichten einfachere Betrachtungen aus. Wenn
einmal eine Mehrheit von Eindrücken der Seele in zeitlicher
Folge zulommt, fo werden diejenigen am inmigften oder ausſchließ⸗
Lich fich verknüpfen, die unmittelbar‘, ohne ein anderes Glied zwi⸗
hen ihnen, auf einander folgen. Denn worin auch immer Grund
249
und Weſen der Vorftelungsverbindung, für die wir den Namen
der Aflociation brauchen, und worin auch immer die Abftufung
in der Innigfeit dieſer Verbindung beftehen mag: unter allen
Umftänden wird doch ein mittleres Glied zwiſchen zweien das
beffere Recht der engen Verknüpfung mit jedem von beiden haben
und Durch fein Dazwiſchentreten beide von einander trennen. Wie-
derholt daher die Seele in zeitlicher Yolge die einft ihr ebenfo
zugelommenen Wahrnehmungen, fo kann der Weg dieſes Erinnerns
von dem erften Gliede zu dem dritten nur durch das zweite gehen,
und nicht die Innehaltung diefer Richtung, ſondern nur die Ab-
weichungen von ihr würden befonderer Erflärung bedürfen. Allein
daß überhaupt die Erinnerung in zeitlicher Abfolge die Eindrücke
wiederholt, welche die erfte Wahrnehmung zeitlich nach einander
aufnahm, ift nicht ebenfo ſelbſwerſtändlich. Dies Nacheinander
ber Wahrnehmung war das Mittel und der Grund, die einzelnen
Eindrüde in Beziehungen von abgeftufter Innigleit zu verbinden;
wenn aber zwifchen dem Augenblid der vollendeten Wahrnehmung
und bem der Erinnerung die ganze Reihe vergeffen ruht, fo ift
fie mit der ganzen fo erworbenen Gliederung aller ihrer Beſtand⸗
theile gleichzeitig und auf einmal vorhanden. Warum erwedt nun
die Erinnerung nicht das Ganze auf einmal, als eine gleichzeitige
Momnigfaltigkeit, deren Theile unter einander nur mit jenen Ab-
flufungen der Engigkeit verbunden find? Auf diefe Frage fuchte
die Anfiht zu antworten, deren wir gebachten. In den Hem-
mungen der Borftellungen durch einander und in der Anftrengung,
Durch welche gegen foldhe Hemmung eine vergefjene Vorftellung
wieder in das Bewußtſein zurückgebracht wird, ſah ſie Vorgänge,
die an fich des Zeitverlaufs zur Erreichung ihres Zieles bedürfen;
nur nah und nad, indem in beftimmten Zeitpunkten beftimmte
Klarbeitsgrößen der Vorſtellungen wiedererrungen worden find,
treten daher die wirffamen Veranlaffungen wirklich ein, welche
ber Reihe nach die mit jenen Klarheitsreften verbundenen Glieder
der urſprünglichen Wahrnehmungskette zurüdführen.
Aber wichtiger ift und bie andere zweite Leiftung, die wir
250
oben ſowohl in dem erften verftehenden Anhören einer Rede als
in der Nacderinnerung ihres Ablaufs nachzuweifen veripradhen.
Zum Verſtändniß reichte e8 nicht bin, Daß die gehörten Worte
nach einander folgen; die früheren mußten aufbewahrt bleiben
neben den fpäteren; auch die Erinnerung einer Reihe bringt nicht
in jedem Augenblid nur ein Glied wieder, ſodaß vor und hinter
ihn Nichts im Bewußtſein wäre; vor Diefem Gliede fenfen fich
nod die ſchwindenden Bilder der früheren, hinter ihm beben ſich
bereit8 die auffteigenden der fpäteren Eindrüde. Aber das Ber-
ftändniß erfordert mehr, e8 reicht nicht hin, Daß dieſe geordneten
und abgeftuften Beziehungen zwifchen den einzelnen Vorftellungen
beftehen, oder daß in regelmäßiger Abfolge die Erinnerungs-
bilder derfelben im Bemußtfein vorüberziehen. Käme Nichts an-
deres hinzu, jo wäre die Seele nur ein Schauplag, auf welchem
thatſächlich ein Zuſammenhang des Vorftellend oder ein Wechfel
des Willens ftattfände; ein Vorſtellen dieſes Zuſammenhangs aber
oder ein Wiffen von diefem Wechfel würde exit in einem Beob-
achter entftehen Können, der mehr verjtände, al8 Zuftände in fich
auf einander folgen zu laſſen; der es verftände, in einem zweiten
und höheren Bemußtjein jene Thatjachen, Die ftattfindenden Be—
ziehungen zwiſchen jenen gleichzeitigen oder abwechſelnden Bor-
ftellungen, zufammenzufaffen und zu beurtheilen.
In der That nun bebürfen wir freilich Diefes andern Zu—
Ihauers nicht; denn dadurch ift Die Seele ja Seele, daß fie Au—
deres und fich felbft zu beobachten vermag. Aber dazu glauben
wir dennoch Grund zu haben, dieſe ihre eigenthümlidhe Fähigkeit
ausdrücklich im Gegenfage zu dem Mechanismus der Wechjel-
wirkungen zwilchen ihren unmittelbaren Borftellungen hervorzu⸗
heben. Man täufcht ſich gewiß, und nicht ohne nachtheilige Tol-
gen des Irrthums, wenn man dies Wiffen vom Wechiel Des
Willens blos aus dem Begriffe der Seele als eines vorftellenden
Weſens und aus der Einheit ihrer Subftanz als eine felbftwer-
ftändliche der Erwähnung kaum bebürftige Folge zu begreifen
glaubt. Denn zuerft der leere Begriff diefer Einheit kann uns
251
wohl zu der unbeftimmten Forderung irgend eimer d PER —
den Verknüpfung zwiſchen allen Zuſtänden veranlaſſen, die Sl
einen Weſen begegnen könnten; in welcher Form aber diefe Ber:
knüpfung ftattfinden müßte, würden wir nicht errathen; einer
fo wenig charakterifirten Verpflichtung würde Die Seele in ber-
That ſchon durch jene Verfettungen der Affociation und Repro=
duction zu entfprechen fcheinen fünnen, die ja wirklich ihre Vor—
ftelungen in gegenfeitigen Zuſammenhang bringen. Auch Dies
aber würde nicht ausreichen, die Nothmenbigfeit des zuſammen⸗
fafienden Wiffens vom Wechſel des Wiffend durch den Zuſatz be=
gründen zu wollen, Daß das einheitliche Wefen der Seele zugleid)
ein vorftellendes Weſen ſei. Wahricheinlichfeit, obmohl nicht Ge=
wißheit, hat allerdings der Gedanke, daß die Seele die Fähigkeit
bed Borftellene, in welcher ihre unterfcheidende Eigenthümlichkeit
befteht, in der That auch auf jeve Veranlaffung ausübt, welche
geeignet ift, zu ihrer Ausübung aufzufordern; wahrſcheinlich tft
es alſo an fi ſchon, daß auch die Verhältniffe, welche zwiſchen
ihren einzelnen Vorftellungen eingetreten find, zu neuen Reizen
für fie werden, auf melde fie wieder mit einer Handlung des
Borftelend antwortet. Und da die Erfahrung uns nun lehrt,
daß wirklich geſchieht, was wir hier erwarten zu können glaubten,
fo entfteht allerdings der Schein, als ginge alles Wiffen um bie
Aufammenhänge der Borftellungen und um ihren Wechſel als
jelbftverftändlihe Zugabe aus der Thatfache diefer Zuſammen—
hänge und dieſes Wechſels ſelbſt hervor.
Wenn wir im Gegenfag zu dieſem Schein für nothwendig
halten, die zufammenfafjende und beziehende Bewußtſein als eine
neue Thätigkeitsäußerung der Seele abzutrennen und auszuzeich-
nen, jo wünſchen wir durch diefe Sonderung eine Folgerung ab-
zujchneiden, Die und irrig ſcheint. Aus der Zerglieverung eines
äußern Sinnesreizes, und ohne die Erfahrung zu befragen, kön—
nen wir nicht vorher beftimmen, ob er als Ton oder als Farbe
werde empfunden werben. Vergleichen wir aber zwei ähnliche
Reize, von denen wir aus Erfahrung wiſſen, daß fie um ihrer
250
oben fowohl in dem erften verftehenden Anhören einer Rede als
in der Nacerinnerung ihres Ablaufs nachzuweiſen veripraden.
Zum Berftändnig reichte es nicht hin, daR die gehörten Worte
nach einander folgen; die früheren mußten aufbewahrt bleiben
neben den fpäteren; auch die Erinnerung einer Reihe bringt nicht
in jedem Augenblid nur ein Glied wieder, ſodaß vor und hinter
ihn Nichts im Bewußtſein wäre; vor dieſem Gliede fenfen fich
noch die ſchwindenden Bilder der früheren, hinter ihm heben fich
bereit8 die auffteigenden der fpäteren Eindrüde. Aber das Ver—
ftändniß erfordert mehr; e8 reicht nicht bin, daß dieſe georbneten
und abgeftuften Beziehungen zwiſchen den einzelnen Vorftellungen
befteben, oder daß in regelmäßiger Abfolge die Erinnerungs-
bilber derjelben im Bewußtfein vorüberziehen. Käme Nichts an=
deres hinzu, fo wäre die Seele nur ein Schauplat, auf welchem
thatjächlih ein Zufammenhang des Vorftellend oder ein Wechſel
des Wiffens ftattfände; ein Vorſtellen dieſes Zuſammenhangs aber
oder ein Wiflen von dieſem Wechfel würde erft in einem Beob-
chter entjtehen Können, der mehr verftände, als Zuſtände in fich
auf einander folgen zu laſſen; der es verftände, in einem zweiten
und höheren Bewußtſein jene Thatfachen, die ftattfindenden Be-
ziehungen zwiſchen jenen gleichzeitigen oder abwechſelnden Vor—
ftellungen, zufammenzufafien und zu beurtheilen.
In der That nun bebürfen wir freilich diefes andern Zu—
ſchauers nicht; denn dadurch ift Die Seele ja Seele, daß fie An—
dere und fich jelbft zu beobachten vermag. Aber dazu glauben
wir dennoch Grund zu haben, diefe ihre eigenthümliche Fähigfeit
ausdrücklich im Gegenfate zu dem Mechanismus der Wechfel-
wirkungen zwifchen ihren unmittelbaren Borftelungen hervorzu=-
heben. Man täufcht ſich gewiß, und nicht ohne nachtheilige Fol-
gen des Irrthums, wenn man Died Wiffen vom Wechſel Des
Wiſſens blos aus dem Begriffe der Seele als eines vorftellenden
Weſens und aus der Einheit ihrer Subftanz als eine ſelbſtver—
ftänbliche der Erwähnung kaum bebürftige Folge zu begreifen
glaubt. Denn zuerft der leere Begriff diefer Einheit kann ung
251
den Berknüpfung zwiſchen allen Zuftänden veranlafjen, die die
einen Weſen begegnen könnten; in welcher Form aber dieſe Ber-
knüpfung ftattfinden müßte, würden wir nicht erratben; einer
fo wenig harakterifirten Verpflichtung würde die Seele in ber:
That ſchon Durch jene Berkettungen der Affociation und Repro—
Duction zu entiprechen jcheinen Fünnen, die ja wirklich ihre Bor-
ftelungen in gegenfeitigen Zuſammenhang bringen. Aud Dies
aber würde nicht ausreichen, Die Nothwendigkeit des zufammen-
faffenden Wiffens vom Wechiel des Willens durch den Zufat be=
gründen zu wollen, daß das einheitliche Wefen der Seele zugleich
ein vorftellendes Weſen ſei. Wahricheinlichleit, obwohl nicht Ge-
wißheit, hat allerdings der Gedanke, daß die Seele Die Fähigkeit
des Borftellens, in welcher ihre unterjheidende Eigenthümlichfeit
befteht, in der That aud auf jeve Veranlaffung ausübt, melche
geeignet ift, zu ihrer Ausübung aufzufordem; wahrſcheinlich ift
ed alſo an fih fchon, Daß auch die Verhältniffe, welche zwiſchen
ihren einzelnen Borftellungen eingetreten find, zu neuen Reizen
für fie werden, auf welche fie wieder mit einer Handlung des
Borftellend antwortet. Und da die Erfahrung uns nun lehrt,
daß wirklich gefhieht, was wir hier erwarten zu können glaubten,
fo entjteht allerdingd der Schein, als ginge alles Wiſſen um Die
BZufammenhänge der Vorftelungen und um ihren Wechfel als
jelbftverftändlihe Zugabe aus der Thatfache dieſer Zuſammen⸗
hänge und dieſes Wechſels ſelbſt hervor.
Wenn wir im Gegenfat zu diefem Schein für nothwendig
halten, dies zufammenfaffende und beziehende Bewußtſein als eine
neue Thätigfeitsäußerung der Seele abzutrennen und auszuzeich-
nen, jo wünſchen wir Durch diefe Sonderung eine Folgerung ab—
zufchneiden, die und irrig fcheint. Aus der Zergliederung eines
äußern Sinnesreizes, und ohne die Erfahrung zu befragen, kön—
nen wir nicht vorher beftimmen, ob er ald Ton over als Farbe
werde empfunden werben. Vergleihen wir aber zwei ähnliche
Reize, von denen wir aus Erfahrung willen, daß fie um ihrer
252
Form willen beide al8 Töne gehört werden, und dürfen wir vor⸗
ausfegen, daß die Thätigfeit des Hörens unter dem gleichzeitigen
Eindrude zweier Reize das Verfahren nicht ändert, mit dem fie
einen einzelnen für fich aufnehmen würde, jo Können wir daran
denfen, das Ergebniß des Zuſammenwirkens beider Töne als Er-
folg ihrer Wechfelwirfung zu berechnen. Dieſer Verfuch würde
dagegen fruchtlos werben, wenn die Thätigfeit des Hörens durch
jeden Wechjel in der Zahl und dem Berhältni von Tönen, die
gleichzeitig an fie Anfpruch machen, zu einer Abänderung der Ge⸗
jege beftimmt würde, nach denen fie auf jeden einzelnen zurüd-
wirt. Was fle dann in jedem diefer Fälle wirflich hörte, würde
fi nicht aus der bloßen Berehnung der Eindrüde, welde bie
Töne einzeln gemacht haben würden, und der zwiſchen biefen
Eindrüden entftehenden Wechſelwirkungen errathen: man müßte
noch einmal fragen, wie diefe ganze Summe von Thatfachen auf
die börende Thätigkeit einwirkt, und weldhe neuen und eigenthlim-
lichen Rückwirkungen fie in ihr veranlaßt.
Ih babe an einer früheren Stelle (S. 204) dieſe allgemeine
Betrachtung ausgeführt, nach welcher wir von den einfachen Bor:
ftellungen, Die und für erfte Rückwirkungen der Seele auf un-
mittelbare Reize der Außenwelt galten, geiftige Thätigfeiten
höherer Ordnung unterfchieden, als Rückwirkungen zweiten Gra⸗
des, angeregt durch die Verhältnifſe, welche zwiſchen jenen ein⸗
facheren einzelnen Acten der Seele entſtanden ſind. Immer von
neuem als Reize höherer Ordnung ſchienen uns dieſe Verhältniſſe
auf Das ganze Weſen ber Seele einzuwirken und Fähigkeiten deſ⸗
jelben zur Aeußerung zu Inden, zu deren Ausübung jene ein-
facheren Reize erfter Orbnung feine Anregung gaben; nicht felbft-
verſtändlich aus der Betrachtung dieſer veranlaffenden Urfachen
ſchienen uns diefe neuen Rückwirkungen ableitbar; fle konnten in
Formen gejhehen, die aus der Beichaffenheit der Bedingungen,
die fie hervorriefen, unerflärbar wären, erflärbar nur aus der
eigenthlimlidden Erregbarfeit der Seele, bie miterzeugend in ihnen
fih äußert. Diefe Betrachtungen nun wenden wir auf ben bor=
253
Tiegenven Fall an. Käme ed nur darauf an, Das Wiſſen vom
Wechſel des Wiſſens als ein bloßes Gewahrwerden ber Verhält-
niffe zwiſchen den Borftellungen zu. begreifen, ohne daß im Ge-
wahrwerden Neues zu ihnen hinzukäme, fo wäre bie Umftändlich-
feit unferer Ueberlegung überflüffig. Aber Dies zufammenfafjende
Wiſſen gejchieht in Formen, die und nicht in den zujammenzu-
fafjenden Thatſachen bereits gegeben ſcheinen, in Formen, welche
nicht fo einfache Erzeugniffe gewiſſer Vorgänge im Vorſtellungs⸗
verlauf find, daß fie mit begreiflicher Nothwendigkeit überall ent-
ftehen müßten, wo diefe Vorgänge ſich ereignen; wir halten fie
für abhängig von einer neuen Seite in ber Natur der Geele,
die bisher noch nicht zur Aeußerung fam, und die auch dann eine
befondere Beachtung erforbert, wenn fie thatſächlich eine überall
vorhandene, nur in unferer Definition noch nicht berüdftichtigte
Eigenſchaft jeder Seele ift.
Frühere Zeiten haben von angeborenen Ideen geſprochen,
die, dem menfchlichen Geifte vor aller irdiſchen Erfahrung ange-
hörend, einen unverlierbaren Theil feines Weſens bildeten. Ohne
immer genau zu prüfen, welche Merkmale e8 fein müßten, durch
die ein Gedanke diefen vorzeitlihen Urfprung beweiſen könnte,
bat man die Grenzen dieſes urjprünglichen Befiges von Erfennt-
niß weit genug gezogen und Alles, was dem gebilveten Menſchen
am höchſten gilt, den Glauben an Gott, an die Unfterblichkeit
der Seele, an die freiheit des Willens ficherer zu ftellen gefucht
durch Einreihung in den Schag der Wahrheiten, melde nicht die
trüglide und unvollftändige Erfahrung, fondern Die ewig gleiche
Natur unſeres geiftigen Weſens und darbiete. Die Willkirlich-
feit ſolcher Anfichten hat der erfte Aufſchwung unferer nationalen
Pbilofophie dur die Annahme begrenzt, daß allerdings wohl
dem menfchlichen Geifte eine Mehrheit angeborner Ideen zukomme,
aber nicht folcher Ideen, welche irgend eine Thatſache oder einen
254
einzelnen Zug des Weltbaues enthüllen, fondern nur older,
welche die allgemeinen Beurtheilungsgründe ausbrüden, nach denen
unfer Denken jeden noch zu erwartenden möglichen Gehalt der
Wahrnehmung auffaffen und verarbeiten muß. Aller Inhalt
unferer Gedanken komme uns mittelbar oder unmittelbar von
ber Erfahrung, aber nicht ebenfo die Regeln, nach denen wir be
ziehend vergleichend urtheilend und folgernd diefen Inhalt ver-
binden und trennen, von einem zu dem ambern übergehen. Ihre
Duelle fei nicht außer uns zu ſuchen; das Gefühl der nothwen⸗
digen und unausweichlichen Giltigfeit, mit dem fie unjerem Be-
wußtſein ſich aufprängen, bürge uns vielmehr dafiir, daß fie von
dem abflammen, von dem wir uns nie trennen können, won ber
eignen Natur nämlich unſeres geiftigen Weſens. Ausgerüftet mit
diefen Weifen der Auffaffung ftehen wir der Mannigfaltigfeit der
Eindrüde gegenüber, welche die Außenwelt in ung veranlaft hat;
durch ihre Anwendung erft wird die thatfächlich vorhandene Summe
der innern Zuftände für uns zur Erkenntniß. So bringen wir,
und eingeboren, die anfchaulichen Formen des Raumes und der
Zeit jenen Eindrüden entgegen, deren gegenfeitige Verhältniſſe
fih nun fir uns in das Nach- und Nebeneinander der finnlichen
Ericheinungswelt verwandeln; fo treten wir mit der unabweisbaren
Borausfegung, daß alle Wirklichkeit auf der Grundlage beharı-
liher Subftanzen beruhen müſſe, an melde fi) abhängig und
unfelbftändig die mwanbelbaren Eigenfchaften knüpfen, mit ber
Gewißheit ferner, daß jedes Ereigniß dur einen urfächlicen
Zufammenhang als Wirkung an feine Borangänge gebunden jet:
mit diefer uns eingeborenen Zuverfiht treten wir zur Beobach⸗
tung des gegebenen Inhaltes Hinzu und vermandeln feine Wahr:
nehmung, indem wir diefe Grundfäge unferer Beurtheilung auf
ihn anwenden, in die Erfenntniß eines durch innerlihen Zu—
ſammenhang in fi abgefchloffenen Weltganzen.
Manches an diefen Anftchten, die den Gedanfengang unferer
Wiſſenſchaft noch immer in weiter Ausdehnung beherrichen, wird
innerhalb der Wiſſenſchaft felbft anders gefaßt werden müflen.
255
Der ungeeignete Name angeborener Ideen wird und nicht ver⸗
leiten dürfen, jene Grundfäge unſeres Erkennen, oder die Be—
griffe, mit denen man fie kurz zu bezeichnen pflegt, die Vor—
ftellung des Raumes der Zeit des Dinge8 der Urſache und die
andern, Die vielleicht von gleichem Werthe ſich anfchließen, als
einen urfprünglich bewußten Beſitz des Geiftes zu betrachten. So
wenig in dem Steine der Funke als Funke ſchon vorher ruht,
ehe der Stahl ihn hervorlockt, jo wenig werben vor allen Ein-
drücken der Erfahrung jene Begriffe vor dem Bewußtſein fertig
fhweben und ihm in feiner Einfamfeit die Unterhaltung ge—
währen, die und etwa die Betrachtung eines Werkzeuge vor dem
Beitpunft feines möglichen Gebrauches verichaffen könnte. Selbft
in unferm fpäteren durch Erfahrungen ausgebildeten Leben treten
fie jelten in dieſer Geftalt vor unfere Aufmerkſamkeit; in ung
vorhanden ift nur Die unbewußte Gewohnheit, nach ihnen zu han⸗
deln und in der Erkenntniß der Dinge zu verfahren; einer ab-
fichtlichen Weberlegung bedarf e8, um fie, die lange unbemerkt bie
Yeitenden Triebfedern unferer Beurtheilungen gewejen find, felbft
zu Gegenftänden unferes Vorſtellens zu machen. In feinem an-
deren Sinne find fie mithin angeboren als in dem, daß in ver
uriprünglichen Natur des Geifte8 ein Zug Liegt, der ihn nöthigt,
unter den Anregungen der Erfahrung unvermeidlich diefe Auf-
faffungsweifen des Erkennens auszubilden, und daß andererfeits
nit der Inhalt der Erfahrung allein fie ihm ſchon fertig zur
bloßen Aufnahme überliefert, fondern daß e8 eben diefer Natur
des Geifted bedurfte, um durch die Eindrüde der Erfahrung zu
ihrer Bildung getrieben zu werden.
Und in folder Faſſung wird die allgemeine Richtigkeit die—
fer Anfiht kaum für widerlegt zu Halten fein durch die mannig-
fachen Berfuche, die Entftehung aller jener Grundzüge des Den-
kens aus dem Mechanismus des unmittelbaren Vorftellens allein
nachzuweiſen. Die Sprade, indem fie von einer Urfache, von
einem Urſprung, von Abhängigkeit und dem SHerborgehen der
Folge aus dem Grunde Spricht, erinnert uns allerdings durch dieſe
256
Namen an die einzelnen Thatjachen und Formen der Erfahrung,
auf deren Beranlaffung wir und am leichteften des inneren Zu-
fammenhanges bewußt wurden, den jene uriprünglihe Natur
unferer Vernunft zwifchen dem Mannigfachen vorausfest. ber
eine genauere Ueberlegung wird uns Doch ftet zu dem Glauben
zurüdführen, daß durch alle jene Beobachtungen dem Geifte nur
Gelegenheit gegeben wurde, fi einer ihm eingebornen Wahrheit
zu erinnern, und daß fie jelbft für ſich allein uns die allgemeinen
Grundfäge der Beurtheilung aller Dinge nicht überliefern konn⸗
ten. In welden fein abgemefjenen Beziehungen auch immer
unfere Borftellungen fich befinden mögen, al ihre innere Orb-
nung wilrde nicht von jelbft den Gedanken einer nothwendigen
Berbindung zwiſchen ihnen erzeugen, wenn nicht die Natur des
Geiſtes ihrerfeit8 die Forderung einer folchen erhöbe.. Niemals
wird Die genauefte Kenntniß der mechaniſchen Wechfelwirkungen
zwiſchen den einzelnen Vorftellungen zu einer Erflärung der Art
führen, wie jene allgemeinften Vorausfegungen über den Zuſam⸗
menhang aller Dinge in unfern Geift kommen, wenn wir nidt
in ihm einen Drang zu ihrer Erzeugung anerlennen, den wir in
unfern Begriff von feiner urfprünglicden Natur mit aufnehmen
müffen. Darin befteht die wahre Einheit des Geiſtes, die ihn
als Geift von der Einheit jedes andern Wefens unterjcheidet, daß
er nicht nur feine verſchiedenen Zuftände zu einem Mechanismus
der Wechſelwirkung unter einander zufammenbrängt, fondern über-
Dies durch die beziehende Thätigleit, Die er in jenen Berfahrunge:
weiſen bes Erfennens ausübt, dieſes Mannigfaltige der Eindrüde
in dem Sinne eines zufammenhängenden Ganzen zu deuten und
e8 in das Bild einer Welt zu verwandeln ftrebt, in beren
innerlicher Verknüpfung er den Widerfchein feiner eignen Ein-
heit findet.
257
Berfuchen wir die einzelnen Leiftungen zu überbliden, in
welchen die Aufgabe dieſes vereinigenden und beziehenden Wifjens
nad und nach gelöft wird, fo gedenken wir zuerft jener Einheit
der Seele noch einmal, Die nody nichts Anderes bedeutet, als Die
Identität des wahrnehmenden Subjects, in welchem die Eindrücke
aus verſchiedenen Theilen der Außenwelt und aus verſchiedenen
Zeiten ſich ſammeln. Sie bildet die erfte nothwendige Bedingung
fir jede That des Beziehens, die fpäter möglich werben foll, aber
fie ift nicht Die zureichende Bedingung für die Entftehung folder
Thaten. Nun blieb allerdings unfere Ueberlegung nicht bei die—
fem leeren Gedanken einer fubftantiellen Einheit der Seele über—
haupt ftehen; die Erfahrung lehrte und Gefete des Wirkens
kennen, durch welde die innern Zuftände dieſes geiftigen Weſens
und ihre wechfelfeitigen Einflüffe ſich auszeichnen; wir ſahen, wie
der Mechanismus der Affvciation und Reproduction einzelne Ein-
drücke enger verband als andere, und wie in Die bunte Menge
der aufbewahrten Eindrücke eine Gliederung kam, die Aehnliches
zuſammenbrachte, Unähnliches von einander ſchied. Doch auch diefe
zweite Leiftung, alle dieſe Geſetze des Vorſtellungsverlaufs ſchufen
an fi nur Beziehungen zwifchen den einzelnen Acten der vor-
ftellenden Thätigfeit, geordnete Gegenftände einer Tpäteren mög-
lichen Anſchauung; fie liegen den beobadhtenden Blid vermifien,
ber dieſe Orbnung wahrnimmt und fie deutet. Diefer Blick des
geiftigen Auges begegnet und zuerft in einer dritten Leiftung, in
den Anfchauungen des Raumes und der Zeit, in welde das
vereinigende und beziehende Thun des Geiſtes die gegenfeitigen
Berhältniffe der Eindrüde wie in eine eigne neue Sprache
überſetzt.
Wohl mag es ſcheinen, als wenn jede zeitlich ablaufende
Reihe von Eindrücken eben dadurch, daß fie abläuft, von ſelbſt
uns als ein zeitliche Naceinander auch ericheinen müſſe; und
ebenjo wiirde die räumliche Ordnung bes 1. nur
des Gewahrwerdens liberhaupt bedürfen, aber Teiner befondern
Thätigleit des Geiftes, welche dies Gegebene oder die
Lotze I. 4. Aufl.
258
Formen erft aus fich ſelbſt erzeugte, in denen es ihm erfcheinen
wird. Aber vielmehr, eben fofern eine Reihe von Eindrüden zeit-
ih in uns abläuft, ift fie niemals in unferem Bewußtſein als
ein Ganzes, fle ift auch nicht in ihm als eim zeitlich georbnetes
Mannigfadhe vorhanden; ihres Vorübergehens und ihrer inneren
Gliederung im Borübergehen werben wir doch nur inne, wenn
wir in einer ungetheilten That des Wiſſens ſchon vergangene und
noch gegenwärtige Glieder der Kette zufammenfafien und ihre
gegenfeitigen Berbältnifie auf einmal überſehen. Verlaufen daber
unfere inneren Zuftände wirflih in zeitlicher Ordnung, gegen
welche natürliche Annahme wir ſchwer zu behandelnde Einwürfe
nicht bier bereits vorbringen wollen, jo find doch dieſe wirklichen
Zeitverbältniffe unferer Eindrüde nur Bedingungen, welche unfere
Seele nöthigen, durch eine neue und eigenthümliche Rückwirkung
nun aus ſich ſelbſt auch die Anſchauung der Zeit hervorzu⸗
bringen, und welde fie zugleich befähigen, in biefer angefchauten
Zeit jedem einzelnen Eindrude die ihm zukommende Stellung
anzuweiſen.
Was uns ſchwieriger hier ſcheint, iſt uns deutlicher an dem
andern Beiſpiele, dem Raume. Denn eine räumliche Ausdehnung,
Größe und Lage werden wir den Eindrücken der Dinge in uns
nicht beizulegen meinen; wie groß der vorgeſtellte Inhalt ſein
mag, unſere Vorſtellung von ihm breitet ſich doch nicht in unſerer
Seele zu gleicher räumlicher Ausdehnung aus. Mögen wir da⸗
ber unentſchieden lafjen, ob die Welt außer ung dieſe räumliche
Wirklichkeit, in der wir fie zu fehen glauben, an ſich jelbft be⸗
fist oder nicht befißt: die Eindrüde, die fie ung mittheilt, find in
unferem Geifte in beiden Fällen raumlos neben einander wie Die
gleichzeitigen Töne einer Muſik, und alle wechfelfeitigen Beziehun⸗
gen zwifchen ihnen find nicht Verhältniffe der Lage, der Richtung
und der Ausdehnung, ſondern den abgeftuften Verwandtſchaften
zu vergleichen, bie auch die Töne dur unräumliche Intervalle
von einander fcheiven und auf einander beziehen. Aus biefer
Welt der raumloſen Eindrüde bildet die Seele die Anſchauung
259
ber räumlichen Welt, nicht weil das Aeußere räumlich war, fon-
dern meil der Kaum ein Wort ihrer eignen Sprache ift, in
welche fie die unräumlichen Erregungen überjeßt, die fie von jenem
empfing. Und ebenfo wie wir, an die Ausdrucksweiſe der finn-
lichen Anſchauung gewöhnt, uns die harmoniſchen Beziehungen
der Töne in die räumlichen Symbole der Höhe und Tiefe, bes
Auf- und Abſteigens durch Intervalle zurücküberſetzen, fo Tieß Die
Seele durch die uriprünglichen itberfinnlichen Beziehungen ber
Eindrüde ſich darin leiten, jedem einzelnen zu jedem andern feine
Stellung in der von ihr geichaffenen Raumwelt des Borftellens
anzuweifen. Beide mithin, Zeit und Raum, zeitliche und räum-
liche Berhältniffe der Eindrüde find nicht etwas Fertige, das
unfere wiffende Thätigleit auf ihrem Wege fände und aufläfe;
Beides erzeugt fie ſelbſt. Ob wir Recht Hatten, zu fagen, daß
fie die Beziehungen der Eindrüde und der äußeren Gegenjtände
in eine neue, nur ihr felbft eigne Sprache überjege, mag dahin
geftellt bleiben. Vielleicht ift die Außenwelt an fich felbft eine
räumliche; vielleicht verlaufen Ereigniffe wirklich in einer Zeit;
dann hat unfer Bewußtfein, indem es feine eigne Sprache redete,
zugleich die getroffen, welche die Sprache der Dinge ift; aber
feine Thätigleit war darum weder eine andere noch eine weniger
eigenthümliche. Denn aud wir, Die wir unter einander biefelbe
Sprade und dafjelbe Denken haben, flößen nicht dem Andern
unmittelbar den fertigen Sinn unferer Gedanken ein; auch er
vernimmt zunächſt nur den an fich bebeutungslofen Schall des
Wortes und muß durch eigne Thätigkeit aus ihm ſich dieſelbe
Borftellung bald eines finnlichen Gegenftandes, bald einer über⸗
finnlihen Beziehung, bald eines Ereignifjes wieder erzeugen, die
wir ihm mitzutheilen ftrebten.
Es ift eine unbewußte Wirkſamkeit unſeres Geiftes, durch
welche auf dieſe Weiſe das räumliche Bild einer umgebenden Welt
und die Anſchauung eines zeitlichen Fluſſes der Ereigniſſe um
uns und in uns entſteht; niemals werden jene urſprünglichen
Berhältniffe der Eindrücke, deren Abſtufungen wir in dieſen For⸗
17*
260
men deuten, in ihrer eignen wahren Geftalt Gegenftände unferes
Bewußtſeins; niemals jehen wir unferer eignen Thätigkeit zu,
wie fte dieſe räumlich zeitliche Welt aufbaut, die vielmehr ſtets
fertig uns unmittelbar gegeben ſcheint und und einen müheloſen
Einblick in ihre Mannigfaltigfeit geftatte. Aber in anderer
Weile verräth diefe finnlihe Weltauffafiung doch überall die
Spuren eines beziehenden Wifjend, das liber ihre einzelnen Theile
fih verbreitet hat. Denn niemals beſchränkt fie fih in der That
auf die Darftellung eines räumlichen Nebeneinander und einer
zeitlichen Folge; ſelbſt dies finnliche Bild der Welt ift überall
von Gedanken einer ſtufenweis gegliederten inneren Abhängig-
feit durchzogen, ohne welche feine anſchauliche Ordnung fir uns
unverftändlich fein würde. Nicht nur wie ein Spiegel gibt das
Bewußtfein die Geftalt des Aeußeren; indem e8 einzelne Theile
derjelben zu Eleineren Ganzen zufammenfaßt und fie gegen ihre
Umgebungen abgrenzt, bringt e8 Theilftriche an, die fo nicht in
dem unmittelbar gegebenen Bilde Liegen, fondern von der Voraus⸗
fegung einer ungleichen inneren Zuſammengehörigkeit ausgehen,
die zuweilen wohl das Entferntere ftärker verknüpft, als das Be-
nahbarte. Zu diefer neuen Drbnung des Sinnes und der Be-
deutung, in welde wir das finnlih Wahrgenommene bringen,
führt und zum Theil der natürliche Mechanismus unferer Vor⸗
ftellungsafjociationen, ohne doch allein dieſes Werk zu vollenden.
Indem er die früheren Wahrnehmungen fefthält und fie wieder
auftauchen läßt, wenn ber veränderte neue Eindrud doch burdh
einzelne beibehaltene Züge an fie erinnert, bringt er nach und
nad das Material zu einer zufammenhängenden Erfahrung ber-
bei, deren wirkliches Zuftandelommen doch nur durch die eingrei-
jende Thätigfeit des Denkens erfolgt.
261
Gar Vieles führt die äußere Wahrnehmung räumlich und
zeitlich verbunden unferm Bewußtſein zu, was durch feine Ge-
meinfhaft des Sinnes verknüpft, ſondern fremdartig unter ein-
ander, nur eimem beſonderen Zufalle fein augenblidliches Bei-
fanmenfein verdanlt. Die Erinnerung wiederholt treu und
unbefangen, was ihr die Wahrnehmung bot; fie bringt Das Zu-
ſammenhangloſe mit gleicher Genauigfeit wieder, wie das innerlid
Berwandte, und wirft unfern Borftellungslauf durch ungeeignete
Afjociationen, die fih_an einzelne Eindrüde gefnüpft haben, aus
der ftetigen Richtung heraus, die er durch die Reihenfolge ein-
ander begründbender Gebanfen nehmen könnte. Aber der Geift
begnügt ſich nicht damit, fi) von dem Mechanismus der Wahr-
nehmung und Erinnerung Verbindungen der Borftellungen auf-
drängen zu lafien; als eine beftändige kritiſche Thätigfeit jucht
das Denken jede berjelben auf die Rechtsgründe zurückzuführen,
weldye die Verbindung des Verbundenen bedingen und das Zu-
ſammenſeiende als ein Zuſammengehöriges erweifen. So trennt
e8 von einander die Eindrücke, die ohne inneren Zufammenhang
fih in der Seele zufammenfanden, und erneuert beftätigend Die
Verknüpfung derer, denen die innere Verbindung ihres Inhaltes
ein Recht auf beftändige Gefellung gewährt. In allem diefem
Thun wird es geleitet und unterſtützt durch denfelben mechanifchen
Borftellungsverlauf, den es berichtigt; denn er felbft, indem er
durch nee Wahrnehmungen den früheren widerfpricht ober fie
beftätigt, führt feine eigne Verbeſſerung durch die allmähliche
Sonderung herbei, bie auf dieſem Wege unvermeidlich das Fremd⸗
artige jcheidet und das Verwandte zufmmenbringt. Dennoch ift
er allein nicht das Denten und vollzieht nicht ſelbſt die Auf-
gaben, die wir dieſem ftellen.
Dft wiederholte ähnliche Borftellungen werden nicht allein
in ihrer ganzen Eigenthümlichkeit aufbewahrt, jondern neben ihnen
bilden ſich zugleich allgemeinere und unbeftimmtere Bilver, welche
Das Gleichartige der einzelnen auffammeln und ihre Unterfchiebe
verwiſchen. Aber die bloße Gegenwart diefer Bilder, welche der
262
mechaniſche Borftelungslauf für fich erzeugt, ift noch nicht gleid-
zufegen dem Begriffe, in deſſen Form. das Denken diefelbe Man-
nigfaltigfeit auf ihr gleichartige Allgemeine zurüdführt. Denn
in biefem ift überall der Nebengedanfe einer geſetzgebenden Regel
mitvorhanden, durch welche die einzelnen Züge des Allgemeinen
nit nur als eine thatſächliche Verknüpfung, die in vielen Ein-
zelnen fich wiederholt, jondern als ein zufammengehöriges Ganze
eriheinen, in ihrer Verbindung durch den untheilbaren Sim des
Weſens verbirgt, defien Bild fie find. Es kommt wenig darauf an,
wie ausgebildet unſer Wiſſen um den Grund und die Bedeutung
diefer Zufammengehörigfeit ift; daß fie überhaupt von uns gefühlt
wird, und daß wir die bloße Summe vereinigter Merkmale, welche
und der Vorftellungslauf an ſich bietet, in den Gedanken eines
Ganzen verwandeln, ſcheidet binlänglich unfere Auffaffung von
dem bloßen Bilde ſelbſt. Diefe Verwandlung aber vollzieht be-
ftändig auch das ungelibtefte Denken, wenn es einen Namen ber
Sprache ausipriht; noch mehr, wenn es dem Namen den Ar-
titel voranjhidt und das Wahrgenommene als irgend ein Das
bezeichnet, hat es jchon Fräftig genug und umverfennbar dieſe Ber-
einigung der zufammengefellten Züge des Bildes in den Geban-
fen eined innerlich untheilbaren Ganzen vorgenommen.
Der Lauf der Wahrnehmungen zeigt uns oft zwei Eindrücke
verbunden, Die eine bald kommende nene Empfindung uns getrennt
darftellt, während eine dritte ihre frühere Verknüpfung wieder
beftätigt. Kein Grund konnte und veranlaffen, in jener erften
Wahrnehmung das Verbundene zu trennen, wir nahmen es un:
befangen als an einander bängend bin; der letzten erneuerten
Wahrnehmung diefer Verbindung ftellt fi dagegen bie Erinne-
rung an die inzwiſchen gemadte Beobachtung ihrer Auflöfung
entgegen; beide Eindride werden nun nicht mehr in jener arg:
Iofen Weife, wie fie ung die erfte Anſchauung darbot, an einander
haften, fondern durch den Nebengedanfen ihrer möglichen Tren⸗
nung aus einander gehalten werden. Der Baum, zuerft blühend
oder belaubt gefehen, wirb und ein einzige8 Bild gewähren, beffen
263
Theile alle mit gleicher Innigkeit zufammenhängen; die folgende
Wahrnehmung des entlaubten ftört dieſes Bild, und auch mo e8
nen durch wirkliche Anſchauung gegeben wird, ift es nun für
uns in Die Borftellung der feitftehenden Form des Stammes
übergegangen, an den als veränderliche, vergängliche Theile bie
Blätter fih knüpfen. Solche Trennungen und Verbindungen der
Borftellungen find das, was wir denfend in der Form des Ur-
theils ausdrücken; aber wir jagen im Urtheil mehr, als fie ſelbſt
enthielten. Indem wir vom Baume fagen, er fei grün, faffen
wir ihn unter der Form eines jelbftändigen Dinges, an dem bie
Farbe in jener Weife veränderlich und abhängig bafte, in welcher
überhanpt Eigenichaften ihren Trägern zufommen. Dieſes mitge-
dachte Verhältniß zwilchen Ding und Eigenfchaft ift der Grund,
auf welchen wir jene eigenthümliche Verknüpfung unferer Borftel-
lungen zurüdführen, die ebenjo ſehr das Verbundene auseinanber-
hält, wie fie es vereinigt; in der Natur jener inneren Beziehung,
welche die Subftanz mit ihren Attributen zufammenfaßt, Tiegt die
Nothwendigfeit, welche auch hier den Inhalt der BVorftellungen in
biefer befondern Form zufammenfpannt. Nicht anders, wenn in
unferer Wahmehmung auf die Anfchauung der Bewegung, mit
der ein Körper ſich uns nähert, der Schmerz des Stoßes folgt.
In unferer Erinnerung werden beide Eindrüde fich affociiren,
aber das Urtheil, daß der Körper uns ftoße, enthält mehr als
die bloße Wiederholung der Thatſache, daß beide Eindrücke ſich
in und zu folgen pflegten. Indem e8 den Körper als die thätige
Urſache, den Stoß als die Wirkung bezeichnet, führt e8 das Zu-
fammenfein auch diefer Verbindung der Borftellungen auf einen
inneren Grund ihrer Zufammengehörigfeit rechtfertigend zurück,
auf jenen Cauſalzuſammenhang, deſſen allgemeine Herrichaft über
alle Ereigniffe eine ber urfprünglichen Vorausſetzungen unferes
Geiſtes über die Verknüpfung der Welt ift.
Aus der Öfteren Wiederholung einer Wahrnehmung endlich,
in welcher eine Begebenheit auf Die andere folgte, wird ſich die
Gewohnheit der Erinnerung ausbilden, bei dem Wiedereintritt
264
ber einen von ihnen auch Die Wieberfehr der andern zu erwarten.
Sole Erwartungen Hoffnungen oder Befürchtungen über die
Zukunft, einfache Erzeuigniffe des mechaniſchen Borjtellungsverlau-
jes, beherrjchen uns im täglichen Leben überall, und ein großer
Theil unferer Handlungen wird ohne Zweifel durch diefe unmit-
telbaren Borftellungsverbindungen ohne weitere Weberlegung ihres
Urſprungs ebenfo geleitet, wie wir e8 von der Seele des Thieres
voranszufegen pflegen, der wir mit Recht oder Unrecht jenen Me⸗
chanismus allein, nicht aber die höhere Thätigleit des Denkens
zugeftehen. Und in dev That werben jene Erwartungen dem
Thiere fitr die praftifchen Zwecke feines Lebens ziemlich dieſelben
Dienfte Leiften, Die e8 von einer denkenden Wiederholung deſſel⸗
ben Inhaltes in der Yorm eines Schluffes hoffen künnte. Aber
dennoch Liegt in dem Schluſſe eine ganz andere geiftige Arbeit,
als in jener inftinctiven Erwartung. Indem wir die erneuerte
Wahrnehmung zum Ausgangspunkt einer Vorausſicht benußen,
rechtfertigen wir im Schluffe Das Zufanmenfein des Ermwarteten
‚ mit dem Wahrgenommenen durch den Gedanken eines allgemeinen
Gefetes, durch deflen Gebot beide zufammengehören. Eo bringen
wir auch hier die Thatfache der Verknüpfung entweder auf ben
Grund zurüd, der in ber eignen Natur der Sache liegend fie
nothwendig macht, oder wir überzeugen uns, daß feine wefentliche
innere Beziehung beide Glieder mit einander zufammenfchließt und
daß jene Erwartung eine der vielen Täufchungen ift, welche der
Mechanismus des Borftellungslaufes uns zuführt, indem er die
mannigfachen Eindrücke nicht nad der Verwandtſchaft ihres In⸗
haltes, jondern nad dem Zufall ihres gleichzeitigen Eintretens in
unfer Bewußtſein aneinanderfügt.
Bon den Ergebnifjen diefer fichtenden, kritiſchen Thaͤtigkeit
des Geiftes ift nun unſere ſinnliche Weltauffafjung überall be-
reits durchdrungen; fie ift nirgends eine rein finnlidde, ſondern
zugleich eine verftändige. Nirgends fchweben uns Die Erſcheinun⸗
gen als bloße Bilder vor, wir glauben bie Dinge mit zu ſehen,
beren Einheit und Selbftändigfeit fie zu einem zuſammengehörigen
265
Ganzen als Eigenfchaften verbindet; nie tritt in der Beobachtung
eine8 Ereigniſſes der nächte Zuftand fir und nur an die Stelle
des früheren, höchftens in unferem Bewußtſein durch die Erinne-
rung an diejen begleitet, fondern wir glauben den urfächlichen
Zufammenhang mit zu beobachten, der beide durch die Stetigfeit
einer inneren Verknüpfung verbindet; mo endlich größere Gruppen
der Begebenheiten einander folgen, ſcheint uns in ihrer Ordnung
unmittelbar der Zwang einer durchdringenden Geſetzlichkeit offen-
bar, der jedem Grunde feine Folge, jeder Urſache Größe und Art
ihrer Wirkung zumißt. Doc dieſes allgemeine Beftreben des
Berfiandes, die finnlihe Wahrnehmungswelt als ein innerlich
zuſammenhängendes Ganze aufzufaflen, erreicht felbft feine Be-
friedigung nur durch die Beihilfe der Erfahrung. Indem wir
den Erſcheinungen Wefen, den Ereignifjen Urfachen, ihrem Zu⸗
ſammenhange Gejege unterlegen, greifen wir doch häufig fehl in
der Bezeichnung beilen, was das eigenthümlihe Wefen der ein-
zelnen Erſcheinung, die befondere Urfache des beftimmten Ereig⸗
nifjes, das inhaltuolle Geje eines begrenzten Zuſammenhanges
ift. Nur indem eine glüdlihe Mannigfaltigleit der Beobachtun⸗
gen und eine ftetige Aufmerkſamkeit auf ihre Unterfchieve und
Aehnlichkeiten und von den zufälligen Borftellungsverfnüpfungen
befreit, melde die einzelnen Wahrnehmungen in uns bewirken,
lernen wir allmählich die allgemeineren und weientlihen Zuſam⸗
menhänge erkennen, und unfere Weltauffafjung thut in wachjen-
der Annäherung dem Verlangen des Berftandes Genüge, die Bor:
ausjegungen, die er mit Nothwendigfeit über allen Zufammen-
hang der Dinge macht, an der Mannigfaltigfeit des Wirflichen
in der That zur Geltung gebracht zu jehen. Aber die Gelchichte
diefer allmählihen Entwidelung gehört nit zu den Gegenftän-
den, die diefer erſte Ueberblick unſeres geiftigen Lebens umfaffen
fol. Nur der Betrachtung der Hilfsmittel gewidmet, aus deren
Gebrauch die menſchliche Bildung entftehen Tann, muß er fid
begnügen gezeigt zu baben, wie wenig diefe Bildung fertig in
und liegt, und wie felbft das, was als angeborne Anlage uns
266
zulommt, nur dadurch feine Aufgabe erfüllt, daß feine Kraft im
Gebrauche wächſt, indem jede gewonnene Erfenntniß das Ber-
mögen des Geiftes zu ihrer Erweiterung vermehrt.
Ueber die wahrnehmende Sinnlichkeit und den beziehenden
Berftand hinaus hat eine weit verbreitete Anficht noch ein höheres
Streben der Erfenntniß in dem menſchlichen Geifte zu finden
geglaubt, die Thätigleit der Bernunft, die, auf Einheit unferer
Weltauffaffung gerichtet, die Erfahrung zum Abſchluß zu bringen
ſuche. Welche Zweifel e8 auch erweden möcte, fie als nenes
und höheres Vermögen dem Berftande überzuordnen, mit deſſen
Gewohnheiten ihre eignen Forderungen fogar in Streit zu ge—
rathen fcheinen, jo drückt doch diefer neue Name in der That
eine neue und eigenthlimliche Form des beziehenden Dentens aus,
bie in dem wirklichen Leben des Geiftes zu bedeutſam bervortritt,
um nicht bier hervorgehoben zu werden, noch ehe wir ihrem Ur-
fprunge weiter nachforſchen können.
In jedem einzelnen Falle, den uns die Erfahrung darbietet,
ift der Berftand befchäftigt, nad jenen Gejegen des Zuſammen⸗
hanges, die er als allgemein geltende Nothwendigkeiten voraus-
fegt, nach dem nächften ergänzenden Gliede zu forfchen, auf wel-
ches die Wahrnehmung hinmweift und welches fie fordert. Bu
jedem einzelnen Schein der Eigenſchaften fucht er ein Weſen, Das
ihn wirft, zu jedem einzelnen Ereigniß die Urſache, die es her⸗
vorbrachte, und Die Wirkungen, bie es ſelbſt begründen wird, zu
jeder Gruppe von Thatſachen das Geſetz, melches fie beherricht.
Sp von Punkt zu Punkt fortichreitend, wie weit ihn die Beran-
lafjungen der Wahrnehmung treiben, verfnüpft er aud nur im
Einzelnen Punkt mit Punkt; aber er legt fi nicht die Frage
vor, welches endliche Geſammtbild der Welt und ihres Zuſammen⸗
hanges nun zulett entfliehen werde, wenn Diefelben Regeln Der
Beurtbeilung auf alle wirklichen und benfbaren Fälle der Wahr-
nehmung und auf jeden einzelnen fo oft wiederholt angemanbt
267
würden, als jeder nad) feiner Natur zur Erneuerung diefer An-
wenbung veranlaflen Könnte. Es befümmert den Berftand nicht,
wie die Reihe der Urjachen, welche auffteigend jede Urſache eines
einzelnen Ereignifjes von Neuem verlangt, irgendwo abjchließen
werde, in welchem Zuſammenhang die unzähligen Fäden geſetz⸗
licher Berfnüpfung, die er neben einander fcharfjinnig verfolgt,
zulegt in einander verflochten fein mögen, an welchem Dafein von
unbebingter Natur endlich die vielfachen bedingten Wirklichfeiten
bangen, deren Wechfelverhältniffe unter einander, nachdem fie vor⸗
handen find, ſich feinen Gejegen unterworfen zeigen.
Es Tann eine fpielende Bertheilung der Arbeiten fcheinen,
wenn wir von dem Berftande behaupten, daß er dieſe ragen
fih nicht ftelle, und wenn wir num hinzufügen, daß aus ihrer
Beantwortung die Vernunft ihre Aufgabe madt. Und gewiß
find beide darin verwandt, daß fie eine Zufammenfaffung des
Mannigfachen verſuchen, aber der Leitende Gedanke, den Die Ver⸗
nunft bierbei befolgt, die Gewißheit, daß die Summe der Wirt:
lichfeit nur als vollendete Einheit und Ganzheit Beftehen haben
tönne, ift doch nicht derſelbe Grundſatz, nach welchem der Ber:
ftand nur die Form der Verknüpfung zwifchen je zwei Gliedern
unterfucht, obne über die Geftalt, welche aus der Bereinigung
aller hervorgehen wird, einen Ausfpruch zu thun. So wie der
ardhiteftonifche Stil, den wir bauend wählen, die Berfettungsart
jedes Baugliedes mit jedem andern beftimmt, aber völlig unbe-
ftimmt die endliche Form des Gebäudes läßt, defien Plan viel-
mehr nur der Zweck vorzeichnet, dem wir es wibmen: fo zeigen
uns die Grundſätze des Verſtandes wohl den Stil des Welt-
baues, aber nicht die Geftalt der Umriſſe, die fein vollendetes
Ganze befist. Daß die Vernunft dieſes Räthſel Idfe, werben wir
ebenſo wenig behaupten, al8 wir dem Berftande jemals das voll-
fändige Gelingen feiner geringeren Aufgabe nachrühmen dürfen.
Schon über den Sinn der allgemeinen Gefege, die er dem Zu—
fammenbange der Dinge vorjhreiben zu können glaubt, täufchen
ibn oft die Gewohnheiten einer beſchränkten Erfahrung; an den
268
Beifpielen ber Ereignifje haftend, welche und der für jeden end⸗
lihen Geift nur beſchränkte Kreis der Beobachtung verführt,
nehmen wir zu oft die beftimmte Form, unter der fi in befon-
beren Fällen der geſetzliche Zuſammenhang der Dinge äußert, für
die reine und allgemeine Nothwendigfeit an, die wir überall wie-
derfinden müßten; fo gerathen wir in manderlei Unflarbeiten
über den wahren Sinn und die Giltigfeitögrenzen der Grundſätze,
die wir auf einen gewohnten Erfahrungskreis lange mit dem voll=
ften Gefühle ihrer Nothwendigkeit und unmittelbaren Klarheit
anmwendeten. Um fo weniger, je mehr fchon dieſe Schwierigkeiten
und drüden, vermag die Bernunft das Bild eines Weltganzen zu
begrenzen, deſſen Einzelnbeiten ihr nur unvollftändig liberliefert
werden; fie kann nur allgemeinfte Forderungen ausfprechen, denen
Genüge zu leiften fie von jedem Verſuche dieſes Wagniſſes verlangt,
und auch) fie wird, bevrängt von dem mannigfach widerftreitenden
Intereſſe, mit dem unfere Wünfche und Bedürfniſſe in den That-
beftand der MWirflichleit venwidelt find, den Sinn deſſen häufig
mißverftehen, was fie verlangen muß. Noch mehr wie die ver-
ftandesmäßige Betrachtung der Welt werben biefe Beftrebungen
der Vernunft, wie fie im unmittelbaren Leben des Geiſtes vor⸗
fommen, eine geordnete Aufflärung über fich felbft durch Die Hilfe
der Wiffenfchaft bebitrfen, und noch weniger als jene find fie,
ohne die Zucht einer abfichtlich geleiteten Bildung, nur als na-
türliche Anlage des Geifted zur Erreichung ihres Zieles fähig.
Aber in dem Anlauf, den fie nehmen, verratben fie doch eim
eigenthiimliches der Beachtung würdiges Thun des Geiftes, deſſen
Duelle wir nicht mehr allein in der vorftellenden ober beziehenden
Natur der Seele, jondern in einem andern Zuge ihres Wefens,
dem wir und nun zumenben, glauben fichen zu müffen.
269
Füunftes Kapitel,
Bon den Gefühlen, dem Selbftbewußtfein und dem
Willen.
Entſtehung und Formen ber Gefühle — Ihr Zuſammenhang mit der Erkenntniß. —
Die Werthbeitimmungen der Vernunft. — Selbfibemußtfein; empiriſches und reines
Ich. — Triche und Strebungen. — Der Wille und feine Freiheit. — Schluß:
bemerfung.
So wie die Farbe eines Gemäldes den Eindrud feiner Zeich⸗
nung belebt und fteigert, fo durchdringen Gefühle der verichieben-
ften Arten alle Die mannigfachen Ereigniffe des Borftellungslebens,
die wir bißher ſchilderten. Wie wenig wir ihren Urfprung unmittel-
bar aus den Berwidlungen der Vorftellungen ableiten können, bie
zu ihrem Hervortreten Beranlafiung geben, haben wir uns früher
überzeugt. War es eine urſprüngliche Eigenthümlichkeit des Gei-
ſtes, Beränderungen nicht nur zu erfahren, fondern fie vorftellend
wahrzunehmen, fo ift e8 ein ebenfo urfprünglicher Zug deſſelben,
fie nicht nur vorzuftellen, fondern in Luft und Unluft auch des
Werthes inne zu werben, den fie für ihn haben, indem fie bald
in dem Sinne feiner eignen Natur ihn anregen, bald ihm For⸗
men und Berfnüpfungen der Zuftände zumuthen, die dem natlir-
lichen Ablauf feiner Thätigleiten zuwider find, Denn darauf wird
doch zulett alle Luft beruhen, daß dem Geifte, deſſen Beftimmung
nicht Die Ruhe, fondern die Entwidlung ift, Erregungen zugeführt
werden, die, mit ber Richtung den Bedingungen oder der Form
feiner lebendigen Entfaltung übereinftimmend, ihm nicht nur bie
Sicherheit des Unangefochtenjeins ſondern eine Förderung feines
eignen Thuns verichaffen. Und ebenjo, wie die Seele als ver-
änderliche8 und thaͤtiges Welen im Gefühle der Luft fich biefer
Uebung ihrer Kräfte als einer Steigerung in dem Werthe ihres
Daseins bewußt wird, ebenfo befigt fie die Fähigkeit, die Std-
rungen, die von ihrem eignen Wege fie ablenfen möchten, weder
blos zu leiden noch an ihnen zu Grunde zu geben, fondern fie
270
im Gefühle der Unluſt als das was fie find, als Störungen ihres
beftändigen Sinnes, zu empfinden und von der natürlichen Ent=
widlung ihres Weſens abzutrennen.
Wir find es freilich zunächft, die Unterjuchenden, welche bie
Entftehung der Gefühle jo uns deuten; wir vollziehen jene Berglei=
hung des Eindruckes mit den Bedingungen, bie dem Leben ber
Seele ans ihrer eignen Natur vorgeſchrieben find; wir glauben
in dem Unangenehmen’ den Wiberftreit der gejhehenen Erregung
mit dem, was diefe Bedingungen fordern, in der Luft die Ueber—
einftimmung beider zu finden. Die fühlende Seele jelbit macht
weber überall, no unmittelbar im Augenblide des Gefühls dieſe
Bergleihung. So wenig fie fi der vermittelnden Ereigniſſe in
ihrem Körper bewußt wird, aus denen die finnlide Empfindung
entfteht, fo wenig fieht fie vor dem beginnenden Gefühle dem
Streite oder der Webereinftimmung der Eindrüde mit den Be—
dingungen ihres Lebens zu, um nım erft nad) dein Ergebniß dieſer
Bergleihung Luft oder Unluft an fie zu Tnüpfen. Unbelannt
mit jenen Bedingungen, wie fie unbelannt ift mit den Ereigniffen
in den Sinnedorganen, wiirde fie felbft dieſe Vergleihung nicht
ausführen können; und wie von allen Vorgängen, welde die Em⸗
pfindung begründen, nur das legte Ergebniß, die Empfindung
felbft, in dem Bewußtſein auftaucht, ebenjo fteigen die Gefühle
in und auf, ohne die innere Bewegung der Seele zu verrathen,
aus der fie entipringen. Aber einmal vorhanden, werden fie doch
immer von und fo gedeutet werden, wie wir e8 gethan haben,
und nie wird es dem natürlichen Bewußtſein zweifelhaft fein, Daß
in irgend einer unbelannten Förderung, die unfer Leben erfahren
hat, die Luft, in irgend einer Störung die Unluft wurzele Und
ebenfo endlich, mie die wachſende Erfahrung unfere Vorſtellungsver⸗
knüpfung berichtigt, wird auch diefer Rückſchluß durch fie näher be=
ftimmt. Die augenblickliche Förderung, die und ein Eindrud bereitete,
bürgt nicht für die Heilfamkeit auch der fpäteren Nachwirkungen, mit
welchen er in das Ganze unferes Lebens eingreift, und ber einzelne
Bortheil, den und die eine Eigenfchaft eines Reizes bereitete, hin⸗
271
bert nicht die Gefährlichkeit der Einflüffe, die von ben übrigen
ausgehen Können. Das Gefühl wird Recht behalten, wenn es
die Süßigfeit eines Giftes Tiebte und die geredhte Strafe bitter
fand, denn immer Yag in jenem Geſchmacke eine augenblidliche
Vebereinftimmung des Eindrudes mit der Thätigfeit des Nerven,
und in dem Schmerz der Strafe eine feindlihe Störung unferer
Stimmung. Die Erfahrung nimmt diefe Urtheile nicht zurück;
fie warnt nur, fi auf fie allein zu verlaffen, und lehrt uͤns
über den Geſammtwerth eines Eindrudes erſt dann zu urtheilen,
wenn wir aud die Geſammtſumme feiner Folgen und der Stö-
rungen oder Förderungen, die fih an fie Inüipfen, gezogen haben.
Die Formen find verichtenen, unter denen die Gefühle im
finnlichen wie in dem geiftigen Theile unſeres Dafeins fi dar⸗
bieten. Bald treten fie hervor, an einen beftimmten Eindrud ge-
knüpft, deffen Inhalt und Form noch außerdem durch eine beut-
Tihe Borftelung wahrgenommen wird, bald breiten fie fih ohne
Hare Erinnerung an ihren Urfprung als allgemeine Stimmungen
über das Gemüth aus, den Beleuchtungen ähnlich, die von einem
verborgen bleibenden Lichtquell durch unzählige Zurückwerfungen
der Strahlen entftehen. Verknüpft mit mancherlei körperlichen Zu⸗
ftänden, von denen fie entweber veranlaßt werden, oder Deren Ver⸗
anlafjungen fie jelbft find, begleitet bald von einem ärmeren Er⸗
innerungßfreife, defjen jeder einzelne Theil das eigenthümliche In⸗
terefle wiederzuerwecken fucht, welches feinem Inhalt anhaftete,
durchzogen endlich von mancherlei ihres Zieles entweder gewillen
oder unbeftimmt fuchenden Strebungen, nehmen die Stimmungen
des Gemüthes eine Mannigfaltigfeit fein fchattirter Formen an,
die weit entfernt find von der trodenen Vergleichbarkeit eines
bloßen Mehr und Minder allgemeiner Luft und Unluſt. Der Ber:
lauf der Bildung, wie er die Weite des Bewuftfeins für die Zu-
jammenfafjung mannigfacher Borftellungen vergrößert, fteigert aud)
die Feinheit diefer Durchkreuzungen der Gefühle und bringt jene
272
unermeßliche Vielfeitigfeit der Gemüthsregungen hervor, Deren
Darftellung faum der Kunſt und nie den unvolllommmeren Mitteln
der wiſſenſchaftlichen Zergliederung gelingt.
Ohne dieſes Labyrinth jett zu betreten, in welches ung Die
Betrachtung der menſchlichen Eultur fpäter und zu vertiefen nö-
tbigen wird, möchten wir drei Richtungen namhaft machen, in
denen das Gefühl als eine ber weſentlichſten Kräfte in dem Zu-
fammenhange unferes geiftigen Lebens wirkſam wird. Man wird
vor Allem fich entwöhnen müflen, die Gefühle als Nebenereigniffe
zu nehmen, die im Verlauf der inneren Zuftände zumeilen ein-
träten, während der größere Theil der legtern in einer gleichgilti-
gen Reihe Teid- und Luftlofer Veränderungen beftände. Außer der
völligen Ruhe würden wir uns feinen Zuftand denken fünnen, ber
nicht mit den eignen Entwidlungsbedingungen der Seele entweder
üübereinftimmte ober in irgend einer Weife ihnen zumider wäre.
Welche Erregung daher die Seele aud immer erfahren mag, von
jeder werden wir einen Eindrud der Luft oder Unluft erwarten
müfjen, und eine genauere Selbftbeobadhtung, fo weit fie bie ver-
blaßten Farben dieſer Eindrücke zu erfennen vermag, beftätigt diefe
Bermuthung, indem fie feine Aeußerung unferer geiftigen Thätig-
feit findet, Die nicht von irgend einem Gefühle begleitet wäre.
Verblaßt find jene Farben allerdings in dem entwidelten Gemüth
vor dem übermächtigen Intereffe, das wir einzelnen Sweden un-
ſerer perjönlichen Beftrebungen zuwenden, und nur eine abfichtliche
Aufmerkfamteit findet fie wieder auf, ebenfo wie unfere mikroſtopiſche
Beobachtung die regelmäßige Bildung unfcheinbarer Gegenftände,
über die unfer Blid gewöhnlich unachtſam hinwegſieht. Jeder ein-
fachen finnlihen Empfindung, jeder Farbe, jedem Zone entipricht
urſprünglich ein eigner Grad der Luft oder Unluft; aber gewöhnt,
dieſe Eindrücke nur in ihrer Bedeutung als Merkmale der Gegen-
ftände aufzufaflen, deren Sinn und Begriff ung wichtig ift, bemerken
wir den Werth des Einfachen nur dann noch, wenn wir mit geſam⸗
melter Aufmerkſamkeit uns in feinen Inhalt vertiefen. Jede Form
ber Zufammenfegung des Mannigfaltigen erregt neben ihrer Wabr-
273
nehmung in uns einen leiſen Eindrud ihres Uebereinſtimmens
mit den Gewohnheiten unferer eignen Entwidlung, und dieſe oft
unflaren Gefühle find e8, welche fiir jedes einzelne Gemüth jedem
einzelnen Gegenftand feine bejondere Färbung geben, jo daß er,
mit demfelben Thatbeftande dev Merkmale für alle, doc für jeden
von ung ein anderer ſcheint. Aber jelbft die einfachiten und fchein-
bar trodenften Begriffe des Denfens find nie von diefem neben-
hergehenden Gefühle ganz entblößt; wir fafjen den Begriff der
Einheit nicht, ohne zugleich ein Glück der Befriedigung zu ge⸗
nießen, da8 fein Inhalt einfchließt, den des Gegenfates nicht,
obne zugleich die Unluft der Feindfeligfeit mit zu einpfinden; Ruhe
Bewegung und Gleichgewicht beobadhten wir weder an den Din-
gen, nody entwideln wir uns ihre Vorftellungen, ohne und mit
unferer ganzen Lebenbigfeit in fie binein zu verfegen und ben
Grad und die Art der Förderung oder der Hemmung mitzufühlen,
die fir uns aus ihnen hervorgehen könnte. Auf diefer Allgegen=
wert der Gefühle beruht ein guter Theil unferer höheren menſch⸗
lichen Ausbildung; fie ift der Grund der Phantafle, aus der die
Werke der Kunft geboren werben, und melde das Verſtändniß
aller natürlihen Schönheit eröffnet; denn in nichts Anderem be-
fteht dieſe Ichaffende und nachſchaffende Kraft, als in der Fein—
finnigleit des Geiftes, welche die Welt der Werthe in die Welt
der Formen zu Tleiden, oder aus ber Verbüllung der Form das
in ihr enthaltene Glück berauszufühlen verfteht.
Aber das Gefühl enthält zugleich den Grund jener eigen-
thümlichen und höchſten Thätigleit, welcher wir in dem Gebiete
der Intelligenz begegneten, jener Vernunft nämlich, die von den
Ganzen der Wirflichleit Formen des Dafeins befolgt willen will,
in denen fie allein den Werth des Wirflichen verbirgt findet.
Wenn wir von dem Weltall ebenſowohl die zählbare Endlichkeit
einer beftimmten Größe als die unvollendete und unvollendbare
Grenzenloſigkeit abhalten möchten, wenn wir von feiner Vorftellung -
verlangen, daß fie ein Ganzes und innerlich abgejchloffenes Eine
darbiete, daB Doch zugleich das Umfaffende aller Einzelnen fei, fo
Zope 1. 4. Aufl. 18
274
folgen wir in diefer und in anderen Forderungen nicht mehr ber
bloßen Neigung eines gleichgiltigen Verſtandes, dem fein Gegen-
ftand ohne diefe Bedingungen undenkbar würde, fondern wir
folgen den Eingebungen einer werthempfindenden Vernunft, die
auch das Denkbare abweift, fo Iange es nur denfbar ift und nicht
durch die innere Würde feines Inhaltes zugleich die Anerlennung
feiner Giltigfeit in der Welt erringt. Gar Bieled würde ber
Berftand für fi allein möglih und den Gefeßen feines Ber-
fahrens entiprechend finden, was die Vernunft dennoch um feiner
inneren Unglaublichfeit willen verſchmähen wird; vieles Andere
wird fie verlangen können, was dem Verſtande in feinen eignen
Denkformen aufzufafien mißlingt. Blicken wir auf unfere Welt-
auffaffung, wie fie fih um Laufe unferer wirflicden, nicht allein durch
die Schlüffe der Wifjenichaft, ſondern aud durch die Erfahrung
des Lebens zu Stande gelommenen Bildung entwidelt bat, fo
werden wir fie veichlich eben jo ſehr von diefen oft nur verſtohlen
mitwirfenden Forderungen unferer Bernunft, als von den völlig
aufflärbaren Grundfägen unferes Verſtandes beitimmt finden.
An den Räthfeln, welche uns die Beräuderung der ‘Dinge, bie
Mannigfaltigkeit ihrer Eigenfchaften, die Lebendigfeit und Freiheit
aller Entwidlung darbieten, an diefen Schwierigfeiten arbeitet bie
wifjenfchaftliche Kraft des Verſtandes ſich müde, nicht fruchtlos
zwar, aber außer Stande doch, die Begriffe der lebendigen Frei⸗
heit und Thätigkeit jo Mar zu rechtfertigen, wie die unverwüſt⸗
lihe Zuverfiht der Vernunft zu ibrer nothwendigen Giltigfeit
verlangen würde. Dem menſchlichen Gemüthe ift jene glüdliche
Inconſequenz gegeben, zwei Gebanfenrichtungen arglos zugleich zu
folgen, ohne den Widerſpruch zu empfinden, in welchen fie zulegt,
nicht immer freilich in größter Nähe, zufammenftoßen. So geben
wir und im Laufe der gewöhnlichen Erfahrung ohne Bedenken
den Derfahrungsmeifen des Berftandes hin, mit denen wir ficher
find, immer Einzelnes mit Einzelnem gejegmäßig verbinden zu
lönnen, und mit denen wir zugleich fiher fein fünnten, wenn wir
e8 eben bemerften, niemals jenes Bild des Weltganzen zu er-
275
reihen, das während aller diefer Bemühungen unfere Vernunft
gleichzeitig fefthält oder zu gewinnen fucht.
Nicht immer allerdings laſſen uns die Ereigniffe des Lebens
in diefer Bergeßlichkeit; in dem ‘Dafein der Einzelnen wie in bem
ber Geſchlechter ſehen wir unvermeiblih an einzelnen Wende:
punkten das Bewußtfein der großen Lücke auftauchen, die zwiſchen
unferer wiflenihaftlihen Erfahrung im Gebiete des Endlichen
und unjerem Glauben über den Inhalt und die Form des Ewigen
ſich ausdehnt. Aber weder biefen Kampf in dem einzelnen Ge-
müthe, noch die großartigeren Formen, die er in ber Gefchichte
der Eultur und Speculation angenommen bat, mögen wir in
dieſem vorläufigen Weberblid einer ſpäteren Schilberung bormeg-
nehmen. Wie man auch immer geglaubt hat, ihn entſcheiden zu
müfjen, dieſe verichiedenen Urtbeile haben im wirklichen Leben,
in weldem die Evidenz unferer Gedanken noch eine andere und
anders vertheilt ift, als innerhalb der Schranken der Wiffenfchaft,
niemals die Zuverficht zu trüben vermodt, daß in jenem Gefühl
für Die Wertbe der Dinge und ihrer Verhältniſſe unfere Vernunft
eine ebenſo ernſt gemeinte Offenbarung befigt, wie fie in den
Grundfägen der verftandesmäßigen Forfhung ein unentbehrliches
Werkeug der Erfahrung hat. Aber zugleih würde uns eine
Meberficht jener Urtbeile lehren, daß feine Quelle der Offenbarung
trüber fließt, feine fo fehr einer feften Faſſung bedarf, als dieſe,
welche ihre Behauptungen über Die nothwendige Form der Welt
nur aus dem Gefühle des Werthes zu begründen vermag, ben
fie in ihr zu entdeden, in anderen denkbaren zu vermiffen glaubt.
Unzählige Umftände können uns bier täufchen; unzählige unver-
merkt entftandene Gewohnheiten des Denkens und der Anſchauung,
aus individueller Eigenthümlichkeit, aus dem Bildungsftande ber
Zeit, aus der Beſchränktheit unferer Lebenserfahrung hervor-
gegangen, Können ums verleiten, Das, was wir mit Recht in einer
Allgemeinen Weife verlangen würden, eigenfinnig in einer einzelnen
beſtimmten Form oder unrihtig und uns felbft mißverftehend in
völlig falſchem Sinne zu fuhen Mögen daher dieſe höheren
18*
276
Anfichten der Dinge, wie man fie zu nennen liebt, immerhin die
belebende und erwärmende Macht in allen menfchlichen Bejtre-
bungen fein, fo werben fie doch immer die Verwandtſchaft ber
wertbbeftimmenden Bernunft mit der Fünftlerifhen Phantafie be-
ftätigen; was fie hervorgebracht haben, darin tritt überall das
Gefühl einer poetifhen Geredhtigfeit an die Stelle der Einſicht
in Die Gründe der Gewißheit. Sie bilden einen großen, «aber
fhwer zu gemeinfamer Berftändigung zu verwertbenden Schatz
unferes Innern, und die Wiffenfchaft muß vielleicht zufrieden fein,
wenn ihr der Nachweis gelingt, daß die Haren und unwiberleg-
lihen Grundſätze des Verftandes eben nichts find, als felber die
aufklärbaren und zum Gebrauch fertig ausgebildeten Theile jenes
Schages, nicht ihm frembartig zugefellt, jondern aus ihm ſelbſt
hervorgehend, als die einzigen Berfahrungsmeifen, Denen ed von
unferem menſchlichen Standpunkte aus gelingen kann, den eignen
Sinn und Zwed der Bernunft, die Verbindung der Wirklichkeit
in die Einheit eines zufammengebörigen Ganzen, durchzuführen.
Entipreden nun diefe Verſuche unſeres Geiftes, aus ber
Welt der Werthe Die Welt der Formen zu deuten, der auffaſſenden
Thätigleit der Phantafie, welche Das Wirkliche aus feiner eignen
Schönheit, wie aus einer wirkenden Kraft, nachzuſchaffen jucht,
fo fteht der Tünftlerifchen Erzeugung der Schönheit die handelnde
Bernunft zur Seite. Verſchiedene Zeitalter haben verſchiedenen
Idealen der Kunft nachgetrachtet; aber wie abenteuerlich auch Die
Geftalt fein mochte, in welcher zuweilen ihre wenig feinfinnige
Phantaſie ſchon den Ausdruck des Höchſten erreicht zu haben meinte:
alle empfanden eben al8 Ideal, was fie verehrten. Kaum we-
niger berjchieden find ın der Mannigfaltigfeit der Zeiten und
der Eulturftufen die fittlichen Ideale der handelnden Bernunft ge-
weien; aber mas auch ihr Inhalt fein mochte, man empfand es
als Pflicht, ihn durch Thaten zu verwirkliden, und Die fittlichen
Srundfäge jeder Zeit wurden ftet8 von dem Gemüthe in einer
anderen Weife gebilligt, als die Wahrheiten der Erfenntniß; auch
fie waren Ausiprühe eines wertheinpfindenden Gefühles. Kine
277
Bildung, die von den verfchiedenften Seiten ber Die mannigfad-
ftien Aufflärungen über die Stellung des Menſchen in der Welt,
über Maß und Bedingungen feiner Kräfte und über den Neich-
thum des realifirbaren Guten empfangen bat, glaubt vielleicht
über diefen Standpunft hinaus zu fein, der aud das Bewußtſein
unferer moralifhen Verpflichtungen aus einem fittlichen Gefühle
entfpringen ließ. Uns allerdings erjcheint der Inhalt der weſent⸗
lichften fittlihen Gebote fo Har, daß wir meinen, ihre innerliche
Nothwendigkeit müſſe fih ebenfo unmittelbar aufdrängen, wie fich
die einfachften Grundfäge der Erlenntniß wenigftens als unbewußte
Uebung allen Bölfern aufgedrängt haben. Aber doch auch uns be-
lehrt Die Erfahrung des Lebens wenn gleich in geringerem Mafftabe
von ber Verſchiedenheit des Inhaltes, den einzelne Gemüther mit
gleicher Weberzeugung und Religiofität als die verpflichtende Auf-
gabe ihres Handelns fefthalten; eine ausgedehntere Weberficht aber
würde bei der Bergleihung verjchiedener VBölfer und Gulturen
faum etwas Anderes finden, als die Thatfache, daß überall auch
Sefinnungen und Handlungen Gegenftände einer werthbeftimmen-
den Bernunfs find, aber daß die Fähigkeit diefer Vernunft, den
Werth ihres gefuchten Ideals in den beftimmten Yormen des
Handelns wiederzuerlennen, ähnlichen Täuſchungen unterliegt, wie
ihnen die Berfuche zu höherer Erkenntniß der Dinge ausgefett
find. Auch die Welt der fittlichen Weberzeugungen ift ein Ergeb-
niß der Bildung; daß fie nicht ohne die zahlreichen Einflüfie
diefer entftehen konnte, davon haben wir in dem weiten Ge-
mälde der Humanität, dem dieſe Betrachtungen zum Eingange die⸗
‚nen, die bezeichnenden Züge zufammenzuftellen, daß fle aber auch
nicht durch die Bildung allein entjtand, fondern ihre Wurzeln in
dem inneriten Wefen des Geiſtes hat, daran allein war bier zu
erinnern Beranlaffung. Weit entfernt, als eine nebenherlaufende
Zugabe nur aus der Mebung unferer vorftellenden Thätigfeit zu
entftehen, beruht das Sittliche vielmehr auf Diefem Grunde des
Gefühles, das weit eigenthümlicher als die Erkenntniß die wahre
Natur des Geiftes bezeichnet und mit feinem Einfluß auf bie
278
offenbarfte Weife, wie wir gejehen haben, auch in die Bemühun⸗
gen unferes erfennenden Verſtandes hinübergreift.
——————— — —
Aber wir wollten die Wirkſamkeit des Gefühls nach drei
Seiten hin beſtimmen, und die eben gemachte Aeußerung erinnert
uns an die zweite dieſer inneren Erſcheinungen, die wir nicht
ohne die Grundlage des Gefühls begreifen können, obwohl fie am
häufigften als eine Thatſache des bloßen Erkenntnißlebens auf:
gefaßt wird. Ich meine dad Selbftbemußtjein, in welchem
wir uns als Ich von dem Nicht-Ich ber librigen Welt umter-
fheiden und die Mannigfaltigleit der inneren Zuſtände auf dies
Ih, als den zufammenbaltenden Mittelpunlt aus- und ein-
gehender Wirfungen, beziehen.
Früheren Anfichten hat es oft gefchienen, als bilde gerade
das Selbftbewußtfein jenen wefentlihen und angeborenen Charak⸗
ter, ohne deſſen urſprüngliches Borhandenfein der Geift felbft un-
denfbar fein wiirde, oder durch deſſen Beſitz er wgnigftend von
der felbitlofen Seele des Thieres ſich unterſcheide. Man bat all-
mählich diefe Annahme aufgegeben und ſich gewöhnt, das Selbft-
bewußtſein al8 das Ergebniß eines nicht kurzen Bildungslaufes
zu betrachten, fei es, daß man ein Streben zu feiner Entfaltung
überhaupt als die treibende Kraft in aller geiftigen Entwidlung
anfah, oder daß man als ein glüdliches Nebenerzeugniß aus dem
Mechanismus des Borftellungsverlaufes unter anderen auch das
Bewußtſein des eignen Ich hoffte hervorgehen zu ſehen. Zwiſchen
diefen Auffafjungen hindurch fcheint do die Natur der Sache
einen anderen mittleren Weg zu fordern. Gewiß kann Niemand
ernftlih das Selbftbemußtfein fo für ein angebornes Beſitzthum
des Geiftes Halten, daß wir das, was wir felbft find, in einer
deutlichen BVorftellung abgebildet von Anfang an vor und fähen.
Kommen wir doc, durch alle Bildung des Lebens und durch alle
Aufmerkſamkeit abſichtlichen Nachſinnens unterftügt, nie zu dieſer
279
vollfommenen Erfenntniß, vor deren erfchöpfender Auskunft alle
weiteren ragen nach der eigentlicheren Natur unſeres Weſens
verftummten. Niemals zeigt unſer Bewußtfein und dies Bild als
ein gefundenes; nur hingewiefen werden wir auf einen mehr ober
minder dunklen Punkt, in dem das liege, was wir als unſer Ich
ſuchen. Aber daß wir e8 eben fuchen können, daß mir dies fo
unvolftändig Erkannte doch mit der entſchiedenſten Lebhaftigkeit
immer von der Außenwelt trennen, dieſen Trieb können wir nicht
verſtehen, ohne ihn als unabhängig von den Umſtänden zu den-
fen, melde die fortichreitende Vervolllommnung unferes Wiſſens
um ung felbft bedingen. Wie kommen wir alfo dazu, die Mannig-
faltigfeit alle8 Vorftellbaren in dieſe zwei Theile zu ſcheiden, das
eine Ich und ihm gegenüber bie unzählbare Fülle alles Uebrigen?
Unterfcheiden wir uns von der Welt, fo ift e8 nicht ein Unter-
ſcheiden, dem ähnlich, Durch welches wir zwei andere Gegenftände
auseinander halten; dieſer Gegenfag vielmehr zwifchen uns und
dem, was nicht wir find, erfcheint ung nad Sinn und Größe als
ein unbedingter und unvergleihbar mit allen übrigen.
Und dies aus fehr natürlichem Grunde, wird man fagen:
enthält doch er den befondern und völlig einzigen Fall, in welchem
dasjenige, welches dieſe entgegenfegende Beziehung denkt, felbft das
eine Glied des Gegenfates bildet. Dies Zuſammenfallen des Den-
fenden und des Gedachten, der mejentlihe Zug befien, mas wir
das Ich nennen, vedhtfertige das befondere Gewicht, welches wir
auf diefen Unterfchied legen. Aber genauer betrachtet erflärt dieſer
Umftand fehr wenig das Räthſel des eigenthümlichen Intereſſes,
das wir an diefem Unterfchiede nehmen, und das ſehr wenig mit
der bloßen Theilnahme an der interefjanten Eigenthlimlichfeit eines
befonderen Falles gemein hat. Nicht darin Tiegt die Bedeutung
des Selbſtbewußtſeins, daß Denkendes und Gedachtes zufammen-
fallen; denn diefer Zug bezeichnet nicht unfer Ich allein, fondern
die allgemeine Natur jedes Ich, von der wir eben das unfere
wodurd nun eigentlich unterfcheiven? Dadurch gewiß, daß es das
Denkende unferer Gedanken ift. Aber mad meinen wir damit,
280
wenn wir irgend welche Gedanken als unfere bezeichnen? Darüber,
was unfer ift, muß es offenbar eine unmittelbare Gewißheit geben,
und fie fann uns nicht aus der allgemeinen Vorftellung von der
Natur des Ich fliegen, von welcher unfern eignen Fall zu unter-
fcheiden gerade die wefentliche Keiftung unferes Selbftbemußtfeins
if. Und num wird man leicht verftehen, wie wenig eine immer
vollfommenere Ausbildung unferer Einfiht in das Wefen unferer
Seele die Tüde ausfüllen würde, die wir hier vorfinden. Denn
felhft wenn wir genau und zutreffend alle die eigenthümlichen
Merkmale verzeichnen Lönnten, durch die in der That unjere Seele
fih von allem Anderen unterjcheibet, fo wiirde doch noch immer
und jeder Beweggrund fehlen, die fo gewonnene Vorſtellung für
mehr, als für das gleichgiltige Gemälde eines Weſens zu nehmen,
das irgendivo vorhanden wäre und von einem zweiten ſich ebenfo
vollftändig unterichiede, wie ein drittes von einem vierten. Und
wenn nım ferner auch dies felbft unferer Wahrnehmung nicht ent-
ginge, daß dies in fo vollftändiger Erkenntniß durchſchaute Wefen
zugleich eben bafjelbe ift, welches in diefem Augenblide diefe An-
ſchauung feiner felbft vollzieht, fo würden wir mit diefer that-
ſächlich vollendeten Selbftbefpiegelung zwar Das Bild jenes Weſens
durch den letzten ihm eigenthümlichen merkwürdigen Zug ergänzt
haben, aber noch immer würden wir gleich weit entfernt fein von Der
Bedeutung deſſen, was wir in unferem wirklichen Leben als Selbft-
bemußtfein fennen und genießen. Wohl wäre für dieſe vollkom⸗
mene Erkenntniß ihr eigned Weſen in ‚völliger Klarheit gegen-
ſtändlich geworden, aber auch fo gegenftändlih, daß ihr eignes
Selbft ihr nur als ein Gegenftand unter anderen erſchiene; un=
befannt und unverſtändlich würde ihr die Innigfeit bleiben, mit
der wir in unferem wirklichen Selbitbewußtfein den unendlichen
Werth diefer Zurückbeziehung auf uns felbft empfinden. Wie alle
Merthe des Vorgeftellten, jo wird auch biefer nur durch Gefühle
der Luft und Unluft von uns ergriffen. Nicht indem jenes Zu-
fammenfallen des Denkenden mit dem Gedachten von und gedacht,
fondern indem es in dem unmittelbaren Wertbe, den es für uns
281
bat, gefühlt wird, begründet es unfer Selbftbemußtfein und hebt
unmiderrufli den Unterſchied zwifchen uns und der Welt über
ale Bergleihung mit den Gegenfäten hinaus, durch Die ein
Gegenftand fi vom andern fondert.
Und hierzu reichen einfache finnliche Gefühle ebenſowohl aus
als jene feiner gegliederten intellectuellen, durch welche entwideltere
Geifter zugleich den Werth und das eigenthümliche Verdienſt ihrer
Perfönlichkeit fih zur Anfchauung bringen. Wie reich oder wie
armlich die Vorſtellung der Seele von ſich felbft ift, wie treffend
fie ihr Bild entwirft oder es ganz verfehlen mag: völlig unab-
hängig davon ift die Lebhaftigkeit und Innigkeit, mit welder der
Inhalt diefes Bildes von allem Andern unvergleichbar verſchieden
gefühlt wird. Der getretene Wurm, der fi im Schmerze krümmt,
unterfcheidet fein eignes Leiden gewiß von ber übrigen Welt, ob-
gleich er weder fein Ich noch die Natur der Außenwelt begreifen
mag. Aber die vollendete Intelligenz eines Engels, fehlt ihr
jenes Gefühl, würde wohl fcharfe Anfchauungen des verborgenften
Weſens der Seele und der Dinge entwideln und in Lichter Klar⸗
beit die Erſcheinung ihrer eignen inneren Selbftipiegelung beob-
achten, aber fie würde nie erfahren, warum fie auf ihren Unter:
ſchied von der übrigen Welt jemals einen größeren Werth Iegen
ſollte, als auf die zahlreichen Verſchiedenheiten der Dinge über:
haupt, die fi ihrer Erfenntniß ebenfo darbieten. So gilt uns
das Selbftbewußtfein nur für die Ausdeutung eines Selbftge-
fühl s, deſſen vorangehende und urfprüngliche Lebendigkeit Durch
die Ausbildung unſerer Erkenntniß nicht unmittelbar geſteigert wird;
nur der Reichthum und die Klarheit des Bildes, das wir von
unſerem Weſen uns erfennend entwerfen, erhöht ſich im Fortſchritt
unſerer Bildung. Und ebenſo allerdings wächſt mit ihm die Summe
dev Gedanken, die den äußeren Gegenſtänden eine Beziehung zu
unferem Streben und Wollen geben; nicht nur klarer wird ber
Inhalt unjeres Ich, fondern er dehnt ſich aus über einen zunehmen
den Umfang; fo wächſt mittelbar auch die Lebhaftigkeit des Selbft-
gefühles, indem bie gebildete Eeele veizbar wird für unzählige Ber-
282
hältniffe, die ihr al8 Störungen oder Förderungen ihres eignen
Weſens gelten, während fie dem unentwidelten Gemüthe nur
gleichgiltige Beziehungen zwifchen dem Yeußeren feinen.
Auch diefen Bildungslauf zu fhildern, müfjen wir der ‘Dar-
ftellung der menfchlichen Lebensverhältniffe, durch bie er bedingt
wird, zurücklaſſen, und nur mit wenigen Worten gedenfen wir
einiger Punkte defjelben, durch welche hindurch wir ung dem legten
Gegenftande diefer Weberficht nähern. Es iſt leicht begreiflic,
wie im Anfang das Bild des eignen lebendigen Körpers eine
bevorzugte Stelle in unferm Gedantenlaufe einnehmen muß.
Werkzeug aller Wahrnehmungen und aller Bewegungen, ift er in
jede Aeußerung unfere® Lebens verflodhten, und jede Erinnerung
eined Eindrudes, einer Handlung, eine8 Leidens oder Gennſſes
führt mit fi) auch fein Bild zurüd und gewöhnt und daran, Die
Regſamkeit unferes Weſens unmittelbar in der bewegten und
beweglichen Geftalt des Leibes zu ſehen. Aber eben fo einfad
find doch die Erfahrungen, die uns bald davon überzengen, daß
das Lebendige in ihm nicht er felbft ift, daß wir wohl in ihm,
aber nicht aufgehend in feine fihtbare Form, eine bewegende
Kraft ſuchen müffen, die gleichzeitige Urfache feiner eignen Ber-
änderlichkeit und der Iebenbigen Ummwandlungen der inneren Welt,
in der unfere Borftellungen, Gefühle und Strebungen einander
drängen. Mit diefer unvollkommenen Auffaffung begnügt fi
ohne Zweifel die größte Anzahl der Menſchen, mehr hinausgewie⸗
fen über die Borftellung des Körpers, ald hingewiefen auf irgend
einen andern beftimmten Punkt. Wohl verjucht die Wiffenfchaft
diefe Lücke zu füllen, indem fie die dunkle gefuchte Weſen in der
Form eines Dinges, einer überfinnlichen Kraft, einer immateriellen
Subitanz zu faffen ftrebt; «aber dieſe Verfuche Tiegen liber den
Umfang des natürlichen und unbefangenen Gedanfenganges bin-
aus, und indem fie die allgemeine Natur der Seele feitzuftellen
283
fuchen, führen fie ohnehin nicht dazu, jedem Einzelnen die unter:
ſcheidende Natur feines eignen Ich aufzubellen. Deshalb ift das
natürliche Bewußtfein wenig geneigt, dieſem grübelnden Nadh-
denken nachzuhängen; es freut ſich feiner Individualität vielmehr,
indem ed durch die Erinnerung an feine körperliche Ericheinung,
an die Gedichte feines Lebens, an feine Leiden ımb Freuden,
feine Leiftungen und Hoffnungen, an feine ganze eigenthümliche
Stellung in der Welt ſich als dieſes einzelne Ich von jedem
andern unterſchieden weiß.
Aber es erfährt auch, wie die Welt ihm Widerftand Leiftet,
wie wenig es im nächſten Augenblid das werden fann, was es
im vorigen werden wollte; fein Wiffen und Können findet es ab-
hängig von den Zufällen feines Bildungsganges, feine ganze ihm
ſelbſt beobachtbare Individualität ericheint ihm als angethan durch
Umſtände, die nicht es ſelbſt ſind. So kommen wir dazu, dieſem
ſcharfgezeichneten Bilde des empiriſchen Ich ein anderes gegenüber—
zuftellen, in welchem wir jene beftändigen Züge zu fammeln glau-
ben, die den wahren Gehalt unjeres Wefens bilden und unab-
hängig von der beftimmten Form find, in melde die äußeren An-
vegungen uns weiter ausgeprägt haben. So wie wir in der
Betrachtung aller Dinge die zufällige Geftalt, die ihnen eine fremde
Einwirkung gegeben bat, von den unveränberliden Eigenfchaften
ſcheiden, durch melde fie jet eben zu diefer und unter anderen
Umftänden zu ganz anderen Formen der Erſcheinung befähigt
werden, jo ſuchen wir jeßt unfer wahres Ich in den dauernden
Gewohnheiten und Eigenthümlichleiten unſeres geiftigen Wirkens,
die immer fich würden gleich geblieben fein, auch wenn die äufe-
ren Bedingungen ihrer Ausbildung völlig andere gemwejen wären.
Nicht Durch das mithin, was wir wiflen, was wir gethan und er⸗
lebt haben, glauben wir jet unſer Ich zu erichöpfen, ſondern in-
dem wir ausdrücklich die ganze Mannigfaltigfeit dieſer Entwid-
lung nur für eine der vielen möglich geweſenen Ausbildungen
unſeres Weſens halten, finden wir uns felbft vielmehr in ber all-
gemeinen Stimmung unferer Gefühle, in dem Temperament, das
284
wir mit Niemand vollkommen ähnlich theilen, in der ganzen Ma—
nier und Gewohnheit, der Gemanbtheit oder Schwerfälligfeit unfe-
res Verhaltens, in der eigenthiimlichen Weife, in der wir mit
dem Inhalte unferes Erkennens ſchalten und walten. Died Alles,
meinen wir, würde völlig fich felbft gleich geblieben fein, welden
Entwillungsgang and die Schickſale des Lebens uns vorgezeichnet
hätten, und wenn wir gern jede ſchöne und vorzügliche Ausbildung,
die unfere wirfliche Lage ung möglich gemacht bat, zu dem eignen
Berdienfte unferer Natur zählen, fo zweifeln wir doch nicht, daß
alles Berfehlte und Ungerathene den hemmenden Umftänden allein
zuzurechnen fei. Das empiriiche Ich erfcheint und wie die Belau-
bung eines Baumes, deren Fülle und Schönheit von der Gunft
und Ungunft des Jahres abhängt; ftreifen wir fie ab, fo bleibt
in dem Stamme bie treibende Kraft, immer fich felbit gleich und
unter glüdlicheren Bebingungen zu der Hoffnung befferer Ent-
widlung berechtigt. Im dieſer Weife, durch dieſes äfthetifche Bild
unferes beftändigen Naturells, pflegen wir am meiften unjere Per:
fönlichfeit uns jelbft anfhaulid zu machen, und gewiß erreichen
wir dadurch ein treuereö und fprechenveres Gemälde unferes We-
ſens, als durch die zeritrente Mannigfaltigfeit unferer empirifchen
Erinnerungen, welde des Vergangenen und Zufälligen zu viel,
und von dem Zukünftigen zu wenig einfchließt. Aber wir finden
body bald, daß auch dieſe Borftellung uns das noch nicht gewährt,
was wir in gefteigerter Bedeutung des Wortes als unfer wahres
Ih ſuchen.
Denn nur in zu großer Ausdehnung finden wir unfer Tem:
perament, Die beftändige Stimmung unſeres Gemüthes, die eigen-
thümliche Richtung und die Lebhaftigkeit der Phantafie, endlich
die hervorragenden Talente, welche zunächſt den Beftand unferer
individuellſten Perſonlichkeit auszumachen ſchienen, abhängig von
ber körperlichen Conſtitution und ihren Veränderungen; ſelbſt als
ererbte Anlage iſt Vieles davon nur das Ergebniß eines Natur⸗
laufe, der lange vor unſerem eignen Daſein ſchon einzelne Zuge
unſeres ſpäteren Lebens unwiderruflich beſtimmte. Und ſelbſt wenn
285
ed nun nicht der Zufammenhang phyſiſcher Wirkungen wäre, dem
wir auf dieſe Weife verjchuldet find, wenn vielmehr unabhängig -
von ihm ſich die weientliche Natur unferer Seele gebildet hätte:
immer würde jelbft dann ihre urfprüngliche Anlage und als ein
Gegebenes, als eine Mitgift der ſchaffenden Kraft ericheinen, aus
welcher unjer Dafein floß, und wo wir irgend unfer eignes Selbit
zu erfaffen meinten, würden wir e8 doch nur finden als ein durch
eine fremde Macht feftgeftelltes, nicht jo al8 unſer Eigenthum,
wie wir das befigen, was aüs unferer eignen Anftrengung und
freien Thätigkeit entftanden if. So bildet fi jene Sehnſucht
aus, über allen Inhalt unferes Ich hinauszugehen und in einem
reinen noch beſtimmungsloſen und fich felbft geftaltenden Triebe
da8 wahre und tieffte Wefen unferer Perfönlichkeit zu fuchen;
nur das glauben wir jegt wahrbaft zu fein, wozu wir uns ſelbſt
gemacht haben. Wir wollen nit den ſeltſamen Widerſprüchen
folgen, zu welcden in der wiſſenſchaftlichen Forſchung dieſe Rich-
tung der Gedanken nothwenbig führen mußte; die natürlicere
Meinung des unbefangenen Gemüthes befcheidet fih hier und
verlangt nicht, daß aus unferem Weſen Alles entfernt werde, was
nicht unfere eigne That fei. Indem fte zugefteht, mas fie nicht
leugnen Tann, daß ohne unfere Wahl der Umkreis aller unferer
möglichen Entwidlung durch äußere Umſtände, durch die Eigen:
thümlichkeit des Gefchlechtes, dem wir angehören, der leiblichen
Conftitution, die uns mitgegeben ift, des Zeitalterd, in dem wir -
geboren werden, endlich durch Die allgemeinen Geſetze des geiftigen
Lebens, welche für Alle gleich gelten, unverſchiebbar beſtimmt ift,
verlangt fie nur no, daß in der Mitte aller diefer gefeglichen
Nothwendigkeit ein Punkt der Freiheit wenigftend vorhanden ei,
bon dem aus unfere Thätigleit dieſen uns dargebotenen Stoff des
Dafeind zu einem uns allem angehörigen Beſitzthum geftalten
inne. Bedingt in allem Uebrigen, in den Formen der Erkennt⸗
niß, dem Laufe der Vorſtellungen und Gefühle, wollen wir frei
wenigftens im Wollen und im Handeln fein.
286
Wir haben früher Die Meberzeugung ausgeſprochen, daß neben
dem Borftellen und dem Gefühl das Wollen ein eigenthümliches
Element geiftiger Regſamkeit enthalte, nicht ableitbar aus jenen
beiden, obwohl von ihnen als Beranlafjungen ‚feines Hervortre-
tens abhängig. Indem wir jedoch jegt zu einer genaueren Be-
trachtung dieſer neuen ThätigfeitSweife der Seele geführt werben,
müflen wir das Zugeftändniß vorausichiden, daß unter den man-
nigfaltigen Erſcheinungen, Die man unter verſchiedenen Namen ihr
entweder unmittelbar zuordnet oder Doch als verwandt an fie an-
fnüpft, viele fi) befinden, in denen wir nur befondere Formen
des Borftellend und des Gefühle zu erkennen vermögen. Mit
dem Namen des Wollend und Strebens find wir unleugbar zur frei=
gebig und bezeichnen mit ihm manches Ereigniß, zu welchem bie
Seele fi) nur als beobachtendes Bewußtſein, nicht als handeln-
des Wefen verhält; Bewegungen der Borftellungen und Gefühle,
die in und auf manderlei Veranlaſſungen des allgemeinen pfychi⸗
ſchen Mechanismus nur gefhehen und al8 geichehende von uns
bemerkt werben, faffen wir irrig als Thätigkeiten, die unfer ent-
ſchiedener Wille oder doc ein weniger ausdrückliches Streben un-
feres Ich ind Werk gefett habe.
Prüfen wir die Mannigfaltigfeit der finnlihen Triebe, fo
werben wir al8 ihren eigenthümlichen Kern immer nur ein Ge-
fühl antreffen, das in Luft oder Unluft und den Werth eines
vielleicht nicht zu bewußter Einficht kommenden körperlichen Yu-
ſtandes verräth. Nur weil wir Erfahrungen gemacht haben, die
nun der Mechanismus der Erinnerung und wieder vorführt, fo
daß die Borftellungen der Bewegungen oder der Gegenftände, die
früher die Luft verlängerten oder die Unluft verkürzten, jet dem
Bewußtſein wiederlehren, nur dadurch geht das Gefühl in eine
Bewegung über, auf die Wiebererlangung diefer günftigen Um—
ftände gerichtet. Aber was hier zunächſt entfteht, Das ift nicht
eine Aeußerung unferes Willens, jondern völlig willenlos und mit
mechanischer Abfolge vegt das Gefühl felbft und die mit ihm
verbundenen Borftellungen ſogleich die Anfänge der leiblichen Be-
287
wegungen an, die jenem Zwecke dienen, und was wir nım Trieb
nennen, ift nicht ein Wollen, durch welches wir den Körper Ien-
fen, ſondern eine Wahrnehmung feines Leidens und der unmwill-
fürlih in ihm entftehenden Bewegungen, durch melche nun auch
die übrigen Thätigfeiten unfere8 Bewußtſeins zu entfprechender
Wirkſamkeit veranlagt werben. So ift mithin der Trieb nur das
Innewerden eines Getriebenwerdend; und wenn irgend ein Wille
in ibm vorkommt, fo ift e8 einfach dieſer, dem natürlichen Ab⸗
lauf Diefer inneren Veränderungen nicht zu widerftehen, fondern
fi ihnen ‚hinzugeben.
Aber wir können diefe Betrachtung nicht auf finnliche Triebe
beichränfen; der größte Theil deffen, was wir im täglichen Leben
unfere Handlungen nennen, geſchieht völlig in derſelben Weiſe.
Borftellungen tauchen in und nad allgemeinen Gefegen auf und
an fie nüpfen ſich theild unmittelbar, theil® durch das Mittel-
glied verichievenartiger Gefühle allerlei Bilder Körperlicher Be:
wegungen, die bald als Mittel zur Erreihung eines äußeren
Gegenftandes, bald als Linderungen eines vorhandenen Wehes
unjerem Bewußtfein vorſchweben. Im den feltenften Fällen wird
dur dieſen Andrang innerer Reize ein wirkliches Wollen aufge-
regt; von felbft geht meiftens die Vorftellungsreihe in äußere
Bewegung über, und eine große Anzahl felbft zufammengefegter
Handlungen Täuft in diefer unwillkürlichen Weife ab, ohne daß
auch nur die Reihe der Vermittlungsglieder, durch welche fie von
dem urfprünglichen Anlaß abbingen, vollftändig fich vor dem Be-
wußtſein entfaltet hätte. Kein Grund ift vorhanden, diefe Er-
eignifje durch einen befonderen Namen von jenen Wirkungen ab-
zutrennen, die wir in jedem zufammengejegten Organismus in
gleicher Bormenmannigfaltigfeit und mit gleicher mechaniſcher
Nothwendigkeit der Abfolge zu Stande fommen ſehen; und in ber
That pflegen wir geneigt zu fein, den Thieren, deren Yeußerim-
gen wir und ausſchließlich auf dieſe Weiſe begründet denken, jeden
eigentlichen Willen abzufpregen. Nur da find wir überzeugt, es
mit einer That des Willens zu thun haben, wo in beutlichem
288
Bewußtfein jene Triebe, die zu einer Handlung drängen, wahr-
genommen werden, die Enticheidung darüber jedoch, ob ihnen ge=
folgt werben foll oder nicht, erſt geſucht und nicht der eignen Ge—
walt biefer Drängenden Motive, fondern der beftinnmenden freien
Wahl des von ihnen nicht abhängigen Geiftes überlaffen wird.
So nahe zeigt ſich der Begriff der Freiheit mit dem des Willens
verfnüpft; denn in diefer Entſcheidung über einen gegebenen That-
beftand beſteht allein die wahre Wirkjamfeit des Willens. Aller
mögliche Inhalt des Wollend Dagegen wird überall durch den un-
willkürlichen Verlauf der VBorftellungen und Gefühle herbeigeführt,
und ohne an fich ſelbſt ein nach außen gerichtete, geftaltendes
und fchaffendes Streben zu fein, muß der Wille fi mit der Yrei=
heit unbefchränfter Wahl zwiichen dem begnügen, was ihm bon
dorther dargeboten wird.
Wäre e8 num unmöglich, dieſe Freiheit zu denken oder ihre
Annahme zu rechtfertigen, würden wir dann noch Beranlaffung
haben, überhaupt den Namen des Willend beizubehalten? Wie
fehr auch Die eigenthümliche Berwidlung der Ereigniſſe im
geiftigen Leben die des Naturlaufes noch übertreffen mag, ihr
Zufammenhang fhiene dann Doch dem Wefen nad) in Nichts mehr
von ber vollkommenen und blinden Nothmwendigleit eine8 ununter-
brochenen Mechanismus abzuweichen. Dennoch glauben wir, daß
ſelbſt unter diefer Vorausfegung das Wollen als eigenthihmliches
Element fi) aus der Reihe der übrigen Aeußerungen. geiftiger
Thätigleit nicht wlrbe hinmwegbeuten laſſen, obmohl feine Stellung
eine ſehr befrembliche fein würde. Wenn Die Sprache der Men-
hen für einfache, nicht aus einer Vielheit von Vorftellungen
zufammengefegte, ſondern mande Bielbeit vielmehr zu einem
Ganzen erft verbindende Vorgänge einen eigenthiimlichen Namen
ausprägt, fo mag fie häufig in feiner Anwendung irren und febl-
greifen in der Begrenzung der Erfcheinungen, in denen fie Dies
Bezeichnete wieder zu finden glaubt; aber das, was fie meinte,
wird fie ſchwerlich aus der Luft greifen, ohne daß es etwo im Der
Welt wirflides Daſein hätte. Denn zulett kann fi) Doch alles
289
unſer Vorſtellen nur des Inhaltes bemäcdhtigen, den wir irgend-
wie erleben, und wie wir nichts völlig Neues erfinnen, jo können
wir uns auch kaum anders irren, als in der Verbindung und
Benugung der einfachen Elemente, welche dieſe innere Erfahrung
ung dargeboten hat. Nur ein Borurtheil der Schule Tann des⸗
halb, wie es fcheint, den Verſuch machen, die Natur des Wollens
auf ein bloßes Wiſſen zurüdzuführen und die Behauptung zu
vertheibigen, der Sat: ich will, fei gleichbedeutend mit dem Maren
und zuverſichtlichen Bewußtſein des andern: ich werde. Nur die
Gewißheit vielleicht, daß ich handeln werde, mag gleichgeltend
fein mit dem Wiffen meines Wollend, aber dann wird in dem
Begriffe des Handelns jenes eigenthümliche Element der Billigung,
der Zulaffung oder Abficht eingefchloffen fein, welches den Willen
zum Willen macht, und welches wir in der bloßen Vorausficht
des zufünftigen Eintretens einer von uns ausgehenden Wirfung
vermiffen. Vergeblich fucht man deshalb das Vorhandenfein des
Wollens zu leugnen, ebenfo vergeblih, als wir uns bemühen
wirden, feine einfache Natur, die nur unmittelbar ſich erleben
läßt‘, durch umſchreibende Erflärungen zu verdeutlichen. Dieſe
Biligung nun, duch welche unfer Wille den Entſchluß, welchen
die drängenden Beweggründe des Borftellungslaufes ihm darbieten,
al8 den jeinigen adoptirt, oder die Mißbilligung, mit welcher er
ihn von fich zurückweiſt, beide würden denkbar fein, auch wenn
feine von beiden die geringfte Macht beſäße, beftimmend und
verändernd in den Ablauf der inneren Ereigniffe einzugreifen.
Ebenſo wie der Menſch durch äußere Verhältniffe zu einer Weife
des Verhaltens gedrängt wird, der jede Theilnahme, jede Zu-
ſtimmung ſeines Innern fehlt, jo könnten auch in feinem Innern
jelbft mit ununterbrochener Nothwendigkeit die einzelnen Ereig-
nifje ſich verketten und wunaufbaltfam Handlungen erzwingen,
welche das Gewifjen mit macdhtlofer Reue ſchon im Augenblide
ihres Geſchehens begleitete.
Dieſe Vorſtellung, ſo befremdlich ſie im erſten Augenblicke
erſcheinen mag, liegt doch nicht ſo weit von = a ab,
Zope I. 4. Aufl.
290
die wir im Leben zu hegen gewohnt find. Faſt nur bie wiffen-
ſchaftliche Unterſuchung pflegt Die unbeſchränkte Freiheit des Wol-
lens mit der grenzenlojfen Fähigfeit des Vollbringens zu verwed-
feln; unfere lebendige Erfahrung dagegen mahnt uns an unfere
Schwäche im Streit mit der drängenden Gewalt unwillfürlicher
Strebungen, und wir glauben eines höheren Beiftandes bebürftig
zu fein, um über fie zu fiegen. Im der That ift e8 ein Irr—
thum, von dem Willen mehr zu verlangen, als daß er wolle, und
die Schwierigfeiten, die man der Ueberzeugung von feiner Frei⸗
beit entgegenftellt, gehen am meiften, obwohl aud fo nit un⸗
überwindlich, aus dieſem Vorurtheile hervor. Wie oft hat man
nit von dem freien Entichluffe eines befeelten Weſens, wenn es
nicht gelänge, auch ihn wieder als eine nothwendig bedingte Folge
in den übrigen Zufammenbang des Weltlaufes einzufchalten, eine
Zerſtörung aller Ordnung der Wirklichkeit beforgt! Man vergaß,
wie eng die Grenzen der Macht auch dann noch dem endlichen
Geſchöpfe gezogen ſein würden, wenn fein Wille nicht nur frei
im Wollen, fondern auch die Mittel der Törperlichen Organifation
feinen Entſchlüſſen unbedingt dienftbar wären. Man vergaß,
daß jede Wirkung, wie unberechenbar frei auch ihr Beweggrund
gewefen wäre, doch, ſobald fie als Wirkung berbortritt, wieder in
ben Kreis der berechenbaren den allgemeinen Naturgefegen unter-
worfenen Ereigniffe eintritt, und daß Feiner Freiheit mehr Spiel-
raum des Erfolges gegeben tft, als die unverrüdte Orbnung der
Dinge nach ihrem eignen Rechte ihr zugefteht. Und wenn man
endlich beforgte, Daß dennoch die Vorgänge, welche der befeelte
Wille nach feiner Wahl in den Ablauf der Wirflichfeit einführt,
allmählich fih jummirend, dem Plane der Natur zumider fich
ausbreiten Könnten, fo überſah man doch, daß felbft der ununter-
brochene freibeitlofe Zuſammenhang aller Zuftände im Seelen-
Yeben diefe Gefahr nicht mindern wiirde. ‘Denn wo Täge bie
Bürgſchaft dafür, daß in jedem einzelnen Gemüthe die Borftel-
lungen die Gefühle die Strebungen fich jederzeit in jo glücklicher
Form und Miſchung zufammenfänden und aufeinander wirkten,
291
um zulegt immer einen Ausſchlag zum Handeln zu geben, welcher
mit dem eignen Sinne des Naturlaufes übereinftimmte? Greifen
wir nicht fo wie wir wirklich find, frei oder unfrei, in der That
flörend ober verwüftend in den Beftand der Natur ein, mannig-
fache Spuren unferer eigenwilligen Thätigkeit deutlich zurücklaſſend,
ohne freilich im Großen die Ordnung der Dinge erjhüttern zu
Ennen? Und wenn wir nun annehmen, daß ein völlig unbe-
vechenbarer und freier Wille unfere Handlungen lenkte, würden
wir dann, jobald wir Rüdfiht auf die Grenzen unferer Macht
nehmen, eine viel beträchtlichere Störung in der Orbnung der
äußeren Welt befürchten müffen? Und eben fo wenig, wie die
Ratur um uns, würde durch eine unbebingte Freiheit unferer
Entſchlüſſe unfer eignes Weſen, wie man fo oft meint, jeden in-
neren Zuſammenhang verlieren. ‘Denn immer wilden es nur
die Entſchlüſſe fein, Die wir jener Freiheit überlaffen hätten; auf
dem angebornen Gemeingefühl unferer Eriftenz, auf der Eigen-
thümlichkeit unferer Talente, der Summe der empfangenen Ein:
dDrüde, auf dev Erinnerung des Erlebten, auf der fortdauernden
Stimmung, auf den immer wieder wirffamen allgemeinen Ge—
fegen unſeres Vorſtellungslaufes würde die Einheit und Stetigkeit
unſeres perjönlihen Bewußtſeins breit und ficher beruhen, denn
über alle diefe Elemente unſeres geiftigen Lebens würde jene
Freiheit feine Macht befigen. Jene Größe der Veränderlichkeit
Dagegen, die in der That durch die Unberechenbarkeit der Entfchlüffe
uns nod übrig bliebe, dürfte Leichter zu der Entwidlungsfähig-
feit gehören, die wir wünſchen müſſen, als zu dem Wechſel, den
wir zu fliehen haben.
Aber das allgemeine Geje der Kaufalität, welches zu jeder
Wirkung die genügende Urſache binzuzufuchen befiehlt, wird es
nicht zulegt jeder Annahme einer Freiheit entgegenftehen und
unerbittlih den Zuſammenhang des ganzen Weltall in eine
unendliche Kette blinder Wirkungen verwandeln? Wir möchten
meinen, je deutlicher fich diefe Verwandlung als die nothmwendige
Bolgerichtigkeit jener Auffaffung des urfächlichen Zufammenhanges
19*
. 292
zeigt, um fo deutlicher fer auch die Unrichtigfeit der Auffaffung
ſelbſt. Daß die Geſammtheit aller MWirklichleit nicht die Unge-
veimtbeit eines überall blinden und nothwendigen Wirbels von
Ereigniſſen darftellen könne, in welden für Freiheit nirgends
Platz ſei: dieſe Heberzeugung unferer Vernunft fteht uns fo un⸗
erfchütterlich feft, daß aller übrigen Erkenntniß nur die Aufgabe
Zufallen kann, mit ihr als dem zuerjt gewifjen Punkte den wider-
ſprechenden Anſchein unferer Erfahrung in Einklang zu bringen,
Wir leugnen nicht, daß dieſe Aufgabe der Wiffenfhaft noch weit
von der Haren fung entfernt ift, die wir für fie wünſchen, und
ohne hier in Unterfuchungen einzugehen, deren Yührung ſchwer
und deren Ergebniß zweifelhaft fein wiirde, mögen wir der ge=
wöhnlichen Ueberzeugung nur einzelne Punkte zu wiederholter
Ueberlegung einwerfen.
Wenn das Eaufalgefeg mit Recht zu jeder Wirkung eine
Urſache verlangt, jo ift e8 Dagegen unfere Schuld, wenn wir in
jedem Ereigniß eine Wirkung fehen, oder wenn wir Die gefundene
Urſache überall jelbit wieder als Wirkung einer anderen betrad-
ten. Die unvollendbare Reihe, in welche wir uns hierdurch ver⸗
wickeln, muß uns darauf aufinerkſam machen, daß jener Satz im
Grunde weniger ausſagt, als er ſcheint. Wenn wir behaupten,
daß jede Subſtanz unzerſtörbar ſei, ſo ſagen wir etwas Richtiges,
ſobald wir in dem Begriffe der Subſtanz eben das Merkmal der
Unzerſtörbarkeit eingeſchloſſen haben; aber wir drücken damit nichts
aus, was eine unmittelbare Geltung hätte; denn es wird ſich
dann eben fragen, ob es Subſtanzen in dieſem Sinne gibt, und
ob die Erfahrung, die uns allerdings nöthigt, zu jedem Kreiſe
von Eigenſchaften und Entwicklungen ein Subject als Träger der⸗
ſelben hinzuzudenken, uns auch überall dazu nöthige, dies Sub-
ject ſelbſt in Geſtalt einer ſo gearteten Subſtanz aufzufaſſen.
Eben ſo verlangt ohne Zweifel Alles, was wir einmal als Wir⸗
kung denken und bezeichnen, ſeine Urſache, aber es iſt fraglich, ob
wir ein Recht haben, jedes vorkommende Ereigniß als Wirkung
in dieſem Sinne zu betrachten. Eben jene Unvollendbarkeit der
293
Saufalveihe überzeugt und von dem Nichtvorhandenſein dieſes
Rechtes, denn fie führt nothwendig auf die Anerkennung eines
urfprünglicden Seins und einer urſprünglichen Bewegung zurüd.
Nicht darin befteht die unbedingte Giltigkeit des Caufalgefetes,
daß jeder Theil der endlichen Wirklichleit immer nur im Gebiete
biefer Endlichfeit ſelbſt durch beftimmte Urſachen nach allgemeinen
Geſetzen erzeugt werden müßte, fondern darin, Daß jeder in dieſe
Wirklichkeit einmal eingeführte Beftandtheil nad) dieſen Geſetzen
weiter wirkt. Sprechen wir gewöhnlich nur davon, daß jede
Wirkung ihre Urſache babe, fo follten wir im Gegentheil das
größere Gewicht -auf den andern Ausdrud des Satzes legen,
darauf, daß jede Urfadhe unfehlbar ihre Wirkung hat. Darin
befteht, nicht allein zwar, aber wie mir fcheint zum mejentlicheren
Theile der Sinn der Sanfalität, daß fie jedem aus irgend welcher
Duelle einmal entjtandenen Elemente der Wirklichkeit fein thäti-
ges Eingreifen in den übrigen Beſtand der Welt, zu welcher es
nun gehört, fihert, und zugleich ihm verwehrt, innerhalb der⸗
jelben anders thätig zu fein, als in Mebereinftimmung mit jenen
allgemeinen Gefegen, die in ihr alles Geſchehen beherrſchen. So
gliche die Welt einem Wirbel, zu dem von allen Seiten ber,
nit von ihm felbft angezogen, nicht von ihm erzeugt, neue
Fluten fih einfinden; aber einmal in ihn eingetreten, find fie
nun gezwungen, an feiner Bewegung Theil zu nehmen. Go
haben wir ferner ein Bild deſſelben VBorganges an dem Verhal-
ten unferer eignen Seele zu den Werkzeugen des Körpers; eine
Menge Entihlüffe, Anfangspunfte künftiger Bewegungen, erzeugt
Die Seele in ſich; keiner von ihnen braucht bedingt und begriün-
bet zu fein durch Ereigniffe in dem leiblichen Leben, auf welches
er zurückwirkt; aber jeder, in dem Augenblide, in welchem er in
dieſes Leben übergeht, ordnet fih nun den eignen Gefeten deſ—
felben unter und erzeugt fo viel oder fo wenig Bewegung und
Kraft, als diefe ihm zugeftehen, und Bewegung in diefer und in
feiner andern Richtung, als in welcher fie es ihm geftatten. Der
Anfänge, deren Urfprung nicht in ihm felbit enthalten ift, kann
294
der Weltlauf in jedem Augenblide unzählige haben, aber feinen,
deffen nothwendige Yortfegung nicht in ihm anzutreffen wäre.
Wo aber ſolche Anfänge Liegen, fönnen wir nicht im Voraus
beftimmen; überzeugt und die Erfahrung, daß jedes Ereigniß
der äußeren Natur zugleich eine Wirkung ift, die ihre Urfache in
vorhergehenden Thatſachen hat, fo bleibt die Möglichkeit unbe-
nommen, daß der Kreis des inmeren geiftigen Lebens nicht gleich
durchgängig einen ftarren und nothmwendig ablaufenden Mechanis-
mus bilde, fondern daß in ihm neben unbeichränfter Freiheit
des Wollend auch eine befchräntte Macht des unbedingten An—
fangens gegeben fei.
Indem wir nun dieſes Gemälde abichließen, in welchem wir,
weit entfernt, die Fülle des geiftigen Lebens erichöpfen zu wollen,
vielmehr nur die großen Umriſſe feines Zufammenbanges in füch
felbft zu bezeichnen fuchten, möchten wir einen Punkt bauptfächlich
al8 den Gewinn diefer Betrachtungen feſthalten: Die Ueberzeugung
nämlich von der durchgehenden Verſchiedenheit, welche das Ber-
halten des inneren Lebens von den Eigenthümlichkeiten Des
äußeren Naturlaufes trennt. Nicht nur feine Elemente find an
dere als die der Natur; Bewußtjein, Gefühl und Willen haben
feine Aehnlichkeit mit den Zuftänden, die unjere Beobachtung ung
in’ den materiellen Mafjen entweder nachweiſt oder anzunehmen
nöthigt; auch die Yormen der Thätigfeit, alle jene Aeußerungen
einer beziehenden Zuſammenfaſſung des Mannigfaltigen, deren
Werth wir Tennen gelernt haben, bieten keine Analogie mit Den
Wechſelwirkungen, die wir zwijchen jenen verfolgen Tönnen. Wie
jehr wir auch durch die weit überwiegende Ausbildung der Na-
tumwifjenichaften daran gemöhnt fein mögen, die Grundvorftellun-
gen, welche diefe entwidelt haben, als die überall anwendbaren
Hilfsmittel Der Unterfuhung anzufehen: wir müfjen ung Dennoch
zugeftehen, daß wir hier ein völlig andere und neues Gebiet
295
betreten haben, deſſen eigentbümliche Natur au die Gewöhnung
an neue und eigentbiimliche Gefichtspunfte von uns verlangt.
Man würde irren, wenn man dieſe Sorderung nur gegenüber
dem Materialismus ausgeiprochen glaubte, der folgerecht, indem
er die Selbftändigfeit des geiftigen Weſens leugnet, auch die Ber-
pflihtung abweifen muß, neue Betrachtungsweifen für einen
Gegenftand zu ſuchen, der ihm nicht neu erjcheint; viel weiter
breitet ſich diefelbe Neigung, die wir tadeln, auch durch Anſich⸗
ten hindurch aus, die gemeinjam mit der unferen auf dem Zu-
geſtändniß der felbftändigen Urſprünglichkeit des Geiftigen ruhen.
So fehr find wir in der Betrachtung der Natur an die mittel-
baren Wirkungen und an ihre Erflärung durch Zuſammenſetzung
einzelner Beiträge, jo ſehr an die Zurüdführung inhaltvoller
Unterfchiede der Eigenfchaften auf unbedeutende Veränderungen in
der Größe und Verbindungsweiſe gleichartiger Elemente gewöhnt,
daß uns zulegt das Verſtändniß alles Unmittelbaren abhanden
fommt und eine allgemeine Sucht, Alles zu conftruiven, Allem
eine verwidelte Mafchinerie feines Entſtehens und Daſeins unter-
zufchieben, fi unferer Gedanken unmillfürlich bemächtigt. Faſt
möchten wir dann behaupten, daß auch in unſerem Innern nichts
vorhanden fei, al8 eine äußerliche Aneinanderfettung von Ereig-
nifjen, ähnlich der Mittheilung der Bewegung, durch welche wir
in der Außenmelt ein Element das andere ftoßen jehen; und
was fonft nod in uns vorkommt, Bewußtſein Gefühl und Stre-
ben, wir würden faft verjucht fein, e8 nur als einen beiläufigen
Schein anzufehen, den jenes wahre Geſchehen in und wirft, wenn
nicht dann doch wieder Etwas da fein müßte, für welches und
in welchem diefer Schein entſteht. Dieſes Etwas ift nun da;
jede einzelne Aeußerung unſeres Bewußtſeins, jede Negung un⸗
ferer Gefühle, jeder keimende Entſchluß ruft uns zu, daß mit
unüberwindliher und unleugbarer Wirklichfeit Ereignifje in ber
That gefchehen, die nach feinem Maße naturmiffenihaftlicher Be-
griffe meßbar find. So lange wir dies Alles in uns erleben,
wird der Materialismus zwar im Bereiche der Schule, die fo
296
viele nom Leben ſich abwendenden Gebanten einfchließt, fein Da-
fein friften und feine Triumphe feiern, aber feine eignen Belen-
ner werden durch ihr lebendiges Thun ihrem falihen Meinen
widerſprechen. Denn fie merben alle fortfahren, zu lieben und zu
haſſen, zu boffen und zu fürchten, zu träumen und zu forſchen,
und fie werden fich vergeblich bemühen uns zu überreden, daß
dies mannigfaltige Spiel der geiftigen Thätigfeiten, welches ſelbſt
die abfichtliche Abmwendung vom Weberfinnlichen nicht zu zerftören
vermag, ein Erzeugniß ihrer Eörperlihen Organiſation fer, oder
daß das Imterefje für Wahrheit, welches die einen, die ehr-
geizige Empfindlichkeit, welche andere verratben, aus den Berridy-
tungen ihrer Gehirnfaſern entfpringe. Unter allen Berirrungen
des menſchlichen Geiftes ift dieſe mir immer als die feltiamfte
erihienen, daß er dahin kommen konnte, fein eignes Weſen,
welches er allein unmittelbar erlebt, zu bezweifeln oder es ſich
als Erzeugniß einer äußeren Natur wieder ſchenken zu laſſen, Die
wir nur aus zweiter Hand, nur dur das vermittelnde Willen
eben des Geiftes kennen, den wir leugneten.
Drittes Bud.
Das Leben.
7 —
5 OF THP
VNIYERSITY
—
Erſtes Kupitel,
Der Zufammendbang a Leib und Seele.
Verſchiedene Stufen der Weltauffaffung; die wahren und die abgeleiteten Standpunkte,
— Das allgemeine Band zwiſchen Geift und Körper. — Die Möglichkeit und bie
Unerlärlicgleit der Wechſelwirkungen zwiſchen Gleichartigem und Ungleihartigen. —
Die Entſtehung der Empfindungen. — Die Lenkung der Bewegungen. — Der ge⸗
ſtaltbildende Einfluß der Seele.
Weit ab von den Pfaden, auf denen fi die Erklärung
der Naturerfheinungen zu bewegen pflegt, hat und die Beobady-
tung des inneren Lebens nad andern Richtungen geführt. Aber
je größer die Eigenthiimlichfeit des geiftigen Daſeins ift, fo groß,
daß nur die unbedachteſte Gewöhnung an die Formen der Sin⸗
nenwelt. feine Entftehung aus den Gegenmwirkungen der Stoffe
denkbar fand, um fo Tebhafter drängen fich jest die mühſam zu=
rüdgehaltenen Fragen nach der Möglichfeit des gegenfeitigen Ein-
fluffes hervor, in welchen wir beide fo ſcharf geſchiedene Gebiete
des Geſchehens doch überall verwidelt finden. Wie groß und
ſchwerwiegend die leitende Macht ift, welche in jedem Einzelnen
der Wechſel der Eörperlichen Stimmung über Größe und Rich—
tung der geiftigen Regſamkeit ausübt, davon überzeugt uns, hin⸗
reihend um jede weitere Erwähnung unnöthig zu maden, Die
gewöhnlichfte Erfahrung; ich meine jene Erfahrung, die auch dann
noch übrig bleibt, wenn wir die leichtfinnigen Webertreibumgen
abziehen, mit denen mande Anficht unferer Zeit, als ſei ihr
jedes Andenken an Selbftbeherrfhung und Entfagung abhanden
gefommen, in allen Regungen des Seelenlebens nur den gleid-
Inutenden Widerhall phufticher Vorgänge zu finden verfihert. Wie
300
ſehr anderfeit8 alle höhere Cultur von den unzähligen Wechlel-
wirtungen abhängt, die, alle zulegt durch Körperliche Thätigfeiten
und Bedürfniffe vermittelt, zwiichen uns und der Außenwelt aus⸗
getaufcht werden, und mie mächtig die umgebende Natur bald
durch Teichte Gewährung bald durch eigenfinniges Verſagen neue
Entwillungen unferer Kräfte anregt oder verfümmern läßt: da⸗
von hat jedes Zeitalter liberzeugende Beifpiele gegeben, aber noch
keinem ift fo lebhaft wie dem unferen diefe Abhängigkeit zu vol-
lem und klarem Bemwuhtfein gekommen. Ob dies im Ganzen
uns günftiger ftellt, «als frühere Gefchlechter, ob dieſe bewußte
und in dem Umfange ihrer Anftrengungen großartige Ausbeutung
der Außenwelt für den Fortſchritt des allgemeinen Wohlbefindens
auch den Sinn für die Höhe der Zwecke lebendig laſſen wird,
für die Doch alle dieſe Weußerlichfeit der Eultur zum Mittel be-
rufen ift, müſſen wir der Zukunft anheimftellen; gewiß bat bis
jegt die Haft dieſes Fortichritteß nicht die Theilnahme für Die
ernten Fragen zu erftiden vermodt, die uns über den großen
Zuſammenhang der geiftigen Weltorbnung mit dem Naturlauf
und im Kleineren über die Verknüpfung unferer perfönlichen Seele
mit ihrer leiblichen Hülle inner von Neuem auffteigen.
Aber von je mannigfaltigeren Intereffen das nach außen
gerichtete Leben bewegt wird, aus deſſen Geräuſch wir uns jelbft
fammelnd zur Weberlegung diefer Fragen zurüdtehren, deſto viel-
geftaltiger find aud die Bedürfniſſe nad Aufflärung und Die
verjchwiegenen Erwartungen, Die wir zu ihrer Unterfuhung mit-
bringen, deſto verjchiedenartiger die verfiohlenen Keime von Mik-
verftändniflen, Die ſpäter mit widerſprechender Lebhaftigkeit ihrer
Anſprüche anwachſend unfere Bemühungen zu verwirren drohen.
Allen dieſen ihrer jelbft fo oft ungewiflen Anforderungen bes
Gemüthes zu genügen, wird jeder Anficht ſchwer fallen; am
ſchwerſten dann, wenn wir ohne Theilung der Aufgaben auf ein-
mal die verſchiedenen Zwecke erfüllen wollen, die jede wifjenjchaft-
liche Erörterung fih überhaupt ftellen Tann.
Denn unfere Wünſche innen entweder auf das Verſtändniß
301
der Erfcheinungen und auf die Nachempfindung ihres wejentlichen
Sinnes, oder auf die genaue Erfenntniß der äußerlichen Formen
ihres Zuſammenhanges und ihre gegenfeitige Berechenbarkeit aus-
einander gerichtet fein; aber mehr als eine Unvollkommenheit der
menſchlichen Natur ſcheint und das völlige Verjchmelzen beider
Richtungen unſeres Forſchens zu einer untheilbsren Einheit des
Wiſſens zu verfagen. Auf die letzten und tiefften Gründe in dem
Weſen der Dinge zurüdzugeben und jede Unflarheit ber Exfchei-
nungen, die und beläftigt, aus den urſprünglichſten Geſetzen alles
Wirkens in der Welt und aus dem vernünftigen Sinne des
Planes aufzuklären, der die einzelnen Ereigniffe zu der Orbnung
eine bedeutungsvollen Ganzen zujammenfaßt: diefe ideale Auf-
gabe möchten wir weder dem begeifterten Streben verfümmern,
das immer wieder zu ihrer Löſung zurüdtehrt, noch möchten wir
fie der Unempfänglichkeit gegenüber, die ſich geringſchätzend von ihr
abwendet, für minder werthvoll anerkennen, als fie iſt. Dennoch
müſſen wir zugeftehen, daß dieſe Begeifterung für das Höchfte jelten
die Mutter einer genaueren Erkenntniß des Niedrigeren geweſen
ift; indem fie dem Gemüthe die eigenthümliche Befriedigung einer
fiheren Ruhe in dem allgemeinen Grunde aller Dinge gewährte,
bat fie nicht zugleich die Iharffinnige Beweglichkeit gefteigert, mit
welcher der menfchliche Geift, für die Erfüllung feiner Lebensauf-
gaben aud auf die Verkettung der endlichen Welt angewiefen,
das Hervorgehen des Einzelnen aus Einzelnem zu erforichen em
jo großes Intereffe bat. UWeberall mo Zwecke des Handelns zu
den Aufgaben der bloßen Erkenntniß binzutreten, wo es uns
darauf ankommt, den Ablauf der Ereigniffe nicht allein bewun-
dernd zu verftehen, fondern umgeftaltend in ihn eingreifen zu
tönnen, da tritt an Werth die Einficht in die höchſten Gründe
der Dinge, die allen gemeinfam find, binter die Kenntniß der
nächſtliegenden Kegeln zurüd, welche in dieſem einzelnen Gebiete
unſeres möglichen Handelns berrihen. Nun gelangen wir wohl
Veiht von der Betrachtung des Einzelnen zu dem Allgemeinen
und Höheren, das ſich über ihm ausbreitet, aber jchwerer finden
302
wir den Rückweg aus der Unbeftimmtheit des Allgemeinen in
alle jene Verwicklungen des Einzelnen, um defjen genaue Beherr-
hung uns zu thun iſt. Nicht diefen Weg fehen wir daher bie
Wiſſenſchaften einjchlagen, denen wir bisher die bleibendite und
fruchtbarfte Erweiterung unferer Einfihten verdanken; fie gehen
in ihrer Arbeit nicht von den Punkten aus, die auch ein ſpäteres
ausdrückliches Nachdenken als die höchſten ihrer ſelbſt gewiſſen
Grundlagen aller Folgerungen, als die eigne weſentliche Wahr-
heit der Dinge zugeftehen müßte. Manches laſſen fie vielmehr
unentſchieden und dahingeftellt, am meiften die endliche Recht⸗
fertigung der Grundfäße, die fie der forgfältigen Zergliederung
der Erfahrungen als wohlbeglaubigte, obgleich in ihrem Urfprunge
dunfle Unterlagen für die weiteren Schritte ihrer Erflärungen
entlebnen; immer vorwärts auf Die zunehmende fichere Herrichaft
über das Einzelne gerichtet, mögen fie beſchaulichen Gemüthern
weniger Kopf zu befiten fcheinen, aber gewiß haben fie mehr
Hand und Fuß, als jene höheren Anfichten der Dinge, Die meift
mit undurhführbaren Anfprüden, immer fehr verfchmenbertich
mit Forderungen, und Nichts felber gewährend, ihnen gegenüber:
treten. Es gelingt uns vielleicht zumeilen, indem wir alle Be-
dingungen eine Naturereignifjes berüdfichtigen, eine Yormel zu
finden, welde das vollftändige Geſetz derſelben erſchöpfend aus⸗
brüdt; aber die Gleichung, die wir fo erlangt haben, vermögen
wir vielleicht nicht aufzuldfen, und die Wahrheit, die wir an ihr
befigen, bleibt ein unbenutzbar verichloffener Schatz. In ſolchen
Vällen beſcheidet ſich die Wiffenihaft, und indem fie einige der
Bedingungen, die geringen Einfluß auf Die Begründung der Er:
ſcheinung und großen auf die Benwidlung der Formel haben,
aus ihrer Unterfuhung binwegläßt, zieht fie aus ber vereinfad-
ten und lösbar gewordenen Gleihung Bolgerungen, die nur an-
nähernd richtig, aber deshalb, weil man fie haben kann, nütz⸗
licher find als die volllommen genauen, die man nicht haben
kann. Auf ähnliche Weife finden wir vielleicht eine glaubliche
Aufklärung über Die höchften Zwecke der Welt; aber bie bißherigen
303
Berfuhe dazu haben uns mit dem Mißgeſchick vertraut gemacht,
daß wir aus diefen hohen Aufgaben jehr wenig den verwidelten
Geihäftsgang abzuleiten verftehen, durch melchen der Naturlauf
fie zur Erfüllung bringt, und doch liegen die meiften praftifchen
Beweggründe zu unferen Unterfuchungen auf dieſem Gebiete,
deſſen Geſetzlichkeit fich einem weniger hochfliegenden Gedanken⸗
gange nicht unerforſchlich zeigt.
Mit dieſer natürlichen Vorliebe nun für die Dinge, die ſich
ausführen laſſen, verbindet ſich für und noch eine doppelte Be⸗
trachtung, die und überredet, die Aufgabe, melde uns obliegt, zu
theilen. Je weiter wir und von den gegebenen Thatjachen ent-
fernen, um aus ihrer verallgemeinernden Vergleichung die höch⸗
ften Grundfäge zu finden, die uns wieder zu ihnen zurüdführen
ſollen, um fo zahlreicher werden unvermeiblidh Die Quellen mög⸗
licher Irrthümer; ihre Menge wächſt mit der fteigenden Anzahl
ber Vermittlungsglieber, durch Die unfere Schlüffe das Gegebene
mit dem gefuchten Höchften verbinden. Nur ein verhängnifivolles
Zutrauen zu ihrer eignen Unfehlbarfeit kann Daher die Wiflen-
haft verleiten, ihre Erfenntniß iiber einen reich geglieverten In⸗
halt mit Vorliebe an die möglich geringfte Anzahl von Grund-
fügen oder an den dünnen Faden eines einzigen Princips zu
nüpfen, mit beffen Riß das Ganze fallen müßte. Anftatt ihren
Bau auf die fharfe Schneide einer einzigen Grundanſchauung zu
ftellen und das ſonderbare Kunſtſtück der möglich größten Labili-
tät mit immer tieffinnigeren Mitteln auszuführen, wird fie nüß-
Ticher arbeiten, wenn fie für die breitefte Grundlage ihres Auf-
ſteigens forgt und das Gegebene mit bejcheidenerem Anlauf zuerft
auf die nächftliegenden Erflärungsgründe bringt, Die feine Deutlich
erkennbare Eigentbinmlichleit verlangt. Sie wird ſich vorbehalten,
dieſe Ergebnifje erfter Ordnung zum Gegenftand einer höher ftei=
genden Forfhung zu machen; aber indem fie fich erinnert, wie
in dieſer Höhe allmählich die Schärfe der Umriſſe in den Gegen-
ftänden der Frage und damit die Sicherheit unferer Beurtbeilung
abnimmt, wird fie die Möglichkeit des Irrthums zugleich zugeben
304
und zugleich feine Schäblichleit mindern. ‘Denn e8 wird ihr frei
fteben, diefe höheren Gebiete wieder aufzugeben, die fie mit un⸗
zureichenden Mitteln ſchon erkämpft zu haben glaubte, und ſich
auf jene niedrigeren noch immer unabhängig für fi haltbaren
Standpunkte zurüdzuzieben, deren Ausficht, obwohl fie nicht Die
Ausfiht vom Gipfel ift, Doch immer aud eine Wahrheit und
Wirklichkeit bleibt.
Und endlich, felbft wenn wir uns getrauten, den Weg bis
zum Gipfel der höchſten Höhe fehlerlos zurlidzulegen, würben wir
doch eine Beranlaffung haben, ibn nur felten zu gehen. Denn
um die Höhe zu erreichen, würden wir gendthigt fein, gar manche
von jenen Borftellungsarten der Dinge aufzugeben, auf deren
Anwendung für uns alle Klarheit und Anfchaulichkeit in unferm
täglichen Verkehr mit den Gegenftänden beruht. So gewiß wir
nun dieſe Berzichtleiftung auf die Richtigkeit des uns jo vertraut
gewordenen Scheines entjchloffen durchführen müfjen, eben fo ge-
wiß werden wir doch Dann, wenn wir.von jenen höchften Stand⸗
punkten zu ber Ebene der und umgebenden endlichen Welt zu-
rüdfehren, aud Die Sprache des Scheines wieder vorziehen müſſen.
Klarheit und Einficht erreichen wir nicht, indem wir in jedem
einzelnen Falle die gewohnten Formen menſchlicher Auffaflung
aufgeben und die Sprache einer höheren Wahrheit an ihre Stelle
fegen, fondern dadurch, daß wir einmal auf den Grund der
Dinge zurüdgehen und aus ihm die Grenzen verftehen lernen,
innerhalb deren wir eben jene gewohnten Auffafjungsformen als
gelenkige Werkzeuge unferer Erkenntniß als angenäberte und ber
Handhabung fähige Abkürzungen des wahren Berhaltens ohne
Irrthum anwenden dürfen. Niemals Vortheil, fondern nur ben
Nachtheil beängftigender Unflarheit bringt es mit fi, wenn wir
in befondere und einzelne Unterfuhungen unmittelbar die höchften
Principien einmiſchen, von denen alle Eutfcheidung freilich zuletst
abhängt; Niemand ift im Stande, zugleich die ganze Reihe der
Weiterbeftimmungen im Auge zu behalten, durch welche doch eigent-
ih auch jene höchften Gründe erft zu dem werden, wovon der
305
gegebene Fall zunäcit abhängt. Obwohl die Aftronomie den
Stillftand der Sonne und die Bewegung der Erde entſchieden hat,
fo vermeidet unſer Sprachgebraud Doch die Gefchmadlofigfeit, dem
Auf- und Untergang der Sonne den ſchwerfälligeren Ausdruck des
wahren Verhaltens vorzuziehen; obwohl von den Kräften, mit
welchen die kleinſten Theilchen gegen einander wirken, die größere
oder geringere Fähigkeit der Körper abhängt, ihre geftörte Geftalt
wieder herzuftellen, jo gehen wir Doch nicht bei jedem Anlaß auf
die Berechnung derfelben zurüd, fondern freuen uns, in dem Be-
griffe der Elafticität und in ihren erfahrungsmäßig gefundenen
Gefegen näher liegende Mittel zu bequemerer Beurtheilung zu
befiten; obwohl endlich jede Veränderung, durch melde unfere
Speijen genießbar werden, ohne Zweifel auf allgemeinen chemi⸗
ſchen Geſetzen beruht, fo warten wir doch nicht, bis dieſe entdeckt
ſein werden, und vermuthlich wird die Kochkunſt ſelbſt dann die
Kunſtgriffe der Erfahrung als beſſere Bürgſchaften des Erfolges
den Vorſchriften der Wiſſenſchaft vorziehen. Die geringe Neigung,
welche bisher die höheren Unterſuchungen gezeigt haben, den Schatz
ihrer vielleicht ſehr vollwichtigen Ergebniſſe in dieſe gangbare
Kleinmünze behaltbarer Gedanken und faplicher Abkürzungen aus-
zuprägen, bat ihnen nicht allein die allgemeine Theilnahme ent-
zogen, fjondern zu ihrer eignen Unflarheit mitgewirkt. Es ift
kein volllommener Zuftand der Gejellichaft, wenn die Entfcheidung
jeder ftreitigen Kleinigfeit und die Anweiſung zur Beforgung des
geringiten Gejchäftes unmittelbar von der höchſten Behörde einge-
holt werden muß; wie man bier der geleßgebenden Gewalt und
der leitenden Regierung einen wohleingeübten Mechanismus ber
Berwaltung unterorbnet, fo bedarf auch die Wiffenichaft einer Ab-
ſtufung der Geſichtspunkte, und die nicht genügenden Entſchei⸗
dungen ber niedrigeren müflen zwar den höheren zu befjerer Auf-
klärung überwiefen werben Können, aber nicht überall muß die
Recht fuchende Forſchung zu dem weiten Wege bis an den lebten
Urfprung der Dinge zurüd genöthigt fein,
Loge I. 4. Aufl. 20
306
Keine Frage dürfen wir fiherer erwarten, als die nach dem
Bande überhaupt zwifchen Leib und Seele; fie pflegt die erfte zur
fein, die man in diefen Betrachtungen aufwirft, und zu ihr kehrt
man im Berlaufe derſelben zurüd, indem man unbefriedigt durch
alle beftimmteren Auseinanderfegungen wie mit einem tiefen Athem-
Thöpfen nun noch einmal die eigentliche Schwierigleit der Sache
in ihr zufammenzufaffen meint. Und dod kann kaum etwas hin-
derlicher fein, al8 eben das Mißverſtändniß, welches diefe Faſſung
der Frage jelbft einfchließt. Denn was ift ein Band Anderes,
als ein Mittel äußerlicher Verknüpfung fir das, was nicht von
felbft aneinander haftet und wegen des Mangels jeder innerlichen
Beziehung feine Wechſelwirkung auszutaufchen geneigt ift? Und
wäre e8 uns nun gelungen, dieſes allgemeine und zwar dieſes
eine Band zwiſchen Leib und Seele zu entveden, welches Bebürf-
niß hätten wir dann eigentlich befriedigt? Keine der zahllofen
Wechſelwirkungen, die wir zwifchen beiden gefchehen fehen, würde
ihrer Geftalt und Art nah aus dieſer äußerlichen Umfchnürung
erflärbarer fein, als ohne fie; ja ſelbſt Die Möglichkeit jedes gegen-
feitigen Einfluffes würden wir noch einmal mit einem ganz neuen
Anlauf der Unterfuhung aus der Natur des Verbundenen zu be-
greifen ſuchen müſſen, da wir fie in der unbeftimmten Borftellung
des Bandes nicht finden. Und jedes Band überdies, durch welches
neue Bindemittel find feine eigen Beſtandtheile verfnüpft, um
nun mit ihrem Zuſammenhang auch Anderes binden zu können?
Wie weit wir auch in das Kleine hinein den Behelf eines immer
ernenerten Kittes wiederholen mögen, zuletzt werden wir zugeftehen
müffen, daß nicht ein vorangehendes Band die legten Elemente
zur Wechſelwirkung befähigt, fondern daß eben die Wechfelwirfung
felbft fie unmittelbar aneinander heftet und fie befähigt, Bänder
zu werben fiir Anderes, deſſen eigne gegenfeitige Berwandtfchaften
zu kraftlos find, um feine Bereinigung im Kampfe mit miber-
ftreitenden Hinderniffen zu bewirken.
Aber hat nicht dennod die Forderung, jenes allgemeine Band
aufzuzeigen, den richtigen Sinn, eine Bedingung zu verlangen,
307
bie für das Zuftandelommen der Wechſelwirkung vorher gewährt
fein muß? Das Gefäß, welches zwei chemiſche Stoffe umfchliekt,
wirkt es nicht als ein Band, das beide zunächſt zu gegenfeitiger
Berührung zufammenzwingt und dadurch erft ihnen Gelegenheit
gibt, die Einflüffe auszuüben, deren beftimmte Art und Größe
freilich nur in ihrer eignen gegenfeitigen Verwandtſchaft begründet
ift? Gewiß, die Elemente, deren Wechfelbeziehungen nicht fo leb-
haft find, um fie einander auffuchen zu laſſen, bedürfen einer
leitenden Hand, um fie zufammenzuführen; aber num, nachdem fie
zufammen find, ift e8 weder jene Hand mehr nod das Gefäß,
was fie verbunden hält, fondern ihre eignen Wechfelwirfungen
verknüpfen fie, und oft zu einer größeren Feſtigkeit, als jenes
äußerliche Band ihnen je hätte geben können. Und fo mag es,
um das Gleihniß zu verlaffen, eine der Aufmerkfamleit würdige
Frage fein, auf welche Weife in der erjten Bildung des Lebens
Leib und Seele vereinigt worden find; aber in dem einmal ge=
bilveten und fich erhaltenden Leben, deſſen Aufklärung nothwendig
unfer nächſter Gegenftand fein muß, da wir nur aus der Kennt⸗
niß feines Beſtehens Vermuthungen über feine Entftehung ent-
wideln können: aud in ihm ein fortdauerndes Band zwiſchen Leib -
und Seele zu verlangen, das von der lebendigen Wechſelwirkung
beider noch verjchieden wäre, ift eine gleich überflüffige und arm-
jelige Vorſtellung. Sie ift ebenjo überflüffig, als wenn wir das
Band der Freundichaft. das zwei Gemüther verknüpft, noch be-
ſonders als eine fihtbare Umſchnürung wahrnehmen wollten, wäh-
vend es eben die Freundſchaft ſelbſt ift, welche das Band bildet;
fie ift armſelig, weil fie e8 ift, Die recht eigentlich auf ganz äußer⸗
liche Weife Leib und Seele aneinanderketten möchte und nicht
daran denkt, daß ftatt des einen formlofen Bandes vielmehr
das feingegliederte Geflecht unzähliger Beziehungen beide auf das
Sinnvollite zu gegenfeitigem Eingehen auf ihre Zuftände und Be-
dürfniſſe befähigt. Denn jede einzelne Wechſelwirkung, die zwifchen
ihnen ausgetauſcht wird, ıft ein Faden deſſen, worin ihr Band be-
fteht, und die fpottenden Einwürfe, die jo oft der Anficht von der
20*
Bere Aue nicer wur wberer enwerten, als die nad i
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308
Zuſammenſetzung der menſchlichen Natur aus Leib und Seele ge-
macht werden, weil fie unfer Weſen aus der Abdition zweier Be-
ftandtbeile erzeugen wolle, tragen nur diefe Kümmerlichkeit ihrer
eignen Borftellung von einem allgemeinen Bande mit Unrecht auf
bie unbegrenzte Mannigfaltigleit dieſer organifirten Wechſelwirkung
über. Laſſen wir deshalb diefe nugloje Anficht auf ſich beruhen,
wie fie theils in gröberer Form ſich nach einem ftoffartigen Cement
ſehnt, das vielleicht in Geftalt einer ätheriſchen Materie Leib und
Seele verlitte, theils in feinerer und doch nicht wahrerer Ausbil-
dung die Seele felbft als Mittelglied zwiſchen Körper und Geift
ftellt und Durch dies Alles nur die Anzahl der Fugen vermehrt,
deren Berlittung fie doch wünſcht.
Aber diefe Wechſelwirkungen felbft, gehören fie nicht zu dem
Unerklärlichſten, oder gäbe es ein Mittel, fich eine Anſchauung da⸗
bon zu machen, wie die Eindrlide vom Körper zur Seele übergeben
und von dieſer zurüdfehren? Auch dieſe Trage enthält des Mip-
verftändlichen viel, und in der That ift fie nur eine neue Form
des Ausdruckes für die falſche Meinung, die der vorigen zu Grunde
lag. Denn unerflärlich ift jene Wechſelwirkung allerdings, aber
fie gehört nicht zu den Vorgängen, deren Wirklichleit wir um ihrer
Unerflärlichleit willen bezweifeln dürfen, weil e8 ihre Pflicht fein
würde, nach uns bekannten Gefeten fich erflären zu laſſen; fie
felbft ift vielmehr der Begriff jenes einfachen und urfprünglichen
Geſchehens, auf welches jede Erläuterung zufammtengefegter Ereig-
niffe uns zurüdführt, und welches wir nun, uns felbft mißver-
ftehend, aus feinen eignen Folgen begründen möchten. Ober ver-
langen wir mit jener Frage vielleicht etiwa8 Anderes als die aus⸗
führliche und anfchauliche Befchreibung der Arme, mit denen Die
Seele thätig in den Körper übergreift, der phufiichen Werkzeuge,
durch welche der Körper ihr feine Eindrüde beibringt, kurz jener
ganzen Maſchinerie, welche hier, wie in anderen Fällen der Wedh-
309
felwirkung, die wir genauer zu kennen glauben, den Uebergang
des Einfluffes von einem zum andern vermittele?
Prüfen wir uns unbefangen, jo können wir nicht leugnen,
daß in unferer Weltauffaffung ſehr oft Die Neugierde an die Stelle
der Wißbegierde tritt, und daß die reiche Befriedigung der einen
durch Die umterhaltende Mannigfaltigfeit aufeinanderfolgender Bil-
der und nur zu oft vergeffen läßt, wie völlig ungeftillt die an-
dere bleibt. Wir ſchätzen die Gründlichkeit unferer Einſicht ehr
gewöhnlich nach der Menge der Einzelheiten, die wir in irgend einer
Unterfuhung kennen gelernt haben; je mehr innerliche Mafchinerie,
je mehr Zufammenfegung unfere zergliedernde Aufmerkfamteit in
irgend einem Gegenftande findet, deſto vollftändiger glauben wir
MWefen und Wirkungsweife befielben begriffen zu haben. Wir
denken nicht daran, daß diefe Mannigfaltigfeit zufammenhängen-
der Glieder eigentlich doch nur die Summe deſſen vermehrt, was
einer Erflärung eben bebürftig wäre, und daß jeder Nachweis von
Mittelgliedern zwiſchen erfter Urſache und Enderfolg das Räthiel,
wie nun überhaupt Wechſelwirkung zwifchen verfchiedenen Elementen
möglich fei, nicht Yöft, fondern nur vervielfältigt. Haben wir eine
Maſchine, deren Wirkungsweife ung zunächſt völlig unbegreiflich
fchien, in ihrem Innern betrachtet und gejehen, wo jedes Rab des
Getriebes in das andere eingreift und feine eignen Bewegungen
in beftimmten Richtungen auf andere Elemente überträgt, fo
glauben wir nun alle Rätbfel gelöft. Und doch haben wir nicht
im Geringften eine Kenntniß der Art erlangt oder be inneren
Borganges, durch welchen hier die wirkenden Kräfte ihren Erfolg
hervorbringen; wir haben nur das große unanfchaulide Ge⸗
heimniß der ganzen Mafchine in jene einzelnen Geheimniffe der
einfachen Naturwirkung zerlegt, in Betreff deren wir ung ein-
mal entfchieden haben, fie als klar gelten zu laſſen, obwohl fie
doch für jede nähere Betrachtung fi zu völliger Unbegreiflichleit
verdunkeln.
Denn alle Maſchinenwirkung beruht auf der Mittheilbarkeit
der Bewegung und auf der Feſtigkeit des Gefüges und des Zu⸗
310
fammenhanges in den Maffen, zwiichen denen fte übertragen wer⸗
den fol. Welche von dieſen beiden Bedingungen verfteben wir
nun? Wiffen wir anzugeben, was in der Mittheilung der Bewe-
gung gefchieht, und wie der treibende Körper e8 anfängt, um durch
Stoß oder Drud den anderen in Bewegung zu fegen und einen Theil
feiner Gefchwindigfeit an ihn zu übertragen? Ober ift e8 uns
vielleicht Flar, wie und wodurch die einzelnen Theile eines Trieb-
rades jo aneinanderhaften, Daß der Stoß, der dem einen von ihnen
gegeben wird, auch die andem nöthigt, mit ihm in Gemeinfchaft
fih zu bemegen und die freisförmige Ummwälzung um eine Are
hervorzubringen, die nun zu neuen nüßlichen Effecten verwendet
wird? Vielleicht berufen wir ung auf die Wirkung anziehender
Kräfte, welche alle Theilchen zu einem Ganzen verbinden. Aber
diefe Wechſelwirkung der gegenfeitigen Anziehung, worin befteht
fie felbft und wodurch wird fie hervorgebracht? Wie fangen jene
Kräfte e8 an, liber die Grenzen des Körpers binauszugreifen, dem
fie angehören, und über einen andern, deflen Eigenthum fie nicht
find, dieſe Macht auszuüben, daß er ihrer Anziehung folgen muß?
Wir befürchten nicht, daß man auch hier nod einmal von einem
Bande fprechen werde, das Sonne und Planeten zufammenbalte:
man wird der Trage, die fich fogleich erneuern würde, wie fie es
nun machen, dies Band bald zu verkürzen, bald zu verlängern,
durch das offene Zugeſtändniß ausweichen, daß hier eine der ein-
fahen Wirkungen vorliege, durch deren Zufammenfeßung man wohl
bie Geftalt verwidelter Erfolge erflären könne, während fie felbft
durch Keinen neuen Zwiſchenmechanismus deutlicher werden als
obne ihn. Sowie wir wohl willen, was mir meinen, wenn wir
fügen, daß etwas fei, aber nie erfahren und ergründen werben,
wie Sein gemacht wird, fo wiffen wir, was wir meinen, wenn
wir vom Wirken fprechen, aber nie werden wir angeben können,
wodurch das Wirken überhaupt zu Stande kommt. Nichts wird
unfere Wifjenfchaft Leiften Birnen, als daß fie genau die Bedingm-
gen auffucht, unter denen dieſes umbegriffene und unbegreifbare
Wirken entfteht; und wie großartig und wichtig ihre Leiftungen
311
in der Entwirrung und Berglieberung verwidelter Zufammen-
hänge fein mögen: wenn fie die einfachen Wechfelwirfungen er-
reicht bat, auf deren Zufammtenfegung fie jenes Mannigfaltige
zurüdführt, wird fie überall befennen müſſen, daß der eigentliche
Act des Wirkens in allen denkbaren Fällen feines Vorkommens
ung glei unerflärbar bleibt.
Aber man wird dies nur zugeftehen, um es fogleich wieder
zu vergeflen, fobald die beftunmte Frage nach der Wechſelwirkung
zwifchen Körper und Seele aufgeworfen wird. Obgleich eine kurze
Durchforſchung der Naturwiſſenſchaft uns lehren Tann, daß in der
That in allen Formen der Gegenwirkung zwifchen Stoff und Stoff
die gleiche Dunkelheit herricht, ift e8 doch eine kaum zu überwäl-
tigende Gewohnheit geworden, den gegenfeitigen Einfluß zwilchen
Leib und Seele als einen bejonderen unglüdlihen Ausnahmefall
zu betrachten, in weldhem und wider Erwarten das nicht Far wer⸗
ben wolle, was in jebem Beifpiele blos phufiicher Wirkungen ung
ganz deutlich fei. Wie wenig ed num dort deutlich ift, haben mir
zwar gezeigt; aber dennoch wird dieſe Klage fich wiederholen, denn
der Eindrud der Unflarheit wird bier geſchärft durch die Unver—
gleichbarkeit der Glieder, die auf einander wirken jollen. Den
materiellen Beftandtbeilen des Körpers fteht die überfinnliche Na-
tur der Seele gegenüber; wie kann nun der Stoß und “Drud der
Maſſen, oder ihre chemiſche Anziehung, die einzigen Mittel, mit
denen fie wirken zu können fcheinen, Eindrud auf die Seele ma-
chen, die ihnen wie ein nichtiger Schatten feinen Angriffspuntt ge-
währt? Und wie möchte umgelehrt Das Gebot der Seele, ein Ge—
bot, dem an fich feine ausübende Gewalt des Stoßes zur Seite
fteht, Maſſen bewegen, die nur fo handgreifliden Antrieben ge=
horchen würden? Nur von Gleichartigem zu Gleichartigem ſei
ein Austaufh der Wirkungen denkbar. Aber bei näherer Ueber-
legung zeigt fich Doch auch dieſes Verlangen nad) Gleichartigfeit aus
dem Irrthume hervorgegangen, als feien Stoß Drud Anziehung
und Abftoßung oder chemiſche Wahlverwanbtichaft erflärende Be-
dingungen der Wechjelwirkung, da fie doch nur Formen find,
3i2
in denen die Wirkung auf unbegreifliche Weife erfolgt. Die völlige
Gleichheit zweier Kugeln macht an fi die Mittheilung ihrer Be-
wegung im Stoße nicht begreiflicher; fie gewährt lediglich unferer
Anſchauung den Vortheil, die beiden wechjelwirkenden Elemente
gleich deutlich vorftellen zu können und die räumliche Bewegung
zu ſehen, mit der fie fih nähern; d. h. fie macht ung ein Bild
des Thatbeftandes möglich, wie er vor aller Wechfelwirkung iſt,
aber fie erklärt das Zuftandelommen des Wirkens um nichts
befjer. Jener Bortheil der Anfchaulichkeit nun entgeht uns zunächſt
allerdings. Wir würden getröftet fein, wenn wir die Seele ſprung⸗
fertig der Materie gegenüber jehen Könnten, um auf fie einzu-
dringen oder ſich ausbreitend, um den Stoß derjelben aufzufangen;
wir würden dann das Bild erreicht haben, nad) dem wir ung fo
ſehr fehnen, ohne für das Verſtändniß des Herganges das Ge-
ringfte gewonnen zu haben. Vielleicht führt und nun eine fpätere
Wendung unferer Unterfuhung zu einem Standpunkte, auf wel-
chem dieſe Ungleichartigfeit der überſinnlichen Seele und bes finn-
ih wahrnehmbaren Stoffes ohnehin verſchwindet; aber auch wenn
fie nit verſchwände, wiirde fie nicht im Ernft eine Vergrößerung
der Schwierigkeit für uns fein. Denn der Act des Wirkens, da
ex felbft fein ſinnlich anſchaulicher Vorgang ift, kann auch feine
andere Gleichartigkeit der wechſelwirkenden Glieder verlangen, als
eine folche, die reichlich dadurd gewährt ift, daß die Seele als
wirkliche, des Thuns und des Leidens fähige Subftanz den Ato⸗
men des Stoffes gegenüberfteht, die wir ihrerfeitö ebenfo als reale
Mittelpunkte aus- und eingehender Wirkungen betrachten. Jede
Forderung noch weiter gehender Aehnlichfeit wirrde nur auf dem
Irrthum beruhen, welcher den Act des Wirkens als einen Lebergang
fertiger Zuftände aus einem Element in das andere anfieht und
deshalb freilich auf Aehnlichfeit oder Gleichheit beider dringen muß,
um dem auswandernden Zuftande da, wo er einwandert, eine gleich
große und gleich geftaltete Behaufung wieder anbieten zu Können.
Und endlih, müfjen wir hinzufügen, gibt es nicht Wechſel⸗
wirkungen überhaupt, fo wie e8 nicht eine Verknüpfung überhaupt
313
gab. Jede Wirkung ift eine befondere, nad Form und Größe
beſtimmte, und wir haben feinen Grund zu der Annahme, daß
alle Verſchiedenheit der Erfolge in der Welt immer nur von ver⸗
fhiedenen Zufammenfegungs- und Benutungsweifen eines und
befielben gleichartigen Wirkens herrühre. Iſt dies nun fo, was
witrden wir für die Aufhellung der Erfcheinungen gewonnen haben,
wenn wir die allgemeine Möglichkeit des Wechſelwirkens zwifchen
Leib und Seele irgendwie erflärt hätten, wenn wir aber aus
ihr nicht entwideln Könnten, warum unter verſchiedenen Umftän-
den bald diefe, bald jene eigenthümliche Art der Wirkung zwiſchen
beiden ſich entipinnen müßte? Im Interefje der Wiffenichaft kann
e8 deshalb nur wenig liegen, dieſe allgemeinfte Frage weiter zu
verfolgen. Sie wird zugeftehn und vorausfegen, daß die Art, wie
Wirkungen überhaupt in der Welt möglich feien, in allen Fällen
und auf jedem Gebiete der Ereigniffe gleich undurchdenkbar bleibe;
das wahre und ergiebige Feld der Unterfuchung liege in der Nach⸗
forſchung darnach, unter welchen beftimmten und angebbaren Be-
dingungen ebenſo beftimmte und angebbare Wirkungen allgemein
und gefeglich eintreten. Während fie e8 aufgibt, zu erfahren, wo⸗
burch und wie überhaupt Wirkungen von ihren Urſachen hervor:
gebracht werben, richtet fie ihre Aufmerkſamkeit auf Die andere
nüßlichere Frage, welche Wirkungen von welchen Urfachen ausgehen.
Indem fie Die Sorge für da8 Zuftandelommen der Ereigniffe einer
allgemeinen und gefeglichen Naturnothwendigkeit überläßt, deren
Gebote feinen Widerftand finden, welchen hinwegzuräumen be-
fondere Mittel nöthig wären, hat fie an diefem Gedanken einen
ebenjo reichen und ergiebigen Gegenftand der Unterfuchung, wie
die Aftronomie einen ſolchen in der Borftellung der allgemeinen
Anziehung befigt, von deren Zuſtandekommen fie nichts weiß, aber
aus welcher fie unter Berüdfihtigung der mannigfachen Umftände,
unter denen ihre unbegreifliche Wirkung auftreten Tann, eine Fülle
der verwideltiten Erſcheinungen zu erklären vermag.
Man wird dieſe Anficht richtig bezeichnen, wenn man fie mit
dem Namen des Occafionalismus belegt, aber man wird Unrecht
314
haben, e8 im Sinne eined Tadels zu thun. Wir nennen eine
Lehre fo, die Alles, was unjerem unbefangenen Blicke als die
hervorbringende Urſache eines Erfolges eriheint, nur als Die Ge-
legenheit auffaßt, bei welcher auf unbegriffene Weiſe dieſer Erfolg
berportritt. Dies Bewußtfein num möchten wir eben ermeden,
daß alle unfere befte Kenntniß der Natur überall nur ein genaues
Studium der Gelegenheiten ift, bei denen dur einen Zufammen-
hang des Wirkens, deſſen innere bewegende Nerven wir nicht
verftehen, die Ereignifje berbortreten, jedes nach allgemeinen Ge-
fegen an eine ihm allein zugehörige VBeranlafjung gefnüpft, und
jedes nach ebenfo beftändiger Regel ſich mit der Veränderung diefer
Beranlafjung verändernd. Wir ftehen nicht außerhalb des Kreifes
naturwiſſenſchaftlicher Auffaffungen, wenn wir den Wechjelwirkun-
gen zwiſchen Leib und Seele diefe Betrachtung unterlegen, ſondern
wir dehnen nur die Gewohnheiten der Naturerkenntniß folgerecht
auf dies neue Verhältniß aus. Ja die Klare Einficht, daß auch
unfer Wiſſen um die phyſiſchen Ereigniffe fein wejentlich tieferes
ift, wird ung nun jelbft erlauben, jene Anſchauungen der täglichen
Beobachtung, deren Wegfall in diefer Frage wir oben bebauerten,
. ohne Befürchtung eines Irrthums wieder anzumenden.
In der That warum follten wir uns verjagen, von dem
Drud und von dem Stoß der Maſſen auf die Seele, von der An-
ziehung und Abſtoßung beider durch einander zu ſprechen, ſobald
diefe Ausdrücke, obwohl fie feine Aufflärung enthalten, Doch dazu
dienen, unfere Vorftellungen des Sachverhaltes bequem und an=
ſchaulich abzukürzen ? Was wir unter jenen Worten im gewöhnlichen
Leben zunächſt verftehen, das find die äußerlichen Formen, welche
die Wechſelwirkung größerer und zufammengefegter Maſſen gegen-
einander annimmt. Hier ſcheint es uns, al8 wirkten die Maſſen
Durch den Stoß, durd den Drud. Aber gehen wir auf die
einfachen Atome zurüd, die das Gefüge diefer Körper bilden, fo
treffen wir innerhalb der phyſikaliſchen Anfchauungen auf die Bor-
ftellung von großen Zwifchenräumen, die auch in ber Dichteften
Maffe die Heinften Theile trennen, und deren Größe zwar durch
315
mannigfaltige Kräfte verfleinert, aber nie bis zu völliger. Berüh-
rung der Atome vernichtet werben inne. Dann wiirde der Stoß
zweier Atome anderd zu faflen fein. Noch ehe eine Berührung
erfolgt, würde die Annäherung des einen in dem andern eine
zurüdftoßende Kraft erweden oder fteigern, und die nun erfolgende
Wirkung, die und früher durch den bandgreifliden Anprall des
Stoßes wie dur ein Mittel ihrer Verwirklihung zu entftehen
ſchien, würde in der That von einem wechfeljeitigen Einfluß der
Elemente aufeinander abhängen, für deffen Zuftandelommen wir
gar Teine weitere Mafchinerie mehr aufzuzeigen wiffen. Die Er-
ſcheinung des Stoßes würde nur noch die Folge eines inneren
unvermittelten Verſtändniſſes der Dinge untereinander fein, kraft
deffen fie ihre Zuftände nach allgemeinen Gefegen auf einander
wirten laflen. Warum alfo follte nicht ein Atom des Nerven-
ſyſtems ebenfo auf Die Seele oder fie auf jenes ftoßen und brüden
können, da doch jeder gemeine Stoß und Drud ſich für Die nähere
Betrachtung nicht als ein Mittel zur Wirkung, fondern nur als
die anſchauliche Form eines viel zarteren Creigniffed zwiſchen
den Elementen ausweilt?
Doch ohne allzuviel Werth auf den Wiedergewinn dieſer
Ausdrücke zu legen, wollen wir vielmehr die nächte allgemeine
Folge hervorheben, die aus unferer Anficht fich für die Behand-
Yung ber einzelnen Fragen ergeben wird. Wir haben eben des
feltfamen Vorurtheils Erwähnung gethan, welches den Borgang
des Wirkens als die Uebertragung eines fertigen Zuftandes von
einem Element zum anderen betrachtet. Wie wenig aus einer
folden Vorausſetzung fih die Mannigfaltigleit der Ergebniffe
würde erflären laſſen, welche ber Eindrud eined Reizes in ver-
ſchiedenen Gegenftänden wedt, auf bie er trifft, bedarf feiner
weiteren Erörterung; beftände fein Wirken nur in der Aus:
ftrahlung eines fertigen Zuſtandes, der von jenen als folder
316
aufgenommen würde, jo könnte ihm auch nichts antworten, als
ein ganz gleichlautendes Echo, ebenfo vielftimmig, als Gegen-
ftände vorhanden waren, die dieſem gleichen Eindruck ſich öffneten.
Mag es fein), daR von dem wirkenden Punkte immer nur eine,
ibm und feinem Zuſtande entiprechende Bewegung fi) ausbreitet,
fo muß doch offenbar der Erfolg, den fie haben wird, verſchieden
fein nad der Verſchiedenheit der Weſen, auf welche fie trifft.
Die Anſicht, die wir feftzubalten befchloffen haben, legt uns jenen
Irrthum nicht nahe; fie führt uns vielmehr ohne Umfchweif dazu,
jeden äußeren Einfluß, der von irgend einem Element auf ein
anderes überwirkt, immer nur als einen veranlaffenden Reiz zu
betrachten, welcher in dieſes zweite nicht einen fertigen und ihm
fremden Zuftand bineinträgt, jondern in ihm nur wedt, was in
feiner eignen Natur ſchon begründet war. Die hölzernen Taften
des muſikaliſchen Imftrumentes enthalten. nicht felber die Töne,
bie fie Durch ihren Anfchlag aus den Saiten bervorloden lediglich
die Spannung der legteren ift e8, Die durch jenen Stoß in ton-
erzeugende Schwingungen übergeben Tann. Ebenfo find alle Ein-
brüde des Körpers nur Anftöße für die Seele, auß ihrer eignen
Natur die inneren Phänomene der Empfindung zu erzeugen, bie
ihr von außen nie mitgetbeilt werben innen. Denn aud wenn
e8 nicht die Bewegung einer Tafte, fondern felbft ſchon eine
Schallſchwingung wäre, was Die Saite zum Mittönen brächte,
immer wiirde Doch dieſe den Ton nur durch ihre eigne Spannung
wieder zu erzeugen fähig fein, gleichviel ob das, was fie in Erzitte-
rung verjegte, ein diefer Schwingung ähnlicher oder unähnlicher
Borgang war. Nicht anders würde es ſich verhalten, wenn wir
auf irgend eine Weiſe die Empfindung als einen ſchon in den
Nerven vorhandenen Zuſtand faſſen wollten; er würde in ber
Seele doch von Neuem entftehen müfjen dur irgend eine An-
regung, die der empfindende Nerv ihr zufommen ließe, und er
würde nie durch Äußere Eindrüde in ihr entftehen können, wenn
nicht ihre eigne Natur zur Entfaltung diejer eigenthinnlichen
Form des inneren Geſchehens an fich ſelbſt befähigt wäre. Jede
317
Borausfegung mithin, die das, was in der Seele entftehen foll,
auf irgend eine Art ſchon außer ihr als vorhanden vorausfekt,
ift doch genöthigt anf dieſen Gedanken zurückzukommen und das
Aeußere nur als eine Beranlaffung, das innere Ereigniß dagegen
al8 ein aus der Natur defien, in welchem es geichieht, hervor:
gehende zu betrachten. Die Nothwendigkeit dieſer neuen Ent-
ftehung beffelben Tann durch jene Annahme eben fo wenig ver-
mieden werben, al8 etwa die Erfenntniß einer Wahrheit oder bie
Degeifterung eines Gefühle fi von einem Geifte an den andern
ohne eine wiedererzeugende Selbitthätigleit des letztern mittheilen
läßt. In wie vielgeftaltiger Weife daher die Einwirkungen bes
leiblichen Lebens die Entwidlung des geiftigen bedingen, jo führen
fie Doch weder das Bewußtfein überhaupt, noch irgend eine ein-
zelne Empfindung oder Borftellung der Seele fertig, al8 das ſchon
gewonnene Reſultat Körperlicder Vorgänge zu; alle jene Einwir⸗
fungen find nur Signale, auf deren Eintreten die Seele nad un⸗
veränberlichen Geſetzen nur aus der Natur ihres eignen Weſens
beftinumte innere Zuftände erzeugt; aber die feine Organifation
des Körpers, die ed ihm möglich macht, jene Signale in eimer
beftimmten, den wirklichen Berhältnifien der Dinge entſprechenden
Sruppirung und Reihenfolge zu überliefern, leitet auch die Seele
zu .einer Abwechſelung und Berfnüpfung ihrer Empfindungen an,
in welcher fie alle Wahrheit erreicht, die überhaupt durch Die
bloße Auffafjung des Gegebenen noch ohne denkende Bearbeitung
feines inneren Zuſammenhanges möglich ift.
So wie nun das Ganze der Empfindungswelt eine innere
Entwidlung ift, nicht von Außen bereingefommen, fondern in der
Einheit des vorftellenben Weſens durch die Vielheit fremder An-
ftöße nur angeregt, fo ift auch die Mannigfaltigfeit der körperlichen
Bewegungen, die auf den Anlaß der Seele entſtehen, eine Entfal-
tung wirkungsfähiger, in der leiblichen Organifation begründeter
Berhältnifie, angeregt wohl durch die inneren Zuftände der Seele,
aber nicht von ihr als fertige auf die Werkzeuge des Körpers
übergetragen. Bon jenen äußeren Reizen, welde eine Empfin-
318
dung hervorrufen, kennt unfer unmittelbares Bewußtfein weder
ihre Natur noch die Mittel, durch welche fie einen Eindrud auf
und erzeugen; erft die Wiſſenſchaft Hat nad Langer fruchtlofer
Bemübung die Eigenthümlichkeiten der Licht- und Schallwellen
aufgeflärt, denen wir Ton und Barbe verbanfen. Aber felbft
von jenen Vorgängen, die durch Diefe Reize in unſerem Nerven⸗
iuftem hervorgebracht, die nächte Beranlaffung unferer Empfin-
dungen find, wiffen wir nicht, und auch Die phyſiologiſche Unter:
fuhung bat fie bisher nicht kennen gelehrt; nichts tritt in unferem
Bewußtſein hervor, als das Ende aller diefer Vermittlungen, die
bewußte Empfindung des Tones oder der Farbe ſelbſt. So
wenig verfteht die Seele die Entwidlungsgeihichte ihrer Vor⸗
ftellungen; fie erzeugt fie nicht als freie, wählende und ihres
Thuns fih bewußte Thätigfeit, fondern durch ein allgemeines
und bindendes Naturgeſetz ift fie als ein fo geartetes Weſen ge-
nöthigt, diefem Emdrud mit diefer, einem beftimmten andern
ftet8 mit einer beftimmten andern Empfindung zu antworten.
Ganz ebenfo wenig weiß und verfteht die Seele von dem Bor-
handenfein, der Lage, der Verknüpfung und der Wirkſamkeit der
Werkzeuge, durch welde fie ihre Bewegungen ausführt; fie lernt
wohl bald die äußere Geftalt der beweglichen Gliedmaßen Tennen,
aber nicht unmittelbar, fondern nur durch die Hilfe der Wiſſen⸗
haft erfährt fie, und immer unvolllommen, die innere Einrich-
tung ber Muskeln und der Nerven, Die zu ihrer Bewegung
dienen. Nicht durch dieſe mangelhafte Kenntnig wird fie zu
ihren Handlungen befähigt; nicht fie ift e8, welche die vorhan-
denen Mittel überblidend, wählen und im Einzelnen Alles leitend,
fih zur Ausführung einer Bewegung die nöthigen Muskeln aus-
ſucht. Hätte fie felbft diefe gefunden, fie wiirde doch rathlos
ftehen, wie fie dieſen Werkzeugen die hinlängliche Größe eines
Anſtoßes zukommen laſſen follte; weiß doch jelbft die Wiffentchaft
noch nicht zweifellos, durch welche Form des Vorganges der be-
wegende Nerv feine Erregung den Muskeln mittheilt. Auch bier
muß die Seele jenem Zufammenbange vertrauen, der in allem
319
Naturlauf nah unveränderlichen Gefegen Zuſtand mit Zuftand
verbunden hat und der auch die inneren Regungen, zu denen
ihre Natur fähig ift, ohme ihr mithelfendes Zuthun mit Verän-
Derungen ihres Körpers verknüpft. Sobald das Bild einer be-
ftimmten Bewegung in unferem Bewußtfein verbunden mit dem
Wunſche ihres Geſchehens auftaucht, fo ift dies der innere Zu—
ftand, an den diefe durchdringende Gefeglichfeit der Natur als
notbwendige Folge die Entftehung diefer beftinnnten Bewegung
gefettet hat und fie gefhieht nun, nachdem dieſe Anfangsbebin-
gung ihres Eintretens gegeben ift, ohne unfer Mitwirken, ohne
unſer Zuthun, jelbft ohne alle Einfiht unferfeit8 in den Gang
des Mechanismus, den und der Zufammenhang der Natur zu
Gebot geftellt hat.
Und nit immer gehen Bewegungen aus unferem Willen
hervor; fie erfolgen als Ausdrud leidenſchaftlicher Erregungen in
unfern Gefihtszügen und in allen Theilen unſeres Körpers häufig
ohne, felbft gegen unferen Willen; fie erfolgen in Formen, deren
Bedeutung oder deren Nuten zum Ausdrud oder zur Linderung
Diefer inneren Erregung wir nicht verſtehen; wir weinen und
laden, ohne zu wiſſen, warum das eine der Freude, Das andere
der Trauer ein nothiwendiger Ausdrud fein müßte; das Schwanken
unferer Gemüthsbewegungen verräth fi in taufend Abwechſe—
Lungen unſeres Athmens, und wir Binnen nicht nachweifen, weder
auf welchem Wege, noch zu welchem Zwecke fich dieſe Fürperlichen
Erſchütterungen an die umferes Inneren Inüpfen. So find offen=
bar viele geiftige Zuftände, nicht allein Entjchlüffe des Willens,
fondern auch willenlofe Gefühle und Borftellungen, von dem
allesumfaflenden Naturlauf zu bebingenden Anfangspunften ge-
macht worden, die allerding8 unjere Seele zum Theil wenigfteng
felbftthätig aus ihrem eignen Innern erzeugt; nachdem fie aber
erzeugt find, bringen fie die ihnen entſprechende Bewegung mit
der blinden Sicherheit eined Mechanismus, ohne unfer einrich⸗
tendes und leitendes Mitwirken, felbft ohne unfere Kenntniß von
der Möglichfeit dieſes Wirken hervor
820
Man täufcht fi daher, wenn man mit einem beliebten
Gleichniſſe den Leib als das bewegliche Schiff, die Seele als
feinen Führer bezeichnet. Denn der Iegtere keunt, oder Tamm
wenigftend den Bau Tennen, deſſen Bewegung er leitet; er ſieht
vor fih den Weg, den er ihn führen fol, und indem er in jedem
Augenblid die Richtung, in der er fi bewegt, mit der Bahn
vergleicht, die er durchlaufen fol, kann er nicht nur die Größe
der nöthigen Ablenkung berechnen, jondern flieht vor ſich bie
mechaniſchen Handhaben des Steuer, durch weldye fie zu be-
wirken ift, und feine eignen Arme, welde jene Handhaben drehen
fönnen. Weit entfernt von diefer verhältnigmäßig volllonnmenen
Einfiht in den Gang der Maſchine, gleicht die Seele vielmehr
einem untergeordneten Arbeiter, der wohl an dem einen Ende eine
Kurbel zu drehen oder Kohlen aufzufchlitten verfteht, aber gar nichts
bon der inmenbigen Webertragung der Bewegungen weiß, durch
welche das andere Ende des Getriebes ein fertiges Product Liefert.
Oder wollen wir bei jenem Gleichniß bleiben: das Verhaͤltniß
zwifchen Seele und Leib gleicht nicht dem zwiſchen dem Führer
und der Maſchine, fondern natürlich dem zwiſchen der Seele
biejes Führers und feinem Leibe; der Führer erfüllt feine Auf-
gabe nur, weil ihm zu den verftändlichen Bewegungen, die er
feinem Werkzeug mittheilen fol, die unverftandene Beweglichkeit
feiner eignen Arme als Mittel zu Gebot fteht. So täufcht jenes
Gleichniß oberflächlich, weil e8 das unbegriffene Berglichene ftill-
ſchweigend einſchließt.
Man wird wenig geneigt fein, dieſer Anficht rückhaltlos
zuzuſtimmen. Zu ſehr hat man ſich gewöhnt, die Seele als die
freiherrſchende und ſchaltende Gebieterin anzuſehen, deren Gebot
den Körper zwinge. In dem Schwunge, den wir dem Arme
mittheilen, glauben wir unmittelbar das Ueberſtrömen unſeres
Willens in die Organe zu fühlen, wie er fie werkthätig in Be-
wegung jeßt; und diefer Anftoß follte nicht genligen? Eine all-
gemeine Naturnothwendigfeit follte dem Willen die Folgfamfeit
der Glieder erft zum Geſchenk maden müſſen? Und doc ift es
321
fo; in jenem Schwunge des Armes fühlen wir nichts fo wenig,
als das Webergehen der Kraft; was wir empfinden, iſt nichts,
als Die Veränderung, welche durch die ſchon gefchehene Anregung
die Muskeln während ihrer Zufammenziehung erfahren, und von
welcher eine Wahrnehmung, der Müdigkeit ähnlich und in fie
übergehend, zu unferem Bewußtfein zurückkehrt. Nicht die Reben-
digfeit des Willend und auch nicht Die Thatfache feiner Macht
über die Glieder wird durch unfere Auffaffung bedroht; aber feft-
geftellt wird, daß die Natur des Willens nur im Tebenbigen
Wollen, nit an fi zugleih im Vollbringen beſteht; fo wenig
unfer Wille unmittelbar über die Grenzen unferes Körpers hin-
ausreicht und als thätige Gewalt die entfernte Außenwelt ver-
ändert, jo wenig reicht er in unferer Perfönlichleit an fich über
unfere Seele hinaus; wenn er dennoch eine Macht ausiibt über
den Körper, den ihm bie Natur als Werkzeug zugefellt bat, fo
ift e8, weil diefelbe Naturnothwendigkeit es feftgefett hat, daß an
feine Gebote, die an ſich machtlojen, eine gefeglich geordnete Yolg-
ſamkeit ver Maſſen fich knüpfe.
So iſt alſo, um zu unſerem Anfange zurückzukehren, die
Mannigfaltigkeit unſerer Bewegungen eine Entwicklung der zweck⸗
mäßigen Berbältnifje unſerer körperlichen Organiſation, nicht aus⸗
gedacht, nicht im Einzelnen überwacht und ins Werk geſetzt durch
die Seele, ſondern von ihr einſichtslos angeregt. Wohl kann die
Seele, indem ſie eine Reihenfolge ſolcher inneren Zuſtände in
ſich erzeugt, die der allgemeine Naturlauf zu Anfangspunkten von
Bewegungen gemacht hat, auch eine Reihenfolge der letzteren in
einer Ordnung und zweckmäßigen Gruppirung hervorrufen, für
welche an fi die Einrichtung des Organismus keinen hinläng-—
lichen Grund enthält; aber alle ihre Herrſchaft über den Körper
kommt in dieſer Beziehung doch nicht über eine unendlich man-
nigfach variirte Benutzung und Zuſammenſetzung elementarer Be-
wegungen hinaus, von denen ſie keine einzelne zu erſinnen oder
zu begreifen weiß. Sie verknüpft zweckmäßige Elemente zu einem
zweckmäßigen Gebrauch, wie die Sprache ihre — und Conſo⸗
Lotze 1. 4. Aufl.
4
322.
nanten zu einem unendliden Reichthum der Worte und bes
Wohlklanges; aber wie die Sprache ihre Laute vorfand, fo findet
die Seele die einfachen zweckmäßigen Bewegungen vor, leicht er⸗
regbar durch einen inneren Zuftand, den fie herbeizuführen weiß,
aber in der fibrigen Weife ihrer Entftehung und Durchführung
ihr völlig dunkel und von ihr unabhängig.
ALS wir die Vorftellungen prüften, welche über den Grund
ber zweckmäßigen Bildung des lebendigen Körpers nach und nad
berborgetreten find, haben wir bereits jener Anficht gedacht, welche
feine Harmonie nur aus der thätigen Mitwirkung eines geiftigen
Weſens ableitbar glaubte Wir haben Damals gejehen, daß diefe
Meinung ihr Ziel verfehlte, wenn fie durch die Hilfe der Seele
die Entwidlung bes Körperd dem Gebiete des mechaniſchen Ge-
ſchehens zu entziehen fuchte. Denn das, wodurch allein die Seele
mehr ift, als der blinde Mechanismus, die verfländige Meber-
legung und die willfürlihe Wahl der Zwecke und Mittel, Tonnte
nad Allenı, was die Erfahrung uns lehrte, nicht als mitwirkend
bei dem allmählihen Aufbau der körperlichen Geftalt betrachtet
werden. Die Formen des Leibes werden in einem Zeitraum
endgiltig feftgeftellt oder vorbereitet, in welchem alle dieſe Thätig-
teiten der Seele ihrer Ausbildung noch entgegenfehen; Alles, was
fie felbft daher zur Begründung des Eörperlichen Vebens beitragen
konnte, vermochte fie nur, fofern fie als ein Element neben an-
dern in den Zuſammenhang der mechanischen Wechſelwirkungen
mit verflochten war, aus deren zufammenftimmender Thätigfeit
mit blinder Nothwendigkeit die worherbeftimmte Form des Orga-
nismus hervorging.
Diefe nöthige Zurüdweifung einer falihen Borftellung über
bie Form, in welder die Seele an dem Ausbau bes Körpers
theilnimmt, würde an ſich nicht hindern, diefen Antheil groß und
323
wichtig zu denken. Immer wiirde die Seele durch Die bedeutungs⸗
vollere Natur ihres Weſens ein bevorzugtes Element in der Mitte
aller übrigen fein, und. obgleih aud ihre Mitwirkung nur in
nothwendigen Rückwirkungen beftände, zu denen fie in jebem
Augenblide dur die Summe ihrer Beziehungen zu jenen ge-
zwungen wird, fo Tönnte Doch eben die Tiefe ihrer eignen Natur
fie befähigen, aud auf diefe Weile Einflüffe von fih ausgehen
zu laffen, deren Nuten für den Fortſchritt der Organifirung die
Berdienfte aller übrigen Beftandtheile überböte. Sehen wir nun,
wie noch innerhalb der Grenzen unferer Beobachtung die An-
vegung des Willens die Musfelfafern zur Verkürzung bringt, wie
alfo offenbar einem Wechſel in den Zuftänden der Seele auch
eine Beränderung in den Lagenverhältnifien kleinſter Maffentheil-
hen des Körpers nadfolgt, To Können wir im Allgemeinen die
Möglichfeit durchaus nicht bezweifeln, daß in einer früheren Bil-
dungszeit, in welcher Die Elemente des Körpers noch nicht die feſte
Structur und Lage angenommen baben, welche fie im Erwachſenen
befigen, die inneren Regungen der Seele auch auf die erſt noch
zu gewinnende Lagerungsform der Theilchen, mithin auf die Aus-
bildung der Geftalt, einen beträchtlichen Einfluß ausüben könnten.
Allerdings wird der Anfangspunft diefes Einfluffes nicht die be-
wußte Vorftellung der Bewegung von Gliedmaßen fein können,
von deren Dafein und Verwendbarkeit die Seele in diefem Zeit-
raume noch feine Erfahrung haben könnte; aber wie wir aud
noch in ber fertigen Geftalt Gemüthsbewegungen unwillkürlich
fi mit der Gewalt ihres Eindrudes auf einzelne Theile werfen
und die Lagenverhältnifje dieſer ſchon verfeftigten Elemente durch
mimifche Bewegungen verändern fehen, jo könnten ohne Zweifel
auch die formlofen, noch auf Feine beftimmten Handlungen be-
ziehbaren Erregungen, weldje die unentwidelte Seele des werben-
den Organismus erihüttern, nad) ihrer qualitativen Natur einen
ähnlichen Einfluß auf die erſte Feftftellung einzelner Formverhält-
nifje äußern.
Aber im Ganzen müfjen wir und body zugeftehen, daß Dies
21*
322
nanten zu eimem umendlichen Reichthum ber
Woblilanges; aber wie Die Sprache ihre Laute ı
tee Seele tee einachen zweiimähigen Bewegung:
regbar durch einen inneren Zufland, den fie her"
aber im ver übrigen Weiſe ihrer Entflehung u:
ihr vlig duntel web von ihr unabhängig.
Als wir die Scorfiellungen prüften, welche
der zweilmäßigen Bildung bes lebendigen Körpe
bervergetreten find, haben wir bereits jener Anſi
feine Harmonie nur auß der thätigen Mitwirku
Weſens ableitbar glaubte. Wir haben damals
Meinung ihr Ziel verfehlte, wenn fie durch tv.
die Entwidlung bes Körpers dem Gebiete des
ſchehens zu entziehen fuchte. Denn das, wodu
mehr ift, als der blinde Mechanismus, vie
legung und die willtürlihe Wahl der Ymede ı
nah Allem, was die Erfahrumg uns lehrte, m
dei dem allmählichen Aufbau ber körperlichen
werden. Die Formen des Leibes werben iı
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feiten der Seele ihrer Ausbildung noch entgege:
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Kapitel.
ge der Seele.
‚Strfungsfreiß ber Seele — Gehirnbau. —
. — Bedingungen ber räumlichen Anſchauung.
Nervenfafern. — Allgegenwart ber Seele im
0, welchen wir bisher benußt ha=
Weſens, deſſen Natur zur Entwid-
(en und Strebungen fähig ift, Liegt
räumliche Beziehungen hindeutete.
n welde die Seele zu den Maſſen
a8 natürliche Verlangen, nicht nur
8 Mechfeleinfluffes im Allgemeinen,
Stellung beider wirkfamen Glieder
v raumlichen Anfchaulichkeit vorftellen
obachtung der Natur zwar nicht bie
aber wohl unfere Borftellungen über
itet. Man wird nad dem Site ber
e ift einfach; laſſen wir dahin geftellt,
seilbaren Weſen eines wahrhaft Seien-
ısdehnung in dem Sinne zuzufchreiben,
‚nateriellen Stoffen beilegen zu können
alle Meinungen darin ſich vereinigen
ausgedehnten Wefen ein Ort im Raume
vd e8 vorhanden fein, bis wohin alle
n ſich fortpflanzen müffen, um e8 mit
hen, und bon wo aus rüdwärt®
324
Alles nur Möglichkeiten find, oder vielmehr, wenn allerdings aud)
nach unferer Anfiht ein Mangel aller Theilnahme der Seele an
den Wechfelwirkungen, durch melde ihr Körper entfteht, unmög-
lich ift, fo find wir doch durch die Analogien der Erfahrung nicht
befähigt, den Umfang zu fehägen, in welchem jene Theilnahme
wirklich ftattfindet. In dem ausgebildeten Körper ift die Macht
der Seele über die Geftaltbildung eine jehr geringe, und felbft
fo weit fie ftattfindet, ſcheint fie nur mittelbar fih durch eine
Abänderung der Berrihtungen zu äußern, auf weldhe, wie auf
Herzihlag Athmung und Verdauung oder auf einzelne Mustel-
gruppen, der Wechſel der Gemüthszuftände oder die Uebung ge=
wiffer Bewegungen näher oder entfernter Einfluß hat. Die
Wirkungen der Seele find deshalb meift über den ganzen Körper
verbreitet und ändern mehr feine Haltung, als feine Geftalt.
Geben wir gern zu, daß die Veredlung bes geiftigen Lebens zu⸗
legt auch die körperlichen Formen veredelt, feine Berwilderung fie
verwilbern läßt, jo möchten wir hierauf aud den Einfluß ber
Seele beſchränken. Er entwidelt bis zu gewiſſem Maße Schön-
heit und Häßlichkeit Der Geftalt durch leiſe Veränderungen, welche
er den an ſich fchon feſtſtehenden Proportionen einprägt; daß aber
die erfte Bildung der organifchen Form in überwiegendem Maße
aus ber geftaltenden Kraft der Seele hervorgegangen fei, ift eine
poetifche Lieblingsmeinung Vieler, für welde die zahlreichen BVei-
fpiele der Nichtübereinftimmung zwiſchen den geiftigen Anlagen
und dem körperlichen Baue nicht vorhanden find.
325
Zweites Kapitel.
Bon dem Site ber Seele.
Bedeutung der Trage. — Beſchränkter Wirkungskreis ber Seel. — Gebirnbau —
Art der Entftehung von Bewegungen. — Bebingungen ber räumlichen Anfchauung.
— Bedeutung der unverzweigten NRervenfafern. — Allgegenwart der Seele im
Körper.
In dem Begriffe der Seele, welchen wir bisher benußt ha=
ben, dem eines untheilbaren Wejens, defjen Natur zur Entwid-
lung von Borftellungen Gefühlen und Strebungen fähig tft, Tiegt
nichts, was auf Raum und räumliche Beziehungen hindeutete,
Aber die Gegenwirtungen, in welde die Seele zu den Maſſen
des Körpers tritt, erregen das natürliche Verlangen, nicht nur
die Möglichkeit und Art dieſes Wechfeleinfluffes im Allgemeinen,
fondern auch die gegenfeitige Stellung beider wirkſamen Glieder
dieſes Verhältniffes mit jener räumlichen Anſchaulichkeit vorftellen
zu Können, welche unfere Beobachtung der Natur zwar nicht bie
Sache eigentlich erflärend, aber wohl unfere Borftellungen über
fie aufflärend, überall begleitet. Man wird nad) dem Site der
Seele fragen.
Der Sinn diefer Frage ift einfach; laſſen wir dahin geftellt,
ob es möglich fei, dem untheilbaren Wefen eines wahrhaft Seien-
den irgendwie räumliche Ausdehnung in dem Sinne zuzufchreiben,
in welchem wir fie den materiellen Stoffen beilegen zu können
glauben, jo werden doch alle Meinungen darin ſich vereinigen
dürfen, daß auch dem unausgevehnten Wejen ein Ort im Raume
zulommen fünne. Da wird e8 vorhanden fein, bi8 wohin alle
Eindrüde des ihm Fremden fi fortpflanzen müfjen, um es mit
ihrer Wirkſamkeit zu erreichen, und von wo aus rüdwärts alle
326
die Anregungen kommen, durch welche e8 unmittelbar feine Um—
gebung, mittelbar durch diefe Die weitere Welt in Bewegung fett.
Diefer Punkt des Raumes ift der Ort, an weldem wir un Die
unräumliche Welt des wahrhaften Seins hinabfteigen müfjen, um
das wirkende und leidende Weſen zu finden; und in diefem Sinne
wird jede Anficht einen Si der Seele fuchen dürfen, auch wenn
fie ihr außer dem Orte nicht zugleich Die Ausdehnung einer räum-
lihen Geftalt zugeftehen zu dürfen glaubt.
Aber unfere Begriffe über die Wechſelwirkung der Dinge
unter einander laffen in Bezug auf die räumliche Erſcheinung
mehrere Möglichkeiten zu. Wir fönnen ung denfen, daß ein Weſen
mit der Gefammtheit der übrigen Welt nicht nur überhaupt in
Beziehung ftehe, jondern mit jedem Theile derſelben in gleich
inniger unabgeftufter Beziehung. Nicht nur mit wenigen wird
ed dann unmittelbare Wechfelwirkungen austaufchen, um durch
beren Vermittlung hindurch erft die übrigen zu beherrichen, fon-
dern mit allen zugleich ſteht e8 in jener lebendigen Verbindung,
welche die Zuftände des einen unmittelbar auf die des andern
wirten läßt. Drüden räumliche Lagen und Orte die Enge oder
Lockerheit diefer inneren Verbindungen aus, fo wird dieſes Weſen
nicht einen begrenzten Sig im Raume haben, fondern allen
Theilen der Welt innerlich gleich nahe, wird e8 äußerlich in ihr
allgegenwärtig zu fein fcheinen. So ftellen wir uns das Dafein
Gottes vor. Er, der Schöpfer des Ganzen, ift jedem fcheinbar
verlorenen Punkte des Gefchaffenen gleich nahe; feine Kraft bat
nicht einen Weg zurüdzulegen, um zu erreichen, worauf fie wir:
fen will, und die Zuftände der Dinge brauchen ihn nicht aufzu-
fuchen, um feiner Borfehung ſich anzuvertrauen, von der fie über-
all gleih innig umſchloſſen find. Aber wir faſſen doch Diefe
Allgegenwart nicht fo, daß wir dem Weſen Gottes die unermeß⸗
liche Ausdehnung felbft zuſchrieben, die feine Macht beberricht;
mit richtiger Enthaltſamkeit von diefer finnlichen Anjchaulichfeit
denken wir ihn als das überfinnlich geftaltlofe Wirken, für welches
dieſe Unermeßlichleit eben nicht8 ift, weder eine Schranke feiner
327
unmittelbaren Gegenwart, noch eine Eigenfhaft, die der Fülle
feines Weſens etwas hinzufegte.
Die Naturwifjenihaft bat und am einen zweiten denfbaren
Tall gemöhnt, den von Wefen, welche zwar mit der Gejammtheit
aller ihres Gleichen ummittelbar, aber mit den verichiedenen Doc
in abgeftufter Innigfeit der Beziehungen in Wechſelwirkung ftehen.
So erſtreckt fi Die anziehende Kraft jedes gravitirenden Theil-
chens auf alle andern und bis in jede unendliche Entfernung hin-
aus unmittelbar; aber Die Größe der Kraft nimmt mit der wach⸗
fenden Entfernung ab. Und auch jene molecularen Wirffamteiten,
beren Erfolg ſchon bei den geringften merflihen Abftänden der
wechſelwirkenden Elemente für unfere Wahrnehmung verſchwindet,
laſſen wir doch ins Unendliche hinaus mit raſch beichleunigter
Abnahme reihen; ſchon in geringften Entfernungen mag ihre
Stärke ſich dem Verſchwinden nähern, aber e8 kann feinen abſo—
Iuten Werth der Entfernung geben, welcher fie völlig vernichtete.
Ueber die Räumlichkeit fo wirkender Wefen find verichiedene Vor-
ftellungen gleich zuläſſig. Man kann ſie allgegenwärtig im Raume
nennen, denn in der That bedarf ihre Wirkſamkeit feiner fort-
leitenden Vermittlung, um jeden Punkt des Raumes zu erreichen.
Man Tann ihnen ebenfo wohl einen beichränkten Ort von punkt⸗
förmiger Kleinheit zuichreiben, wenn man die Abftufung ihrer
Wirkſamkeit beventt. Dann werben fie an der Stelle des Rau⸗
mes fih zu befinden feinen, auf deffen berührende Umgebung
fie das Marimum ihrer Kraft äußern; fie werden Dagegen ben
übrigen unendlichen Raum nur mit abnehmender Macht zu be-
herrſchen ſcheinen, ohne in ihm vorhanden zu fein. Dieſe dop⸗
pelte Möglichleit zeigt, daß die Frage nur ein irriges Intereſſe
hat, ob in dem Falle ſolches Wirkens dem Wefen eine endliche
oder unendliche Ausdehnung zukomme; ihm felbit wird gar fein
Prädicat räumlicher Größe beigelegt. Wir dachten Gott nicht
ebenjo groß als die Welt, die er beherrſcht; wir denken auch dieſe
wirkenden Subftanzen weder unendlich klein, wie Die geometrischen
Bunkte, von denen ihre Wirkung ausgeht, noch unendlich groß wie
328
die Weite, iiber die fie ſich erftredt. Sie felbit find, mas fie find,
überfinnliche Weſen; nichts ift weiter über fie geſagt, als daß
nah dem Sinne, der ihnen im Ganzen der Welt zufommt, in-
nerhalb der väumlichen Ericheinung der Dinge ihre Kraft von
einer beftimmten Stelle auszugehen und abnehmen die entfernten
zu erreichen fcheinen muß.
Man fann eine dritte Annahme verfuchen, nach welcher ein
Weſen feine unmittelbare und unabgeftufte Wirkſamkeit auf ein
beftimmte8 ausgebehntes Raumgebiet erftredte, mit allen aber,
was jenfeit der Grenzen dieſes Gebietes läge, nur in mittelbarer
Wechſelwirkung ftände. Aber diefe Annahme wirde eine falfche
Borausfegung zu vermeiden haben. In dem leeren Raume
Tiegt fein denfbarer Grund dafür, daß die Kraft eines Weſens
fih nur bis zu einer Kugeloberflähe von beftimmten Halbmeffer
verbreiten, über diefe Grenze hinaus aber erlöſchen jollte. Wenn
irgend eine Entfernung vor irgend einer andern den Vorzug vor:
aus haben fol, diefe einihränfende Macht zu üben, jo kann fie
ihn nur dem Realen verdanken, mit welchem bis zu ihr hin der
Raum angefüllt ift, über fie hinaus nicht mehr. Ohnehin darf
jo eine Kraft nicht wie ein Etwas vorgeftellt werden, das von dem
wirkenden Element immer ausginge, auch dann, wenn ein zweites
nicht vorhanden wäre, auf das fie wirken Könnte; fie entfteht in je
dem Augenblide des Wirkens zwifchen den beiden Elementen, zwi⸗
hen welchen eine Wechſelwirkung um ihrer qualitativen Natur willen
unvermeidlich ift. Sie wird deshalb überall jo meit in den Raum
hineinreihen, als in ihm Elemente anzutreffen find, Denen ihre
innere Berwandtfchaft diefe Nothwendigfeit des Wirkens auferlegt;
und man Tann deshalb nie jagen, ein Element entziehe ſich durch
zu große räumliche Entfernung dem Einfluß einer Kraft, der es
im Uebrigen um feiner Natur willen zu gehordhen verpflichtet wäre,
Mit andern Worten: e8 kann feine Kraft geben, deren Wirkfam-
feit von Haus aus fi auf ein endliches Raumgebiet, dann aber
auch auf Alles das erftredte, was innerhalb deſſelben anzutreffen
wäre; wohl aber ift an einem Clement eine Kraft denfbar, Die
329
fih nur auf eine gewiſſe Art oder einen gewiſſen Kreis anderer
Elemente befhränft und gleichgiltig vorübergeht an allen denen,
Die nicht zu dieſer Art oder zu dieſem Kreiſe gehören.
Ich ſchalte noch einmal die eindringliche Wiederholung einer
Behauptung ein, die allem Früheren zu Grunde lag; es ift durch⸗
aus nothwendig, den oft gehörten Sat, ein Ding wirfe nır ba,
wo e8 fei, in dem entgegengefegten umzulehren: es fei da, mo es
wirke. Es ift durchaus ein Irrthum zu glauben, e8 heiße tiber-
haupt etwas, wenn wir fagen, ein Ding fei an einem Orte und
erlange in Folge deſſen die Fähigkeit zu beſtimmter Richtung und
Ausdehnung feines Wirkens. Schon die gemöhnlichfte Ueberle—
gung des alltäglichen Lebens bejtimmt den Ort eines Dinges nur
nach feinen Wirkungen; dort ift ein Körper, von wo die Lichtfirah-
len ausgehen, die er nach verfchiedenen Seiten endet; dort ift er,
bon wo er der Hand, die ihn zu bewegen ftrebt, wiberftehenven
Drud entgegenftellt; dort endlich, von wo er auf andere Körper
anziehend feithaltend oder zurüditogend einwirkt. Und auch Dies
ift nicht jo zu verſtehen, als feien alle diefe Wirkungen nur für ung
Erfenntnifgründe, durch welche wir des Körpers Sein an feinem
Orte gewahr würden, während dies Sein felbft eine von den
Wirkungen, die e8 Fenntlich machen, unabhängige Bedeutung hätte.
Es ift vielmehr weder zu jagen noch einzujehen, warum kon
einem Dinge, das gar nicht wirkte, mit größerem Rechte ein Sein
an diefem, als ein Sein an jedem andern Orte behauptet wer⸗
den dürfte, oder wodurch ſich der Zuftand eines Dinges, welches
ohne alle Wirkffamteit an einem bejtimmten Orte blos wäre, von
dem Zuſtand untericheiden könnte, in welchem es fich befinden
wiürbe, wenn es an irgend einem beliebigen andern Orte fid
aufbielte. |
Unter diefer Borausfegung laſſen ſich die Vorftellungen feft-
ftellen, die wir uns von dem angeführten dritten Fall bilden
önnen. Iſt ein Weſen da, wo es wirkt, hängt e8 aber in
feinem Wirken nur von den innerlihen Beziehungen, die zwijchen
ihm und anderen Elementen ftattfinden, nit von dem leeren
330
Raume und feinen Orten und Entfernungen ab, jo Können wir
noch weiter binzufügen: es ift überall da, mo es wirkt, und
fein Ort ift Hein ober groß, ftetig ober discontinuirlich, je nach⸗
dem diefe andern Elemente im Raume vertbeilt find, mit denen
e8 in dieſer unmittelbaren Gemeinſchaft der Wechſelwirkung ftebt.
Welches aber auch und wie geftaltet der Ort eines wirkenden
Weſens fein mag, er ift nie eine Eigenfhaft des Weſens
felbft; Dies wird nicht groß mit feiner Größe, nicht Hein mit
feiner Kleinheit, nicht ausgedehnt, weil er ausgedehnt ift, nicht
vielfach und tbeilbar, wenn er vielfach oder zerftreut iſt. Neb-
men wir an, um diefe Anfchauungen zu verdeutlichen, ein wir:
kendes Element a ſtehe in Wechſelwirkung mit allen Elementen
der Art b und diefe Wechſelwirkung fei unabhängig von ben
Entfernungen, in melden fi in der Welt die einzelnen b vor-
finden, fo würde a einen fo vielfadhen Ort im Raume haben,
wie viele Elemente b in dem unendlichen Raume zerftreut find;
an jedem biefer Orte würde a eben fo vorhanden fein wie an
jedem andern, ohne daß deshalb die Einheit und Untheilbarkeit
feines Weſens litte. Es fchadet der Denkbarkeit diefer Vorſtel⸗
lungsweiſe Nichts, daß wir in der Weltordnung für fie feinen
Tall der Anwendung wiffen. Nehmen wir ferner an, a ftebe in
unmittelbarer Wechſelwirkung mit einer beftunmten Anzahl b von
Elementen, gleihartigen oder verfchtevenartigen, jo wird der Ort
des a überall fein, wo eines diefer Elemente ſich findet. Dächten
wir fie alle auf der Oberfläche einer Kugel vereinigt, jo würde
der metaphufiiche Ort des a diefe krumme Oberfläche fein, und
zwar jeder ihrer Punkte, der von einem der b realen Elemente
befegt wäre. Wir würden nicht eigentlich Recht haben, aber wir
fönnten unferer Einbildungsfraft das Bild verftatten, a befinde
fih im Mittelpunkt der Kugel und übe von da eine Kraft aus,
deren Wirkungsſphäre durch den endlichen Halbmefjer der Kugel
beftimmt und begrenzt fei; wir würden durch diefe Wendung des
Ausdruckes uns die bleibende untheilbare Einheit des a anfchau-
liher machen, ohne fie im Grunde noch ficherer zu machen,
331
als fie ohnehin bleiben würde. Man würde fi endlich vor-
ftellen innen, die Elemente b, mit weldhen a in unmittelbarer
Wechſelwirkung fteht, feien im Naume zerftreut und zwifchen
ihnen andere Elemente der Art c gelagert, mit melden bem a
burd feine Natur Teine wirfungserzeugende Beziehung zufomme;
dann wird a einen vielpunktigen Dbiscontinuirliden Ort im
Raume haben, over an vielen Punkten zugleich fein und es
würde jeßt, um ber Zwiſchenſchaltung der Punkte willen, an denen
a nicht ift, unferer Phantafie zwar ſchwerer fallen, die Anfchau-
ung der Einheit des a fetzuhalten, ohne daß deshalb in dem
Sachverhalt ſelbſt eine größere Schwierigkeit derſelben läge.
Wenden wir dieſe allgemeinen Betrachtungen auf den beſon⸗
dern Fall an, der uns beſchäftigt, ſo wird nur der glückliche Glaube
an die Offenbarungen der Hellſeherinnen das unmittelbare Macht⸗
gebiet der Seele ins Unendliche noch bemerkbar reichen laſſen; die
Erfahrung des wachen Lebens hat nie darein Zweifel geſetzt, daß
vor Allem der Umriß unſeres Körpers den Bezirk abgrenzt, in
welchem die Seele ſelbſt thätig iſt und von deſſen Zuſtänden ſie
leidet. Wir empfinden nur, was den Körper erſchüttert, wir be⸗
wegen nur ihn; durch ſeine Vermittlung wirkt die Außenwelt auf
uns und wir auf ſie. Aber die mannigfachſten Beobachtungen
haben uns ebenſo gewiß gelehrt, daß ſelbſt in dem Körper der
Schauplatz ſeiner unmittelbaren Wechſelwirkungen mit der Seele
noch enger zu begrenzen iſt. Verloren iſt für die Seele jeder
Zuſtand des Körpers, der nicht einen Theil des Nervenſyſtems
zu erregen vermag, verloren für den Körper jede Bewegung der
Seele, für welche der Uebergang aus dieſem Syſtem in bie folg-
famen Werkzeuge der Glieder verhindert if. So tritt die große
Maſſe des Leibes doch nur als ein mittelbar beherrichtes Gebiet
der Außenwelt dem Nervengeflehte als dem eigentlichen Site ber
Seele gegenüber. Aber auch in dieſem lehrt die‘ Beobachtung
einen Unterſchied zwiſchen zuleitenden Theilen, die den Austauſch
der Erregungen vermitteln und anderen wefentlicheren, in denen
332
bie Wechſelwirkung felbft vollzogen wird, Trennt ein einfacher
Schnitt einen fenfiblen Nerven in feinem Verlauf zum Gehirn,
fo find die Eindrüde, die ſein an ber Oberfläche des Körpers
haftendes Ende num noch von außen aufnimmt, für die Seele
verloren; trennt ein gleiher Schnitt einen motorifchen Nerven, To
geht dev Willenseinfluß der Seele nicht mehr auf Die Glieder über, zu
deren Muskeln der durchſchnittene Nero verlief. Nicht mit jedem
Theile des Nervenſyſtems fteht daher die Seele in unmittelbarer
Wechſelwirkung; nur die Erregungen der Gentralorgane können e8
fein, von denen fie in der That bewegt wird und welche fie umgekehrt
durch ihre eigne Kraft hervorruft; der gefammte Verlauf der Nerven
ift nur ein Mittel, diefem engeren Bezirke wahrhafter MWechfelmir-
fung äußere Eindrüde, die an ſich fir Die Seele unerreihbaren, an-
zunähern und ihre eignen Strebungen, die an fih machtloſen, auf
die ausführenden Glieder überzuleiten. Die Fortjegung diefer Be-
obachtungen, zu denen Berfuche und Krankheitsfälle Gelegenheit
geben, verengt das Gebiet der Seele noch mehr; fie lehrt erfen-
nen, daß eine Trennung zwiſchen Gehirn und Rüdenmarf die Em-
pfänglichleit des Bewußtſeins für die Eindrüde, die dem lebtern
Organe zufommen, und ebenfo die Herrihaft der Seele über die
Glieder aufhebt, Die von ihm ihre zuleitenden Nerven erhalten.
Allerdings führen die enthaupteten Rümpfe namentlich Talt-
blütiger Thiere auf Äußere Reize noch Bewegungen aus, deren
zweckmäßige Zufammenftimmung Bielen von nicht blos phufilchen
Urſachen abhängen zu können ſchien. Doc auch dieſe Bewegun-
gen geſchehen nur, fo lange das Rückenmark und der Zuſammen⸗
hang der zu bewegenden Glieder mit ihm unverlegt ift; fie wür—
den daher höchftens bemeilen, daß der unmittelbare Einfluß der
Seele oder ihr Sit nicht auf das Gehirn ſich beſchränkt, fondern
auch über dieſen andern Theil der Centralorgane ausdehnt. Allein
daß die Unterbrehung der Verbindung zwiſchen Rückenmark und
Gehirn die Bewegungen der von dem eriten allein abhängenden
Theile dem Bewußtfein ſowohl als dem Willen entzieht, ift eine
gewiffe Thatſache; daß Dagegen die Bewegungen enthaupteter
— 8333
Rümpfe unmittelbar, oder in welcher Weiſe ſie etwa mittelbar
von phyſiſchen Bedingungen abhängen, iſt ungewiß. Ueberlaſſen
wir deshalb ſpäterer Gelegenheit die Ueberlegung dieſer Erſchei⸗
nungen und halten wir vorläufig daran feſt, daß Eindrücke, die
unſer Bewußtſein nicht empfängt, nicht ohne andern Beweis als
Zuſtände unſerer Seele, Wirkungen, die wir weder wollen noch
in ihrem Geſchehen wahrnehmen, nicht ohne andern Beweis für
Thätigkeiten der Seele gelten können. Unter dieſer Vorausſetzung
beſchraͤnkt ſich allerdings der Sit der Seele auf das Gehirn. Im
dieſem ſelbſt endlich haben wir Grund, verſchiedene Theile von
verſchiedenem pſychiſchen Werth zu unterſcheiden; aber Die größeren
und wohl unüberwindliden Schwierigfeiten der Unterjuchung ge-
ftatten hier nicht mehr, die eigentlicheren Organe der Seele von
dem umgebenden Apparat blos zuleitender und bimmegleitender
Werkzeuge genau abzutrennen. Ziehen wir das Ergebniß dieſer
Betrachtungen, fo finden wir, daß die erfte der oben verzeichneten
Borftellungsweifen auf das Verhältniß zwifchen Seele und Kör-
per unanwendbar ift: die Seele ift nicht fo in ihrem Leib all-
gegenwärtig, wie wir und Gott in der Welt allgegenwärtig den⸗
fen; fie fteht in unmittelbarer Wechſelwirkung nur mit dem Ges
bien; bier aljo bat fie in der Bedeutung, die diefem Worte zu
geben ift, ihren Sie.
Sehen wir num zu, ob zur nähern Beltimmung diefed Or-
tes die zweite Auffaſſungsweiſe tauglidyer if. Bon einem einzigen
Punkte aus, an welchem ihre Wirkſamkeit ein Marimum: ift,
würde nad ihr die Seele ihren Einfluß mit abnehmender Stärke
über die entfernteren Theile des Körpers gleich unmittelbar aus-
dehnen. Wollte man diefe Abnahme der Kraft fi zwar raid,
aber doch nod mit fo gemäßigter Beichleunigung erfolgen vorftel-
len, daß ihre Wirkungen in irgend wahrnehmbarer Entfernung von
jenem Punkte des Maximum nod merklich blieben, fo würde fich
feine Erſcheinung finden, welche Diefer Annahme günftig wäre.
Die zuleitende VBerrichtung der fenfiblen, die wegleitende der mo-
torifchen Nerven hört ftet8 auf, wie nahe auch immer an ben
334
Gentralorganen ihr Zufammenbang mit diefen unterbrochen wird,
und niemals findet fih die Spur einer auch nur foweit unmit-
telbar in die Ferne reichenden Wirkung der Seele, daß durch
fie Der geringe Abſtand überflogen wiirde, den ein feiner Schnitt
zwiichen zwei nädftbenachbarte Elemente eines Nerven gebracht
bat. Nur in der befonderen Form würde Daher diefe zweite Bor-
ftellungsweife hier anwendbar fein, in welcher wir fie allerdings
auf den größten Theil des gemöhnlichen Verhaltens der Körper an⸗
wenden; To außerordentlich fchnell müßte mit der Entfernung
von dem Punkte der größten Wirfung dieſe Wirkung felbft ab-
nehmen, daß fie in merflichen Abftänden nicht mehr wahrnehmbar
würde. So wie ein Körper die Lichtitrablen erſt Dann reflectirt
und vom Stoß erſt dann in Bewegung gefegt wird, wenn beide
ihn an feinem Orte berührt haben, ebenfo würde Die Seele nur
mit den Elementen verkehren, deren Einwirkungen fi bis auf
unwahrnehmbar Heine Abftände dem Punkte ihrer größten Wir-
fung näherten, einem Bunte, den wir eben deshalb nahezu als
den einzigen Ort ber unmittelbaren Wirkſamkeit der Seele, oder
als "ihren ausſchließlichen Sit bezeichnen dürften.
Dies ift nun die Vorſtellung, die man feit alter Zeit mit
Borliebe ausgebildet hat. Der Bau des Nervenfyftens im Großen
begünftigte fie. Sichtlih ift der Verlauf der Nerven beftimmt,
Eindrüde einem Orte im Gehirn anzunähern, um fie dort erft
zur Wechſelwirkung mit der Seele zu bringen, und die motorischen
führen Anregungen, die der Wille nur dort wirflih auf Maſſen
überträgt, den Musleln zu, Die Durch ihre räumliche Entfernung
dem unmittelbaren Einfluß feines Antriebs entzogen find. Mau
hoffte eine Fortfegung deffelben Baues in dem Gehirn felbft zu
finden, einen folden Schlußpunkt des ganzen Nervenſyſtems, in
welden alle zuleitenden Fäden zufammenliefen und aus welchem
alle hinmegleitenden Kanäle der Wirkungen ausſtrahlten. Dieſen
Punft wiirde man mit voller Befriedigung als den Sit der Seele
anerkannt haben. Aber die Anatomie bat ihn bisher nicht fin-
den Können, und es ift keine Hoffnung, daß fie ihn fpäter finden
335
werde. Neben einander ftreichen die Faſern vorbei, durchkreuzen
fih und verflechten fi; aber fe verjchmelzen nicht untereinander
zu einem gemeinfamen Schlußgliede; nicht einmal eine gemeinfame
Endrichtung nehmen fie an, mit der fie einem ſolchen Punkte ſich
näberten. Auch in dem Syſtem der Ganglienzellen, vundlider
Bläschen, welche das gefaferte Mark in größter Menge von außen
umgeben und zwifchen feine Züge eingeftreut find, fehlt jede An-
deutung einer Centralifation. Sie ftehen durch feine Verbindungs-
fäden unter einander in Berbindung; aber wir wiſſen weder, ob
die Berfettung eine allgemeine ift, noch welche Bedeutung den
Ganglienzellen überhaupt für die Aufnahme Erregung und Um—
formung der im gefaferten Mark geichebenden Erregungen zu-
kommt.
Wer dennoch die Hoffnung hegte, daß geſchärftere Unter—
ſuchung dieſen beſchränkten Sitz der Seele finden werde, müßte
ſich ohnehin zugeſtehen, daß man ihn unter falſcher Form geſucht
hat. Wie fein auch die einzelne Nervenfaſer iſt, eine gemeinſame
Durchſchnittsſtelle aller könnte doch nie ein untheilbarer Punkt,
fondern müßte ein kubiſcher Raum von ſehr wahrnehmbarer Größe
feines Durchmefferd jein. Diefen Raum müßte die Seele mit
unmittelbarer Wirkſamkeit beherrichen; innerhalb beffelben würden
wir eine Yortjegung gejonderter Nervenfäden nicht erwarten; ihre
Iſolirung hätte nur die Aufgabe, die phuftichen Vorgänge, die in
ihnen fi ereignen, ohne gegenfeitige Vermiſchung bis zu dem
Wirkungskreiſe der Seele zu bringen. Haben fie diefen erreicht,
fo ift ihre fernere Auseinanderhaltung unndtbig; denn in ber
Seele ſelbſt gibt es doch ſchließlich leine Scheidewände, welche bie
einzelnen Eindrücke ſonderten, und ſie muß es verſtehen, die vielen
verſchiedenen ohne gegenſeitige Trübung in der Einheit ihres We-
ſens zu beherbergen. Jenen kubiſchen Raum, den Sig ber Seele,
würbe man fidh daher entweder ausgefüllt durch ein ungefafertes,
irgendwie bomogened Parenchym denken, durch welches hindurch
alle Erregungen der Nerven ſich allſeitig verbreiten, oder als einen
Höhlenraum, an deſſen Wandungen und innerhalb der Entfernung,
336
bis zu welcher die unmittelbare Wirkſamkeit der Seele reicht, Die
fämmtlihen Nervenfafern oder eine hinreichende Anzahl Abgeorb-
neter berfelben nur vorüberzugehen, aber nicht zu endigen brauch⸗
ten. In der That hat man häufig Die leßgenannte Borftellung
gewählt und in der vierten Hirnhöhle den Sit der Seele, freilid
ohne die nöthige Beftätigung durch anatomiſche Thatſachen, zu
finden geglaubt.
I) führe dieſe Möoglichteiten, denen fi) noch mande andere
beifügen ließe, theil8 in der Ueberzeugung von dem Nugen auf,
den allemal die Ausarbeitung jeder Anfiht bis zu vollftändiger
Klarheit gewährt, theils in der anderen Ueberzeugung, daß aller:
dings die Anatomie zu einem völlig entjcheidenden Endurtheil über
fie noch nicht befähigt if. An fi bat Feine dieſer Vermuthun⸗
gen einen ſehr großen Werth; man wird leicht finden, daß jede
bon ihnen, auch wenn fie thatfächlich richtig wäre, doch ihrem Be-
griffe nad eine Zurüdführung auf die Dritte der oben verzeid-
neten Borftellungsweifen nothwendig machen würde. Denn mas
hieße es Doch zulett, daß Die Seele in einem beftimmten Raume
enthalten ſei und in Folge deffen nur mit dem wechſelwirkte, was
biefen Ort berührt? Sie kann nicht einen beftimmten leeren
Raum einen andern leeren Raum vorziehen, um in ihm recht⸗
mäßiger ihren Ort zu haben, als in diefem; daß fie an einem
beftimmten Orte fei, bedeutet ja, wie wir gejehen haben, nichts
Anderes, als daß fie nur mit den realen Elementen, die ſich an
diefem Orte finden, in unmittelbarer Wechſelwirkung zu ftehen
durch ihre Natur genöthigt wäre. Dieſe Wechſelwirkung, indem
fie gefhieht, macht eigentlich erft jenen Raum zum Orte ber
Seele, und wenn es, wie ohne Zweifel vorauszufegen ift, viele
Elemente find, mit denen die Seele in diejer wechlelfeitigen Be-
ziehung fteht, jo ift auch ihr Ort ebenfo vielfach. Nur aus Leicht
begreiflihem Bedürfniß der Anfchaulichkeit, aber ohne Nöthigung
durch Die Natur der Sache, ſucht dann zu diefen vielen Orten
unfere Phantafte noch einen geometriſchen Mittelpunft ihrer Ver⸗
theilung und mödte dieſen dann gern als den eigentlichften Sit
337
der Seele anſehen; aber fie würde nicht angeben Können, in wel-
her innigeren Beziehung die Seele zu ihm ftände, als zu jenen, in
denen fie wirft. Ob daher die vielen Orte diefer Wirkſamkeit fich
im Gehirn nahe zufammendrängen, ohne andere Orte der Un-
wirfamfeit einzufchließen, ob fie alſo einen auch anſchaulich als
Einheit ſich darftellenden Sit der Seele bilben, oder ob fie zer-
ſtreut eine Bielheit von Punkten bleiben: dies ift eine anato-
mifche Frage nad der Anordnung der wechſelwirkenden Elemente,
deren Beantwortung man ber Erfahrung überlaffen kann. Wie
die Antwort auch ausfallen mag, fie ändert die allgemeinen Bor:
ftellungen nicht, die wir gewonnen haben.
Noch einer Bermuthung erwähne ich, um hiermit abzufchlie-
en, der Vorftellung nämlich von einer beweglichen Seele, deren
Ort innerhalb der Gentralorgane wechſele. Sie ſcheint mir von
geringem Bortheil. Damit die Seele an den beftimmten Punkt
fih hinbewegen könne, an welchem e8 eine ankommende Erregumg
aufzufafen gibt, müßte fie doch von der Richtung bereits Kunde
erhalten haben, von welcher ber die Erregung zu erwarten ift.
Um alfo zu diefer Bewegung nach der eben jetzt gereizten Nerven-
fafer und nad Feiner andern Richtung hin beftimmt zu werben,
müßte fie ſchon aus der Terne irgendiwie von den inneren Zu⸗
ftänden derfelben auf andere Weile beeinflußt worden fein, als
von den Zuftänden der anderen, in denen jegt eben eine Erregung
nit anlommt. Die Bewegung der Seele könnte mithin nicht
als Mittel zur erftien Ermöglihung einer Wechjelwirkung mit dem
erregten Element, ſondern nur als Beihilfe zur Verftärkung einer
ſchon eingetretenen dienen. Noch unflarer bliebe, mie die Seele
e8 begönne, um ihre Richtung zum dem motorifchen Element zu
nehmen, dem ſie felhft ihr eigne Erregung erft mittheilen will.
Eine Schwierigkeit, die man bereit8 empfunden haben wird,
nöthigt und noch zu einer ferneren auch fonft ge la
Loge I. 4. Aufl.
338
Umformung der gewonnenen Anfihten. Daß die Seele mit einer
beichräntten Anzahl der Nervenelemente ausichlieglih in unmittel-
barer Wechſelwirkung ftehe, bleibt jo lange unwahrſcheinlich, als
wir in der Natur diefer bevorzugten Elemente feinen Unterfchieb
von der Natur aller der übrigen finden künnen, mit denen bie
Seele in gleiher Beziehung nit ſteht. Nun ift es allerdings
eine in der Phyſiologie häufig vorgetragene Anficht, daß die Vker⸗
rihtung des Centralnervenmarks wejentlich verſchieden von den
Functionen der Nerven und auch verfchieden fei von den Thätig-
feiten derjenigen Gehirntheile, die jelbft nur als in die Schädelhöhle
hinein verlängerte Fortſetzungen der Nerven zu betrachten wären.
Diefe Annahme würde die Borausfegung einer irgend wie auch
bevorzugten Natur der Elemente einfließen, welche dieſen bevor⸗
zugten Berrichtungen dienen, obgleich eine unmittelbare Beftätigung
für diefe Folgerung durch anatomiſche Beobachtung fehlt. Aber
gleichviel, wie es ſich hiermit verhalten mag: aus allgemeineren
Gründen finden wir die bisher gemachte Vorausfegung unzuläng-
th, daß alle Nöthigung und Befähigung zur Wechſelwirkung
zwijchen zwei Elementen auf einer beftimmten Beziehung zwifchen
dem beruhe, was wir ihre Natuven oder den qualitativen Inhalt
ihres Wejend nennen. Was das eine Element von dem andern
erfährt, wird nicht allein von dem abhängen, was biefe8 andere
beftändig ift, fondern aud won dem veränderliden Zuſtande, in
welchen es ſich eben befindet; daß überhaupt ein Element mit
dem andern zu wechſelwirken genöthigt ift, auch dieſer wirkſame
Zufammenhang findet vielleicht nicht immer zwiſchen den conſtan⸗
ten Naturen beider, fondern nur in einzelnen Wugenbliden zwi-
hen beftimmten Zuftänden beider ftatt; oder wenn für alle Zeit
und für alle Zuftände beide in dieſer Weile verleitet find, fo
liegt der Grund ihres Füreinanderſeins nicht in dem, was fie
beide ſind, fondern darin, daß fie vermöge deſſen, was fie find,
Zuſtände erfahren Können, welde nad dem Sinn und Plan ber
Weltordnung als erregender Grund und nachfolgende Erregung
zufammengebören. Ich verzichte Darauf, dieſen Gedanken in feine
339
metaphuftichen Zuſammenhänge bier zu verfolgen und ziehe vor,
ihm einen deutlichen Ausdrud in engerer Beziehung zu unferem
beſonderen Gegenftand zu geben: die Seele wird nicht in aus-
ſchließlicher und dann unabläffiger Wechfelmirfung mit einer be-
fonderen Art von Nervenelementen und allen beliebigen Zuſtänden
diefer Elemente ftehen; fondern fie wird zuerft nur veizbar für
gewiſſe Arten des Gefchehens fein, auf jene Art und Zahl von
Nervenelementen aber ihre Wirkſamkeit und ihre Empfänglichleit
beshalb beichränfen, weil nur in dieſen jenes Geſchehen verwirk⸗
licht wird. Und nun bleibt dahingeftellt, ob dieſe Elemente ihre
eigenthlimliche Natur, oder ob ohne folde Eigenthümlichleit bie
Gunſt ihrer Stellung zwiſchen andern fie ausichlieglich zu Schau-
pläßen dieſes Geſchehens macht. In dem letztern alle wiirde
es einer ſpecifiſchen Verſchiedenheit zwiſchen den Elementen der
Centralorgane und denen der Nerven nicht bedürfen; die Eigen⸗
thümlichleit der Structur würde die erſteren ausſchließlich zum
Sitze der Seele machen, weil ſie allein die Vorgänge möglich
machte, für welche dieſe die angedeutete ſympathiſche Reizbarkeit
beſitzt.
Es bleibt mir zu zeigen, daß die eben vorgetragene Anſicht
ihre Entſtehung nicht allein den Ueberlegungen über den Sitz
der Seele verdankt, daß ſie vielmehr unabhängig hiervon auch in
der Betrachtung von pfychiſchen Ereigniſſen wieder entſteht, welche
auf den erſten Blick keineswegs mit ihr verträglich ſcheinen.
Zu den gewöhnlichſten Vorſtellungen über die Entſtehung
der willkürlichen Bewegungen gehört die, daß im Gehirn die Ur⸗
fprünge der motorifhen Nerven wie eine Claviatur nebeneinander
ausgebreitet Tiegen, dem bewegenden Einfluß der Seele geöffnet.
Aber möge diefe Elaviatur immer vorhanden fein: Die Seele ift
unfäbig auf ihr gu fpielen. Sie hat fein Wiffen von der gegen-
feitigen Lage dieſer Taften, und Feine Kenntniß davon, daß Diele
und nicht eine andere Tafte der beftimmten Bemwegungsabficht ent=
Ipreche, welche fie hegt, jo wie etwa der Clavierſpieler gelernt Bat,
die Tafte, die er ſieht, mit der gefchriebenen Rote in Beziehung
22*
340
zu feten. Und müßte fie felbft dies Alles, was follte e8 ihr
nügen? Wie finge fie e8 doch an, nun ihre Wirkſamkeit auf dieſe
und nicht auf jene Taſte überzutragen? Kann doch der Spieler
dies nur vermöge eben dieſer noch unerflärten Folgſamkeit feiner
beweglichen Finger, die dahin greifen, wohin fein Wille fie weit;
und er würde e8 nicht Können, wenn er auch dieſen Uebergang
feines beftimmten Wollens auf die ihm entiprechenden Nerven-
fäden felbft erft durch feine Einficht vermitteln follte. Die Seele
fann, wie wir gefehen haben, nicht8 Anderes thun, als einen in-
neren Zuſtand in fi erzeugen oder erleiden, an welchen ohne ihr
Zuthun der Naturlauf die Entftehung einer körperlichen Berände-
rung gefnüpft bat. Nur durch das, was er qualitativ ift, kann
dieſer Zuſtand fih von andern unterjcheiden; und von diefer Qua⸗
lität muß nicht nur die Größe und Art, fondern aud der Ort
ber Wirkung abhängen, die der Naturlauf an ihn knüpft. Freude
und Schmerz enthalten beide weder eine Kenntniß gewiffer Ner-
ven und Musfeln, noch einen Trieb zu deren Bewegung; aber
fie find verſchiedenartige Erjhlitterungen des Gemüthes, und um
dieſes inneren Unterſchiedes willen folgt dem einen das Lachen,
dem andern das Weinen. Weder bewußt noch unbewußt bat
hier Die Seele um der Freude willen ihren Einfluß dahin, um bes
Schmerzes willen dorthin gerichtet, fondern ohne al ihr Zuthun
bat der einen Art der Erregung diefe, der andern jene Bewegung,
der einen aljo eine Wirkung in diefen, der anderen eine —
zum Theil in andern Muskeln geantwortet.
Soll denn num in der That, wird man fragen, die Seele
ihre inneren Zuftände fo gewiffermaßen nur klagend ind Blaue
binausrufen, und erwarten, daß die geeignete Abhilfe blos durch
den verſchiedenartigen Ton ihrer Aeußerung zu Stande kommen
werde, ohne daß fie felber befühle, was eigentlich geſchehen Toll?
Gewiß ift diefe Zumuthung, die wir der Phantafie ernftlich ma⸗
hen müffen, ungewöhnlich genug; aber Doc wird fie ſich als eine
ausführbare erweifen laſſen. Bon den unzähligen Schallwellen,
welche bie Luft durchkreuzen, wird jede ohne Zweifel in einer ge=.
341
fpannten Platte, einer Fenſterſcheibe, melde fie trifft, irgend
welche Erfchütterungen hervorbringen; aber nur eine von ihnen
wird Die Platte zum Mittönen bringen, nur die nämlich, deren
Schwingungen regelmäßig zu wiederholen die Platte duch ihre
eigne Structur und Spannung befähigt if. Wenn e8 gilt, aus
einer flüffigen Miſchung verichiedener Stoffe einen einzelnen auszu-
ideiden, bringen wir das Mittel, dad zu feiner Fällung dienen
fol, nur überhaupt hinein und wir haben nicht nöthig, nun diefem
noch ſelbſt eine beftimmte Richtung zu geben und mit ihm den
überall zerftreuten Theilchen des auszufcheidenden Stoffes nachzu-
gehen; indem es ſich durch die ganze Flüſſigkeit verbreitet, geht
e8 von felbft theilnahmlos an denen allen vorüber, zu denen e8 feine
Wahlverwandtſchaft befist, und findet mit völliger Sicherheit überall
Die Theile desjenigen auf, mit dem es fich zu einem Nieberichlage
verbinden Tann. Nach der Ausfällung dieſes einen wird ein zmei-
te8 Reagens aus derfelben Flüffigfeit einen andern Stoff aus-
icheiden, überall indem das, mas durch feine qualitative Natur
aufeinander bezogen ift, fi zur Wechſelwirkung zufammenfindet
und auf Heine Entfernungen felbft gegenfeitig fih anzieht, nie⸗
mals fo, Daß dem einen von Anfang an eine beftimmte Richtung
inwohnte und fein Erfolg fich verſchieden geftaltete nach der
Natur deffen, was e8 in dieſer Richtung anträfe. Läge der Seele
in der That die ganze Claviatur der motorischen Nervenenden
geordnet vor, jo könnte die Art ihres Einfluffes auf fie feine an-
dere fein. Sie würde nit in jevem Falle einen übrigens gleich:
artigen Stoß ausführen, dem fie nur eine beftimmte Nichtung
gäbe, und ber num blos deswegen, weil er in diefer Richtung auf
dieſes, nicht auf jenes Nervenende träfe, auch nur diefe, nicht eine
andere Bewegung erzeugen müßte; fie Tann für jede beabfichtigte
Bewegung vielmehr nur einen eigentbümlichen qualitativen Zuftand,
einen Ton von beftimmter Höhe in jenem Gleihniß, hervorbrin-
gen und von der Wahlverwandtichaft, welche zwiſchen dieſem Zu-
ftand und der eigenthümlichen Leiftungsfähigfeit eines beftimmten
Nervenurfprungs obmaltet, wird erſt Die räumliche Richtung ab-
4
842
hängen, welde der Einfluß der Seele nimmt, und welde er nur
täufchend von Anfang an ſchon inne zu halten fchien.
Nichts kann dieſes Verhalten fo einfach Mar machen, als Die
Erinnerung an die mimifhen Bewegungen. In dem Geſichtsaus—
druck erfcheinen in unendlich feinen Abftufungen und Miſchungen
die in unfern Stimmungen einander durchkreuzenden Gefühle
verförpert. Kaum wird Jemand geneigt fein, Died unerſchöpflich
harakteriftiiche Spiel Eleiner Bewegungen und Spannungen von
einer bemußten oder unbewußten Thätigkeit der Seele abzuleiten,
Die eine große Anzahl Nervenurfprünge aufgefucht habe, um jebem
bon ihnen eine den bier gemijchten Elementen der Luft und Un-
luft entſprechende Anregung mitzutbeilen. Weiß die Seele doc
ohnehin nicht, aus welchem Grunde die Thräne befjer der Trauer
als der Luft und das Laden diefer befler als jener entipräde.
Ohne Zweifel hat fie bier gar nicht gefucht und nicht gefunden;
wie vielmehr jeder einzelne Gemüthszuftand als eine Erſchütterung
der Seele feinen Weg zu beſtimmten Organen feines Ausbrudes
nimmt, weil diefe allein eben von biefer Erfchlitterung miterregt
werben, jo findet auch jene Miſchung der Gefühle von felbft ihren
verwidelten Weg zu ven Theilen, in denen fie ihre Teibliche Re-
fonanz erhalten fol. Aber dies Verhalten ift nicht auf dieſe eine
Klaffe der Bewegungen beſchränkt. Auch jeder anderen willkür⸗
ih von und ausgeführten Bewegung geht als ihr wahrer er-
zeugender Anfangspunft eine Vorſtellung jener eigenthümlichen
Mopdification des Gemeingefühls voran, die mit der geſchehenden
Bewegung, wie frühere Erfahrungen ums gelehrt, verfnüpft war.
Wir beugen den Arm nicht, indem wir feinen einzelnen Nerven
beftunmte Anftöße zumeflen, fondern indem wir das Bild jenes
Gefühles in und wieder erzeugen, das wir in biefer Stellung bes
Armes, bei diefer Faltung der Haut, bei dieſem Spannungsgrade
der Muskeln hatten; wir finden uns Dagegen ungeſchickt, eine
Bewegung nachzuahmen, die wir zwar deutlich jehen, ohne aber
ung fogleih in die eigenthümliche Empfindung bineinfühlen zu
önnen, die ihre wirkliche Ausführung und gewähren würde.
A eo pn
843
Vergeblich würden wir num verfuchen, von der Verbreitungs-
weife dieſer geiftigen Zuftände über die Eörperlichen Organe und
von der Art, in welder fie bier in einzelnen die ihnen ent-
ſprechende Reſonanz hervorrufen, eine noch meiter ausmalenbe
anſchauliche Borftellung zu geben. Wir müfjen vielmehr, wenn,
wie wir hoffen, die angeführten Vergleiche den Gedanken, ben
wir hegen, klarer gemacht haben, ſelbſt diefe Vergleiche wieder
zu vergefien bitten. Denn eine nothwendige und unvermeidliche
Geltung Können wir nur dem allgemeinen Sate beilegen, daß
jede erregende Wirkung der Seele auf den Körper von ber quali-
tativen Beftimmtheit eines geiftigen Zuftandes ausgeht und erft
um ihretwillen eine Iocale Richtung nach einem beftimmten Or-
gane nimmt; jebe weitere Ausführung oder Verbildlichung dieſes
Borganges dagegen müfjen wir ablehnen. Denn allgemeine Be-
trachtungen, wie fie und bier möglich find, werben doch bie
Bedürfniſſe der Seele in ihrem Verkehr mit dem Körper nie fo
pollftändig und genau errathen, daß wir aus unferer Einfiht in
das, was zwedmäßig fein würde, die vorhandenen Einrichtungen
im Boraus zu beftimmen vermöchten. Erft der wirkliche Befund
des Thatſächlichen pflegt uns hinterher auch die Zweckmäßigkeit
einfehen zu lafjen, die in ihm Liegt, und macht uns aufmerkfam
auf Bebürfniffe, Die dann, nachdem wir fie aus den Anftalten
zu ihrer Befriedigung Tennen gelernt haben, uns freilich als
dringliche und unabweisbare ericheinen, ohne body vorher von und
um mindeſten geahnt worden zu fein.
Ein Gegenftüd der vorigen Betrachtung veranlaßt die Auf⸗
gabe des Bewußtſeins, eine große Anzahl von Empfindungen
nicht allein in ihrem qualitativen Inhalt wahrzunehmen, fondern
außerdem in beftimmter räumlicher Anordnung fie unter einander
zu verbinden. Diefe Leiftung ſchien nothwendig vorauszufegen,
daß die einzelnen Eindrüde in derfelben gegenfeitigen Lage, in
344
welder fie den Körper berührten, auch zu der Seele fortgepflang:
werden, und daß an dem Site ber lebteren ſich die iſolirten
Nervenfäden, deren jeder nur einen einzigen Eindrud leitet, in
derjelben regelmäßigen Nebeneinanderordnung endigen, in welcher
fie in dem Sinnedorgan die ankommenden Reize aufnehmen.
Aber eine genauere Betrachtung wird uns bald lehren, daß dieſe
Borausfegung zu einer wirklichen Erflärung unferer räumlichen
Anfchauungen nicht dienen würde.
Sollen wir zunächſt ausdrücklich erinnern, oder Dürfen wir
dies al8 zugeftanden annehmen, daß von den Gegenftänden nicht
räumliche ausgedehnte Bilder, ihnen ähnlih und fie dedend, ſich
ablöſen, um in die Seele einzutreten? Und daß, wenn dies wirk⸗
lich geihähe, auß der Gegenwart dieſer Bilder innerhalb der Seele
ihr Wahrgenommenmwerden noch jo wenig erflärlih würde, wie
aus dem vorherigen Daſein der Gegenftände außerhalb der Seele?
Sollen wir binzufügen, daß ja Doc dies, was wir ein Bild des
Gegenftandes in unferem Auge nennen, nichts ift, al8 die That-
fache, daß in unferem Sinneswerkzeug die neben einander Liegen-
den Nervenenden in derjelben Ordnung von verfchiedenfarbigen
Lichtftrahlen getroffen werben, in welcher dieſe Strahlen von ben
Gegenftänden felbft ausgehen? Daß endlich diefe Thatſache eines
geordneten Nebeneinanderfeind verſchiedener Erregungen in ver-
ſchiedenen Nervenfaſern doch noch nicht die Wahrnehmung dieſes
Borganges, jondern nur der wahrzunehmende Borgang felbft ift,
deſſen Möglichkeit, in feiner ganzen inneren Ordnung zum Be
wußtfein zu kommen, eben den Gegenftand unferer Trage aus-
maht? Wir wollen die VBorausfegung machen, daß uns dies
wenigftens zugeftanden ſei. Möge nım entweder, wie e8 Einigen
wahricheinlich dünkt, diefes Bild im Auge ohne Verlegung feiner
Zeichnung dur die Sehnerven bis zu dem Gehirn an den Ort
ber Seele fortgepflanzt werben, oder möge dieſe jelbft, wie es
Anderen denfbarer fcheint, unmittelbar in beiden Augen gegen-
wärtig fein: auf welche Weife kann dann in beiden Fällen bie
beftimmte Lage der verfchiedenartig gereizten Nervenenden, mithin
345
die gegemfeitige Lage der Eindrüde für fie ein Gegenftand bes
Bewußtfeind werden ? Und wäre die Seele felbft, damit wir das
Aeußerſte zugeben, ein ausgedehnte Weſen, ben Umfang ber
Augen und die Ausbreitung der Haut mit ihrer Gegenwart
füllend, fo daß jeder Farbenpunkt, der die Neghaut, jeder Drud,
der die Oberfläche des Körpers trifft, zugleih auch eine räumlich
beftimmte Stelle der Seele träfe: wie würde ſie ſelbſt dann inne
werben, Daß es jet dieſe Stelle ihrer eignen Ausdehnung fei,
welche der Reiz berührt babe, und nicht jene? in einem andern
Augenblide aber jene und nicht Diefe ?
Wollen wir nicht ein unmittelbar fertige8 und unerflärbares
Wiſſen der Seele von ihrem eignen Umfange oder von ber Ge-
ftalt des Körpers vorausfegen, jo werben wir zuzugeben haben,
daß irgendwo der Zeitpunkt kommen muß, in welchem die räum-
lihe Lage der wahrzunehmenden Bildpunkte, jo lange und fo
ſorgſam fie aud von dem Sinnesorgan feitgebalten worden fein
mag, dennoch bei ihrem Webergang in das Bewußtſein gänzlich
verſchwinden muß, um in biefem völlig von Neuem nicht als
räumliche Lage, fondern als Anfchauung einer foldhen wieder ge-
boren zu werben. Die Nothwendigfeit dieſer Annahme ift in
feiner Weife von der Borftellung, die wir und von der räumlichen
oder unräumlichen Natur der Seele machen, fondern einzig von
dem Begriff des Bewußtſeins abhängig, welches wir Diefer wie
auch immer befchaffenen Natur zufchreiben. Möchte die Seele
immerhin ſelbſt fih im Raume ausbreiten und als eine feine
Duchduftung den Körper bis in feine letzten Enden durchdringen:
ihr Willen und Wahrnehmen wird Doc ſtets eine intenfive
Thätigfeit fein, die wir nicht felbft wieder ftoffartig ausgebreitet
denken können. In dem Bewußtfein hören alle jene Scheivewände
auf, welche in dem körperlichen Sinnedorgan die einzelnen Ein-
brüde von einander trennten; in ihm Tann jelbft jene Mannig-
faltigfeit der örtlichen Lage nicht mehr vorkommen, durch melde
etwa an der außgebehnten Subftanz der Seele die ihr eingeprägten
Eindrüde ſich noch unterjchteden; feine unräumliche Einheit ift
346
nur noch empfänglich für qualitative Verſchiedenheiten der Er⸗
regungen, und alle jene farbigen Punkte des Auges, alle Drud-
punkte ber gereizten Haut können zunächſt in ihm nur jo ortlos
zufammen fein, wie die gleichzeitigen und doch unterjheibbaren
Zöne einer Harmonie.
Soll die Seele dies Mannigfache in cine räumlide An-
ſchauung wieder auseinanderordnen, jo bedarf fle zweierlei. Sie
muß zuerit in der Natur ihres Weſens eine Nöthigung, Fähig-
feit und Drang zugleich, befigen, Raumvorſtellungen überhaupt
zu bilden und das Vielfache ihrer Empfindung gerade in dieſer
Form der Verbindung und Sonderung aus und an einander zu
rüden. Vielleicht vermag die Philofophie einen höheren Grund
dafür zu finden, daß die Seele oder daß wenigflend bie menſch⸗
liche Seele diefe Form der Anſchauung aus fi entwideln muß;
vielleiht vermag fie es auch nicht; wir jebenfall® ſetzen dieſe
Vähigfeit als eine gegebene Thatjache voraus und unfere Be—
trachtungen haben nicht die Abficht, fte felbft, fondern nur ihre
mögliche Anwendung zu erflären. Damit e8 nämlich zu dieſer
Anwendung fommen könne, damit die Seele in ihrer allgemeinen
Raumanſchauung, mit welder fie jedem möglichen Inhalt ber
Wahrnehmung ganz gleihmäßig entgegenlommt, jedem einzelnen
Eindrude feinen beftimmten Plat anzuweiſen im Stande fei,
dazu bedarf fie offenbar eines Anftoßes, der von den anzuorb-
nenden Eindrüden felbft herkommt, und durch welchen dieſe ihre
gegenjeitige Lagerung im Raume verlangen. Dieſes zweite Be⸗
dürfniß allein ift e8, deſſen Befriedigung hier den Gegenftand
unferer Frage bildet; nur hierauf hat die Weberzeugung Bezug,
welche wir ausſprachen, daß der zwingende Grund, um beSwillen
die Seele jedem Eindrud feine beftimmte Rage in dem Raume
anmeift, melden fte vorftellt, nicht in der Lage felbft Liegt, melde
dev Eindrud im Sinnesorgan hat, denn diefe räumlichen Ber-
hältnifje des Wahrzunehmenden Können nicht wie fie find, nicht als
väumlihe in das Bewußtſein übergeben; daß vielmehr jener.
Grund einzig in einer qualitativen Eigenfchaft irgend welcher
847
Art Tiegen kann, welde ber Eindruck um der eigenthümlichen
Natur des Ortes willen, an welchem er den Körper berührt, zu
feiner übrigen qualitativen Beftimmtbeit hinzu erwirbt. Nur für
ſolche Unterfchiede iſt das Bewußtſein zugänglich, und fie werben
ihn als Merkmale oder als Rocalzeihen dienen, nad deren An-
leitung es in ber Wieberaußbreitung der Eindrüde zu einem
räumlichen Bilde verfährt, zu unmittelbarer Nähe diejenigen zu-
fammenftellend, deren Localzeihen näcftverwandte Glieder einer
abgeftuften Reihe find, andere um beftimmte Entfernungen aus-
einanderrüdend, deren Merkmale eine größere Verſchiedenheit
darbieten.
So lange dieſe Kennzeichen fehlten, würde der Eindruck zwar
ſeinem Inhalte nach wahrnehmbar, aber nicht an eine beſtimmte
Stelle des Raumes localiſtrbar fein. Kann doch jede Farbe nach
und nad an jeder beliebigen Stelle unſeres Gefichtöfeldes erſchei⸗
nen, jeder ftärlere und ſchwächere Drud auf jeden Theil unferer
Körperoberfläche wirken; durch feinen unmittelbaren Inhalt, fo
und nicht anders gefärbt zu fein oder diefen beftimmten Grab ber
Stärke zu befigen, Tann deshalb fein Eindrud einen beftunmten
Drt in unferer Raumanfhauung verlangen. Neben diefem In-
halt vielmehr und ohne ihn zu flören, muß in jeder Erregung
eine charakteriſtiſche Nebenbeftunmung vorhanden fein, welche aus⸗
Ichließlich dem Punkte entipricht, in welchem der Reiz die empfäng-
liche Fläche des Sinnedorganes traf, und welche anders fein wiirde,
wenn der gleiche Reiz eine andere Stelle de8 Organs berührt
hätte. Jeder einzelne der Seele zugeführte localiſirbare Eindrud
beſteht daher in einer feften Afjociation zweier Elemente; das eine
von ihnen ift jener phyſiſche Vorgang, welder das Bewußtſein
zur Erzeugung einer beftimmten Empfindungsqualität, zum Sehen
diefer Barbe, zum Fühlen dieſes Wärmegrades nöthigt; das an-
dere ift der befondere Nebenvorgang, der fiir allerlei Empfin-
dungsinhalt derjelbe, für jeden einzelnen Ort feiner Entjtehung
verjchieden ift. Nicht deshalb alfo, weil ein Eimdbrud irgendwo
entftand, wird er von der Seele, als wüßte fie von felbft davon,
348
auf diefe Stelle feines Urſprungs wieder zurüdbezogen, jondern
nur deöwegen, weil in ihm fich dieſes qualitative Merkzeichen
feiner relativen Lage zu andern erhalten bat.
Man wird finden, wie dieſes Verhalten dem entfpricht, was
wir über das Zuftandefommen der Bewegungen früher äußerten.
Wie dort die Seele nicht gleichartige Anftöße nach beftimmten
Richtungen ded Raumes ausfandte, fondern qualitative innere
Zuftände erzeugte, denen fie überlaflen mußte, nah Maßgabe
ihrer Eigenthlimlichfeit ihre Richtung zu finden: fo nimmt fie
bier nicht die räumlichen Lagen der Reize als foldhe fertig auf,
fondern verlangt innere Unterfchiede zwifchen ihnen, um fie über-
haupt räumlich zu trennen, und meßbare Größen diefer Unter-
ſchiede, um fie an beftimmte Stellen des Raumes auseinander
zu rüden. Diefe Einrihtung nun balten wir für die nothmwen-
dige Grundlage aller unferer Raumvorftellungen, welder unferer
Sinne fie auch vermitteln möge; aber wir müfjen den fpectelleren
Unterfuchungen der mebicinifchen Biychologie den Nachweis über⸗
laflen, in welcher Form in jedem einzelnen Falle diefen allge-
meinen Anforderungen genügt jei.
So lange man glaubt, daß die räumlichen Berhältnifie der
Eindrüde als foldhe fertig in die Seele übergehen, wird man
natürlich im Interefje der Seele jeden derſelben in einer ifolirten
Faſer zu der Seele geleitet und zugleih bis zu dem Sitze der
Seele die gegenfeitige Tage der Faſern volllommen unverſchoben
denken müſſen. Daß man mit alle dem zulegt doch nichts er-
reiht, bedenkt man gewöhnlich zu ſpät; denn bie bloße Thatfache,
daß ber eine Eindrud aus dieſer bier, der andere aus jener dort
gelegenen Bahn kommt, würde der Seele für ihre Raumanſchauung
nur etwas nügen, wenn fie entweder mit einem neuen Auge
und einer neuen unerllärten Wahrnehmungskraft die Richtung
beider Bahnen und die Größe des Winkels zwifchen ihnen ſehen
349
könnte, oder wenn fie im Stande wäre, auch blind dem Reize
abzumerfen, aus welcher Gegend er komme. Das erſte kann fie
nicht, das zweite wiirde fie nur köönnen, wenn eben der Reiz in
feinem Inhalt oder neben demfelben ein wahrnehmbares Zeichen
feines Urfprungs an fi träge, und fo würde dieſe Meinung doch
am Ende auf die Borftellung von den Rocalzeihen zurückkommen,
von der wir ausgingen. Hängt Dagegen die Beurtheilung des
Urfprunges der Eindrüde nicht mehr von der Richtung ihres An-
drängens zur Seele, fondern von dem qualitativen Nebeneindrud
ab, den ſie al8 Erinnerung an ihren Ausgangsort bewahrt haben,
fo iſt e8 nun nicht mehr in pſychiſchem Intereſſe nothwendig, daß
in dem Zwiſchenraum zwiſchen Sinmesorgan und Seele ihre rela-
tive Lage beibehalten und jeder von ihnen in einem befonderen
Kanale zu ihr hingeleitet werde. Wenn wir eine Bibliothek in
einem neuen Xocale in derjelben Ordnung aufzuftellen wünſchen,
welche fie in ihrem früheren hatte, jo plagen wir ung nicht damit
ab, auch unterwegs diefe Ordnung feſtzuhalten; wir zertören fie
vielmehr und fchichten einftweilen zufammen, was ohne gegenjei-
tige Beihädigung zur Bequemlichleit des Transportes vereinigt
werben kann, und einer ganz fremben Berfon fünnen wir es
üüberlaffen, in dem neuen Locale die alte Ordnung wieder herzu-
ftellen, indem fie ſich nach den aufgellebten Etiketten richtet, die
jedem Bande feine Stelle bezeichnen. Ganz ebenfo wird bei dem
Uebergang der Nerveneindrüde in das Bemwußtfein die räumliche
Ordnung derjelben jedenfalls zerftört und es ift fein Grund vor-
handen, warum dies nicht ſchon früher innerhalb der Nerven
ſelbſt gefcheben könnte. Denn nur darauf kommt es an, daß jeder
Eindrud jo lange von andern tfolirt gehalten wird, bis er feine
Iocale Etikette erhalten hat; nachdem dies einmal geſchehen ift,
bleibt für den Dienft der Seele fein Bedürfniß weiterer Son-
derung. So padt man viele Briefe zufammen, und am Empfang
ort läßt fih der Ort ihres Abganges aus dem aufgebrücdten
Stempel gleich gut erkennen, welches auch die Art ihrer Beför—
derung gewefen fein mag. Nur dann würde jened Bedürfniß
350
fortbeftehen, wenn die Natur der Nervenproceffe die gleichzeitige
Leitung verfchiedener Eindrücke mit ihren Localzeichen nicht ohne
wechfeljeitige Störung durch dieſelbe Faſer möglich machte.
Es iſt möglich, daß diefer letztere Fall ftattfindet, und in ber
That deutet man auf dieſe Weife ganz gewöhnlich den tjolirten
Berlauf der Nervenprimitivfafern, ohne Verſchmelzung mit andern
und ohne Theilung ihres einfachen Eylinders. Aber die Deutung
anatomiſcher Thatſachen ift zuweilen mehr eine hergebrachte Ge-
wohnbeit als eine bewiefene Wahrheit. So jehr die Iſolirung
ber Faſern eine gejonderte Leitung der Eindrüde vermitteln zu
follen ſcheint, jo finden wir fie doch auch im folhen Fällen ange-
wandt, in denen wir an biefen Zweck kaum benten können. Ein
Muskel, deffen ſämmtliche Bündel normal ſich ſtets nur zugleich
zu verfürzen beftimmt find, erhält doch ebenfalls mehrere Nerven-
fäden, und aud fie verlaufen unverſchmolzen zum Rückenmark,
obgleih nie ein Ball eintreten zu Können fcheint, in welchem es
für die beabfichtigte Function förderlich wäre, daß die Erregung
jedes einzelnen von ihnen fich gefondert von denen der übrigen
fortpflanzte. Der Geruchsnerv zerfällt, wie alle anderen Sinnes-
nerven, in eine große Anzahl feiner Fäden und doch ift er kaum
dazu beftimmt ober fähig, eine diefer Anzahl entſprechende Biel-
heit von Gerüchen gleichzeitig und ohne Vermiſchung ihrer Eigen-
tblimlichleiten aufzunehmen. Ein Gleiches gilt vom Geſchmacks⸗
nerven, defien Wahrnehmungen verichiedener Eindrücke niemals
eine Deutlichkeit befigen, zu deren Herftellung eine Menge gefon-
derter Leitungswege der Mühe werth geweien wäre. Sch glaube
nicht, daß man aus folden Thatſachen einen anderen Schluß
ziehen Tann, als diefen, daß die Anwendung der ifolirten Nerven:
fofer, deren Durchmeſſer wir überall nur zwiſchen ſehr engen
Grenzen ſchwanken ſehen, für den Organismus aus einem fehr
allgemeinen Grunde nothwendig ift. Bielleiht Tann überhaupt
jener phyſiſche Vorgang, auf welchem die Thätigleit der Nerven
beruht, worin er num auch beftehen möge, nur in Fäden von be-
ftimmter Dicke und beſchränktem Querſchnitt ſich entwideln. Fügen
351
wir dann die Bermuthung Binzu, daß die Größe dieſes Vor⸗
ganges innerhalb eines einzelnen dieſer chlindrifchen Elemente
gleichfalls nur eine beichränfte fein kann, fo würde Daraus Die
Nothwendigkeit folgen, durch eine größere Anzahl von Yafern, die
denfelben Einbrud leiteten, die Stärke defjelben bis zu dem Maße
zu erhöhen, welches feine weitere Benutzung für die Zwecke des
Lebens verlangt. Sehen wir doch diefelbe Einrichtung auch außer:
halb des Nervenſyſtems in dem Tleifche der Musteln, deſſen Zer⸗
fällung in eine außerorbentlihe Anzahl feinfter Fäden müßig
ſcheinen würde ohne die Annahme, daß auch hier Die Zuſammen⸗
ziehungsfähigfeit nur fo dünnen Eylindern überhaupt möglich war,
fo daß die große Anzahl vereinigter Faſern die verlangte Stärke
der mechaniſchen Wirkung beftreiten mußte. “Die allgemeine Ber-
wendung der Zellenform zu dem Aufbau des Pflanzenkörpers ift
eine ähnliche Thatfache; auch fie deutet an, daß jene eigenthlim-
liche Gattung hemifcher Vorgänge, welche das Pflanzenleben be-
darf, nur in biefen räumlich beichränkten Gebilden möglich ift,
in denen eine halbflüffige Saftlugel von geringem Durchmeſſer
mit ihrer ganzen Maſſe innerhalb des Wirfungskreifes der Mole⸗
cularkräfte Liegt, welche von ber feiten Umhüllungshaut auf fie
ausgeübt werden. Doc wie die auch fein mag: jedenfalls kön⸗
nen wir bie Bildung langgeftredter und unverzweigter Faſern als
eine jehr allgemeine Gewohnheit des organischen Geftaltungstrie-
bes bezeichnen. Nachdem fie aber aus irgend einem Grunde ein-
mal in die beftändigen Berfahrungsweifen befjelben aufgenommen
ift, wird fie natürlich mit Vortheil auch für die Iſolirung ein-
zelner Erregungsbahnen, wo ein befonderer Zweck eine foldje ver⸗
Yangt, verwendet werben können, ohne deshalb doch in allen Fäl-
len ausschließlich nur diefer Abſicht zu dienen.
Die Aufmerkfamkeit endlich, die wir jo lange diefer ganzen
Trage gewidmet haben, möchte ich ausdrücklich noch gegen bie Ge—
352
ringſchätzung rechtfertigen, mit welder entgegengefegte Anfichten
ihre Verhandlung überhaupt für überflüffig halten. Ueberflüſſig
kann es uns nicht jcheinen, auf eine Neugier einzugeben, die un-
bermeidlich Doch wieder in Jedem fich einjtellen wird, jo oft fie
auch, durch hohe Worte eingefchlichtert, verſtummt fein mag, und
ohne deren klare Befriedigung die Vorftellung, melde wir über
das Wechjelverhältniß zwifchen Leib und Seele uns ausbilden,
ftet8 ihres natürlichften Anknüpfungspunktes beraubt haltlos im
Leeren ſchweben wird. Nur den Inhalt unferer Antwort, nicht
das Beftreben eine zu geben, Tünnen wir dem Tadel und Wider-
ſpruch überlafien. Er wird ihn veichlih und in verſchiedenen
Formen bon jener Anfiht ernten, welche die Seele mit gleicher
allgegenwärtiger Wirkſamkeit durch den ganzen Körper ausgegoſ⸗
fen denft, an Ort und Stelle die Eindrüde aufnehmend, wie fie
geſchehen, und die Anregungen ertbeilend, die ihren Zwecken ent-
ſprechen. Wenn indeflen die Tauglichkeit einer Vorftellungsweife
an ihrer Webereinftiummung mit den Tchatfachen der Beobachtung
abgemefjen werben darf, fo glaube ich nicht, daß wir den Angriff
biefer Gegnerin zu ſcheuen haben. Bedarf fie jenes Schlußpunk⸗
te8 des ganzen Nervengewölbes nicht, welchen die Anatomie nicht
finden konnte, fo hat fie Dagegen noch nie überzeugend nachzuwei⸗
fen gewußt, wozu fie überhaupt noch des Nervenſyſtems felbft be-
Darf, welches die Beobachtung nun einmal findet: es ift ihr nicht
gelungen zu zeigen, wie dieſe iiberall verbreitete Seele dazu komme,
ihre einzelnen Eindrüde auf beftimmte Raumpunfte zu beziehen,
und fi ein Bild des Körpers zu entwerfen, durch den fie ergof-
fen ift; fie hat endlich nie den Widerſpruch der Erfahrung befei-
tigen können, welche uns nun einmal lehrt, daß nur nach vollen-
beter Fortleitung zu den Gentralorganen die Erregungen des Kör⸗
pers fir das Bewußtſein, nur nach vwollendeter Leitung in ent-
gegengefegter Richtung die Antriebe der Seele für den Körper
vorhanden find. Weit mehr im Kampf gegen die Thatfachen der
Beobachtung als durch fie unterftüßt, ſucht dieſe Anficht nur die
vorgefaßte Meinung von der nothwendigen Einheit des Körpers
853
und der Seele durchzufegen und im Gefühl des Werthes dieſer
höheren Auffaffung wendet fie jelten andere Waffen, als die des
Spotted, gegen die Borftellungsweife, die wir bisher vertheidigten.
Alſo aus Leib und Seele, wird fie uns einwerfen, foll wie aus
zwei getrennten Beftandftüden unfere Perſonlichkeit beftehen? Und
an einem einzelnen Punkte fol, wie ein menſchlicher Richter, die
Seele auf hohem Throne figen, den Parteien und Zeugen zu-
hörend, die ihr melden, mas in ihrem Körper gefchah, und was
fie unmittelbar wahrzunehmen nicht im Stande war? Man wird
leicht fi diefe Einreden weiter ausmalen, aber man wird zugleich
bemerken, daß fie felbft ſchon bis hierher zu viel ausmalten;
denn in der That zu diefem Alfo Haben wir feine Beranlaffung
gegeben. Natürlich nicht aus Leib und Seele laſſen wir unjere
Perfönlichleit zufammengefegt fein, fondern überall, wo wir in
firengem Sinne des Wortes unjer wahres Weſen ſuchen, find wir
uns bewußt geweſen, es ausfchließlih in der Seele zu finden,
und nie haben wir den Körper für mehr, als für das vertrau-
tefte Stüd der Außenwelt gehalten, das eine höhere Macht uns
inniger zum Eigenthum gegeben bat, als unfere eigne Arbeit
jemals Fremdes und anzufchließen vermag. Und an jenem Sie
der Seele, was können wir zulegt Unpafjendes finden, wenn wir
in aller Stille den hohen Thron und das ganze Genrebild der
Gerichtsverhandlung bei Seite räumen, Zuthaten, die nur die ge⸗
fällige Phantafte der Gegner uns ſchenkte? Da es nım doch ein-
mal nicht fo ift, daß unfere Seele allwiſſend die Ereigniffe in der
Entfernung wahrnähme oder allmächtig in bie Weite hinaus wirkte,
was verlieren wir doch, wenn wir dieſe Thatſache aufrichtig zu⸗
geben und den Umkreis der unmittelbaren Wechſelwirkungen zwiſchen
Körper und Seele auf einen Theil der Centralorgane befchränfen ?
Wenn die Seele die Leifeften Erzitterungen des Leibes durch mit-
telbare Fortpflanzung berfelben in fi aufnimmt und mit den
zarteften Abwechſelungen der Empfindungen und Geflihle begleitet;
wenn umgelehrt das Getriebe bes Körpers jede flüchtige Erre⸗
gung, welde die Seele einem feiner Punkte an zu aus⸗
Zope I. 4. Aufl.
4
354
drucksvoller Bewegung ausgejtaltet: was vermiflen wir dann
eigentlih? Und was würden wir im Grunde gewonnen haben
durch Die entgegengefete Meberzeugung, daß die Seele felbft fich
mitfrämmt in dem gekrümmten Yeigefinger, durch den wir Se-
mand Ioden, oder fi mitballt in der ballenden Fauſt, durch Die
wir ihn hernach nieverichlagen ?
Drittes Kapitel.
Formen der Wechſelwirkung zwiſchen Leib und Seele.
Organ ber Seele. — Organ ber Raumanfhauung. — Korperliche Begründung ber
Gefühle. — Höhere Autelligenz, fittliche8 und äſthetiſches Urtheil. — Organ des
Gedächtniſſes. — Schlaf und Bewußtloſigkeit. — Einfluß Förperlicher Zuflände auf
den Borftellungslauf. — Gentralorgan ber Bewegung. — Reflexbewegungen. —
Angeüdte Rücdwirkungsformen. — Theilbarkeit ber Seele. — Phrenologie —
Hemmung bed Geiſtes durch die Verbindung mit bem Körper.
Wenn man den Aufforderungen des Materialismus zu ent-
gehen fucht, und doch die offenbare Thatfache nicht leugnen kann,
baß die Möglichkeit der Ausübung geiftiger Fähigkeiten in hohem
Grade von dem unverjehrten Zufammenbang und dem unverlet-
ten Bau des Gehirns abhängig ift: fo pflegt man gemöhnlich zu
dem Ausweg zu flüchten, diefen weſentlichen Körpertbeil doch nur
als das Organ der Seele zu betrachten. Sie felbft fahre fort,
als das überfinnliche einfache Wefen zu beſtehen, ausgeftattet mit
Fähigkeiten, die wir kennen gelernt haben; nur zur Ausübung
berfelben bebürfe fie der Werkzeuge, welche die Organifation ihr
in dem Baue bed Gehirns vorbereitet Darbiete.
Ich babe ſchon öfter meine Ueberzeugung ausgefprodhen, daß
unfere Kenntniß des geiftigen Lebens Feine Fortſchritte machen
wird, fo Lange man glauben wird, mit einer jo ſehr gedankenloſen
Borftellung, wie es dieſe von den Drganen der Seele ift, etwas
geleiftet zu haben. Nicht einmal den Materinlismus wird man
355
durch fie an Klarheit libertreffen. Denn abgeſehen von der all»
gemeinen Unbegreiflichleit, wie e8 ibm überhaupt gelingen könne,
geiftige Wirkungen an körperliche Mafjen zu Inüpfen, ift ev darin
wenigften® klar, daß er das Gehirn als das Handelnde, Deufen
und Empfinden Fühlen und Wollen unmittelbar als die Leiftun-
gen dieſes Handelnden bezeichnet. Dies einfache Verhältniß ver:
ftehen wir; was es Dagegen heißen folle, daß nicht das Gehirn
felbit, fondern die Seele durch das Gehirn fühle denke oder wolle,
das bedarf offenbar einer Aufflärung; denn jedes ſolche Durch
ift für einen wifjenfchaftlic erzogenen Berftand ein Räthjel, wel⸗
ches gelöft fein will, während Die Schwärmerei höherer Anfichten
der Dinge fat immer in der Unflarheit folder Bermittlungs-
verhältnifje die Löſung aller Räthſel jelbft zu finden glaubt. Wo
bon einem Werkzeug die Rede ift, da werben wir uns immer
fragen müſſen, Durch welchen Mangel feiner eignen Kraft der⸗
jenige, der fich befjelben bedienen foll, zu feiner Benutzung ge⸗
nöthigt wird; durch welche Vorzüge ferner dies zur Hilfe gezo:
gene Mittel die Mängel der benutzenden Kraft fo ausgleichen
kann, daß fie fähig wird zu einer Leiftung, welche ohne dies ihr
unausführbar geweſen wäre; auf melde Weile endlich der Ge-
brauchende ſich des Werkzeuges zu bemächtigen und es für bie
Zwede feiner Abſicht fruchtbar zu handhaben verftehen wird.
Diefe Fragen hat man fich felten vorgelegt, und wenn wir die
große Menge der Organe des Vorftellend des Dentens des Wollens
überbliden, bon denen man fo oft leichtbin, freilich ohne fie
näher zu ſchildern, geiprochen bat, jo können wir nicht zweifeln,
daß viele unter ihnen find, welche der Seele gerade das möglich,
maden follen, wozu ſie feiner fremden Hilfe bebarf, viele ferner,
die das gar nicht leiften Könnten, wozu man fie beruft, manche
endlich, von denen man nicht begriffe, wie ibre an ſich viel-
leicht nliglihe Einrihtung jemals zur Verfügung der Seele ge-
bracht werden könnte.
Die geringere Sorgfalt, welche man bisher auf die Ber:
dentlihung deſſen verwandt hat, was man eigentlich von dem
23*
356
Körper für die Aufgaben dev Seele an Unterftügung und Hilfe:
leiftung zu erwarten und zu verlangen berechtigt ift, bat ber
richtigen Deutung der Centralorgane immer als eine befondere
Schwierigfeit entgegengeftanden. Und wir werben nicht im Stande
fein, diefe Hinderniffe einer gedeihlichen Unterfuhung ſchnell bin-
wegzuräumen. Denn wie leiht wir auch Einiges ausſcheiden
fönnen, was wir nur als eingeborene Thätigleit der Seele be-
trachten dürfen und wofür nad einem Organ zu fuchen thöricht
fein würde, fo können wir nur felten den ganzen Umfang der
fleinen Beihilfen überfehen, bie einer Fähigkeit doch nöthig find,
um ihre Ausübung in Webereinftinnnung mit der äußeren Welt
zu lenfen, von welder die Seele nur durch die Bermittlung
förperlicher Werkzeuge Kunde bat. So Tann es mittelbar doch
leibliche Organe geben für Verrihtungen, die ihrem wefentlichen
Charakter nach aller körperlichen Unterftügung unfähig und unbe⸗
dürftig find. Nur wenig werden wir baber im Stande fein, aus
unferer Kenntniß des geiftigen Lebens heraus im Voraus bie
Werkzeuge vollftändig zu beitimmen, welche die Organifation zu
feinem Dienfte ftelen muß. Aber nachdem fo oft von den ver-
fchiedenften Seiten her die mannigfachſten Anläufe zur Erflärung
des vorhandenen Baues gemacht worden find, reizt und Doc
dieſer Verſuch, nicht jo ſehr um der Aufichlüffe willen, die wir
von ihm über die Beltimmung der einzelnen Gebirntheile zu er-
halten hofften, al8 um der Beranlaffung willen, Die er ung
gibt, die äußerft mannigfachen Formen des wechjelfeitigen Ein-
flufles zwiſchen Körper und Seele zu durchmuſtern.
Ich babe kaum nöthig, von dem Anfange des geiftigen Le
bens, von der Empfindung, noch einmal ausführlicher zu ſprechen.
Nichts ſcheint der Körper für fie leiften zu können, als daß er.
die äußeren Eindrüde aufnimmt und fie in einer fiir die leichte
und genaue Fortleitung günftigen Zorn dem Wirkungsfreife ber
357
Seele räumlich nähert. Welches auch die phyſiſchen Vorgänge
fein mögen, welche die Sinnesnerven durchkreiſen: ihre Umfegung
in die Empfindungen der Yarbe des Toned oder des Geruches
kann nie durch ein neues zwilchen fie und die Seele eingefcho-
benes Organ erleichtert werden. Denn alle Arbeit eines folchen
würde doch immer nur die eine Form nervöſer Erregung in eine
andere verwandeln können, aber niemals die Kluft verkleinern,
die zwiſchen allen phyſiſchen Bewegungen als folden und den
Empfindungen felbft al8 Zuſtänden des Bewußtſeins beftchen
bliebe. Und eben fo wenig werben alle jene Aeuferungen des
beziehenden Wiflens, welche fi auf eine Vergleichung der gege-
benen Empfindungsinhalte beſchränken, einer Krperlichen Unter-
ftüßung bebürftig oder fähig fein. Um die größere oder geringere
Berwandtichaft zweier Farben oder Töne, oder die Unterſchiede in
der Stärke der Eindrüde zu beurtheilen, bedarf das Bewußtſein
Nichts, als dieſe Elemente felbit, die es vergleichen fol, und außer
ihnen nur jene Fähigkeit des beziehenden Uebergehens, die wir
unter allen Leiftungen des geiftigen Lebens am wenigiten auf
phyſiſche Wirkungen zurüdführbar gefunden haben. So Iange
daher nicht andere Aufgaben binzutreten, würden wir leine Ber-
anlaffung haben, ein Gentralorgan der Sinnlichkeit zu erwarten,
bon deſſen vorgängiger Verarbeitung der Eindrüde die Seele in
ihrer eignen Verwerthung derſelben abhängig wäre; nur zulet-
tender Kanäle würde fie bedürfen, welche die einzelnen Reize ihr
zuführen und fie befähigen, ihre Empfindungen in einer Reihen-
folge zu entwideln, welche den Abwechfelungen in dem Thatbe⸗
ftande der Außenwelt entfpriht. Aber zwei andere Aufgaben
laſſen fih neben dieſer einfacheren unterfcheiden: die räumliche
Anordnung der Sinnedeindrüde in unferer Auſchauung, umd Die
Wahrnehmung der Gefühlswerthe, welche theils den einzelnen,
theil® beftimmten Verbindungen mehrerer von ihnen zulommen.
Für beide Leiftungen bebarf die Seele körperlicher Beihilfe,
Wir haben gefehen, auf welche Vorausfegung die Möglid-
feit einer räumlichen Anſchauung mit Nothwendigkeit zurückführt:
358
jedem einzelnen Eindrude, jedem Farbenpunkt der Netzhaut, jedem
Berührungsgefühle der Haut mußte ein eigenthlimlicher Neben-
eindrud hinzugefügt werden, welcher, ohne den Inbalt diefer Em⸗
pfindung zu ändern, nur als Localzeihen die Stelle ihres Ur⸗
fprunges bezeugt. Diefer nothwendigen Forderung fügen wir
jegt eine Bermuthung über die Form hinzu, in welder wir
glauben, daß fie wenigſtens für den Gefichtsfinn erfüllt fei. Nur
eine fehr Heine Stelle in der Mitte der Netzhaut gewährt uns
vollkommen ſcharfe Wahrnehmungen; undeutlich erfcheinen alle
Gegenftände, deren Bilder neben dieſer Stelle auf die feitlichen
Gegenden der Netzhaut fallen. Allein jeder ftärkere Einbrud,
welcher einen von diefen minder benorzugten Orten trifft, erweckt
unmwilltürlich eine Bewegung des Auges, durch welche wir ihm
unjern vollen Blick zuwenden, und jo das Bild, welches er er-
zeugte, auf jene Stelle des deutlichſten Sehens überführen. Aber
nach feiner befonderen Lage wird jeder diefer feitlichen Punkte der
Netzhaut eine ihm allein eigenthümliche Größe und Richtung ber
Bewegung des Auges erfordern, damit den Strahlen, die früher
auf ibm fich zu einem unbeutlicheren Bilde vereinigten, dieſe
Stelle der deutlichſten Wahrnehmung als auffangende Fläche un⸗
tergeichoben werde. Die Erfüllung diefer Forderung fegt voraus,
daß jede der einzelnen Fafern, Deren Enden in der Netzhaut bie
Lichteindrlide aufnehmen, in einer ihr allein eigenthümlichen Art
und Größe ihre Erregungen auf die verfdjievenen motorifchen
Nervenfäden übertragen könne, von deren mannigfach abgeftuften
Zuſammenwirken die Weite und Richtung der Angenbemegungen
abhängen.
Geftatten wir und nun die Vermuthung, daß eine jolde
Wechſelwirkung zwifchen ben reizaufnehmenven und den bemegung-
erzeugenden Nerven der Augen filr die Begründung der Raum-
anſchauungen benutt fei, jo würde die vielfache und reichgeglie⸗
berte Verflechtung der Fäden beider Gattungen, wie wir fie für
diefen Zweck vorausfegen müßten, uns ganz das Bild eines eigen-
tbümlihen Gentralorgans der räumliden Anſchauung
‚859
gewähren. Jede einzelne gereizte Stelle ver Nethaut würde dann
vermöge ber befonderen Art, in welcher die von ihr entipringende
Safer mit den motorifhen Fäden verbunden ift, einen ihr aus—
Ichlieglich zugehörigen Bewegungsantrieb in Diefem Organe erzeu-
gen, von welchem bie Seele auch dann, wenn ihm Ferne wirkliche
Bewegung bed Auges nachfolgt, einen irgendwie geftalteten Ein-
drud erfahren kann. Dieſer Eindrud endlich, der nicht nothwen⸗
big felbit ein vom Bewußtſein wahrgenommener Vorgang zu fein
braucht, fondern zu jenen unbewußten Zuftänden gehören Tann,
deren Einfluß auf die Seele dennoch groß ift: dieſer Eindrud
würde das Localzeichen fein, nad; beffen Anleitung die Seele dem
Farbenpunkte, mit welchen er verbunden ift, feine Lage zu allen
übrigen, mithin feine fefte Stelle in dem Raume ihrer Anfchauung
zumeift. Wir müfjen es den ausführlichen Unterfuchungen ber
mebicinifchen Pſychologie überlafien, theils die zahlreichen Schwie-
rigfeiten hinmwegzuräumen, die im Einzelnen diefer vermidelte Zu-
fammenhang .Darbietet, theils nachzuweiſen, daß in der That ein
Syſtem folder Bewegungsantriebe alle jene Feinheit und Biel-
feitigfeit der Abftufung und der Verwandtſchaft zwiſchen den ein-
zelnen Localzeichen darbieten würde, wie fie Die Schärfe unferer
räumlichen Gefihtsmahrnehmungen vorausfegt. Unſere Abjicht
fonnte bier nur die fein, an dem Beifpiele dieſer Anficht, deren
Inhalt bei aller Wahrjcheinlichfeit, welche er für und befitt, doc
nicht Thatfache, fondern Vermuthung ift, ein Bild der Vorftellung
zu geben, Die wir uns auf dieſe oder andere Weiſe im Wejent-
lichen immer ähnlich von der Begründung unferer räumlichen An-
ſchauung werden machen müfjen. Welche andere Vorſtellungsweiſe
man aud immer im Einzelnen zulegt vorziehen möchte, ınan wird
nicht von der Nothwendigkeit abkommen, für dieſe Leiftung unferer
geiftigen Thätigfeit ein vorarbeitendes Gentralorgan anzunehmen,
und wir tragen Tein Bedenken zuzugeftehen, daß wir einen be=
trächtlichen Maſſenantheil des Gehirns allein für dieſen Zmwed
beſtimmt glauben.
360
Die Gefühle der Luft und Unluft, melde theils die
einzelnen Empfindungen begleiten, theil® aus der vergleichenden
Zufammenfaffung mehrerer entftehen, ſehen wir zu auffällig nad
dem Stande des körperlichen Befindens ſchwanken, als daß wir
ihren Urfprung ganz allein in ber werthempfindenden Thätigleit
ber Seele fuchen möchten. In jehr vielen Fällen allerdings än-
dern krankhafte Verſtimmungen nit nur das Gefühl, fondern
auch den Inhalt der Empfindung, an die es fi knüpft; es iſt
nicht derſelbe Geſchmack, den der Kranke widrig und der Gefunde
angenehm findet; und in folden Fällen könnten wir vermuthen,
daß Die Seele über den Einvrud, den ihr der Sinnesnerv wirk⸗
lich zuführt, immer nad denfelben Gefegen ihrer eignen Natur
urtheilt, ohne dazu nody der maßgebenden Dazwiſchenkunft eines
förperliden Organs zu bebürfen. Aber häufig bleibt doch auch
der Inhalt der Wahrnehmung unverändert und doch wechſelt die
Größe und Art des Gefühles, melde er erweckt. Gewiß wird
nun au bier oft die Lebhaftigleit der Theilnahme, die wir ihm
zuwenden, durch den allgemeinen Charakter der eben vorhandenen
Gemüthsftimmung, die aus rein geiftigen Anläfjen entftanden fen
ann, bald erhöht, bald herabgefegt, und zu denjelben Harmonien
der Töne, zu denfelben Zufammenftellungen der Farben fühlen wir
und wahrſcheinlich nur aus folden Gründen bald mehr bald we⸗
niger wahlverwandt geftimmt. Dennoch bleibt fowohl in Bezug
auf die Stärfe als auf die Färbung unferer Gefühle eine Ber-
änderlichfeit unſeres Ergriffenwerdens übrig, welche wir mit Wahr-
ſcheinlichkeit nur Davon ableiten Finnen, daß die Vebereinftimmung
oder der Widerftreit, in welchem fich die Erregungen der Nerven
mit den Bedingungen unfere® Lebens befinden, erft an einer be=
fonderen Nachwirkung gemefjen wird, welche nicht immer der wirt:
lich erlittenen Störung oder Förderung richtig entfprechend erfolgt.
Nah der Einathmung von Aether oder Chloroform erliſcht
nicht immer mit dem Gefühl zugleih das Bewußtfein; es ift im
Anfange den Beläubten zuweilen möglich, mit ziemlicher Genauig-
feit die einzelnen Vorgänge einer chirurgifchen Operation mwahr-
361
zunehmen, welder fie unterworfen werben; aber fie fühlen den
Schmerz derſelben nit. Auch in anderen Berftimmungen des
Nerveniyitems fühlen wir uns zuweilen von der eigenthümlichen
Affectlofigkeit unferer Eindrücke beängftigt, die. mit aller Deut-
lichleit aufgefaßt uns doch kaum als unfere eignen Zuſtände er-
feinen; fo wenig find fie von dem Gefühle des Ergriffenfeins
begleitet, welches im gefunden Leben jebe unferer Empfindungen
in angemeflenem Grade mit fi führt. Hier ſcheint es nun, als
wenn zwar Die Leitung der Äußeren Reize bis zu jenem Punkte
ununterbroden wäre, wo fie durch Wechſelwirkung mit der Seele
in bewußte gleichgiltige Wahrnehmungen umgefegt werben, aber
als wenn zugleich ihre Fortpflanzung bis zu einem anderen Punkte
geheınmt wäre, an welden anjchlagend fie jene eigenthümliche
Reſonanz ermweden müßten, deren Rückwirkung in der Seele erft
das begleitende Gefühl erwedt. Die genauere Unterfuchung würde
jedoch nach den Thatſachen, welde die Erfahrung bisher Tennen
gelehrt bat, die Frage nicht völlig entfcheiven Können, ob wir in
der That in diefem Sinne ein eigenthümliches Centralorgan des
Gefühles anzımehmen haben, oder ob nicht eine andere Form
körperlicher Mitwirkung die vorkommenden Eriheinungen ebenfalls
erflären würde.
Aber nicht ohne Interefje würde eine Nachforſchung nach den
Grenzen fein, innerhalb welcher überhaupt die Gefühle dieſer Mit-
wirkung bebirfen. Beruht das Wohlgefallen an den confontrenden
Accorden der Töne auf einer Bergleihung der entjtandenen Ton⸗
empfindungen allein, fo daß Die Seele ſelbſt, jedes Körpers
entledigt, noch fortfahren würde, Diefelben Accorde ſchön zu finden,
falls es möglich wäre, ihr die erneuerte Empfindung derſelben
zu verichaffen? Oder fühlt die Seele in diefem MWohlgefallen
nur die gimftige Nebenwirkung, welche gerade diefe Verbindung
von Tönen auf einen anderen Theil ihrer leiblichen Organifation
ansübt, fo daß ihr Genuß nur von eimem nebenberlaufenden
Nuten, nicht von den eignen inneren Berwandtichaften biefer Ton⸗
gruppe berrührte und mithin unmöglich würde, wenn mit ber
362
Brperlihen Grundlage auch die Möglichkeit, ihr wohlzuthun, hin⸗
wegfiele? Diefe ragen find unlösbar fiir jegt und ftatt ihrer
Beantwortung, deren Werth für die Auffafjung bes ganzen gei-
ſtigen Lebens fchon dieſes eine Beifpiel binlänglich erkennen Läft,
miüffen wir uns vorläufig mit der Ueberzeugung begnügen, daß
die Lebhaftigfeit und Wärme unferer Gefühle und damit Die ganze
Geftaltung unferer Gemüthäwelt von dem Einfluffe der leiblichen
DOrganifation jedenfalls in hohem Grade abhängig ift.
Durch die genaue Weberlieferung der äußeren Eindrücke durch
bie Lebhaftigkeit der Geflihle, welche fich am jede einzelne Empfin-
dung und an ihre Berbindungen mit andern knüpfen, durch alle
diefe Leiftungen arbeiten die körperlichen Organe aud jenen höhe⸗
ren Thätigleiten des Geiſtes vor, durch welche feine verftändige
und vernünftige Erkenntniß das Ganze einer geordneten Welt-
auffaffung hervorbringt. Aber in dieſer Vorbereitung des Ma⸗
terial8, an welchem die Seele die Kräfte ihres beziehenden Wif-
ſens ausüben foll, jcheint auch der einzige Beitrag zu befteben,
den die Berrichtungen des Körpers fir dieſe höheren Aufgaben
des Seelenlebens darbieten können; ihre fung felbft wird ber
eignen Thätigleit des Geiſtes überlaſſen bleiben. Spricht man
bon Organen des Berftandes oder ber Vernunft, von
Werkzeugen bes Denkens und der Beurtheilung, fo geftehen wir,
weder von dem Bedürfniß, welches zu folden Annahmen führen
Ünnte, noch von der Art des Nutzens eine Ahnung zu baben,
welchen das Vorhandenſein aller diefer Inftruumentation für das
höhere geiftige Xeben gewähren könnte. Keine jener beziehenden
Thätigfetten, aus deren unerſchöpflich mannigfacher Wiederholung
alle unfere Erfenntniß hervorgeht, wird im Mindeſten durch bie
Mitwirkung einer körperlichen Kraft beförbert werben können;
aber die Möglichkeit einer jeden wird davon abhängen, daß ihr
die Beziehungspunfte, welche fie vergleichen fol, das Material
363
ihrer Arbeit durch die Sinne und folglich durch die Beihilfe der
körperlichen Verrichtungen pafjend und richtig dargeboten werbe,
So hängt die Blüthe des geiftigen Lebens, was nie geleugnet
worden ift, durch taufend Wurzeln mittelbar mit dem Boden des
leiblichen Dafeins zufammen ; aber außer der allgemeinen Nah⸗
rung, welde er barbietet, treibt der Boden nicht noch ein bes
fondere8 Organ in die Höhe, deſſen die Pflanze fich bedienen
müßte, um zu blüben.
Wenden wir uns ferner zu der fittlihen Beurtheilung
von Handlungen, jo Binnen wir zugeben, daß aud fie mittelbar
ſehr gemwichtig mit beftimmt wird durch Die Genauigfeit, mit mwel-
her unfere finnlihe Auffafjung einen Thatbeſtand barftellt, und
duch die Lebhaftigkeit, mit welcher nach der beftänbigen ober
augenblidlichen Stimmung unferes körperlichen Befindens ſich theil®
andere Vorſtellungen umflchtiger oder verworrener an dieſen That⸗
beftand anknüpfen, theild Gefühle feinen Werth meflend ſich ent-
wideln. Aber dennoch wird feine Erregung eines Törperlichen
Drganes der Seele in dem weſentlichſten Punkte, in der Fällung
des moralifchen Urtheiles felbit beiftehen können; die Mithilfe der
Nerven wird ſtets nur den angenehmen oder unangenehmen Ge-
fühlswerth der betrachteten Handlung für das perjönliche Leben
des Beurtheilenden, aber niemals die von aller perfönlichen Luft
und Unluſt entblößte Beurtheilung ihrer fittlihen Güte oder
Schlechtigkeit begründen Binnen. Wie wenig wir deshalb auch leug⸗
nen können, daß in mur zu hohem Maße jene Einwirkungen ber
törperlichen Thätigkeiten in Wirklichkeit unfer moralifches Urtheil
lenken und verbüftern, fo haben wir body nirgend Grund, dieſem
zu feiner eigenthümlichen Leiftung die gefährliche Hilfe eines eignen
leiblichen Organs aufzubringen. Und ebenfo mag ein großer
Theil des Eindrudes, den uns ſchöne Gegenftände erweden, auf
einer gefälligen und übereinftimmenden Erregung unjerer Nerven
beruben. Aber wer in dem äftbetifhen Gefühle neben dem ge⸗
wiß nicht fehlenden Antheil perſönlichen Wohlgefühles noch eine
unabhängige Verehrung und Werthihägung des Schönen fieht,
364
wird nun auch dieſes Mehr einzig der Seele zurechnen müſſen.
Der Schauer ber Erhabenheit, das Lachen tiber komiſche Vorfälle,
fie werben beide gewiß nicht durch eine Webertragung der phufi=
fen Erregungen unferer Augen an die Nerven der Haut ober
bes Zwerchfelles erzeugt, fondern dadurch, daß der Inhalt bes
Geſehenen in eine Welt der Gedanken aufgenommen und in dem
Werthe erkannt wird, den er in dem vernünftigen Zufammen-
hange der Dinge bat. An die geiftige Stimmung, die hieraus
fi entwidelt, bat der Mechanismus unferes Lebens jenen kör⸗
perlihen Ausdruck geknüpft, aber ber Törperlidhe Eindruck würde
für fi ohne jenes Verſtändniß deffen, was er Darbietet, niemals
diefe Stimmung erzeugen. Wie groß daher auch und wie biel-
geftaltig die Mitwirkung der Törperliden Functionen fir das
höhere Geiftesleben fein mag, fo befteht fie doch gewiß nicht darin,
daß diefem befondere Werkeuge für das Eigenthimlichfte feiner
Leiftungen zugeordnet wären, fondern nur darin, daß zur Ber-
wirflihung mander mittelbar nothwendigen Vorbebingungen bie-
fer Leiftungen die ungeſchmälerte Thätigkeit vielfacher vorbereiten-
der Drgane erforderlich ift.
Zu diejen Borbedingungen gehört nit nur die Zuleitung
augenblicklich einwirkender Eindrücke, fondern auch Die Feſthaltung
vergangener, ihr Wiedererſcheinen im Bewußtſein, jener ganze be⸗
wegliche Ablauf der Vorſtellungen, durch deſſen Zuſammenhang
unſer Leben Einheit, unſere Handlungen beſtändige Ziele errei—
chen. Haben wir eben die höheren Thätigleiten des Geiſtes un⸗
abhängig von dem Körper zu faſſen geſucht, ſo würden ſie in eine
gleich tiefe Abhängigkeit zurüdfallen, wenn die Erhaltung dieſer
Grundlage, aus welder fie auftauchen, den phufiichen Gegenwir⸗
ungen des Drganismus überlaffen wäre. Je nachdem das Or⸗
gan des Gedächtniſſes mehr oder weniger treu und dauer⸗
haft den Gewinn des früheren Lebens fefthielte, je gelenkiger und
865
elaftifcher die nervöſen Erzitterungen verliefen, durch welche die im
Gehirn erhaltenen Nachbilder vergangener Eindrücke einander
wechjelfeitig beleben: um fo reiner und reicher oder um fo mehr
verbüftert und eng würde in jedem Augenblid unfer Bewußtſein
von dem Zuſammenhang unſeres Lebens, unferer Pflichten und
Hoffnumgen fein. Oder vielmehr Tem folder Zuſammenhang
wiürbe überhaupt ftattfinden, ſondern vereinzelt wiirde in jedem
Augenblid die Seele die Vorftellung, das Gefühl oder die Stre-
bung entfalten, welche ihr die eben wieder erwachende Körperliche
Anregung geböte; ohne die eigne Fähigkeit, auch in ihrem In⸗
nern jelbft das Vergangene zu dem Gegenwärtigen aufbewahren
berüberzuziehen, Tunte fie ſelbſt durch den Heinften Zeitraum
hindurch die Stetigfeit eines einzigen Gedankens nicht erzeugen,
defien ganzer Sinn erft durch die Aufeinanderfolge mehrerer Vor⸗
ftellungen vollftändig würde. In der That nun bängt ohne
Zweifel au unfer Borftellungslauf mittelbar in großer Ausbeh-
nung von der beftändigen Einwirkung der körperlichen Vorgänge
ab; der Annahme eines befonderen Gedächtnigorganes jedoch, auch)
wenn es nur als unterſtützendes Hilfsmittel für die eigne Er-
innerungsfäbigteit der Seele gelten follte, ftehen größere Schwie-
rigleiten entgegen, al8 man gemeinhin anzunehmen pflegt. ‘Dem
Einwurf, daß die Maſſe des Gehirns, ohnehin nicht beftändig,
fondern einer langſamen Erneuerung gewiß unterworfen, nicht
obne Verwirrung die eingeprägten Nachbilder unzäbliger Eindrüde
zu ſpäterem Wiedergebraud aufbewahren könne, begegnet man zwar
ſcheinbar, aber doch nicht triftig mit dem Hinweis auf die un-
zähligen Wellenbewegungen der Töne und ber farbigen Lichter,
Die ohne gegenfeitige Störung denſelben Luftraum gleichzeitig
durchkreuzen können.
Wenn unfer Blid eine kurze Zeit unverwandt auf Die Sonne
gerichtet war, dann bleibt von ihr uns ein ſcharf umfchriebenes
kreisförmiges Nachbild auch bei gefchloffenem Auge zurüd; denn
während der ganzen kurzen Dauer jenes Blickes wurden diefelben
nebeneinanderliegenden Punkte der Neghaut von den Strahlen
366
getroffen; in demfelben Kreife aneinanderftoßender Nervenfafern
zittert die Nachwirkung fort, und fo erhält uns die gegenfeitige
Lage der gereizten Theile die runde Geftalt und die Größe bes
Bildes. Sehen wir dagegen die Geftalt eines Menſchen auf ums
zulommen, fo dehnt mit jedem Schritte ihrer Annäherung ihr
Bild auf unferer Neshaut fich vergrößernd aus; Taum ein ein-
ziger Punkt der ganzen Geftalt bildet fih im nächſten Augenblid
auf derfelben Stelle des Auges ab, auf welcher e8 im vorigen
geſchah; nicht ein einziges Nachbild, fondern unzählige von einander
verſchiedene würden uns zurückbleiben, wenn in der That umfere
Nervenorgane jeden Eindrud eines Augenblides in dauernden
Spuren firirten. Und nichts wilrden wir gewinnen, wenn wir
meinten, daß erft eine größere Anzahl diefer momentanen Er⸗
vegungen ſich zu einem bejtänbigen bleibenden Nachbilde zufam-
menſetzten; denn welches deutliche Bild könnte aus einer Anhäu-
fung vieler entftehen, die unter einander zwar in ihren Zügen
ähnlich, in ihrer Größe aber fo verichieven wären, daß jebes mit
feinen Rändern über das andere herborragte und alle mithin ein-
ander mit ungleihartigen Punkten ihrer Zeichnung beiten? Be-
obachten wir, wie ganz unter denfelben Berhältnifien Die verſchie⸗
denen ſich in einander fchiebenden Farbenſpectra des Prisma zu
eintönigem Grau verihmelgen, jo werden wir gewiß nicht anneb-
men können, daß die Wahrnehmungen des Auges auf dieſem
Wege bleibende Einvrüde erzeugen, die den Nachbildern ähnlich
Form und Farbe gejehener Geftalten aufbewahren. Und doch
haben wir bisher dieſe Geftalten noch als unveränderlich in ihren
Umriſſen vorausgefegt. Aber wir fehen denfelben Menfchen viel-
feiht in taufend verſchiedenen Stellungen und Bewegungen feiner
Glieder; welches von all den unzähligen Bildern, bie er fo im
unfer Auge warf, ift dasjenige, welches das Gehirn feftbalten
wird? Oder follen wir annehmen, daß fle alle aufbewahrt wer-
den? Und wenn wir ung vielleiht auch dazu entichlöffen, um
welchen Preis würden wir zulegt dieſe Körperliche Verfeftigung der
Eindrüde erfauft haben? Doch wohl nur um den Preis der An-
367
nahme, daß bei der Kleinheit des Gehirns, welche nicht geftattet,
für jedes dieſer zahlloſen Bilder ein eignes Maflentheilden vor⸗
auszuſetzen, dem es inwohne, jedes einzelne einfache Atom eine
unendliche Menge verfchiedener Einbrüde ohne gegenfeitige Stö-
rung berfelben müſſe in ſich beherbergen können. Daſſelbe Atom,
welches in dem Bilde eines Baumes einen grünen Punkt vertritt,
wirbe in dem einer Blume einen xothen, in dem bes Himmels
einen blauen, in dem jeder einzelnen Menjchengeftalt wieber
einen anders gefärbten vertreten, und ohne zu wiſſen, wie es
zugehen jollte, müßten wir ferner vorausfegen, daß Die Wiederer-
wedung eines einzelnen won biefen Eindrücken in dem einen Die-
fer Atome ſtets im dem andern Atom aud nur den beitimmten
andern Eindruck weckte, ber mit dem vorigen felber zu ber Ein-
beit eines zufanmengebörigen Bildes ftimmt.
Eine foldde Vorſtellungsweiſe würde nur vervielfältigt Dies
felbe Annahme enthalten, welche wir ein Mal machen. Wenn
jede8 einzelne Atom der Gehirnmaſſe zur unverwmorrenen Aufbe-
wahrung unzähliger Eindrücke fähig iſt, warum follte die Seele
allein, ein einfaches Weſen gleich jenem, dazu unfähig jein? Wa-
rum follte fie allein das Vermögen des Gedächtnifſes und ber
Erinnerung nit am fich ſelbſt, nicht ohne Die Unterſtützung eines
törperlihen Organs befiten können, ba wir doch jedem Theile
dieſes vorausgefegten Organs baffelbe Vermögen unmittelbar und
ohne die Zwiſchenſchiebung eines neuen Werkzeuges zuerkennen
müfjen? In der That aber müſſen wir vielmehr behaupten, daß
nur der ungetheilten Einheit der Seele, nicht einer Mehrheit zu-
ſammenwirkender Gehirntheilchen die Aufbewahrung und Wieber-
bringung der Eindrücke möglih if. Denn jelbft die Bilder
finnlider Wahrnehmungen, welche unferem Gedächtniß zurückblei⸗
ben, find nicht im eigentlichen Sinne Bilder, nicht Zeichnungen
bon unverändberlicher Größe Zahl und Stellung ihrer einzelnen
Theile; nur das allgemeine Schema vielmehr, die Methode ber
Berzeihnung, den Sinn des inneren Zuſammenhanges mannig-
faltiger Merkmale hält unfere Seele feft und erzengt daraus in
368
den einzelnen Augenbliden der Erinnerung die beſtimmten Bilder
wieder, und nicht immer das Bild einer folden Stellung Lage
oder Bewegung der Geftalt, welche fie früher ſchon mahrnahm,
und von ber ein verfeftigter Eindrud ihr zurlidgeblieben fein
Könnte, ſondern der Erfahrung vorgreifend bringt fie mit gleicher
Deutlichleit bekannte Figuren in nie beobachteten Verfchiebungen
ihrer Umriſſe zur Anſchauung. Aber diefe Aufbewahrung nicht
jowohl der mannigfachen Beſtandtheile felbft, als vielmehr der
Regel, nach der fie zuſammengeſetzt find, ift eine Handlung bes
beziebenden Wiſſens, eine Leiftung ber Seele; jeve Annahme
eines Gedächtnißorgans wirde nur dahin führen, außer dem:
jenigen Gedächtniß, welches wir unferer Seele felbft dann noch
würden züfchreiben müſſen, auch die einzelnen Gehirnatome als
‘ Seelen zu betrachten, deren Erinnerungstraft die unfere unterftütte.
Und in diefer ganzen Betrachtung haben wir noch völlig abge-
fehen von jenen mittelbar erzeugten allgemeineren Borftellungen
unfere8 Denkens, die nicht Bilder eines Gegenftandes, ſondern
Ausprüde innerer Beziehungen find; der Verſuch, auch ihre Feſt⸗
haltung auf Törperliche Nachbilder zurückzuführen, würde nur die
Nothwendigkeit beftätigen, das Gebähtnig zu den urfprünglichften
Leiftungen der eignen Natur der Seele zu zählen.
Aber beweifen nicht zahlreiche und ganz alltägliche Erfah⸗
rungen, daß dieſe Weberlegung, welche aus dem Begriffe des Bor-
ftellens und Erinnerns die Unmöglichkeit feiner leiblichen Begriün-
Dung zu erweifen juchte, dennoch zu einem falichen Ergebniß ge-
kommen ift? Sind nicht für dieſe Begrimdbung Beweiſes genug
der gewöhnliche Schlaf, die Bemwußtlofigkeit und die zahlreichen
Störungen der Erinnerung in Krankheiten? Zeigen dieſe Erſchei⸗
nungen nicht alle, daß jene Leiftungen des geiftigen Lebens nur
fo lange ausführbar find, als die körperliche Gefunpheit ihre
Werkzeuge unverjehrt erhält? Sp überredend jedoch dieſe Folge-
rung fih ausnimmt, fo ift fie dennoch willkürlich und bat eine
andere Deutung ber Thatſachen gegen fich.
Wenn in einem vielfach zujammengefegten Syſteme von
369
Elementen die Störung des einen Theiles eine beitimmte Ber-
richtung aufbebt, fo kaun e8 fein, daß dieſe Verrichtung auf die-
ſem Theile als auf ihrem einzigen bewirtenden Grunde beruhte,
und nun wegfällt, weil das hinwegfiel, wovon fte erzeugt wurbe;
doch ift ebenſo möglich, daß fie in ihrer Erzeugung gar nicht ab-
bängig war von dem geftörten Theil, durch die Störung deſſelben aber
wie durch ein poſitives Hemmniß verhindert wird. Die legte SDeu-
tung bier vorzuziehen, werben wir allerdings zunädhft durch unſere
Anfiht von der Natur des Bemußtjeind überhaupt geneigt ge=
macht; denn völlig unbegreiflich ſchiene e8 Doch, wie ein körperliches
Organ ed anfangen follte, der Seele die Fähigkeit des Bewußt-
ſeins mitzutheilen, wenn fie dieſelbe nit in ihrer eignen Natur
befäße. Aber auch die Thatfachen der Beobachtung ſprechen zum
Theil deutlih für unfere Auffaffung, und nirgends entſchieden
gegen fie. Den gewöhnlichen Schlaf von einer Erihöpfung ber
Sentralorgane abzuleiten, die zur weiteren Erzeugung des Be-
wußtſeins unfähig geworden wären, ift im höchſten Grade un⸗
wahrſcheinlich für Jeden, der ſich erinnert, wie raſch in gefunden
Körpern, und wo die Gewöhnung daran vorhanden ift, der Schlum-
mer unmittelbar auf den lebhafteften Gebrauch aller geiftigen Fä⸗
higkeiten folgen Tann, und wie wenig, wenn er zufällig unter-
brochen wird, dieſe oder die ihnen zu Grunde gelegte Kraft ber
Centralorgane ſich wirklich erfchäpft zeigt. Viel überredender ftel-
Yen fih die allmählich wachſenden Gefühle der Ermübung als
Reize dar, die durch ihre abipannende Unluft die Freude und
Theilnahme an der Fortführung des Gedankenganges ſchmälern;
und eben fo gibt der ſchlaftrunken Erwachende faum fo jehr Das
Bild eines Erſchöpften, deſſen Kräfte ſich wieder ſammeln, al8 den
eines Gebundenen, von dem Hemmungen allmählich fich löſen. Brin-
gen ſehr heftige Körperfchmerzen plögliche Bewußtloſigkeit hervor,
fo mag man in diefem Falle wohl an eine fchnelle Lähmung
eined Organs glauben, auf welcher der Wegfall feiner Leiftung,
des Bewußtſeins, beruhe; entfteht dieſelbe Ohnmacht aus einer
Ueberraſchung des Gemüthes dur traurige —— , jo weiß
Lobe I. 4. Aufl.
370
ih nit, warum nicht unmittelbar diefer innere Aufruhr der
Seele als ein Hinderniß gelten foll, welches ihr die Fortſetzung
des Bewußtſeins augenblidlih unmöglich macht und zugleich bie
gewohnte Folgfamleit der Eörperlichen Thätigfeiten gegen ihre Herr-
[haft mit aufhebt. Können wir nun bier den geiftigen Schmerz
als den hemmenden Reiz anfehen, welder die ftetS vorhandene
Vähigfeit des Bewußtſeins an ihrer Aeußerung hindert, warum
fol nit in dem vorigen Falle der Körperliche Schmerz dieſelbe
Wirkung haben? Auch er ift ja nicht blos die leibliche Störung,
bon welcher er ausgeht, fondern als Gefühl ift er ein Zuſtand
des Bewußtſeins, und zwar ein folder Zuftand, von deſſen ge-
vingeren Graden wir wirklich noch in uns felbft beobachten kön-
nen, wie fehr fie Die Fortfegung jedes Gedankenganges durch ihren
übermwältigenden Eindrud und durch die Abfpannung des Intere-
ſes für alles Andere beeinträchtigen. Wir müffen endlich hinzu—
fügen, daß Teinesmeges alle Einflüffe, weldhe der Körper auf die
Seele vielleicht mit großer Gewalt ausübt, ſtets von der Art fein
müffen, daß fie in unferem Bewußtſein deutliche Wahrnehmungen und
Gefühle veranlaffen; vielmehr wie Die Brperlichen Reize in der Em⸗
pfindung eine Aeußerung des Bemußtfeins hervorrufen, ebenſowohl
kann ihre Wirkung die entgegengefette fein, und das Bewußtſein kann
plöglich ſchwinden unter einem Eindrude, der entweder ganz verborgen
bleibt, oder von der fliehenden Befinnung nur noch unter der Form
wenig lebhafter frembartiger unfagbarer Gefühle empfunden wird.
Wir können nicht finden, daß die mannigfadhen Arten ber
Bemußtlofigfeit noch eine andere Erklärung bedürfen, als biefe;
nit das Bewußtſein braucht erzeugt zu werden durch ein Organ,
mit deflen Beihädigung es verginge; aber e8 Tann als eine ein-
geborene Fähigfeit der Seele von unzähligen Seiten ber durch
Eindrüde gehemmt werden, welche den inneren Zuftand der Seele
ungünftig verändern. Weit dunkler find jene halben Störungen
bes Gedächtnifjes, welche der Wiedererinnerung einzelne Theile des
Erlebten unzugänglid machen, und von denen wir manche ficht-
lich verfälfchte Erzählungen aus früherer Zeit befiten, mande
371
unbezweifelbare Beifpiele der gewöhnlichften Erfahrung entnehmen
können. Wir halten Das Bekenntniß nicht zurüd, daß bier
Vieles unenträthjelt bleibt und in den einzelnen Fällen immer
bleiben wird; aber wir nehmen von biefen Thatfachen nicht den
Eindruck mit, daß fie für eine fpecielle Körperliche Begründung
unferer Erinnerung ſprächen.
Betrachten wir au nur den Gedankenlauf unfere8 gefun-
den Zuftandes, fo müfjen wir geftehen, daß uns fehr häufig die
Triebfedern, welde die eine Vorftellung in unfer Bewußtſein
zurüdführten und die Gründe, aus denen eine andere fo lange in
ihm fehlte, ganz bunfel bleiben; wir ahnen, baß der Wechiel un-
ferer Gedanken nicht blos durch die Verknüpfung der Vorftellungen
unter einander gelenkt wird, welche wir beobachtend noch ziemlich
verfolgen Können, fondern daß er in hohem Grade von jenen
andern weit unbeutlicheren Afjociationen bedingt wird, welche fich
in jedem Augenblide zwiſchen dem vorhandenen Borftellungsfreife
und bem gleichzeitigen Gemeingefühl unferer körperlichen und gei-
fligen Stimmung bilden. Krankheit und Fortſchritt im Lebensalter
ändern allmählich oder plöglich dieſes Lebensgefühl; in manchen Ge-
dankenkreis der Jugend findet ſich Daher das Alter nicht mehr zurück;
denn wenn es aud den Thatbeſtand der Vorftellungen in einigem
Umfang wieder erzeugt, fo fehlt doch jest dem Inhalte derfelben die
unwiederholbare Stimmung, Die weiter führen follte; in die Träume
der Krankheit weiß ebenfo der Genejene ſich nicht zurüdzuverfegen,
denn mit dem flechen Gemeingefühl, weldes er überwunden hat,
fehlt ihm der Schlüffel zu dem Wege, der zu ihnen führte; fo
feßt endlich ein erneuerter Krankheitsanfall die irren Träume
des vorigen fort, indem er ihren Anfangspunft, die Störung des
Gemeingefühles, wieder erzeugt; fo fühlen wir uns überhaupt
zumeilen im Leben, und befonder8 wenn große Erſchütterungen
des Gemüthes unfer ganzes Wefen aufgeregt, plöglic von lang-
entwöhnten Träumen, von Erinnerungen und Stimmungen über:
fallen, denen wir in ber Geſchichte unferes Lebens kaum noch
eine beftimmte Stelle zu geben wifjen.
247
372
Jene auffälligen Störungen des Gedächtnifſes, mie fte ſchwere
Krankheiten oder Berlegungen erzeugen, fcheinen mir feine weſent—
lich anderen Räthſel darzubieten, als diefe Zufälle des verhält-
nigmäßig gejunden Lebens; überall würde es darauf ankommen
zu zeigen, von welcher Seite her ein hemmender Drud auf die
Verbindung ausgeübt wird, durch welche die eben einmwirkenden
Eindrüde im gefunden Zuftande die mit ihnen afjociirten Erin-
nerungen wieder emporheben würden. Wir können kaum hoffen,
daß in irgend einem einzelnen Falle uns dieſer Nachweis voll-
kommen gelingen werde; am wenigften aber möchten wir Died an
den vorhandenen zahlreihen Geſchichten verſuchen, in denen wir
zu oft und zu kenntlich den vielfachen Irrthümern und Lücken
begegnen, welche das Vorurtheil des Beobachter oder feine Un-
aufmerkſamkeit auf ibm unmwichtig erjcheinende Züge verurſachen.
In vielen folder Erzählungen fehen wir die Störung der Erin-
nerung aus der Berkehrtheit des ſprachlichen Ausdruckes gefolgert.
Aber mit diefer Erſcheinung betreten wir ein bon dem borigen
ganz verichievenes Gebiet, in welchem die Seele nicht mehr bei
ſich allein bleibt, ſondern körperliche Mittel der Aeuferung zu
verwenden ſucht. Dieſe Herrihaft über Stimm- und Sprad-
werkzeuge ift gewiß nur durch ein Gentralorgen möglich, in
welchem die bewegenden Nerven in folder Weiſe angeordnet
und verflodten find, daß der im Bewußtſein ſchwebenden Laut-
vorftellung die gleichzeitige Erregung ber zu ihrem Ausſprechen
mitwirfenden Faſern geftattet if. Sind die VBermuthungen zu-
läffig, welche wir früher über die Entftehungsweife der Bewe⸗—
gungen ausbrüdten, jo würden wir leicht begreifen, daß manche
krankhafte Berftimmung dieſes Centralorganes die richtige Ueber:
tragung jener Erregung verhindern fann. Dann würde der Kranfe
mit dem ungetrübten Bemwußtfein des Lautes, den er bilden will,
doch zum Ausſprechen eined andern genöthigt, oder zu jedem
Ausdrud überhaupt unfähig fein. Diefelbe VBeranlaffung, ein zu-
fammenordnendes Centralorgan vorauszufegen, welche wir bier
bei der Sprache finden, haben wir jedoch in Bezug auf alle Be-
373
wegungen überhaupt, und es ift Zeit, unfere Vorftellungen über
ihre Erzeugung bier zum Abſchluß zu bringen.
Daß die Seele weder von den Mitteln der Bewegung, von
Muskeln und Nerven, nod von der Art ihrer möglichen Benugung,
bon ber Natur des Anſtoßes, welcher den letzteren mitzutheilen
tft, oder der Zuſammenziehungsfähigkeit der erfteren eine un-
mittelbare Kenntniß befitt, haben wir früher gefehen. Sie kann
nichts thun als gemiffe innere Zuftände in fich erzeugen, und
erwarten, daß an diefe der Zuſammenhang der Organifation die
Entftehung einer beftimmten Bewegung Inüpfen werde. Nicht fie
felbft ift die Werkführerin, fondern auf ihr unbelannte Weiſe voll-
zieht der Mechanismus des Lebens ihr Gebot. Aber dieſe Ge-
bote wenigftend müßte fle zu geben im Stande fein, fie müßte
in fih nicht nur einen Grund finden, eine beftimmte Bewegung
zu wollen, fondern auch jenen inneren Zuftand in fich erzeugen
fönnen, bon meldem die Entftehung derjelben abhängt. Wäre
nun die Seele in einen Körper eingeſchloſſen, der nie von felbft fich
bemegte, wie würde fie auf den Gedanken fommen, daß er beweg⸗
ih fei, daß Bewegungen nüßen, daß diefe Bewegung von dieſem,
jene von jenem inneren Zuftande ihres eignen Wejend erzeugt
werden könne? Offenbar ift e8 nicht allein nothwendig, daß der
Körper durch eigne Reize ſich von felbit bewege, damit die Seele
feine Beränderlichleit bemerfe und e8 Tennen lerne, welchen Ein-
drud überhaupt Bewegungen ihr verichaffen, fondern gleich nöthig
auch, daß der Äußere Reiz mit mechaniſcher Sicherheit von felbft
in dem Körper Diejenigen Bewegungen anvege, die unter den bor=
handenen Umftänden zur Bertheidigung des Lebens, zur Aus-
gleihung einer Störung, zur Beiriedigung eines Bedürfniſſes
zwedmäßig find. Unkundig an fi aller dieſer Verhältniſſe, würde
die Seele das Richtige nicht errathen, und felbft die Erfahrung.
würde ihr ein zweckmäßiges Verhalten, wenn nicht ein Keim we⸗
_ 314 __
nigften8 dazu ihr fertig gejchenft wäre, entweder niemals oder erſt
dann lehren, wenn eine lange Reihe von Mißgeſchick vielleicht das
Beftehen der Organifation überhaupt untergraben hätte. ‘Denn
gewiß würde e8 um die Erhaltung derfelben übel ftehen, wenn
der Scharffinn der Seele in jevem Augenblide die Mittel ent-
deden und anwenden jollte, drohenden Störungen zu entgehen;
fie wird nur gefihert fein, wenn in gewiſſer Ausdehnung wenig⸗
ftend auch ohne die Mitwirkung der Seele die zweckmäßige Hanb-
lung von dem Eindrude der Umftände felbft als nothmwendige
Folge ausgelöft wird.
Unfähig zur erften Erfindung wird die Seele dagegen wohl
fähig fein zur Vervollkommnung dieſes Mechanismus; indem fie
beobachtet, auf welchen Reiz welche Bewegung mit weldem gün-
figen Erfolge und mit welchem unmittelbaren Eindrud für fie
feröft folgt, wird fie in einem fpäteren Falle nicht mehr den
wirklichen Eingriff des Reizes abzuwarten brauden. Sein der
Erinnerung wieberfehrendes oder aus der Ferne wahrgenommenes
Bild, ſelbſt das Bild nicht defjelben, ſondern eines ähnlichen Reizes
wird in der Eeele die Borftellung jenes Eindrudes und damit
auch einen unwillkürlichen Trieb zur Wiebererzeugung jener Be:
wegung erweden. Wenn daher zunächſt die Seele nur als ohn⸗
mächtiger Beobachter den zwedmäßigen Wirkungen zuſah, buch
welche der organiſche Mechanismus die Sicherheit ihres Wohn-
fige8 vertheidigte, fo dankt fie ihm doc fpäter dafür, indem fie
ihre mannigfachen Fähigfeiten, Vergangenes in der Erinnerung
aufzubewahren, Zufünftiges aus früheren Analogien zu erwarten,
das gemeinfame Achnlihe aus oberflächlicher Verſchiedenheit her⸗
vorzuheben, unwillkürliche Wirkungen durch Rüdficht auf den er-
zielten Erfolg zu verbeffern, nun der Verfeinerung und Vervoll-
kommnung jener gewiß ſchon Fünftlichen, aber den Bedürfniſſen des
vollen Xebens noch nicht entſprechenden Verkettung zwiſchen Reizen
und Rüdwirkungen widmet. Die Langfamleit, mit welder das
menſchliche Kind allmählich zur Herrichaft über feine Glieder
kommt, in Verbindung mit der äußerft feinen individuellen Aus-
875
prägung dieſer Herrſchaft, die ihm doch im Fortſchritt der Bil-
dung möglich ift, zeigt und, wie bedeutend bier der mithelfende
und veredelnde Einfluß der Seele eingreift: der äußerſt Furze
Zeitraum dagegen, den das neugeborene Thier meift bedarf, um
die Bewegungsarten feiner Gattung völlig zu erlernen, und die
oft komiſche Gleichförmigkeit, mit welcher die jungen Geſchöpfe
ohne individuelle Unterſchiede die Sonderbarleiten derjelben ent-
wideln, Dies lehrt uns, wie bier umgelehrt eine feftere, früh und
füher wirkende Verbindung zwiſchen den Eindrüden bes Gemein-
gefühles und den Bewegungen hergeftellt ift.
Beobachten wir die [pielenden zwedlofen Bewegungen junger
Thiere und der Kinder, jo muß uns auffallen, wie felten und
foft nie ohne befondere Krankheit fi unter ihnen einzelne, zu-
fammenbanglofe', unzweckmäßige Zudungen einfinden. Und doch
hätte man ſolche erwarten können bei der unzähligen Menge zu—
fälliger Eindrüde, welche die Muskeln und die motoriichen Nerven
in jedem Punkte ihres Verlaufe treffen können. Aber fie treten
nicht auf; vielmehr verrathen felbft die zögerndften und ungeſchick—
teften Bewegungen, welche wir wirklich beobachten, dod immer
ſchon Die gleichzeitige und zwedmäßige Wirkſamkeit zufanmenge-
höriger Musfelgruppen. Wir können es al8 eine Thatfache ber
Beobachtung ausſprechen, daß in dem jungen Organismus fchon
den zufälligen Reizen, worin fie auch beftehen mögen, bie verein-
zelte und zufammenhanglofe Anregung einzelner Bewegungsbrud-
ftüde ſchwer, die Herborrufung zufammtenftimmender Bewegungs⸗
gruppen leicht gemadt if. Das erſte vielleicht, aber nicht das
zweite ift denfbar ohne ein Centralorgan, in welchem die einzel-
nen motoriſchen Nervenfäden fo zufanmengelagert und verflochten
find, daß ein einziger Reiz, welcher einen beftimmten Punkt deſ⸗
felben trifft, auf einmal eine Mehrheit von Faſern zu überein-
ftimmender Bewegung erregt. Theils das Gehirn, theild ſchon
das Rückenmark hat ohne Zweifel unter andern Aufgaben aud
die eines ſolchen Centralorganes, und obgleich wir ben beftimm-
teren Bau deflelben blos aus den Bebirfniffen des Lebens nicht
376
vorauszufagen unternehmen möchten, Können wir doch einen Zug
defjelben mit hinveichender Wahrjcheinlichfeit vermuthen, nämlich
die beftändige Mitverflehtung zuleitender jenfibler Fafern in das
Gewebe der motoriichen.
Die erfte Aufgabe eines motorifchen Centralorganes wiirde
darin beftehen, überhaupt Die Bewegungen des Körpers, die der
Eigenthümlichfeit feiner Gattung gemäß in dem Baue der Glieder
möglich gemacht find, zu wirklicher Ausführung zu bringen. Es
würde bierzu hinreichen, daß innere Reize, wäre es felbft nur ber
des Blutlaufs, die Elemente des Gentralorganes abwechſelnd oder
dauernd zur Thätigleit erregten, und wir würden Dann mit me-
hanifher Sicherheit und Regelmäßigkeit jene Elemente aller Be-
wegung, das Schreiten Schwimmen liegen und ähnliche, erfol-
gen feben. Allein alle dieſe Bewegungsfähigfeiten find dem Thiere
doch zum Gebraude in einer widerftehenden Welt gegeben und
es muß eine Möglichkeit vorhanden fein, aud ihre eingelnften
Abſchnitte ſchon in Webereinftimmung mit den veränderlichen
äußeren Umftänden -abzuändern, unter denen fie ausgelibt werden
follen. Iſt e8 nun ausfchlieglich das Gefhäft eigenthihnlicher fen-
fibler Faſern, von dem veränderlihen Zuſtande der einzelnen
Theile Eindrüde aufzunehmen und zu leiten, fo werben wir aud
in jenem Gentralorgane eine mannigfache Begegnung fenfibler
Faden mit motorifhen erwarten müfjen. Jedes beginnende Un-
gleihgemicht des Körpers wird dann durch den neuen Eindrud,
den e8 durch die erfteren auf die leßteren überträgt, eine paffende
Rückwirkung zur Herftellung des Gleichgewichtes, jedes Hinderniß
den Anfang wenigftens zu einer zwedmäßigen Umgehung hervor⸗
rufen. Denſelben Zufammenbang werden wir ferner da benutzt
finden, wo ein von außen kommender ungewöhnlicher Reiz eine
beftimmte Bewegung theil® zur Abwehr, theil® zur Benutzung
feines Eindrudes verlangt. Auch hier werben wir es fir Die
Sicherung des Lebens als die nüglichfte Einrichtung vorausfegen
önnen, daß, ohne die liberlegende Anordnung der Seele abzu-
warten, der Reiz unmittelbar mit mechanischer Nothwendigkeit die
877
zwedmäßige Rüdwirkung auslöſt. Zahlreiche Bewegungen dieſer
Art beobachten wir theils an unferem eignen Körper, wie bie
convulfivifchen Explofionen des Huſtens des Niefens des Er-
brechens, durch welche ohne unfere Kenntniß des Herganges die
Entfernung jchäblicher Reize bewirkt wird, theils hat man fie an
dem Rumpfe gelöpfter Thiere, alfo unter Umftänden mahrgenom-
men, unter denen die natürlichſte VBorausfegung gegen die Mit-
betheiligung der Seele ſpricht.
So lange num diefe Bewegungen im Uebrigen das Gepräge
mechaniſcher Wirkungen nicht verleugnen, fo lange fie alſo nicht
ohne äußere oder nachweisbare innere phyſiſche Anregungen ent-
ftehen und ohne Rüdficht auf Diejenigen äußeren Umſtände, welche
fih nicht Durch phyſiſche Eindrüde gelten machen können, auf
gleihe Reize immer in gleicher Weife erfolgen: jo lange würde
alle zwedmäßige Mannigfaltigfeit ihrer Zufammenfegung in der
That feinen Grund enthalten, auf eine verborgene Mitwirkung
der Seele zu fchließen. Aber manches Andere kann diefen Schluß
zu empfehlen fdheinen, ohne ihn doc wirklich zu berechtigen. Es
ift nicht unwahrſcheinlich, ſondern hat im Gegentheil die Wahr-
ſcheinlichkeit für fih, daß für Die Form, welche die erregte Be-
wegung annehmen wird, nicht blos der Ort fondern aud bie
Art des hervorrufenden Reizes mitbedingend ifl. Hierauf ift
wenig bisher geachtet worden; man hat ſich begnügt, die That-
ſache zu beobachten, daß zum Beiſpiel in einem enthaupteten
Froſche Die Reizung einer beſtimmten Hauptftelle eine Bewegung
des Beines nad; diefer Stelle bin zur Folge babe, und daraus
bat ſich die BVorftellung entwidelt, daß der fenfible Nerv eines
beftimmten Hauptpunktes feine Erregungen, welcher Art fie fein
mögen, immer in gleicher Weife auf motorifche Nerven übertrage,
mithin eine ftet8 gleiche Bewegung zur Folge habe. Gegen
wir Dagegen voraus, was möglich ift, daß dieſe Mebertragung
anders, theil8 in anderem Maße, theils auf andere motorifche
Faſern geſchehe, wenn die mitzutheilende Erregung eine andere ift,
fo würde bereitö hierdurch in dieſe Reflerbemegungen, wie man
378
fie zu nennen pflegt, der Schein einer zwedmäßig wählenden Will-
für Tommen, obne daß doch in ber That eine Mitwirkung ber
Seele in ihnen vorhanden wäre.
In fo weit würde nun die Harmonie der Bewegungen auf
der Zweckmäßigkeit der beftändigen Bildung des Centralorganes
beruhen. Aber die befannten Erſcheinungen der Uebung und Ges
wöhnung, die Erfahrungen, daß Bewegungen und zur zweiten
Natur werben können, deren erfte Ausführung uns große Schwie-
vigfeiten darbot, überzeugen uns, daß die erfte Bildung der Or-
gane im Laufe des Lebens zu noch größerer Trefflichfeit entwidelt
werden kann. Denn die Wahrnehmung, wie häufig ſich einzelne
Züge erworbener Anmuth und Feinheit der Eörperlihen Haltung
und Bewegung forterben, läßt uns darauf fchließen, daß die An=
übung nicht erfolge, ohne in den leiblihen Organen eigenthim-
liche phyſiſche Veränderungen hervorzubringen und zurüdzulafien.
Manche zweckmäßige Rücdwirkung, die an und für fi) nicht durch
die beftändigen Grundzüge der Organifation an einen beftimmten
äußeren Reiz gebunden war, kann dieſe anerzogene Dispofition
des Nervenſyſtems ‚nun doch auf ihn folgen laſſen; dann ent-
widelt das Organ eine Intelligenz des Wirkens, die nicht fein
urſprüngliches Eigenthbum und auch nicht die unmittelbare That
einer noch in ihm lebenden Seele, fondern nur der Gewinn an
phyſiſcher Gewohnheit ift, welden es feinem früheren Verlehr
mit der Seele verdankt. ‘Denn lernen allerdings konnte es dieſe
Formen des Rückwirkens nicht aus fich jelbit, fondern nur dadurch,
daß an den Reiz, den e8 empfing, Die dazwiſchentretende Ueber⸗
legung der Seele die Rückwirkung knüpfte; aber mas die körper⸗
liche Organijation nicht erfinden Tonnte, das Tann fie doch feft-
halten, nachdem eine wiederkehrende Uebung für fie den Zufam-
menhang zwijchen dem gejchehenen Eindrud und der folgenden
Beränderung durch zurüdgelafiene materielle Spuren zu einer
phyſiſchen Nothwendigfeit ausgeprägt bat. Sehen wir daher den
Rumpf geföpfter Thiere auf einen Äußeren Reiz zuweilen durch
eine Form ber Bewegung antworten, welche aus dem phufiichen
379
Eindrude, den der Reiz in diefem Augenblide dem Nervenſyſtem
wirklich mittheilt, nicht binlänglich erklärbar fcheint, fo ift es
dennoch nicht nöthig, in dem Rumpfſtück einen mitabgetrennten
Seelentheil anzunehmen, deſſen Heberlegung zu dem wahrgenom-
menen Reize die nöthigen Vermittlungsgliever bis zur hinläng-
lihen Begründung der zwedmäßigen Bewegung ergänzte.
Welches auch immer die Thatſachen der Beobachtung fein
möchten, wir könnten uns zu ihrer Erklärung nicht dieſe Ber-
muthung erlauben, deren innere Unmöglichleit uns deutlich ift.
Bon einer theilbaren Seele mag man mit einem Scheine der
Verſtändlichkeit noch fprechen, wenn man nur an Die noch unent-
widelte Anlage zum geiftigen Leben denkt, die wie ein homogenes
Ganze fih durch den Körper auszudehnen fchiene; fol aber das
im Leben bereit8 ausgebildete Bewußtjein mit feinen Erinnerun-
gen, Erfahrungen und den durch dieſe gewonnenen Fertigkeiten
und Kenntniffen der Gegenftand der Theilung fein, fo würden
wir kaum mit dieſer Forderung und auch nur fo weit Far wer-
den, daß wir uns vorftellen könnten, was wir eigentlich verlangen.
Und doch würde nur eine Theilbarkeit der letztern Art dieſe
Erjheinungen erflären; denn die Fähigleit, den Umftänden ge-
mäß zu handeln, würde dem Topflofen Rumpfe durch eine noch
aller Erfahrung entbehrende Intelligenz nicht um das Geringfte
Yeichter verſchafft als durch einen rein phyſiſchen Mechanismus
der erften Bildung. Nur zwei Anftchten fcheinen jenen Beobad-
tungen gegenüber möglid. Entweder wir jehen die Zwedmäßig-
feit folder Bewegungen, wie fie der kopfloſe Rumpf Taltblütiger
Thiere häufig ausführt, zwar als Erzeugniffe der Intelligenz an,
aber nicht einer in ihm noch gegenwärtigen, -[ondern der Intelli⸗
genz jener einen Seele des Thieres, mit deren Site diefer Rumpf
früher zufammenhing, und deren Weberlegung in feinen Gentral-
organen Gewohnheiten zwedmäßigen Wirkens begründete, welche
fortdauern, auch nachdem der Zuſammenhang zwiſchen ihm und
ber Seele aufgehoben ifl. Oder wenn wir, mit Unrecht wie mir
ſcheint, dem Eindrude voller Xebendigfeit nadhgebend, den jene
{|
380
Bewegungen allerdingd erweden, fie nicht mehr von einem Echo,
fondern nur von unmittelbarer Gegenwart: einer Intelligenz ab-
leiten zu dürfen glauben: fo fteht nicht8 im Wege, in dem Rüden-
mark eine Mehrheit individueller Wejen von feelifher Natur an⸗
zunehmen, deren jedes feine Intelligenz für fih haben möchte.
Während des Lebens würde die eine Seele, meldhe wir Die bes
Thiered nennen, durch ihre bevorzugte Stellung oder die größere
Kraft ihrer Natur alle diefe Theilfeelen beherrſchen und alle
würden durch die Verbindung, in der fie unter einander fiehen,
an den Erlebniffen des ganzen Thieres Theil nehmen und von
feinen Erfahrungen Nuten ziehen. Fällt am entbaupteten Thiere
der Einfluß feiner Hauptjeele weg, fo werden Die Seelen der Theile
noch immer fi) den Reizen gemäß äußern können, die ihre Kör⸗
pergebiete treffen, und die früheren Erfahrungen, die freilich jede
von ihnen nur im Zufammenbange mit dem Kopf und feinen
Sinnesorganen machen konnte, die fie aber einmal gemadt in
der Erinnerung fefthält, werben ſie noch jett befähigen, ſich in
ihren Handlungen den äußeren Umftänden mit Zregnßigtei zu
accommodiren.
Mit der Annahme dieſes Centralorganes für die Regelung
der Bewegungen glauben wir die Reihe der Hilfen erſchöpft zu
haben, welche wir unmittelbar von dem Baue des Körpers für
die Leiſtungen der Seele verlangen müſſen. Sie ſind alle darauf
gerichtet, einestheils die Verknüpfung äußerer Eindrücke zu einer
räumlichen Ordnung der Anſchauung, anderſeits die Ausgeſtaltung
innerer Zuſtände in einen zweckmäßigen Zuſammenhang räum⸗
licher Bewegungen möglich zu machen; alle jene umfaſſende
Arbeit dagegen, durch welche die Intelligenz den Inhalt der ſinn⸗
lichen Eindrücke zur Einheit einer vernünftigen Weltauffaffung
gliebert, haben wir der körperloſen Thätigleit der Seele allein
überlaffen müflen. Biel einfacher fcheinen daher die Aufgaben,
881
die wir dem Gehirn ftellen, als die mannigfachen Leiftungen,
welche bie Phrenologie von ihm erwartet, indem fie fir viele ber
verwideltften Aeußerungen des Geiftes eigenthümliche Organe
ſucht und zu finden glaubt. Wie unſicher auch dieſe Beſtrebungen
fein mögen, der unbefangene Eindruck der Beobachtung läßt fie
doch nicht als ganz grundloß ericheinen, und nicht jeder Einwurf,
welder ihnen gemacht wird, trifft fie mit Recht. Gewiß ift bie
Annahme nicht nothwendig, daß alle an ſich gleihartigen Seelen
ihren individuellen Charakter erſt durch die befondere Ausbildung
ihrer leiblichen Organe erhalten, Nichts hindert vielmehr die
Ueberzeugung, daß durch eine urfprünglidhe Eigenthümlichkeit jede
einzelne von Anfang an zu einer ihr allein angehörigen Entwid-
lung der allgemeinen Yähigfeiten beftimmt fei, welche fie als bie
gemeinfamen Grundlagen alle geiftigen Lebens mit allen übrigen
theilt. Wenn wir dagegen Anjtoß daran nehmen, auch nur einen
andern Theil der Vorbeſtimmung zu dem eigenthiimlidden Cha-
talter der Perfönlichleit in dem körperlichen Baue zuzugeftehen,
fo vergeffen wir, daß alle ſolche Bemühung, das geiftige Leben
von leiblicher Bedingtheit fern zu halten, doch an andern nicht
zu leugnenden Thatfachen ohnehin fcheitert. Weder unfer Ge=
ſchlecht, noch unfere Nation, nicht die Zeit unferer Geburt noch
die gejellichaftliche Stellung unferes Lebens, nicht unfere Armuth
oder die Vortheile des Reichthums haben wir uns felber gewählt
oder gegeben; fo lange wir an ſolchen Berhältniffen fo oft Die
Hoffnungen geiftiger Entwidlung zu Grunde geben jehen, haben
wir wenig Veranlaffung, die Abhängigfeit des Geiftes von feinem
Körper mit befonderer Heftigfeit zu beftreiten. So gewiß der Ma-
terialismus für eine höhere und zufriedenftellende Weltanficht Feine
Ausfiht gibt, jo wenig räumt doch Die Behauptung einer jelbft-
ftändigen Seele die dunklen Räthſel fogleich hinweg, welche ber
Weltlauf und die Schickſale des Lebens uns oft fo ernft und
brüdend entgegenhalten.
Aber die Annahme befonderer, an verſchiedene Gegenden Des
Gehirns vertheilter Organe für einzelne höhere Geiſtesvermögen
382
hat doch wenig Wahrjcheinlichfeit. Theils würden wir uns von
der Art ihres Nutzens keine Borftellung machen Tönnen, theils die
gegenfeitige Wechſelwirkung, die zwilchen allen Thätigfeiten der
Seele beftändig ftattfindet, durch fie nicht begünſtigt finden; endlich
wenn wir auf Erflärung verzichteten, würde felbft die bloße Samm-
Yung thatjächlicher Beweife für den Zufammenhang einer gewiſſen
Gebirnbildung mit beftimmten geiftigen Verrichtungen beſondere
Schwierigleiten darbieten. Sie würde in dem Unterfuchenden jene
vollftändige und durchdringende Menſchenkenntniß vorausfeten, für
welche nicht nur jede verborgene Neigung eines individuellen Cha-
rakters völlig Durchfichtig wäre, fondern ebenfo Har auch das noch
weit verborgenere Gewebe der Gründe, aus weldem fie als ein
nun fertiges Ergebniß hervorging. Denn ohne Zweifel wird auf
die Geftalt, welche der abgefchloffene Charakter eines Menſchen
dem Beobachter darbietet, nicht die angeborne Anlage allein, fon-
dern auch die Reibenfolge und Eigenthümlichleit der äußeren Um-
gebungen, in denen er ſich bildete, einen mitbeftimmenven Einfluß
ausgeübt haben. Kaum der Erwähnung aber bedarf e8, wie
ſchwer die Rüdvertheilung der gefundenen Züge auf Diefe ver-
ſchiedenartigen Urſachen fein muß, und wie nahe die Gefahr Liegt,
Erzeugniffe der Erziehung, des Lebensganges und der Krankheit
al8 unmittelbare Folgen einer körperlichen Organbilbung zu
deuten. Höchſtens bei jenen Talenten, deren Vorhandenſein Teicht
nachweisbar ift, die durch Vererbung häufig fi fortpflanzen und
durch Hebung kaum in merklidem Grade erfeßt werden Fönnen,
wo fie fehlen, dürfte e8 einer vorurtheilslofen Beobachtung Leichter
gelingen, ihre Beziehung irgend welcher Art zu beftimmten Ausbil-
dungsformen bes Gehirns und feiner knöchernen Hülle feftzuftellen.
So laſſen fi fir Ortfinn und Farbenfinn, fir mufilelifche An-
Tage, vielleicht fire mathematifche Befähigung überhaupt und für bie
erfinderifche Geſchicklichkeit der Hand Körperliche Grundlagen finden,
während für die feineren Eigentblimlichleiten der geiftigen Indi⸗
pidualität wir biefe Erwartung nur wenig hegen.
Und dennoch mögen auch fie in hohem Maße von dem Ein:
383
fluß des körperlichen Lebens abhängen, obwohl in einer anderen
Weiſe, als daß jeder einzelnen derfelben ein beſonderes Organ
zugeordnet wäre. Die ungeheuren Berfchiedenheiten in der Höhe
und Eigenthümlichkeit der geiftigen Ausbildung, wie fie das menfch-
liche Geſchlecht mehr als irgend eine Gattung der Thiere dar-
bietet, fcheinen am meiften aus den Unterſchieden eines allgemei-
neren pſychiſchen Naturells berborzugehen, das in naher Bezieh-
ung zu dem fteht, was wir mit dem Namen des Temperamentes
zu bezeichnen pflegen. Geiftige Fähigkeiten haben in allen Indi—
viduen einen unfcheinbaren Keim, und wie raſch auch in einzelnen
ihre Kraft berbortritt, fo entwideln fie fich doch überall durch bie
Aufbewahrung und Summirung ihrer einzelnen Leiftungen, deren
jede zum Mittel fir die Ausführung einer fpäteren größeren wird.
Richt nur von der Schärfe des urſprünglichen Eindrudes der
Wahrnehmungen, fondern hauptſächlich von der Lebhaftigleit des
Gefühlsantheils, welcher fih an fie nüpft, von der Regſamkeit
des organifchen Lebens und der Beweglichfeit des mit feinen Ver-
änderungen wechſelnden Gemeingefühles, von der Mannigfaltigfeit
der Stimmungen und dem Keihthum der inneren Erregungen,
bon denen einzelne Borftellungsreihen angeregt, andere abgebrochen,
der Uebergang von der- einen zur anderen mit größerer oder ge-
ringerer Geſchwindigkeit bewirkt wird: von allen diefen Einflüffen
hängt ohne Zweifel nicht nur Die Schnelligkeit oder das Zögern
der geiftigen Entwidlung überhaupt, fondern auch manche bleibende
Eigenthümlichfeit der Richtung ab, welche ihr Verlauf annimmt.
Zum großen Theil werden diefe Einwirkungen des Körpers nicht
durch befondere Organe, fondern durch feinen ganzen Bau über:
haupt vermittelt; die verichievene Kräftigfeit der Conftitution wird
dem Dichten und Trachten des Gemüthes auch im Ganzen einen
eigenthinmlich gefärbten Hintergrund geben, und der cdhemifchen
Miſchung des Blutes, von defien Reizkraft die Thätigkeit der
Nerven erregt wird, würden wir, hierin auch durch Erfahrungen
in Krankheiten unterftügt, einen beträchtlichen Einfluß auf Höhe
und Richtung der geiftigen Regſamkeit einräumen müfjen.
384
Doch mag zu einem andern Theile die Bildung der Central-
organe auch hierauf Bezug haben. Hauptjächlic die Hemifphären
des großen Gehirns ſehen wir in der auffteigenden Thierreihe
mit der größeren geiftigen Entwidlung der Gattungen an Maffe
gewinnen, und zahlreiche Erfahrungen laſſen kaum zweifelhaft,
daß in dem Menſchen, in weldem ihre Ausbildung die umfang-
veichite ift, Die Größe des geiftigen Lebens von ihrem mehr ober
minder vollkommenen Baue abhängt. Aber diefe Gehirntheile
baben nicht das Ausjehen einer Reihe von einzelnen in fi ab-
gefchloffenen Organen; aus einer großen Menge von Fafern mit
zwiichengejchalteten Ganglienzellen zuſammengeſetzt, befigen fie eine
weit gleichförmigere umd monotonere Structur, als die zu ſehr
eigenthümlichen Formen ausgeprägten inneren und unteren Theile
des Gehirns, über und um welche fie ſich als eine dicke durch
vielfache Furchungen gezeichnete Hüllenfhicht wölben. Es ift feine
erweisliche Thatfache, aber es gilt uns für eine glaubhafte Ver—
mutbung, daß dieſe beftimmter geftalteten Gegenden des Gehirns
Die Organe bes geiftigen Lebens einjchliegen, deren nothwendige
Annahme wir früher begründeten, und denen eine unveränderliche
befondere Form des Wirkens eigenthümlich ift; daß dagegen die
äußere Maſſe der Hemiſphären einen Apparat von allgemeinerem
Nuten bilde, dazu beftimmt, theild die Wiedererzeugung ber
nervöſen Kraft zu vermitteln, welde in jenen Organen thätig
ift, theils die Reizbarkeit derfelben zur regeln, theils endlich, wie
wir bei der Betrachtung der Gefühle andeuteten, eine Art ber
Refonanz zu gewähren, durch welche dem wahrgenommenen In=
halt eine gewiſſe Größe de8 Gefühlsantheiles, dem fich bilben-
den Willensanftoß eine beitimmte Stärke bewegender Kraft mit-
getheilt würde. Nur in diefem Sinne einer mittelbaren und
doch jehr mächtigen Einwirkung auf das geiftige Leben möchten
wir diefen Theilen des Gehirns den Namen eines Drganes der
Intelligenz des Gemüthes oder des Willens zugefteben.
So haben wir die verfchtevenen Formen gefchilvert, in denen
ber Körper ſich als beförderndes und helfendes Mittel der geiftigen
385
gen Ausbildung bewährt. Nur dieſe eine Seite der Sache pflegt
die naturwiſſenſchaftliche Unterſuchung hervorzuheben; veligiöfe
Ueberlegungen allein führen gewöhnlich auf die andere: ſie erzeu⸗
gen in uns die Neigung, den Körper auch in gewiſſem Umfange
als eine Schranke zu betrachten, welche die freie Entfaltung der
Seele hindere. Nichts ſteht der Möglichkeit dieſer neuen Anſicht
entgegen; ſo wie wir ungewöhnliche Schwankungen des leiblichen
Lebens in Krankheiten die Thätigkeit des Geiſtes hemmen ſehen,
jo kann auch die beftändige gefunde Berbindung zwifchen beiden
eine zurüdhaltende Wirkung auf die Entwidlung des Innern aus-
üben. Die Erfahrung zeigt uns jedoch nur ärmliche Thatfachen,
die hierauf hindeuteten, und nirgend ſehen wir in Zörperlichen
Krankheiten, durch welche jenes Band zwiſchen den beiden Natu⸗
ven in und etwa gelodert würde, einen unerwarteten und neuen
Aufſchwung des Seelenlebens eintreten. Die Berufung auf die
Wunder des Sommambulismus und des Hellfehend wird dieſe
Behauptung nicht entlräften. Nachdem num fo oft ſchon diefe Er-
iheinungen die Aufmerkſamkeit erweckt und getäufcht haben, nad}:
dem fo viel hellgefehen worden ift ohne den minbeften bleibenben
Gewinn für den Fortſchritt der Menſchheit: nad diefen Erfah⸗
rungen follte man vermuthen, daß auch Die Theilnahme für dieſe
Dinge nun hellfehend geworben fei und in ihnen das erkannt
habe, was fie find: eigenthümliche Steigerumgen krankhafter Bor-
gänge, denen verwandte von geringerer Heftigfeit Die alltägliche
Erfahrung darbietet. Schon der gewöhnliche Rauſch zeigt und
jene einfeitige Belebung bes Bewußtſeins, dem die klare und zu=
fammenfafjende Weberficht feines Inhaltes und der äußeren Um-
gebungen abhanden kommt, während allerhand Triebe zu patheti-
ſchem rhythmiſchem Gebahren, die Luft und mit ihr die Yertigfeit
zu manderlei Wagniffen bervortreten, was Alles in dem Nücd-
ternen theils die geringere Lebhaftigfeit feiner Nervenwirkungen
und die niedrigere Stimmung feine Gemeingefühles theils die
ſchüchterne Rückſicht auf Schielichleit und Herkommen zurüdhielt.
Und ebenfo mag im Schlafe eine befonders er Borftellungs-
Zope 1. 4, Aufl.
4
386
reihe, die ſich wach erhält, während die unzähligen zerftreuenden
Eindrüde der Außenwelt hinwegfallen, zuweilen leichter ihren
Schluß finden und der Schlafmandelnde in feinem halbaufermed-
ten Bemwußtfein die Löſung einer Aufgabe vollbringen, die dem
Wachenden mißlang. Aber wir vergeflen dabei nicht, daß es
doch eigentlich die Kräfte die Kenntniffe kurz der ganze Erwerb
bes wachen Lebens war, was auch den Schlafenden zu diefer Lei-
ftung befähigte. Mit den finfenden Bemwußtfein der Gefahr wächſt
die Kühnheit des Wagenden, mit dem Wegfall der Rüdficht auf
die Umgebung die Dreiftigfeit des Verfuchenden, mit der Abhal⸗
tung aller Störung. die innere Sammlung und der Zufammen-
Hang der Kräfte, ohne daß im Grunde Neues und Ungeahntes
an die Stelle des fonjt Gewöhnlichen tritt. So ift dies menſch-
liche Leben, welches wir beobachten, ausnahmslos an die Wechfel-
wirkung mit dem Körper gefnüpft, die größere Schönheit der Ent-
widlung aber, zu welder die Seele, befreit von biefem Bande,
fih erheben mag, werden wir nicht woreilig vor feiner Serrei-
Bung errathen.
Biertes Kapitel.
Das Leben der Materie.
Die beftändige Täuſchung ber Sinnlichkeit. — Unmöglichkeit be Abbildes der Dinge in
unferer Wahrnehmung. — Eigner und höherer Werth ber Sinnlichkeit. — Die innere
Regſamkeit der Dinge. — Die Materie Erfeheinung eines Ueberfinnlichen. — Ueber
bie Möglichkeit ausgebehnter Weſen. — Die allgemeine Befeelung ber Welt. — Der
Gegenſatz zwifchen Körper und Seele nicht zurüdigenommen. — Berechtigung ber
Vielheit gegen bie Einheit,
Wie viele Einwürfe mögen im Stillen jeden Schritt unferer
bisherigen Darftellung begleitet haben! nicht folche allein, die von
den einzelnen Schwierigfeiten der mannigfadhen bon uns durch⸗
eilten Fragen Beranlafjung zu Gegenreden nahmen, denen nicht
wir, fondern nur die ausgedehnteren Unterfuchungen ber Wiffen-
387
ſchaft Antwort geben Könnten; vielmehr eine zufammenhängende
Empörung des Gemüthes müfjen wir erwarten über die Kälte
einer Anficht, welche alle Schönheit und Lebendigkeit der Geftal-
ten in einen ftarren phyſiſch-pfychiſchen Mechanismus verwandele.
Gegen die jchöpferifche, aus fich ſelbſt quellende Entwidlung des
körperlichen Lebens, gegen die Durchgeiftigung des Leibes, gegen
die Wahrheit der Empfindung und die Willkürlichkeit der Be-
wegung haben wir mande Angriffe richten müffen, und in ber
That haben wir damit faft alle jene Züge in Frage geftellt, in
denen das unbefangene Gefühl den Kern aller Poeſie des leben:
digen Dafeins zu befigen glaubt. Befremdlich Tann und daher
die Standhaftigkeit nicht fein, mit welcher die MWeltanficht des
Gemüthes als eine höhere Auffafjung der Dinge auch den über:
zeugendften Daritellungen von unferer Eeite wiberftehen wird; um
jo nöthiger ift deshalb der Berfuch, die Harmlofigkeit unferer An⸗
fit zu zeigen, die, wo fie und zwingt, Meinungen aufzuopfern,
mit denen wir einen Theil unſeres Selbft aufzugeben glauben,
Doch durch das, was fie uns dafür zurückgibt, die verlorene Be-
friedigung wieder möglich macht.
Die Empfindung gilt dem unbefangenen Bewußtſein überall
als die Wahrnehmung einer vollen außer ihm vorhandenen Wirk:
lichkeit. Bon ihrem eignen Glanze beleuchtet Liegt die Welt um
uns, und Töne und Düfte durchkreuzen außer und den unermeß=.
lihen Raum, der in den eignen Farben der Dinge fpielt. Ge—
gen biefe ftet8 vorhandene Fülle ſchließen unfere Sinne bald fid
ab und beichränfen uns auf den Verlauf unferes inneren Lebens,
bald öffnen fie fih wie Pforten dem anfommenden Reize, um
ihn fo, wie er ift, in der ganzen Anmuth oder Häßlichkeit feines
Weſens in ſich aufzunehmen. Kein Zweifel trübt die Zuverſicht⸗
lichkeit dieſes Glaubens, und felbft die Täufchungen der Sinne,
verſchwindend gegen die Ueberzabl in fi zufammenftimmenber
Erfahrungen, erichüttern die Gewißheit nicht, daß wir hier über-
al in eine vorhandene Welt bineinbliden, die fo, wie fie und er-
ſcheint, auch dann zu fein nicht aufhört, wenn unjere wanbel-
25 *
388
bare Aufmerkſamkeit fih von ihr abmwendet. Der Glanz ber
Sterne, den der Wachende fah, wird, jo bofft er, auch über dem
Schlafenden fortglänzen; Töne und Düfte, ungenofjen zwar und
ungebört, werden duften und Flingen, nad wie vor; nichts von
der finnlichen Welt wird untergegangen fein außer der zufälligen
Wahrnehmung, die vorher von ihr dem Bewußtfein zu Theil
wurde. Und dieſes volllommene Zutrauen zu dem wahrhaften
Dafein ihrer Anſchauungen befigt die Sinnlichkeit nicht nur harm⸗
los, fondern ein tiefes Bedürfniß bewegt fie zugleich zur lebhaf⸗
ten Abwehr jedes Angriffes, der die volle Wirklichkeit ihrer Er⸗
iheinungen bedrohen möchte. Es ſoll die eigne Lieblichkeit des
Gegenſtandes bleiben, die uns in der Süße des Gefchmades und
des Duftes berührt, die eigne Seele der Dinge, die im Klange
zu ung ſpricht; der Glanz der Farbe verbliche für uns in feinem
Werthe, wenn wir feinen Schimmer nicht als die Offenbarung
eines andern Weſens bewundern dürften, das, uns fremd, nun
doch To durchſichtig für und wird, daß wir mitgenteßend in feine
Natur und verfenfen und mit ihr verichmelzen Können. Der befte
Theil der Bedeutſamkeit des Sinnlichen wiirde hinweg fallen, wenn
diefe helle Wirklichkeit des Empfundenen und genommen würde;
diefelbe Sehnfucht, Die auf höheren Stufen des geiftigen Lebens
nah Ergänzung duch ein Anderes ftrebt, ſucht fchon bier in ber
Sinnlichkeit diefen träumerifhen Genuß einer völligen Durchdrin⸗
gung mit fremden Wefen feitzuhalten. Und nicht nur haften fol
in irgend einer Weife das Sinnliche an den Dingen felbit; derſelbe
Zug jener Sehnfucht verlodt und vielmehr, die ſinnlichen Eigen-
Ihaften als Thaten deſſen zu betrachten, an dem wir fie finden.
Die Dinge find nicht allein farbig, jondern es ift ihr lebendiges
thätiges Scheinen, das in den Farben uns anblidt; ihr Geſchmack,
ihr Duft find an uns andrängende Handlungen, in denen ihr
innerfted Weſen fi) dem unjeren nähert und und das aufichließt,
was innerhalb der äußerlihen Raumgrenzen, die ihre Geftalten
füllen, das eigentliche Reale ihres Dafeins bildet.
Nicht überall freilich im täglichen Leben ift ung diefer Ernſt
389
der Empfindung gleich gegenwärtig; andere Zwecke mit der Man⸗
nigfaltigfeit der Meberlegungen, welche fie mit ſich führen, laſſen
uns ohne Andacht über manche finnlihe Anihauung hinweggehen;
was im Einzelnen uns bewegen würde, verſchwimmt für unferen
zerftreuten Blick zu gleichgiltigem oder widerwärtigem Gefammt-
eindrude; wir glauben chaotiſche unreine Maffen zu fehen, wo das
bewaffnete Auge oft noch regelmäßige Kruftallifation und Spuren
einer zierlihen Bildungsfraft entdedt. So werben die Farben uns
gleichgiltig an den künſtlichen Formen unferer Geräthe; wenden
wir aber unfern Blick auf die Feinften Theilchen des natürlichen
Stoffes, den unfere Technik für die Beblirfniffe des Lebens in
eine ihm gleichgiltige Geftalt gezwungen bat: wie tritt fogleich
wieder die Macht des finnlihen Zaubers hervor in der fatten
Tiefe und der leuchtenden Pracht der Farbe, in jenem wunder⸗
famen Spiel gebrochener Lichter, die irifirend um die feinften
Ritzungen und Streifen der Oberflächen ſchweben! Dann fehen wir
im Meinen bafjelbe ſchöne Geheimniß aufblühen, das in ben ge-
ftaltlojen duftigen Faͤrbungen des Himmels und an den ſelbſt ge-
beimnißvollen Geftalten der Blumen immer unfere Sinne ahnungs-
vol erregte. Die manderlei Klänge, welche die Welt beleben,
fegen fih wohl vor dem beichäftigten und unaufmerkfamen Ohr
zu einem gleichgiltigen Geräufche zufammen; aber das nachdenk⸗
liche Lauſchen, das fie fondert, erkennt in den einzelnen Stimmen
der Natur wieder jene Kundgebungen, durch die ein räthſelhaftes
Innere der Dinge unüberjegber in jede andere Sprache und
doch mit unmittelbarer Deutlichkeit zu uns ſpricht. Nur die zu-
fälligen Verbindungen, in welche die Elemente des Sinnlichen für
mande Gewohnheit unjerer Auffaffung gerathen, die willkürlichen
Formen, in die wir die Dinge zum ‘Dienfte unferes Lebens zu-
fammenjegen, lafjen die uriprünglicde Bedeutſamkeit der finnlichen
Anſchauungen für uns zeitweis verfchwinden; aber fie wird über—
al von neuem empfunden, wo wir dem Eindrude des Einfachen
und bingeben oder ihn auffuhen, oder wo wir in vollendeter
Kunft das verbinden, was durch die Wahlverwandtſchaft feiner
390
Natur verbunden zu werben verlangt. Dann erfennen wir den
Anfpruch wieder an, den unfere Sinnlichkeit macht, uns den Ein-
blid in das innerfte Lebendige Wejen einer fremden wahrhaften
Wirklichkeit zu gewähren, die in ihrer Fremdheit bald verwandt
bald feindjelig und gegenüberfteht.
Und allen diefen Glauben ftrebt uns nun in der That die
mechaniſche Naturanficht zu rauben, oder fie ſcheint es doch zu
wollen. Sie lehrt uns, daß jede Empfindung nur das eigne
Erzeugniß unferer Seele fei, angeregt zwar von äußeren Ein-
drücken, aber weder diefen noch den Dingen ähnlich, von denen
fie ausgingen. Weder finfter noch hell, weder laut nod fill,
vielmehr völlig beziehungslos zu Licht und Klang Tiege die Welt
um ung ber, ohne Duft und Geihmad die Dinge; felbft was
auf das Unmiderleglicfte die Wirklichleit des Aeußeren zu be-
zeugen ſchien, Härte Weichheit Widerftand der Dinge find zu
Formen der Empfindung geworden, in denen nur eigue Zuftände
unferes Innern zum Bewußtfein fommen. Nichts erfüllt in Wirk⸗
lichleit den Raum, als eine unbeftunmbare Unzählbarfeit von
Atomen, in den mannigfaltigften Formen der Bewegung gegen
einander jchwingend. Und weder diefe Atome noch jene Bewe—
gungen find fo, wie fie find, Gegenftände unferer Beobachtung ;
beide find bie nothwendigen Borausfegungen, auf welde nur bie
Berechnung der Erſcheinungen, diefe aber nothwendig, zurück⸗
führt, Jene einfachen Elemente ſelbſt Können wir nicht ſchildern,
da fie allen finnlichen Eigenfchaften, dem einzigen anſchaulichen
Material unferer Schilderungen, fremd find; ihre Bewegungen
können wir wohl verzeichnen, aber nie find fie in ihren wirklichen
Formen Gegenftände unferer wirklihen Wahrnehmung. Unferem
Bewußtfein wird in aller Wahmehmung unmittelbar Nichts zu
Theil, als was es in fich felbft erzeugt hat; nur die fpätere
Veberlegung der Bedingungen, unter denen unfere Empfindungen
entftehen, leitet und allmählich zu der Annahme jener Urfachen
zurüd, die für fi) der Beobachtung ftet8 entzogen bleiben. So
ift denn das Reale der äußeren Welt von unferen Sinnen völlig
391
geſchieden, und die ganze Mannigfaltigfeit der Sinnenwelt eine
Erſcheinung in uns felbft, die wir freilich rückwärts über Die
Dinge ausbreiten, als fei fie ihre natürliche Geftalt und Beleuch—
tung, die aber doch fo wenig an ihnen haftet oder aus ihnen
hervorgeht, als etwa die Neflerionen, zu denen ung die Erfahrung
veranlaßt, fertig ‚an den Gegenftänden hängen, an welche wir fie
anfnlpfen.
Vergeblich verſuchte man, gegen dieſe Xehre die Realität der
finnlihen Erſcheinungen zu vertheidigen. Man mußte zugeben,
daß jene Bewegungsformen, welche die Berehnung vorausgefett
hatte, in der That die veranlaffenden Bedingungen unferer Em-
pfindungen find, aber man vermißte und verlangte den Beweis,
daR nicht das, was einerſeits freilich Erzeugniß unferer geiftigen
Natur ift, anderſeits doch zugleich in der Außenwelt jelbft und
in den Reizen vorhanden ſei, Die zu feiner Wiedergeburt im Be⸗
wußtfein treiben. Leuchtende Schwingungen des Aethers und
tönende Schallwellen follten den Raum durchkreuzen und die me=
chaniſche Bewegungsform nur das äußerliche Hilfsmittel fein,
durch welches fie Auge und Ohr zur Nachbildung jener an fid
vorbandenen finnlichen Inhalte erregen. Aber man hätte den
Beweis des Gegentheile8 nicht von der mechaniſchen Phyſik er-
werten jollen, da eine leichte Ueberlegung ihn vorher von felbit
hätte darbieten können. Wir kennen nicht allein Farbe und Ton
nur duch unfer Empfinden, fondern wir würden völlig unfähig
fein zu jagen, was wir und unter ihnen noch vorftellen zu können
meinten, ſobald fie nicht von uns oder von einem anderen Be-
wußtfein mehr wahrgenommen würden. Sowie Geſchwindigkeit
nur an der Bewegung haftet und nicht fiir fi etwas ift, das
zur Bewegung noch hinzukommen könnte, fo haben alle finn-
lichen Empfindungen nur den einen Ort ihrer Exiftenz, das Be-
wußtſein, und nur die eine Art ihrer Eriftenz, ein Leiden oder eine
Thätigkeit, ein Zuftand überhaupt dieſes Bewußtſeins zu fein.
Noch ehe eine mechanische Theorie in den Berwegungsformen ber
äußeren Elemente die Urfachen nachwies, von denen bie Ent-
390
Natur verbunden zu werden verlangt. Dann erfennen wir den
Anſpruch wieder an, den unfere Sinnlichleit macht, uns den Ein-
blid in das innerfte lebendige Wefen einer fremden wahrhaften
Wirklichkeit zu gewähren, die in ihrer Fremdheit bald verwandt
bald feindfelig uns gegenüberſteht.
Und allen diefen Glauben ftrebt und nun in ber That die
mechaniſche Naturanfiht zu rauben, oder fie fcheint es doch zu
wollen. Sie lehrt uns, daß jede Empfindung nur das eigne
Erzeugniß unferer Seele jet, angeregt zwar von äußeren Ein-
brüden, aber weder biefen noch den Dingen ähnlich, von denen
fie außgingen. Weder finfter noch hell, weder laut nod ſtill,
vielmehr völlig beziehungslos zu Licht und Klang Tiege die Welt
um uns ber, ohne Duft und Gefchmad die Dinge; felbit mas
auf das Unmiderleglichfte Die Wirklichleit des Aeußeren zu be=
zeugen ſchien, Härte Weichheit Widerſtand der Dinge find zu
Formen der Empfindung geworden, in denen nur eigne Zuftände
unſeres Innern zum Bewußtſein fommen. Nichts erfüllt in Wirk⸗
lichkeit den Raum, als eine unbeftinmmbare Unzählbarkeit von
Atomen, in den mannigfaltigften Formen der Bewegung gegen
einander ſchwingend. Und weder dieſe Atome noch jene Bewe—
gungen ſind ſo, wie ſie ſind, Gegenſtände unſerer Beobachtung;
beide ſind die nothwendigen Vorausſetzungen, auf welche nur die
Berechnung der Erſcheinungen, dieſe aber nothwendig, zurück⸗
führt. Jene einfachen Elemente ſelbſt Kinnen wir nicht ſchildern,
da fie allen finnlichen Eigenfchaften, dem einzigen anfchaulichen
Material unferer Schilderungen, fremd find; ihre Bewegungen
können wir wohl verzeichnen, aber nie find fie in ihren wirklichen
Formen Gegenftände unferer wirflihen Wahrnehmung. Unferem
Bemußtfein wird in aller Wahrnehmung unmittelbar Nichts zu
Theil, als was es in fich felbft erzeugt hat; nur die Tpätere
Ueberlegung der Bedingungen, unter denen unfere Empfindungen
entftehen, leitet uns allmählich zu der Annahme jener Urſachen
zurüd, die fiir fi) der Beobachtung ftet8 entzogen bleiben. So
ift denn das Reale der äußeren Welt von unferen Sinnen völlig
Tr)
geihieden, und die ganze Mannigfaltigkeit der Sinnenwelt eine
Erſcheinung in uns felbft, die wir freilich rückwärts über Die
Dinge ausbreiten, als fei fle ihre natürliche Geftalt und Beleuch⸗
tung, die aber doch fo wenig an ihnen haftet oder aus ihnen
hervorgeht, als etwa die Reflerionen, zu denen und Die Erfahrung
veranlaßt, fertig an den Gegenftänden hängen, an welche mir fie
anknüpfen.
Vergeblich verfuchte man, gegen dieſe Lehre die Realität der
finnlihen Erfheinungen zu vertbeidigen. Man mußte zugeben,
Daß jene Berwegungsformen, welche die Berechnung vorausgefegt
hatte, in der That die veranlafienden Bedingungen unferer Em=
pfindungen find; aber man vermißte und verlangte den Beweis,
Daß nicht Das, was einerſeits freilich Erzeugniß unferer geiftigen
Natur ift, anderſeits doch zugleich in der Außenwelt ſelbſt und
in den Reizen vorhanden fei, die zur feiner Wiedergeburt im Be-
wußtfein treiben. Leuchtende Schwingungen des Aethers und
tönende Schallwellen follten den Raum durchkreuzen und die me—
chaniſche Bewegungsforn nur das Außerliche Hilfsmittel fein,
durch welches fie Auge und Ohr zur Nachbildung jener an fid
vorhandenen finnlihen Inhalte erregen. Aber man hätte den
Beweis des Gegentheile8 nicht von der mechaniſchen Phyſik er-
warten follen, da eine leichte Weberlegung ihn vorher von felbft
hätte darbieten innen. Wir kennen nicht allein Farbe und Ton
nur durch unfer Empfinden, fondern wir würden völlig unfähig
fein zu fagen, was wir uns unter ihnen noch vorftellen zu können
meinten, fobald fie nicht von und oder von einem anderen Be-
wußtfein mehr wahrgenommen würden. Sowie Geſchwindigkeit
nur an der Bewegung haftet und nicht fin fi etwas ift, das
zur Bewegung noch hinzukommen Könnte, jo haben alle finn-
lichen Empfindungen nur den einen Ort ihrer Exiftenz, das Be-
wußtjein, und nur die eine Art ihrer Exiftenz, ein Leiden oder eine
Thätigleit, ein Zuftand überhaupt dieſes Bewußtſeins zu fein.
Noch ehe eine mechanische Theorie in den Bewegungsformen ber
äußeren Elemente die Urfachen nachwies, von denen die Ent-
392
ftehung der Empfindungen in uns abhängt, hätte Die Reflerion ſich
darüber Kar werden Können, daß fie auf alle Fälle nur als ſolche
Zuſtände des geiftigen Weſens und feines Wiſſens denfbar find,
und daß jeder Verſuch mißlingen muß, das was an dem Lichte
leuchtet und in den Tönen Klingt, irgendwo außer den empfinben-
den Weſen als für fi vorhandene Eigenfchaft der Dinge oder
al8 ein Ereigniß zwiſchen ihnen feftzuhalten. Vergeblich ift eg,
das Auge fonnenhaft zu nennen, als wäre das Licht, ehe es ge⸗
fehen wird, und als bebürfte das Auge einer befonderen geheimen
Fähigkeit, das nachzuahmen, was es vielmehr jelbft erft erzeugt;
fruchtlos ſcheitern alle myſtiſchen Beſtrebungen, durch eine ver-
borgene Identität des Geiſtes und der ‘Dinge den finnliden Au⸗
ſchauungen eine Wirklichleit außer ung wiederzuverichaffen. Aber
wie fruchtlos fie fein mögen, immer werben fte freilich von jener
feltiamen Empfindfamleit erneuert werben, bie ihre vielleicht be⸗
rechtigten Wünſche nicht Durch thätige Hinwegräumung der Schwie⸗
tigleiten zu befriedigen, fondern nur durch die bequeme Hingabe
an Das innerlid Wideriprechende zu täufchen verſteht.
Sollen nun wirklich alle diefe Anfprüche aufgegeben werben,
die dem unbefangenen Bewußtſein fo begründet fchienen ? Soll die
ganze Pracht der Sinnlichkeit nichts fein, als eine Täuſchung
unferes Inneren, das unfähig die wahre Natur der Dinge anzu⸗
hauen fih durch die Erzeugung eines Scheines tröftet, dem feine
objective Geltung irgend einer Art zulommt? Wäre es wenigftend
möglich, die finnlihen Empfindungen jo zu faflen, als überſetzten
fie, der Bedeutung nach wiedererfennbar, die Eigenjchaften ber
Dinge in eine Sprache, die dem Geifte geläufig iſt, ſo würden
wir uns beruhigen und bie unvermeidlicde Trübung hinnehmen,
die der Inbalt des Seienden bei feinem Uebergang in unfere
Erkenntniß erlitte. Aber was haben Schwingungen bes Aethers
393
mit Licht, Verdichtungswellen der Luft mit Tönen zu thbun? So
völlig unvergleichbar ift bier die phyſiſche Beranlaffung mit der
Empfindung, die ihr folgt, daß wir in Diefer nicht einmal einen
abgeſchwächten Widerhall jener finden, fondern ohne einen Schat-
ten der Aehnlichkeit eine neue Erfcheinung in uns auftauchen
ſehen. Wie ungefchidt ift daher die Sinnlichkeit zu ihrer Auf-
gabe, die Natur der Dinge, oder doch wenigftend die wahre Außen-
feite ihres Weſens wiederzugeben; wie völlig ſchwankend wird da⸗
durch auch die Hoffnung, daß die Erkenntniß ihr Inneres durch⸗
dringen werde! Ueberall in Irrthum eingefchloffen, Tönnen wir
unfere finnlihe Wahrnehmung nur eine fortgefegte Sinnestäu-
(dung nennen.
Wenn diefe Klagen natürlich find, jo iſt es doch gewiß nicht
der Geift der mechaniſchen Naturforfchung, der fie veranlagt hat.
Indem die Phyſik von den unanſchaulichen Elementen ausgeht
und die Mannigfaltigkeit ihrer Bewegungen verfolgt, indem ſie
den Eindrud zu beftimmen fucht, den die Mebertragung dieſer
Erſchütterungen auf die empfänglichen Nerven des Tebendigen Kör⸗
pers, von ihnen endlich auf die Seele hervorbringt, betrachtet fie
dieſen Zufammenbang einfach als eine caufjale Kette von Vor⸗
gängen und findet es hier nicht wunderbarer als fonftwo, daß
nad) ſo vielen Mitteilungen der Wirkung von einem Träger zum
andern der letzte Erfolg, die Qualität der bewußten Empfin-
dung jelbft, den erften veranlaffenden Urfachen völlig unähnlich
if. Warum doc, würde fie und mit Recht fragen, verlangt ihr,
daß es anders fei? Warınm fest ihr als eine Pflicht eurer Sinne
voraus, Daß fie Die Dinge, von denen fie angeregt werben, fo
darftellen follen, wie fie wirklich find, und nicht vielmehr eben fo,
wie fte diefelben wirklich darftellen? Warum überhaupt follen fie
nit den legten Erfolg zum Bewußtfein bringen, fondern viel⸗
mebr bie erſten Urſachen; und ift nicht der Glanz und der Ton, ben
fie euch überliefern, eben indem er überliefert wird, fo gut wie
die ungefehenen Dscillationen des Aether und der Luft eine
Thatiache, Die gleiches Recht hat, wahrgenommen zu werben, wie
394
jene? Und wenn ihr bedauert, daß die Pracht der finnlichen Welt
verloren gehen foll, was hindert euch doch, fie vielmehr feftzuhnl-
ten und euch des Umftandes zu erfreuen, daß es Wefen in ber
Welt gibt, deren Inneres durch den Andrang jener Berwegungs-
formen zu fo ſchönen Rückwirkungen, zur Entfaltung einer hellen
Farben» und Tonwelt fih anregen läßt? Was endlich nöthigt
euch, in die meit minder erfreuliche Tiefe zu gehen, dieſen ſchönen
Schein hinmwegzufcheuchen, und euch nad dem wahren Anblid des
tragenden Gerippes zu fehnen, deſſen Starrheit feine weichen Um⸗
riffe verhüllen?
In der That ift wohl Veranlaſſung Dazu, jene fo felbflver-
ftändlich ſcheinende Vorausſetzung zu prüfen, als ſei Sinnlichkeit
und alle Erkenntniß nur dazu vorhanden, Die Geftalten der Dinge,
wie fle find, unferem Bewußtſein abzubilden. Man wird uns
zweifelnd einwenden, wozu doch biefer Zweifel führen folle? ALS
wenn nicht natürlih die Aufgabe des Erkennens eben im Er-
kennen beftehen müßte? Aber diefer Einwurf wiederholt eben nur
jene Mebereilung, die und Allen fo geläufig ift. Denn eine un-
zweifelhafte Thatjache, von der unfere Betrachtung beginnen muß,
befteht nur in der Wahrnehmung, daß in unferem Bewußtſein
eine mannigfache Welt der Borftellungen vorhanden ift, in beren
Erzeugung wir und von unbelannten außer uns gelegenen Be-
dingungen abhängig finden. Geſetzlich in fi und mit dem Reiche
diefer unbelannten Bedingungen verbunden, entwirft dieſes Spiel
der Borftellungen übereinftimmend für die verſchiedenen Geifter
das Bild einer gemeinichaftlichen Außenwelt, in welder ſie zum
Wechſelverkehr des Handelns und der Mittheilung einander be
gegnen. Für jeden Einzelnen hat daher das BVorftellen Die Auf:
gabe, wahr zu fein, aber doch nur in dem Sinne, daß e8 Jedem
die gleiche Welt vorhalte, die es Andern zeigt, und daß nicht eine
individuelle Täufhung uns aus der Gemeinfhaft mit den übri-
gen Geiftern ausſchließe, indem fte uns eine Neihe äußerer Be-
ziehungspunkte vorſpiegelte, an denen wir nie mit der Thätigfeit
dev Andern uns berühren Können, weil fie fir Niemand als fin
895
und vorhanden find. Unbeftimmt bleibt e8 dabei gänzlich, ob die
Melt, deren Anfchauung wir übereinftimmend dur unfere Bor:
ftellungen erhalten, für alle ein gleicher folgevechter Irrthum ift,
oder ob das, was wir zu fehen glauben, in der That Die eigne
Geſtalt der Außenwelt abbildet, von deren Einwirkungen wir ung
abhängig fühlen.
Theils diefe Gewöhnung des täglichen Lebens, theils das
eigenthihnliche Interefje der Wiſſenſchaft, die freilich ausdrücklich
das Erkennen der Dinge zur Aufgabe ihrer Unterſuchungen macht,
haben in uns die Gewohnheit hervorgebracht, die Vortrefflichkeit
unferer Borftellungen und Empfindungen nad der Genanigfeit
zu mefjen, mit welcher fte abbilbend die Natur der Gegenftände
wiederholen. Man vergißt dabei, daß der Lauf dieſer inneren
Erſcheinungen in uns ganz ebenfomohl eine vollwichtige Thatſache
ift, als Das Dafein deſſen, von dem fie herrühren; und nachdem
man fih einmal gewöhnt bat, fie mit dem Namen des Erkennens
zu belegen und ihnen ftillfchweigend dadurch die nothwendige Be-
ziehung auf ein Aeußeres anzuheften, pflegt man nun Sein und
Erkennen fo einander gegenüberzuftellen, als fei mit dem erften
der eigentliche Effectivbeftand der Welt abgefchloffen und Liege dem
legteren nur ob, gut oder fchlecht dieſe fertige Welt im Wiſſen
noch einmal zu wiederholen. Aber diefe Thatfache, daß der Ein-
fluß des Seienden und feiner Veränderungen in dem Innern der
geiftigen Weſen dieſes Aufblühen einer Welt finnlicher Empfin-
dungen veranlaßt, fteht nicht. als eine müßige Zugabe neben dem
übrigen Zufammenbange der Dinge, als wäre der Sinn alles
Seins und Geſchehens vollendet auch ohne fie; fie felbft ift viel-
mehr eines der größten, ja das größte aller Ereigniffe iiberhaupt,
neben deſſen Tiefe und Bedeutſamkeit alles Uebrige verſchwindet,
was ſonſt zwiſchen den Beſtandtheilen der Welt ſich ereignen
Bunte. Sowie wir jede Blüthe nach ihrem eignen Farbenglanz
und Dufte ſchätzen, ohne zu verlangen, daß fie die Geftalt ihrer
Wurzel abbildend wiederhole, fo müfjen wir auch dieſe innerliche
Welt der Empfindungen nach ihrer eignen Schönheit und Be-
I
396
deutung fehäken, ohne ihren Werth an der Treue zu meilen, mit
der fie das Geringere wieberbringt, auf dem fie beruht.
Denn in der That warum follten wir nicht dies ganze Ver⸗
hältniß umlehren, an welches uns eine undurchdachte Borftellungs-
weife gewöhnt hat? Anftatt das Aeußere als den Zielpunkt auf-
zuftellen, nach dem alle Sehnſucht unferes Empfindens ſich richten
müßte, warum follen wir nicht vielmehr dieſe leuchtende und
tönende Pracht der Sinnlichkeit als den Zweck auffaffen, zu deſſen
Erfüllung alle jene Beranftaltungen der Außenwelt beftimmt find,
über deren Berborgenfein wir uns beflagen? Die poetiſche Idee
und ihre eigne bedeutſame Schönheit ift e8, was an dem Schau⸗
fpiel uns befriedigt, das wir auf der Bühne fi vor uns ent-
wideln jehen; Niemand glaubt diefen Genuß zu ſteigern oder die
noch tiefere Wahrheit zu finden, wenn er ſich in die Betrachtung
der Mafchinerien verfenken könnte, welche dieſen Wechfel der ‘De:
corationen und der Beleuchtung hervorbringen; Niemand, indem
er den Sinn der geſprochenen Worte in fih aufnimmt, vermißt
Die deutliche Erkenntniß der phyſiſchen Vorgänge, durch welche der
Organismus der Darfteller jene tönenden Vibrationen der Stimme
erzeugt ober die Bewegung der ausdrucksvollen Geberden ins
Werk ſetzt. Der Lauf der Welt ift dieſes Schaufpiel; feine we:
fentlihe Wahrheit ift der Sinn, der fih in ihm verftändlich für
das Gemüth entfaltet; jenes Andere aber, was wir oft jo gern
willen möchten umd worin wir in befangener Täuſchung erft das
wahre Weſen der ‘Dinge fuchen, ift nichts als der Apparat, auf
dem die allein werthvolle Wirklichkeit diefer ſchönen Erſcheinung
beruht. Anftatt zu Hagen, daß die Sinnlichkeit Die wahren Eigen-
ſchaften der Dinge außer uns nicht abbilvet, follten wir glücklich
fein, daß fle etwas viel Größeres und Schönered an ihre Stelle
jeßt; nicht gewinnen, fondern verlieren würden wir, wenn wir Die
leuchtende Herrlichkeit der Farben und des Lichtes, die Kraft und
Anmuth der Töne, die Süße des Duftes aufopfern müßten, um
an der Stelle dieſer verihmwundenen Welt der mannigfachiten
Schönheit und an der genaueften Anſchauung mehr ober minder
397
häufiger, nad) diejer oder jener Richtung gehender Schwingungen
zu tröften. Iſt es doch außerdem uns möglich, in wiflenfchaft-
licher Unterfuchung diefer Erkenntniß babhaft zu werden und jene
farblofen Gründe der ſinnlichen Welt in der That noch zu er-
veihen, über welche die wirkliche Empfindung diefen täufchenden
oder, wie wir richtiger jagen würden, diefen verflärenden Schim-
mer verbreitet. Sehen wir deshalb von der Klage ab, als ent-
gehe unferer Wahrnehmung das wahre Wefen der Dinge; eben
darin befteht es vielmehr, als was fie uns erſcheinen, und
Alles was fie find, ehe fie uns ericheinen, das ift die ver⸗
mittelnde Vorbereitung für dieje endlihe Verwirklichung ihres
Welens ſelbſt. Die Schönheit der Farben und der Töne, Wärme
und Duft find ed, was an fi die Natur hervorzubringen und
auszudrüden ringt und für ſich allein nicht zu erreichen ver:
mag; fie bedarf dazu als des letzten und edelſten Werkzeuges
eben des empfindenden Geiſtes, der allein im Stande ift, dem
ftummen Streben Worte zu geben und in der Pracht der finn-
lichen Anfhauung zu heller Wirflichleit zu beleben, was alle jene
Bewegungen und Geberden der äußeren Welt fruchtlo8 zu jagen
fi bemühten. _
Aber ‚wie groß auch die Bedeutung fein mag, die wir auf
dieſe Weife der finnlichen Empfindung in dem Zuſammenhange
der Welt zufchreiben: wir müſſen doch fürchten, Die alten Klagen
nicht durch fie wöllig- zu beſchwichtigen. Denn zu einfeitig fällt
ber Bortheil des Genuſſes der geiftigen Welt zu, und alle Natur
ſteht ihm gegenüber nur noch als das Teblofe, wenn gleich be=
wegliche Gerüft der Mittel da, durch welches die Schönheit der
Sinnenwelt nur in einem Anderen, aber nicht in ihm felbft her⸗
vorgebracht wird. Sollen nun die Dinge nur dazu dienen, durch
ihre Bewegungen felbft genußlos den Seelen Anregungen zu die-
fem innerlichen Leben zuzuführen? Sol die eine Hälfte des Ge-
Ichaffenen, die, welche wir unter dem Namen der materiellen Welt
zufammenfaflen, durchaus nur zum Dienfte der anderen Hälfte,
398
bes Reiches der Geifter, vorhanden fein, und. haben wir nicht
Recht mit der Sehnſucht, den ſchönen Glanz der Sinnlichkeit auch
in demjenigen anzutreffen, von dem er doch immer fir uns aus-
zugeben fcheint? Vielleicht würde nun dieſe Sehnſucht allein nicht
hinreichen, um eine neue Geftaltung unferer Anſichten hinläng-
ih zu begründen; nehmen wir jedod an, daß eine tiefer gehende
Unterfuhung die Kraft dieſes Grundes ergänzte, jo würden wir
Doch gewiß auch in den Dingen felbft die Wirklichfeit alles finn-
lichen Imbaltes nur unter VBorausfegung der Bedingungen mög-
Tih finden dürfen, unter denen fie uns überhaupt denkbar ift.
Nur als Formen oder Zuſtände eines Anſchauens oder Wiffens
laßt fi num der Inhalt der finmlichen Empfindung, Iaffen fich
Licht und Farbe, Ton und Duft begreifen; jollen fie nicht allein
Erſcheinungen in unferem Inneren fein, jondern auch den Dingen
eigen, von benen fie auszugehen fcheinen, fo müſſen bie Dinge
ſich ſelbſt erſcheinen fönnen und in ihrem eignen Empfinden fie
in fich erzeugen. Zu diefer Folgerung, welche iiber alles Seiende
die Helligfeit Lebendiger Beſeelung ausbreitet, müßte unfere Sehn-
fucht entſchloſſen fortgeben; in ihr allein fände fie eine Möglich-
feit, dem Sinnlichen eine Wirflichleit außer uns zu verfchaffen, in⸗
dem fie ihm eine Wirflichkeit im Innern der Dinge gäbe; fruchtlos
dagegen würde jeder Verſuch fein, das was nur als innerer Zu-
ftand irgend eines Empfindens denkbar tft, als eine äuferliche
Eigenſchaft an empfindungslofe Dinge zu heften.
So finden wir uns hier zu einem Gedanken zurlidgeführt,
ben ſchon unſere erften Betrachtungen tiber die Natur der Seele
uns nahe legten, zu jener Annahme eines boppelten Dafeins,
das alle Materie führe, äußerlich mit den bekannten Eigenſchaften
bes körperlichen Stoffes fi benehmend, innerlich von geiftiger
Regſamkeit belebt. Wir wiefen damals die Anwendung dieſes
Gedankens zurüd, welche das Ganze des lebendigen Leibes un-
mittelbar zugleich als die empfindende Seele auffaflen, oder aus
dem Zuſammenwirken vieler Elemente die Einheit unſeres Be⸗
wußtfeins erflären wollte; wir erkannten, daß die letztere nie als
399
das Ergebniß aus Wechfelwirkungen einer Vielbeit, fondern nur
als Die Aeußerung eines untheilbaren Wejens denkbar fei, und
daß die nöllige Verſchmelzung ber geiftigen Thätigleit mit dem
Ganzen bes Körpers, das nicht von Ewigkeit beifammen war,
fondern im Laufe des Wachsthums aus den verichiebenartigften
Beiträgen der Außenwelt zufammentritt, gleich ſehr den allgemeinen
Möglicgkeiten als den beftimmteften Thatiachen der Erfahrung
widerſpreche. Auch jett Können wir nicht anders denken, und der
Verſuch, Die Materie als befeelt zu faflen, muß nothmwendig mit
dem anderen verbunden fein, die Geftalt, in welcher unſere un⸗
mittelbare Beobachtung dieſe Materie wahrzunehmen glaubt, die
unendlich theilbare Ausdehnung, al8 einen Schein nachzınveifen,
dem eine Mannigfaltigkeit untheilbarer, nur durch überfinnliche
Eigenſchaften beftimmter Wefen zu Grunde Liegt. Manche bisher
zerſtreut und ohne Abfchluß gebliebenen Fäden unferer Ueberlegun-
gen laufen jegt zufammen und nähern ſich ihrem Ende; möge e8
ung erlaubt fein, um zu ihrer völligen Vereinigung zu gelan-
gen, die Aufmerkſamkeit nod einmal ausbrüdlicher auf jenen Be—
geiff der Materie zu richten, den wir bisher gelten Tiefen, zu-
frieden, feine Webergriffe in fremde Gebiete abzuwehren, und dem
wir jegt endlich auch das zu entziehen fuchen müfjen, welches er
eigenthümlich zu beherrihen fchien. Denn während frühere An-
fihten aus den Wirkfamfeiten des Stoffes das geiftige Leben wie
eine leichte und felbftverftänbliche Zugabe glaubten hervorgehen
zu ſehen, ift es jeßt in der That unfere Abfiht, Die alleinige
urfprüngliche Wirklichkeit der geiftigen Welt zu vertreten und zu
zeigen, daß wohl die materielle Natur aus ihr, aber nicht fie
aus dieſer begreifbar ift.
In jenen allgemeinen Betrachtungen, die wir dem Bilde des
Veiblichen Lebens vorausſchickten, haben wir uns überzeugt, daß
eine Erklärung der mannigfachen Yormen und Ereigniffe, welche
uns die Beobachtung im Großen darbietet, nur aus den Wechſel⸗
wirkungen vieler von einander geſchiedener und gegen einander
felbftändiger Mittelpunkte aus⸗ und eingehender Kräfte möglich
400
ift. Beſtätigt Doc unmittelbar die Wahrnehmung des bewaffneten
Auges in vielen Fällen dieſe innere Gliederung ſcheinbar gleidy-
artiger Maſſen, und eine eindringendere Unterfuchung, welche alle
bie räthſelhaften Erſcheinungen berüdfichtigte, Die uns ber feinere
Bau au der unbelebten Körper und die von ihm abhängigen
Eigenthümlichkeiten ihres Wirkens zeigen, würde fi unvermeid-
lich Dazu genöthigt jehen, diefelbe Organifation der Materie aus
einzelnen wirkſamen Theilen nody weit über die Grenzen mög-
licher Wahrnehmung hinaus anzunehmen. Aber der legte Schritt,
den unfichtbar Fleinen Atomen, auf welche wir jo geführt werben,
jede räumliche Ausdehnung, Form und Größe abzufpredden, war
doch dort nur eine mögliche, noch nicht eine nothwendige Verboll-
ftändigung diefer Anſicht. Konnte man jedoch für die Bedürfniſſe
der Phyſik diefe Trage unentjchieden laſſen, fo nöthigt uns bie
Borftellung, welche geiftige8 Leben oder eine Analogie befjelben
auch für die Materie retten möchte, eine beftimmte Antwort auf
fie zu ſuchen.
Bezeicnet nun die gewöhnliche Annahme die Materie als
das Ausgedehnte, Undurchdringliche, Widerftandleiftende und Un-
vergängliche, jo würden wir ihr zuerft einwerfen müffen, daß zu
dieſen Eigenichaften und Handlungsweilen das Subject fehle: wir
vermiſſen die Angabe deſſen, was bier ausgedehnt, undurchdring⸗
lich und umvergänglidh ſei, und mas dieſe verjchiebenen Eigen-
Iheften, die ihrem eignen Begriffe nad in Feiner nothwendigen
Berbindung ftehen, zufammen vorzufonmen nöthige. Beflert nun
jene Annahme ihren Mangel durch das Zugeftändniß, daß ja
allerdings das eigentlich Seiende in der Materie in einem un-
jagbaren Ueberfinnlichen beftebe, aus deſſen Natur eben jene Eigen-
ſchaften und ihre Verbindung nothwendig und beftändig folgen: fo
würden wir ihr antworten müffen, daß mit dem Begriffe eines
Seienden zwar die übrigen Prädicate, aber nicht das der Ausdeh⸗
nung vereinbar fei, durch welches Doch gerade am mwefentlichften Die
Materie fi) von allem anderen Seienden zu unterjcheiden meine.
Denn wer bon der Ausdehnung der Materie fpricht, iſt nicht
401
zufrieden damit, in jedem Punkte des Raumes, den er im Auge
bat, die wirkende Herrichaft die Macht oder die geiftige Gegen-
wart einer Subftanz anzutreffen, welche felbft doch nur an einem
einzigen Punkte zugegen wäre; jeber Fleinfte Drt dieſes Raumes
fol vielmehr von ihr ftetig ebenfo erfüllt fein, wie fie jenen be-
vorzugten Punkt erfüllen würde. Und zugleich ift fir dieſe Anficht
jeder einzelne Punkt jenes erfüllten Raumes auch für fich ein
bleibender Mittelpunkt von Kräften, und der Wegfall aller übrigen
würde ihn nicht Kindern können, der Natur des in ihm enthal-
tenen Antheil8 an Realem gemäß feine Wirkungen fortzufegen.
Sp kommt diefe Vorftellungsweife zu einer unendlichen Theilbar-
keit des Ausgedehnten, aber eben damit vermag fie, wie mir fheint,
die Borftellung eines wirklichen Getheiltſeins nicht von ihm abzu-
halten. Denn das, was nad) feiner geſchehenen Abtrennung von
einem Ganzen feine Wirkungen mit dem proportionalen Antheil
von Stärke, der feiner Größe entipricht, ungeftört fortzufeßen ver-
mag, eriftirte doch wohl ſchon in dem Ganzen als ein felbftän-
diger Theil, mit andern gleich felbftändigen zwar zu einer geord⸗
neten Summe, aber nicht zu einer wahrhaften Weſenseinheit ver-
bunden. Oder umgefehrt, mas im Stande ift, in eine Vielheit
völlig ſelbſtändiger Theile zu zerfallen, einzelne ohne Aenderung
feiner Natur aus ſich zu entlaffen, andere, die nie feine Theile
waren, in fi aufzunehmen: das kann in folder Gleichgiltigfeit
gegen Vermehrung und Verminderung nicht mehr als ein einziges
in fi geſchloſſenes Wefen, fondern nur als eine Vereinigung ur-
ſprünglich vieler gedacht werden. Wan mag dieſer äußeren BViel-
fältigfeit immerhin eine innere Einheit des Vielen entgegenfeßen,
men mag annehmen, daß alle diefe Theile durch Gleichheit ihres
Weiens, durch gemeinfamen Sinn, durch ſolidariſche BVerpflich-
tung zu einer gemeinfhaftlichen Entwidlung und Wirkungsmeife
auf das Innigfte verbunden find: fobald wir abjehen von dem,
was fie einft waren, und dem, was fie fein follen, fo lange wir
nur ind Auge faffen, was ſie find, kann Feine diefer höheren Ein-
beiten und darüber täufhen, daß fie zunächſt unmiderfprechlich
Lotze I. 4. Aufl. 26
e%
402
eine Bielheit bilden. Welche Nebengedanten man ſich auch immer
über die Innerlichleit des Ausgevehnten machen möge: wir be=
ftehen darauf, daß man ıim ihretwillen feine Aeußerlichkeit nicht
bemäntele. Und dieſe Yeußerlichleit, eben das Ausgedehntſein,
wird nie denkbar werden, ohne daß wir einzelne Punkte voraus-
fegen, die unterfheibbar , die außer einander, die durch Entfer-
nungen von einander getrennt find, die endlich durch die Wirkung
ihrer Kräfte oder durch ihre gegenfeitigen Einflüffe iiberhaupt ein-
ander die Drte beftimmen, welche fie einnehmen. Dieſe Unter-
ſcheidbarkeit vieler Punlte ift nicht eine beiläufige Folge der Aus-
behnung, fondern ſie ift das, worin ihr Begriff felbft beftebt;
wer den Namen der Ausdehnung ausipricht, bezeichnet Damit eine
Eigenſchaft, die nur gegenfeitige Beziehungen von Mannigfachem,
nur Nichteinbeit, nur Wechfelwirkung einer Vielheit ausbrüdt.
Jeder Berfuh, die Ausdehnung als Prädicat nicht eines
Syſtems von Wejen, jondern eines einzelnen Elementes zu faflen,
müßte nothwendig die andere Behauptung einfließen, daß im
diefem Elemente die Theile, die auch in ihm untericheivbar fein
müffen, damit es eine räumliche Größe darftelle, doch nie zu
felbftändiger und freier Eriftenz trennbar feien. Aber unfere Er-
fabrung befräftigt im Großen wenigftens durchaus die Trennbar-
feit des Unterfcheidbaren; nur in den unfichtbar Heinen Dimen-
fionen der Atome könnten wir hoffen, zugleich Ausdehnung und
untheilbare Stetigfeit anzutreffen. Aber wir wirben wenig mit
diefer letzten Vermuthung gewinnen. Denn worin würden wir
dann den Grund ber beftimmten, weder größeren noch geringeren
Ausdehnung fuchen, welche jeves Atom unveränderlich füllt? Wenn
nicht in der Anzahl der Theilchen, die e8 einjchliegt, worin dann
anders, als darin, daß die üiberfinnliche Natur defien, was bier
wahr oder ſcheinbar fi ausbehnt, nur zur Erfüllung dieſes und
feines größeren Raumes, nur zur Herftellung dieſer und feiner
größeren unzerreißbaren Scheingeftalt ausreichte? So ift zulegt
Doch auch für diefe Anficht die Größe der Ausdehnung nur Der
räumliche Ausdruck für das Maß intenfiver Kraft, und es iſt
403
nicht eigentlih das Weſen, fondern feine Wirkſamkeit, welche den
Kaum füllt. Gefteben wir darum lieber fogleih zu, daß Aus-
dehnung jo wenig das Prädicat eines Weſens fein kann, als ein
Strudel oder Wirbel die Bewegungsweife eines einzelnen Ele-
mentes ift; beide laſſen fih nur als Formen der Beziehung zwi-
chen vielen denfen. So werben wir genöthigt, jene Vorftellungs-
weife feftzuhalten, die uns früher nur als eine mögliche erichien
und die ausgedehnte Materie als ein Syſtem unausgedehnter
Weſen zu faſſen, die Durch ihre Kräfte ſich ihre gegenfeitige Lage
im Raume vorzeichnen, und indem fie der Verſchiebung unter
einander wie dem Eindringen eines Fremden Widerftand Teiften,
jene Erſcheinungen der Undurchdringlichkeit und der ftetigen Naum-
erfüllung berborbringen.
Die Neigung, die Ausdehnung unmittelbar als Eigenfchaft
des Wirflichen zu denfen, beruht vielleicht auf einer Vorftellung,
Die wir and unferer eignen Xebenserfahrung veritohlen in dieſen
ganz anderen Gedankenkreis einführen. Jene Anfichten wenig-
ſtens, welche die Ausdehnung der Materie nur als einen von
vielen Ausdrücken deuten, in welchen ein viel allgemeineres Be⸗
ſtreben des fchaffenden Abfoluten, eine Sehnſucht nach Entfaltung
und Ausbreitung ins Unendliche ſich kundgebe, verrathen in ber
äfthetifchen Begeifterung für dieſe Form des Thuns ihre Erinne-
rung an den Genuß, den die Freiheit ungemeflener Ausbreitung
und Erweiterung unjeres Dafeins uns menfchlichen Weſen ver-
ſchafft. Für uns ift der Raum der Umgebung zunädhft eine
Schranke, eine Weite, die wir Durch Bewegung überwinden und
aufzehren müſſen; für uns ift deshalb Bewegung gleichzeitig An-
firengung und Genuß; jenes, weil wir fie nur durch den Me-
hanismus unferer Glieder durchführen Tönnen, dieſes, weil die
veränderte Stellung den Reiz neuer Anſchauungen und das Be⸗
wußtfein unferer Kraftübung erweckt, durch die wir fie errungen
haben. Diefe Stimmung, dies Gemeingefühl gehobener Kraft
und befriedigter Sehnfuht, das uns in der Durchwanderung
großer Entfernungen belebt, tragen wir unvermerft auf den all-
26*
»
404
gemeinen Begriff der Bewegung über. Alle jene Phantafien, Die
in der unenbliden Bewegung der Himmelstörper einen Gegen-
ftand Ichwärmerifcher Verehrung fahen und in ihr das wahre
Sein und die ewige Thätigfeit ded Ceienden fanden, meinten
im Stillen, daß die Ueberwindung diefer ungeheuren Räume für
jene Körper eine Leiftung fei, deren lebendigen Kraftaufwand fie
felber empfänden; wie der Vogel ſich feines Fluges freut, jo ge-
nöffen die Planeten felber den Schwung ihrer Bewegung, und
wie jener mit ſcharfem Auge die fchöne Verſchiebung feiner Um-
gebimgen überblidt, an ihr den durchmeſſenen Raum ſchätzend, ſo
fei aud für diefe ein Bemußtfein von der Größe der überwun—
denen Entfernungen in irgend einer Weile vorhanden. Es find
ähnliche Nebengedanken, welche uns für die Exrpanfion des Abfo-
Iuten und für die ftetige Ausdehnung ber Materie begeiftern;
wir begleiten fie dabei mit einem Gefühl der Entlaflung von be=
engendem Drude; und wie wir tiefemathmend in der Erweiterung
unferer Bruft unmittelbar die Zunahme unferer Lebenskraft zu
empfinden glauben, jo Liegt eine berworrene Erinnerung an das
fühlbare Glüd folder thätigen Ausbreitung aud in der Vorftel-
lung jener raumerfüllenden Thätigfeit, die wir der Materie zu-
jhreiben. Und doch überzeugt uns eine einfache Betrachtung, daß
von allen den Bedingungen, auf welden für uns Die Möglichfeit
diefer Luft beruht, Feine fiir die unorganifirte Materie vorhanden
ift; je urfprünglicher ihr die Ausdehnung zulommen fol, um fo
weniger ift fie eine Leiftung fir fie, deren Ausführung eime Te
bendige Anftrengung erforderte; und alle jene Expanfion des Ab-
foluten Tann nicht als eine Luft der Befreiung und ber Ueber-
windung von Schranfen, fondern nur al8 Zerfall in eine Biel-
heit verichiedener Punkte gefaßt werden, auf deren Aufereinan-
derfein alle Ausdehnung allein beruht.
Bielleiht haben wir den Vorwurf zu beforgen, in dieſen Be-
merfungen Nebenvorftellungen, die ſich als Zuthaten individueller
Phantafie wohl zufällig bie und da einfchleichen, für wejentliche
Beitandtbeile jener Anfiht von einer ausgedehnten Materie aus⸗
405
gegeben zu haben. Aber zu viele Beispiele zeigen uns doch, wie
häufig dieſe Tiebenswirdigen Erinnerungen an das volle menfd-
lihe Dafein wirklich im Stillen Die Erwägungen Ienten, deren
Zügel das reinfte und abftractefte Tpeculative Denken ganz feft allein
zu führen glaubt; und in unferem Falle wüßte ich in der That
nicht, wenn das Seiende nichts davon hätte, ausgedehnt zu fein,
was uns dann noch veranlafien follte, jo hartnädig feiner inner-
lichen Natur dieſe Eigenſchaft anhängen zu wollen und mit ftetiger
Materie den Raum völlig auszuftopfen, den, für alle Erflärung
der Erſcheinungen binreihend, überſinnliche Weſen mit ihren
lebendigen Kräften beherrſchen könnten. Aber hinzufügen könnten
wir im Gegentbeil, daß unferer Auffaflung möglich fein würde,
was jener mißlingt;. indem jedes einzelne Weſen durch feine
Wechfelwirkung mit den übrigen ſich jelbft und dieſen ihre Orte
im Raume beftimmt, Wirkungen ausjendet und in fih aufnimmt,
wird e8 von dieſer feiner Lage zu der Geſammtheit der anderen
auch Eindrüde empfangen Können, die dem ftetig Ausgedehnten
feine bloße Gegenwart und Ausbreitung im Raume nicht ver-
Ihafft haben würde.
Mit diefer Borausfegung unräumlicher Atome haben wir die
einzige Schwierigfeit befeitigt, die uns hindern fonnte, jenem Ge⸗
danfen eines inneren geiftigen Lebens nachzuhängen, weldes alle
Materie durchdringe. Die untheilbare Einheit jedes Diefer ein⸗
fachen Weſen geftattet ung, in ihm eine Zufammenfaflung der
äußeren Eindrücke, die ihm zulommen, zu Formen der Empfindung
und des Genufjes anzunehmen. Alles, was an dem Inhalte der
Sinnlichkeit unfere Theilnahme erregte, Tann num in diefen Wefen
eine Stätte objectiver Exiſtenz haben, und unzählige Ereigniffe,
auf deren Borbandenfein uns nicht unjere unmittelbare Empfin-
dung, fondern nur der Umweg wiffenfchaftlicher Unterfuchung führt,
brauchen num nicht verloren zu geben, fondern Können im Innern
ber Stoffe, an denen fie auftreten, zu mannigfacher ung unbe-
4.06
kannter Wärme und Schönheit der Wahrnehmung verwerthet wer⸗
den. Jeder Drud und jede Spannung, welde die Materie er-
leidet, die Ruhe des ficheren Gleichgewichtes wie die Trennung
früherer Zufammenhänge, alles dies gefchieht nicht nur, ſondern
ift geſchehend zugleich der Gegenftand irgend eines Genuſſes; jedes
einzelne Weſen, mit abgeftuften Wechfelwirkungen in das Ganze
der Welt verflochten, ift, wie einer der größten Geifter ımferes
Volkes es nannte, ein Spiegel des Univerfum, den Zufammen-
bang des Weltalls von feinem Orte aus empfindend und die be=
fondere Anfiht abbildend, melde er diefem Orte und dieſem
Standpunkte gewährt. Kein Theil des Seienden ift mehr un-
belebt und unbefeelt; nur ein Theil des Geſchehens, jene Be-
wegungen, welche die Zujtände des einen mit denen des andern
vermitteln, fchlingen fi als ein äußerliher Mechanismus durch
die Fülle des Befeelten, und führen allem die Gelegenheiten und
Anregungen zu wechfelnder Entfaltung des inneren Lebens zu.
Wir zeichnen mit diefer Schilderung eine Auffaffung, fir
welche wir, überzeugt von ihrer weſentlichen Wahrheit, doch kaum
ein andered Zugeftändniß erwarten dürfen, als daß fie unter den
Träumen, die unfere Phantafie fi) entwerfen Tann, einer von
denen fei, bie nicht im Widerſpruch ˖mit dem Wirklichen ftehen.
Aber eben fo wenig fei ihre Wahrfcheinlichkeit überredend, denn
indem fie meine, eine ſchwärmeriſche Sehnſucht zu befriedigen,
biete fie weit mehr, als Diefe gern annehmen möchte. Wer wiirde
den Gedanken ertragen wollen, daß in jedem Staub, den unfer
Fuß tritt, in dem profaifchen Stoffe des Tuches, das unfer Ge-
wand bildet, in dem Material, welches unfere Technik zu man-
cherlei Geräthen auf das Willkürlichſte formt, überall die Fülle
bes feelenvollen Lebens vorhanden fei, das wir uns freilich gern
in dem geheimnißvollen Umriſſe der Blume und vielleicht noch in
der regelmäßigen ſchweigſamen Geftalt des Kruftalles ſchlummernd
denfen? Allein mit diefem Einwurf wiirde man doch nur ben
Irrthum wiederholen, mit dem, wie wir früher erwähnten, ſchon
unfere finnlihe Anſchauung geringſchätzend über die Schönheit der
407
einfachen Beftandtheile Hinmegfieht, welche der Zufall ihr in
ungünſtiger und verworrener Stellung und Miſchung vorführt.
Jener Staub ift Staub nur für den, melden er beläftigt; die
gleichgiltige Form des Geräthes fest den Werth der -einzelnen
Elemente, aus denen e8 befteht, ebenjo wenig herab, als eine
verkümmerte gefellichaftlihe Lage, melde alle Aeußerung bes
geiftigen Lebens unterdrückt, die hohe Beſtimmung aufbebt, für
welche auch dieſe niebergebrüdten Bruchitüde der Menjchheit
dennoch berufen find. Wenn wir von dem göttlichen Urſprunge
und dem himmliſchen Ziele der menſchlichen Seele ſprechen, haben
wir mehr Urſache, einen befümmerten Blick auf dieſen Staub
bes Geifterreich® zu werfen, deffen Leben uns häufig jo fruchtlos
ſcheint und feine Aufgabe völlig verfehlend; weit weniger Grund
würden wir haben, jenen unbeveutenden Beftandtheilen der Außen⸗
welt ihr inneres Leben zu leugnen, denn wie fie auch in ihren
Zufammenbäufungen uns unſchön erjcheinen mögen, fie vollziehen
wenigftens überall und ohne Mangel die Wirkungen, welche ihnen
die allgemeine Ordnung als Yeußerungsweifen ihrer inneren Zu⸗
ftände geftattet hat.
In der That nun beruht die Neigung, welche wir hier für
die Borftellung einer durchgängigen Befeelung des Weltalls be-
fennen, nicht auf dem Wunfche, jenen Glauben an die Verfchmel-
zung unferer Seele mit dem Ganzen unferer leiblihen Drgani-
fatton, den wir früher zurückwieſen, jest noch und anzueignen.
Sie hängt überhaupt nicht mit Diefer engeren Frage nad dem
Zufammenhange des Geiftigen und Körperlihen im uns zu—
fammen, fondern geht aus einer allgemeineren Weberzeugung
über das Wefen der Dinge hervor, deren Gründe vollftändig und
geordnet zu entwideln die Aufgabe der ftrengeren Wiſſenſchaft
bleiben muß. Diefe würde zu zeigen haben, wie undenfbar und
widerfprechend im Grunde jene Vorftellung tft, mit der allerdings
das gewöhnliche Leben und ſelbſt die berechnende Unterfuchung ver
Welt fi zu behelfen weiß: die Vorftellung von einem Seienden,
welches nie für fich felbft vorhanden wäre, in all feinem: Sein
408
nur den Sammelpuntt von Eindrüden bildete, die nicht zum
Gegenftand feines eignen Genuſſes würden, oder den Ausgangs-
punft von Wirkungen, die weder in feinem Wiffen noch in feinem
Wollen begründet, erft für ein Anderes eine Anregung zu mannig-
faltigem Thun enthielten. Bergeblid würden wir verſuchen, das
Was dieſes Weſens durch irgend eine einfache und überfinnliche
Dualität bezeichnet zu denken; wir würden uns überzeugen müffen,
daß eben fo wie die finnlichen Qualitäten, deren objective Wirk⸗
lichkeit aufzugeben wir uns leichter entichlöffen, auch. alle jene
überfinnlihen, bie wir ihnen als das Wahre gegenüberftellen
möchten, ihr Dafein doch nicht minder nur in dem Bewußtſein
deffen haben, ber fie denkt, und daß fie nie im Stande fein würben,
den Duell ver Wirkfamleiten und Kräfte zu bezeichnen, die wir
von den Dingen ausgehen jehen und für welde wir eine Be—
gründung in dem Wejen derfelben fuchen müſſen. Jene Scheu,
den einen Theil der Welt nur als das blinde und leblofe Mittel
für die Zwecke des anderen Theiles anzufeben, jene Sehnfudt,
das Glüd der Befeelung über Alles zu verbreiten und die überall
in jedem Punkte ſich jelbft genießende Welt als eine vollkom—
menere gegenüber dem zwiejpältigen Aufbau des Geiftigen über
dem bewußtlojen Grunde zu rechtfertigen: dies Alles ift nur Die
eine Reihe ber Beweggründe, melde und drängen, hinter der
ruhigen Oberfläche der Materie, Hinter den flarren und gefeß-
lichen Gewohnheiten ihres Wirkens die Wärme einer verborgenen
geiftigen Regſamkeit zu ſuchen. Eine andere und bringendere
Keihe von Motiven Tiegt in den inneren Widerfprücden, die uns
den Begriff eines nur Seienden, aber nicht fich ſelbſt Befiten-
den und Genießenden unmöglich machen und ung zu der Weber:
zeugung nöthigen, daß lebendigen Wefen allein ein wahrhaftes
Sein zufomme, und daß alle anderen Formen des Dafeins ihre
Erklärung nur aus dem geiftigen Leben, nicht dieſes Die feinige
aus ihm erhalten könne.
So finden wir uns faſt am Ende unfered Weged auf Die
Gedanken zurüdgeführt, die am Anfange der menfhliden Ent-
409
widlung in den mythologifchen Dichtungen das Gemüth bewegten.
Und mit Abficht erinnern wir an dieſe Verwandtſchaft, die für bie
wiſſenſchaftliche Sicherheit unferer Auffaffung wenig empfehlend
ſcheint. Denn in der That haben wir mit diefer Behauptung
einer durchaus befeelten Welt nur eine Ausficht bezeichnen wollen,
die fidh bier vor und eröffnet und einen vworauseilenden Blid
wohl, aber nicht einen wirflihen Gang in unendliche Fernen
möglih macht. Wie gern wir diefen Blid im Gtillen feft-
halten mögen, ihn in die wirkliche Wiffenfchaft einführen dürfen
wir dennoch nicht; wir würden in der That nur zu baltlofen
Träumen einer weniger maleriſchen Mythologie zurückkehren, wenn
wir das auszuführen verſuchen wollten, was wir als die Wahr-
heit der Sache allerdings uns denken: wenn wir zeigen wollten,
wie die Geſetze der phyſiſchen Erfcheinungen aus der Natur der
geiftigen Regfamleit hervorgehen, die im Inneren der Dinge ver-
borgen ihr wahres Wefen und der einzige Duell aller ihrer Wirk—
famteit if. Wohl hat ſchon das Alterthum von Liebe und Haß
gefprochen, als den Gewalten, welche ‚die Stoffe bewegen und
die Formen ihres gegenfeitigen Verhaltens beftimmen, und hat
dadurch auf ein lebendige und verftändliches Motiv jene An-
ziehungen und Abftoßungen zu begründen gefucht, die wir jett
ohne Berftändniß ihres rundes nur thatfächlid an Die todte Maſſe
geknüpft denken. Wohl müfjen wir im Allgemeinen zugeben und
fefthalten, daß jede räumliche Bewegung der Stoffe fi als der
natürliche Ausdrud der inneren Zuftände von Weſen deuten läßt,
die mit einem Gefühle ihres Bebürfniffes, mit der Sehnſucht
nach wahlverwandter Ergänzung, mit der Empfindung beginnen-
ber Störung einander ſuchen oder fliehen: aber gewiß ſtehen wir
nicht jo im Mittelpunkt der Welt und des ſchöpferiſchen Gedan—
tens, der fih in ihr ausdrückt, daß wir jemald aus einer voll-
ftändigen Erkenntniß des geiftigen Weſens, die und ja verfagt ift,
die beftimmten Gefete der phufiichen Vorgänge als nothwendige
Folgen abzuleiten vermöchten. Hier, wie fo oft für die Beichränft-
heit des menjchlihen Standpunftes, ift der Weg des Erkennens
410
ein anderer als der, auf welchem die Natur der Sache fi ent-
widelt; Nichts bleibt und übrig, als der Erfahrung die Gefete
abzulaufchen, die ſich in den legten Verzweigungen der Wirklich-
feit geltend erweifen, fiir das Ganze der finnlichen Welt aber und
im Stillen das Verſtändniß zu bewahren, daß fle doch nur bie
Berhüllung eines unendlichen geiftigen Lebens ift.
Werfen wir num einen Blid auf die Vortheile, welche dieſe
Umgeftaltung unferer Anfichten für die Auffaffung des Berbält-
niffe8 zwiſchen Leib und Seele gewähren könnte, fo werben mir
fie vielleicht geringer, vielleicht in anderer Richtung gelegen finden,
als wir erwarteten. Wer Anftoß an der Möglichkeit einer Wechſel⸗
wirkung nahm, die zwifchen der Seele und dem anders gearteten
Realen der Materie ftattfinden follte, wird feine Bedenken nun
durch die Einficht befchwichtigen können, daß ja in ber That nicht
verjchiedene Wefen einander hier gegenüberftehen, jondern daß
die Seele als ein untheilbares Wefen, der Körper als eine zu-
fammengeordnete Bielheit anderer, ihrer Natur nad verwandte
und nun gleichartige Glieder dieſes Verhältniſſes find. Nicht auf
den Körper, jofern er Materie ift, wirkt die Seele, fondern fie
wirkt auf die mit ihr vergleichbaren überfinnlichen Wejen, die nur
durch eine beftimmte Form ihrer Verknüpfung und den Anſchein
der ausgedehnten Materie gewähren; nicht al8 Stoff und nit
mit Werkzeugen des Stoffes itbt der Körper feinen Einfluß auf
den Geift, fondern alle Anziehung und Abftogung aller Drud
und Stoß find felbft in jener Natur, die uns aller Bejeelung
ledig Icheint, felbft wo fie von Stoff zu Stoff wirken, nur der
ericheinende Ausdrud einer geiftigen Wechſelwirkung, in der allein
Leben und Thätigfeit if. Aber wir legen wenig Werth auf
dieſen Vortheil, durch den nur eine eingebilbete Schwierigfeit
entfernt, und das Unbegreifliche, wie überhaupt Eines auf das
Andere wirken könne, ung nicht klarer wird.
411
Noch weniger Tann unfere Anficht jenen gefallen, denen ein
völliges Sneinanderaufgehen von Körper und Seele der nothiwen-
Dige und allein wünſchenswerthe Abſchluß aller unſerer Betrach-
tungen ſchien. Denn fo fcharf wie jemals vorher fahren wir aud
jeßt fort, die eine untbeilbare Seele, die wir die unfere nennen,
dem befeelten Körper gegenüberzuftellen, und fo hartnädig wie
früher müfjen wir den Körper felbft als ein Syitem von Theilen
betrachten, aus deren zufammenmirkenden Thätigkeiten fein Leben
hervorgeht, nur daß eine innerliche geiftige Regſamkeit jett jedes
der Theilchen füllt, die unferer früheren Darftellung nur als
Ausgangspuntte phnfiicher Kräfte von Bedeutung waren. So
wenig ed uns früher möglich ſchien, aus der Durchkreuzung
phnfiiher Wirkungen der Nerven die eigentbüimlichen Elemente des
geiftigen Lebens zur erklären, ſo wenig reicht jetzt Die vergeiftigte
Natur der Theile hin, um die Entftehung des einen Bewußt⸗
jeins in uns begreiflicher zu machen. Was aud immer jebed
Atom eined Nerven innerlich in fich erleben mag, ob es unter
dem Eindrud der äußeren Reize eine der unferigen ähnliche oder
ihr unähnlihe Empfindung erzeugen, fie wie wir mit eimem
Grade der Luft oder Unluft begleiten und ſich durch fie zu Stre-
bungen hinreißen laſſen mag: all dieſes innere Leben ift für
unfere eigne geiftige Entwidlung ohne alle Bedeutung, jo lange
es ſich nicht äußert. Nur dadurch, daß jedes Atom der Nerven
auf das ihm zunächft Tiegende feinen Eindruck überträgt, bis durch
die gefchloffene Kette aller die Erregung auch unferer Seele üiber-
Tiefert wird, nur hierdurch greifen die inneren Zuftände dieſer
Elemente in die Geftaltung unſeres geiftigen Lebens mitbeftim-
mend ein. Aber feines von ihnen tbeilt feinem Nachbar dieſe
Zuftände fertig mit; keine Welle bevußter Empfindung, Teben-
digen Gefühles und Strebens kann fi in der Bahn des Ner-
ven fortbewegen, um durch bloßen Eintritt in unfere Seele nun
unfere Empfindung, unfer Gefühl, unfer Wille zu werden; jedes
einzelne Wefen kann das, mas fein eigner Zuftand fein foll, nur
durch die Thätigkeit feiner eignen Natur in fich ſelbſt erzeugen,
412
und nicht8 wird barauf anlommen, ob der äußere Reiz, welder
ed dazu anregt, dem zu erzeugenden Zuſtande ſelbſt fchon glich
oder nicht. Wenn die Begeifterung für einen großen Gedanken
rajc über eine Menge der Menjchen ſich verbreitet, fo geht fie
nicht fertig von einem zum andern über, wie eine Luftart ober
ein anftedendes Miasma, welches der eine Körper ausdünſtet und
ber andere einathmet. Jede Seele muß durch ihre eigne Kraft
fie von Neuem erzeugen und aus ihrem Innern heraus fidy für
den Gegenftand entflammen, deſſen Bild und Vorſtellung felbit
nur durch mannigfache Vermittlungen conventioneller Sprachlaute
und aufflärender Erinnerungen von einem zum andern mittheil-
ber ift.
. Haben wir daber jhon längft die Möglichkeit zugegeben,
bag in jedem Atom des Nerven ein dem ähnlicher Vorgang fich
ereigne, welchen unſer eignes Innere in der bewußten Empfin-
dung erfährt, jo müfjen wir doch zugleich Die andere Behauptung
wiederholen, die wir hinzufügten, Die nämlich, daß für alle Ent-
wicklung der Piychologie diefe Möglichkeit vollkommen gleichgiltig
if. Für Die Erzeugung unferer Empfindung kommen die Nerven
nur als Boten in Betracht, dazu beftimmt, eine Nachricht an
ihren Empfänger zu befördern. Vielleicht kennen die Boten den
Inhalt der Nachricht und überdenken ihn während des Weges
mit gemüthlicher Theilnahme; aber in dem Empfänger wird Ber:
ftändniß und Würdigung des Inhaltes, wenn beides ihm nicht
aus feinem eignen Innern quillt, duch das Mitgefühl des Ueber⸗
veichenden nicht erzeugt, und nicht dadurch gemindert werben,
daß eine völlig theilnahmloſe Hand ihm zuletzt gleichgiltig ihre
Botſchaft überlieferte. Die Aufgabe, zu weldher fie berufen find,
erfüllen daher die Nerven ganz ebenjo gut, wenn fie nur Bahnen
für die Leitung eines rein phyſiſchen VBorganges find, der nur ein-
mal, nur bei feinem Eindrud auf unfere Seele, eine Verwand⸗
ung in Empfindung erfährt, und der Wiſſenſchaft ift es, nicht
ohne großen Bortheil für ihre Sicherheit, erlaubt, jede Rüdficht
auf die unbekannte geiftige Regſamkeit bei Seite zu Yaffen, mit
413
welcher ihrerſeits die äfthetifche Anfiht der Natur alles Vorhan⸗
dene erfüllen Darf.
In der That nur die Schönheit der lebendigen Geftalt wird
und verftändlicher durch dieſe Borausfegung. Sie wiirde aller-
dings auch für jene Anficht nicht dazuſein aufhören, für melde
der Körper nur eine Summe unbelebter Theile wäre; fo wie wir
in bem Faltenwurf des beweglichen Gewandes die Kraft und Größe,
Anmuth und Zierlichkeit, wie den wechjelnden Reichthum ver
ZT hätigleiten nadhempfinden, durch deren Spuren das geiftige Leben
den jelbfilofen Stoff zu befeelen meiß, fo würde ber Körper, als
eine noch folgjamere Hille und zu mannigfaltigerem Ausdrude
geſchickt, und die fchöne und unbedingte Herrichaft der Seele über
die finnlihen Mittel der Erſcheinung verrathen. Aber gewiß ge-
winnt die Wärme diefer Schönheit, wenn wir das Ebenmaß ber
menfchlichen Geftalt und die harmonische Lagerung ihrer Theile
nit nur als die feine Berechnung eines in fi zufammenpaffen-
den Werkzeuges, wenn wir die anmuthigen Berjchiebungen, durch
welche im Wechfel der Stellungen jeder Theil, ſich ſpannend ober
erſchlaffend, mit den übrigen ein neues Gleichgewicht ſucht, nicht
nur als das Kunſtſtück einer ihre eignen Störungen ausgleichen-
den Verrichtung zu faffen brauden; wenn wir vielmehr in jedem
Punkte der Geftalt ein Gefühl ahnen Dürfen, in welchem er das
Glück feiner eigenthümlichen Stellung und feiner mannigfadhen
Beziehungen zur dent Ganzen genießt, oder wenn wir in jenem
abgeftuften Nachhall leiſer Dehnungen und Stredungen, mit denen
jede örtliche Bewegung fi über die Umriſſe des Körpers ver-
breitet, ein Zeichen des feelenvollen Verſtändniſſes erbliden, mit
welchem alle Theile zu dem gemeinfamen Genuffe ihrer jchönen
Berkettung zuſammenſtimmen.
Es ift das Bild einer gefelligen Ordnung vieler Wefen,
unter welchem wir jett die lebendige Geftalt und ihr geiftiges
Leben auffaffen. An einen bevorzugten Punkt der Organifation
geftellt, ſammelt die beherrſchende Seele die unzähligen Eindrüde,
die ihr eine Schaar weſentlich gleichartiger, aber durch Die gerin-
414
gere Bebentung ihrer Natur minder begünftigter Genoffen zuführt.
In ihrem Innern begt fie das Empfangene und geftaltet e8 zu bewe-
genden Antrieben, welche fie der bereitwilligen Kraft jener Gefähr-
ten zur Entwidlung geordneter Rückwirkungen mittheilt. Ein allge-
meines Verftändnif und Mitgefühl durchdringt diefe Vereinigung
und fein Erlebniß des einen Theiles muß nothwendig verloren fein
für den anderen, nur der eigne Plan des Ganzen kann die allſei⸗
tige Verbreitung der Wirkungen hemmen. Ich weiß nicht, in welchem
Punkte die Befriedigung, die mir diefe Anficht zu gewähren ſcheint,
durch die Annahme überboten werden könnte, welde Die völlige
Berihmelzung der Seele mit der leiblichen Organifation verlangt,
und den unmittelbaren Genuß, den die unjere jedem einzelnen Theile
von ben Erlebniffen der übrigen verihafft, in ein unmittelbares
Zuſammenfallen aller verwandeln möchte Wenn wir die Seele
wie einen verſchwommenen Hauch duch den Umfang des Körpers
ausgebreitet denfen, wenn wir fie unmittelbar mitleiden und mit-
thun laſſen, was er in jevem Augenblide und an jedem einzel-
nen Punkte feines Baues erfährt und leiftet: gewinnen wir da⸗
durch etwas, was uns die Borftellung einer mittelbaren Wechſel⸗
wirkung nicht gewähren könnte? Werben die Empfindungen uns
weniger deutlich zu Theil, wenn wir ihre Erregung nur von Der
legten Einwirkung eines phyſiſchen Nervenreizes auf die Natur
einer untheilbaren Seele abhängig denen, und werben fie klarer
baburch, daß mir jeden einzelnen Schritt der phuftichen Vermitt-
Yung, durch welche fie uns überliefert werben, von einer geiftigen
Thätigkeit begleitet fein Laffen, die do nie im Bewußtſein zum
Borihein kommt? Sind unfere Bewegungen vielleiht in höhe—
rem Sinne unfere eignen lebendigen Thaten, wenn unſer Wille
mitläuft bis an das Ende der motorischen Nerven und vielleicht
bis in die Fafern der Musteln, und bleiben fie nicht vielmehr
eben fo wohl unfer Eigenthum, wenn nur einmal eine Regung
der Seele nöthig war, um ben vorbereiteten Zuſammenhang
bienfibarer Theile zur Thätigkeit aufzurufen? Was überhaupt
jollte uns bewegen, dieſes Klare Bild einer geordneten Herrſchaft
415
des Einen über eine organifirte Bielheit in die trübe Vorftellung
jener dumpfen Einheit Aller zu verwandeln, im welcher jede regel-
mäßige Form der Wechſelwirkung, melde die Beobachtung uns
fennen lehrt, nur noch eine unverftändliche Weitläuftigkeit zu fern
Ihiene? Alles, was wir im Leben ſchätzen und woraus jeber
eblere Genuß entipringt, ruht auf diefer Form der Verbindung
eine? Mannigfachen; in unzähligen Individuen verförpert, führt
das menſchliche Geſchlecht dieſes Reben beftändiger Wechſelwirkung
der gegenſeitigen Theilnahme in Liebe und Haß, des beſtändigen
Fortſchrittes, der den Gewinn des einen Theiles zum Mitgenuſſe
der übrigen bringt. Jede Verſchmelzung der Vielen zu Einem
ſetzt nur die Größe des Lebens und des Glückes herab, denn ſie
vermindert die Anzahl der Weſen, deren jedes für ſich den Werth
gegebener Verhältniſſe hätte genießen können. Ueberall iſt die
Einheit, in die wir uns ſehnen mit einem Andern einzugehen,
nur die vollftändige Gemeinſchaft der Mittheilung, der gegenſeitige
Mitgenuß des fremden Weſens, aber nie jene trübe Vermiſchung,
in der alle Freude der Vereinigung zu Grunde geht, weil fie mit
dem Gegenſatz auch das Daſein deſſen aufhebt, was feine Ver⸗
ſöhnung empfinden konnte.
Und wie wenig begünftigt endlich doch die unbefangene Be-
obachtung den Traum von diefer Einheit! Aus zerftreuten Be-
ftandtheilen der Außenwelt wird allmählich dieſer Bau des Kür-
perd zujammengelefen, und in beftändigem Wechſel gibt er ihr
Theile zurüd. Was ift alfo das, womit die Seele Eines fein
Könnte? Verſchmilzt fie abwechjelnd mit dem ankommenden Erjag
des Leibes und fcheidet filh aus von dem zerfallenden Reſte, worin
ann dann jene Einheit anders beftehen, als in Wechjelmirkungen,
die fich entjpinnen und wieder erlöfchen, je nachdem der Naturlauf
neue Elemente zu der Gejellung der übrigen hinzutreten läßt,
andere aus ihren Beziehungen verdrängt? Wie das Reiſegewühl
der Menſchen ift dieſes Leben der Theile. Wir wiſſen nicht, wo⸗
her fie kommen und nicht wohin fie gehen; fremd gerathen fie
zufammen und für kurze Zeit bildet fich zwiſchen ihnen ein ges
416
felliger Verkehr, dem gemeinfamen Zwecke der Reife in allgemei-
nen Regeln des Verhaltens entiprechend, umd jeder ſammelt in
fi Die Anregungen, die das mittheilende Wiffen des Anderen
ibm gewährte. So mögen wir wohl jedes Atom des Körpers
als ben Sit einer eignen geiftigen Regſamleit denen; aber wir
fennen fie nicht; wir wiffen nichts won ihrer früheren Geſchichte,
und nidht8 von der Entfaltung, die ihr vielleicht die Zukunft bringt;
für einen vorübergehenden Zeitraum in den regelmäßigen Strudel
unferes lebendigen Körpers hineingezogen, mag jedes Element
feine eignen inneren Zuftände durch neue Erfahrungen bereichern
und unferer Entwidlung durch die vermittelnde Fortpflanzung der
Erregungen dienen, welche die Außenwelt ihm mittheilt; aber fein
inneres Lebens ift doch nie das unfere, und wenn dieſe Vereini⸗
gung der verjchiedenen Weſen zu Grunde gebt, auf denen unfere
lebendige Geftalt beruht, dann haben wir wohl alle zufammen
etwas Gemeinfames erlebt, aber doch nur als urjprünglich ver-
ſchiedene Weſen, die aus einer vorübergehenden Berührung fid
wieder trennen.
Fünftes Kapitel.
Bon den erfien und legten Dingen bes Seelenleben®.
Beſchränktheit ber Erkenntniß. — Tragen über bie Urgeſchichte. — Unſelbſtändigkeit
alles Mechanismuß. — Die Naturnothwendigkeit unb bie unenblidde Subflanz. —
Möglichkeit des Wirkens überhaupt. — Urſprung beſtimmter Geſetze bei Wirkens.
— Unſterblichkeit. — Entftehung ber Seelen,
Aber woher kamen am Aufang der Geſchichte zu dieſem
Spiele des bejeelten Lebens jene Wefen zufammen, um in folder
Bereinigung zu Trägern jo ſchöner Entwidlungen zu werden?
Und wie wiederholt ſich in ber Fortpflanzung der Gefchlechter
dieſes Wunder, welches jede Seele ihren Körper finden, jede be
ginnende leibliche Organifation den belebenden Hauch ihres Geiftes
417
empfangen läßt? Welche Schidfale endlich ftehen nach der Auf-
löſung diefer Gemeinſchaft den einzelnen Weſen bevor, und am
meiften jener einen Seele, deren Beftimmung zu unendlicher Ent-
faltung durch die Bedeutung deſſen verbürgt ſcheint, was fie in
diefem leiblichen Leben begonnen und errungen bat?
Zu dieſen Fragen führt unvermeidlich unfere Betrachtung
ung zulegt zurück; und je fchärfer wir das Bild der gegenfeitigen
Beziehungen zwiichen Körper und Seele zu zeichnen verſucht haben,
um fo mehr müflen wir und aufgeforvert fühlen, durch eine Auf:
klaͤrung über den Urſprung dieſes Zufammenbanges und den Sinn
feiner endlichen Auflöfung einen Abſchluß unferer Auffafjungen
zu fuchen. Aber follen wir uns gegenfeitig täufchen? Ich, in=
dem ich vorgäbe, eine Löſung dieſer Räthfel zu kennen, und wer
mir bis hierher gefolgt, dadurch, daß er fich ftellte fie mir zuzu-
trauen? Nicht einmal des Nüdblides auf die erfolglofen An-
firengungen von Jahrhunderten bedarf ed, fondern nur einer ein-
fachen Erinnerung an die Mittel, die menſchlicher Erfenntniß ge-
geben find, um die Hoffnungslofigleit jedes Unternehmens zu
empfinden, da8 über diefe erften und letzten Dinge die Klarheit
anſchaulicher Erkenntniß zu verbreiten juchte Keinen Augenblid
mögen wir und daher dem trügerifchen Traume bingeben, als
tönne e8 je gelingen, in fichere Erlenntniß zu verwandeln, was
nur al8 gläubige Ahnung da8 Gebiet menfchlicher Erfahrung zu
umgeben beftimmt if. Aber eine Aufgabe bleibt uns dennoch.
Denn fo fehr wir und verfügen, Bilder deſſen zu entwerfen, was
über die Grenzen diefeg Gebietes Hinausliegt, fo müſſen wir doch
zufeben, ob die Betrachtungen, die-wir innerhalb befjelben an-
gefnüpft haben, wenigſtens die Möglichleit eines befriedigenven
Abichlufjes in unerreihbarer Gerne übrig Yaflen, oder ob das,
was wir zu wiſſen überzeugt find, felbft die Hoffnung einer fol-
hen Ergänzung abjchneidet. Wohl werden der menſchlichen Ein-
fiht umausfüllbare Lücken übrig bleiben, aber fie kann nicht, ohne
ſich jelbft aufzugeben, an das glauben wollen, deſſen Unverein-
Zope I. 4. Aufl. 27 -
418
barkeit mit der nothwendigen Geltung ihrer eignen Grundfäße
fie begreift.
Zur Erwägung diefer legten Yragen finden wir ‚die Bor-
ſtellungsweiſen unzulänglih, in denen wir uns bisher bewegt
haben. Denn fie alle jegten den Zuſammenhang der Wirflichkeit
als eine fertige, gegebene Thatfache voraus und bemühten fich
nur um die Auffindung der allgemeinen Gefege, nad denen bie-
fer vorhandene Weltlauf feine einzelnen Ereigniffe auseinander
entwidelt. So galten fie alle nur der Erhaltung und der Fort⸗
fegung eines Erſcheinungskreiſes, deſſen erjte Entftehung und enb-
liches Ziel fie abfichtli aus dem Bereiche ihrer Unterjuchungen
ausſchloſſen. Und in der That, fo wie wir aus dem fichtbaren
Bau der fertigen Maſchine die Wirkungen, welche fie Teiften Tann,
und die Reihenfolge derſelben beredinen, ohne in diefer Beur⸗
theilung wefentlich geförbert zu werden durch die Kenntniß ihres
Urfprunges und des Herganges ihrer Erbauung: ebenfo vermögen
wir die Erhaltung der Welt und den Rhythmus ihrer Ereigniffe
aus ihrem gegenwärtigen Beſtande zu verftehen, auch ohne bie
Geſchichte der Schöpfung zu kennen, aus der fie entiprang. Aber
allerdings nur um den Preis, daß wir für jeben einzelnen Augen⸗
bli€ den Grund der beftimmten Geftalt, mit welcher die Exeig-
niffe ihn füllen, in dem vorhergehenden Augenblid als vorhan-
bene Thatſache vorausſetzen. So ſchieben wir nur das Räthſel
Schritt für Schritt zurück, um endlich ber dem Geſtändniß an⸗
zulangen, daß der erfte Uriprung von Allem uns unverftänbfich
bleibt, und daß wir in allem Weltlauf höchſtens Abwechſelungen
der Entwidlung, aber nie die Entflehung jener erften Anorb-
nung begreifen, 'auf welcher die Möglichkeit all dieſes Wechſels
auf einmal beruht.
Man täuſcht fih, wenn man glaubt, die Wiffenichaft ver-
"möge irgendwo dieſe Schranfen zu überfchreiten. Nachdem bie
Borftellung von der Bildung des Planetenfyftems aus einem feu⸗
rigen Nebel, eine geniale Anficht über Ereigniffe einer Vorzeit,
die aller Erfahrung entzogen ift, in den Beftand der allgemeinen
419
Bildung übergegangen ift, jo meint man wohl, nun doch einmal
endlich eine jchöne Ordnung der Erſcheinungen, zwar nicht aus
Nichts, aber doch wenigſtens aus einem formlofen Urgrunde über-
zeugend entwidelt zu haben. Aber man vergißt, daß die Ge-
ſchichte dieſes Feuerballs, den man ſo ſcharffinnig in ferne fpä-
teren Geftaltungen verfolgt, nothwendig auch rückwärts fich in eine
unenblihe Vergangenheit verlängert. Der allmählich erfaltende
und fich verdichtende muß eine Zeit erlebt haben, da feine Tem-
peratur noch höher, feine Ausdehnung größer war; wo liegt num
der Anfangsaugenblid der Verdichtungsbewegung, in deren Fort-
fegung begriffen jene Vermuthung ihn aufgreift? Und moher
ftammt die urſprüngliche Richtung und Geſchwindigkeit der Dre=
hung, in welcher wir alle feine Theilchen übereinſtimmend bemegt
vorausſetzen müſſen? Auch diefe Formloſigkeit war mithin Doc
nicht der Anfang der Welt; fie war nur einer jener mittleren
Punkte, in welchen frühere Formen der Ereigniſſe für Die An-
ſchauung fih in eine unfdeinbare Einfachheit zufammengezogen
haben; aber durch diefen Punkt hindurch gehen die Stoffe, Die
Kräfte und Bewegungen der Wirklichleit unverloren und’ unab-
gebrochen fort, um jenfeit8 wieder in die Mannigfaltigfeit einer
neuen Entwidlung ſich auszubreiten. So Liegt für alle Orbnung
der Ereigniffe der Grund immer in einer früheren Ordnung, und
wie mannigfadh diefe Melodie des Werdens bald in größeren
Reichthum anſchwillt, bald in unfcheinbare Keimgeftalt fich zufam-
menziebt: fie hat doch für uns nicht Anfang noch Ende, und alle
unfere Wiffenihaft Himmt nur auf und ab an dieſem Unend⸗
lichen, den inneren Zufammenhang einzelner Streden nad all-
gemeinen Geſetzen begreifend, aber überall unfähig, den erften
Urſprung des Ganzen oder das Biel zu fehen, dem feine Ent-
widlung zuftrebt.
Und welche Lehre ziehen wir aus dem Bewußtſein dieſer
Beſchränktheit? Keine andere gewiß, als für uns felbft die Mab-
nung, mit unparteiifcher Geduld zu erwarten, wie weit und bie
Fortſchritte der Wiffenihaft in Vergangenheit und Zukunft führen
27%
420
werben; für die Wiffenfchaft jelhft aber den Wunſch, daß fie mit
unbefangener Genauigkeit fortarbeiten möge, ohne durch Vorliebe
für ein beftimmtes Ergebniß ihrer Unterſuchungen fih mißleiten
zu laflen. Denn was fie uns auch lehren möge: an das Ende
der Dinge wird fie und doch nicht führen, und Die Bebürfnifie
unfered Gemüthes werben nie durch bie Enthüllung einer zeit-
lichen Borgefchichte unferes Daſeins, fondern nur durch die Er-
fenntniß der ewigen Verknüpfung befriedigt werden, die zu allen
Zeiten die veränderliche Welt der Ericheinungen mit der Welt
des wahrhaft Seienven zufammenhält. Beſäßen wir diefe Er⸗
fenntniß, wie wenig würden wir gewinnen, wenn es und nun
gelänge, jene Fragen nad) der erften Entftehung des menfchlichen
Geſchlechtes ſicher zu beantworten, auf welche wir leivenfchaftlich
oft fo übergroßen Werth legen! Vielleicht vermehrt eines Tages
ein unerwartetes Glück die unzulänglien Ausgangspunkte der
Forſchung und befähigt und zu einer Entſcheidung, die Niemand
jeßt zu geben vermag. Gefegt nun, dieſe beffere Kunde ftellte
für uns Die Annahme ſicher, an der fo Vieler Herzen hängen,
die Annahme, daß mit blimder innerer Nothwendigkeit das noch
formlofe Chaos des Weltanfanges fih in ftetiger Berbolllonnn-
nung bis zur unvermeiblichen Erzeugung der Menfchheit verflärt
babe: ſchlöſſe fi dann für die Wiſſenſchaft der Ausblid in un-
endliche Fernen, den fie zu fliehen ſcheint? Wenn fie e8 num
begreiflich machen Könnte, wie aus dem feurigen Dunſtball zuerft
die Feſte der Erdrinde und der Himmel des Luftkreiſes ſich ſchie—
den, wie jeder Schritt diefer Sonderung den Wahlverwandtichaften
der Elemente Gelegenheit zu neuen Wirkungen gab, wie dann
unter den günftigen Umftänden, welche bie blinde Nothwendigfeit
dieſes Naturlaufes berbeiführte, der erſte Keim einer Pflanze,
eines Thieres entftand, noch einfach und unauögebilbet von Um-
riffen und wenig zu beveutfamer Entfaltung geſchickt, wie endlich
unter glüdlichen Bedingungen, zu deren Herftellung doch Diefes
arme Leben ſchon mittbätig war, allmählid das organiſche Da⸗
fein ſich veredelte, niedere Gattungen im Laufe ungezäblter Jahr:
421
hunderte fi) in höhere entwidelten, bis zuletzt die Menjchheit,
nicht nad dem Bilde Gottes, fondern als das letzte Glied in
biefer Kette nothmwendiger Ereignifje hervorging: wenn dies Alles
die Wiſſenſchaft begreiflih machen Könnte, was würde fie Damit
mehr geleiftet haben, als daß fie das Wunder der unmittelbaren
Schöpfung auf einen noch früheren Punkt der Vorzeit zurückge—
[hoben Hätte, in welchem die unendliche Weisheit in dies un—
ſcheinbare Chaos die unermeßliche Fähigkeit zu jo georpneter Ent-
widlung legte? Mit der ganzen Reihenfolge abgeftufter Bil-
dungsepochen, durch welche hindurch fie den formlofen Urgrund
fih ausgeftalten Tieße, würde fie nur den Glanz und die Man-
nigfaltigleit der Scenen vermehren, in deren äußerlichen Pomp
unfere Phantafte bewundernd ſich vertiefen Könnte; aber fie wiirde
das Ganze des wunderbaren Schaufpieles nicht zureichender erflärt
haben, als jener fich ſelbſt beſcheidende Glaube, für melchen bie
Entftehung der lebendigen Geſchlechter nur aus dem unmittel-
baren Schöpferwillen Gottes begreiflich ſcheint. Diefe Dihge find
es, deren Enticheidung wir, fo weit die Wiſſenſchaft fie je wird
geben Können, getroft von ihrer unbefangenen Wahrbeitsliebe er-
warten müffen; welchen Weg ber Schöpfung Gott gewählt haben
mag, feiner wird die Abhängigfeit der Welt von ihm lockerer wer-
ben laſſen, feiner fie fefter an ihn Fnüpfen Finnen.
Aber diefe Geduld der Erwartung pflegen wir ſehr wenig
zu befiten; mit dem leidenſchaftlichſten Eifer ftehen vielmehr jene
“beiden Auffaffungen der Wirklichkeit einander gegenüber, von denen
die eine den Weltlauf in reinen Mechanismus zu verwandeln
firebt, die andere, indem fie an die unmittelbare Wirkſamkeit einer
göttlichen regierenden Weisheit glaubt, vielleicht Hinter ihrem eige-
nen Sinne noch zurückbleibt. Denn darin finde ic das Halbe
und Unzulängliche diefer Meinung, daß fie meift erft durch Die
Betrachtung des Lebendigen und des GSeelenlebend fih zu dem
Belenntniß einer höheren, die zerftreuten Ereigniffe zu dem Ganzen
eines MWeltlaufes verbindenden Macht aufregen läßt. Aud ihr
ſcheint e8 doch möglich, daß die regelmäßige Ordnung der äußern
422
Welt auf der blinden Nothwendigkeit eines ſich ſelbſt genügenden
Mechanismus berube: nur die befondere BVortrefflichleit des Leben-
Digen umd die zweckmäßige Harmonie feines Dafeins nöthige ung,
bier über die gewohnten Erflärungsgründe binaus zu der An-
nahme einer ſchöpferiſchen und erhaltenden Weisheit zu flüchten.
Diefes Zugeſtändniß kommt mir zu fpät; nicht dadurch gewinnen
wir etwas, daß wir einen Theil der Wirklichkeit, als zu erhaben
für eine Entftehung durch mechaniſche Cauſalität, dem Gebote ber
allgemeinen Naturorbnung entziehen; vielmehr unter dieſen anderen
Gedanten müflen wir und beugen, daß alle jene unerjchlitterliche
Nothiwendigkeit, mit welcher das Ganze des mechaniſchen Welt-
laufes jelbftändig für ſich feftzuftehen ſcheint, ein ganz eitler Traum
ift, und daß feine einzige Wechſelwirkung zu Stande kommt ohne
die Mitwirkung jenes höheren Grundes, den wir übel berathen
nur für die Entftehung einzelner bevorzugter Erſcheinungen zu
bebürfen meinen.
Es iſt ein feltfamer und Doch begreiflicher Stolz unferer natur:
wiſſenſchaftlichen Aufklärung, zur erflärenden Naderzeugung ber
Wirflichfeit Teine anderen Vorausſetzungen nötbig zu haben, als
irgend einen urfprünglichen Thatbeftand an Stoffen und Kräften
und bie unverrüdte Geltung eines Kreiſes allgemeiner, in ihren
Geboten ſich ftet8 gleicher Naturgefete. Seltfam, weil es zulekt
Do in der That gar Bieles ift, was auf Diefem Wege voraus-
gefegt werben muß, und weil man erwarten Tonnte, daß es dem
zufammenfafjenden Geifte der menſchlichen Vernunft zufagender
fein müßte, die Einheit eines fchaffenden Grundes anzuerkennen,
als ſich Die zerftreute Mannigfaltigkeit nur thatſächlich vorhandener
Dinge und Bewegungen zum Ausgangspunkt aller Erklärung auf-
drängen zu laſſen. Aber begreiflih dennoch; denn um den Preis
dieſes einmaligen Opfers wiirde ja num ber endliche Verſtand bie
Befriedigung genießen, fih nie mehr durch die übermächtige Be-
423
deutung und Schönheit irgend einer einzelnen Erſcheinung impo-
niven zu laſſen; wie wunderbar und tieffinnig ihn irgend ein
Gebilde der Natur anbliden möchte, in jenen allgemeinen Gefegen,
welche er völlig zu durchſchauen vermag, befäße er das Mittel,
fih eined unbequemen Eindrudes zu ermehren, und indem er nach⸗
wiefe, wie für ihn ganz und gar verftändlich auch dieſe Erjchei-
nung nur eine beiläufige Folge eines wohlbefannten Naturlaufes
fei, würde e8 ihm gelungen fein, das zu feiner eigenen Endlid-
feit berabzuziehen, wa8 dem unbefangenen Gemüth freilich ſtets
nur als das Erzeugniß einer unendlichen Weisheit denkbar ift.
In diefen Neigungen und Gewohnheiten wird die natur-
wiſſenſchaftliche Bildung fchwer zu erſchüttern fein, und am wenig-
ften durch die Gründe, welche ihr gewöhnlich der Glaube an ein
höheres zweckmäßiges Walten in dem Naturlaufe entgegenzufeßen
pflegt. Denn wie lebhaft auch eine unbefangene Beobachtung
diefen Glauben erweden mag, fo daß es gleich thöricht und Tang-
weilig feinen kann, ohne ihn die Ordnung der Natur verftehen
zu wollen, fo wird ftet8 jene mechanische Auffaffung mit Recht
einwenden, daß doch auf ihren Weg immer in dev Erflärung des
Einzelnen auch diejenigen einlenfen, denen im Ganzen und Großen
die Herrichaft einer zweckmäßig wirkenden Macht außer Frage fteht.
Befriedigt werden doch auch fie erſt dann fein, wenn fie für jeden
Erfolg, weldien jene Macht gebietet, auch Schritt für Schritt Die
vollziehenden Mittel gefunden haben, durch deren nothmwendigen
und blinden Cauſalzuſammenhang die verlangte Wirkung entftehen
muß. Nie werben auch fie im Ernſte glauben, daß innerhalb
des Naturlaufes, wie er vor unferen Sinnen liegt, jene zweck⸗
mäßige Kraft neue Anfänge des Wirkens ſchaffe, die nicht rück—
wärt8 weiter verfolgt, fi immer wieder al8 bie nothwendigen
Folgen eines früheren Zuftandes der Dinge erfennen ließen. Ver-
wandelt fih nun fo auch für jene gläubigere Anficht der Lauf
der Begebenheiten doch wieder in den ununterbrochenen Zufam-
menhang eines Mechanismus, fo hebt die naturwiſſenſchaftliche
Betrachtung den letztern allein hervor und läßt den Gedanken an
au
424
die freie Wirkſamkeit der zweckſetzenden Kraft fallen, für welche fie
einen angebbaren Wirkungskreis nicht zu finden wüßte Gie
würde zugeben können, daß der erite Urfprung des Ganzen, befien
innere Verhältniſſe allein fie unterſucht, auf eine göttliche Weis-
heit zurüdflihren möge, aber fie würde die Thatfachen vermiffen,
welche innerhalb des Gebietes der Erfahrung eine fortvauernde
Abhängigfeit des Gefchaffenen von der erhaltenden Vorſicht feines
Urbeberd zu einer nothwendigen Borausfegung der Erflärung
machten. Zu unbefangen und felbftvertrauend hebt der Glaube
an dieſes Tebendige Eingreifen der zweckmäßig wirkenden Vernunft
nur die ſchönen Seiten des Dafeins hervor und vergißt einfl-
weilen die Schatten; indem er die unendlide Harmonie der or⸗
ganiſchen Körper und ihren forgfältigen Bau für die Zwecke des
geiftigen Lebens bewundert, gebenft er nicht der bitteren Confe-
quenz, mit welder bafjelbe organiſche Leben Höflichkeit und
Krankheit von Geſchlecht zu Gejchlecht überliefert, nicht der man-
nigfaltigen Störungen, welde die Erreichung felbft beicheidener
menſchlicher Ziele hindern. Wie wenig kann daher diefe Auf-
faſſung der Welt, für welche Die Gegenwart bes Uebels ein viel-
leicht nicht unlösbares, aber ungelöftes Räthſel ift, durch ihren
Angriff eine Gemohnbeit der Betrachtung zu überwältigen hoffen,
die in der Beobachtung unzählige einzelne Beftätigungen findet
und unzugänglid ift für das Gefühl des allgemeinen Mangels,
bon dem wir fie gebrüdt glauben!
Und felbit jenes Zugeſtändniß, welches fie uns vielleicht
maden wird, daß diefe Welt blinder Nothwendigleit aus ber
MWeisheit eines höchſten Urheberd einft mwenigftens entiprang, iſt
fie genöthigt e8 zu machen? Ohne Zweifel kann fie uns ein-
wenden, daß felbft die beftehende Zweckmäßigkeit der vorhandenen
Bildung fih unter der Herrichaft der allgemeinen Gejege aus
dem ungeorbneten Zuftand eines urfprünglichen Chaos mußte ent⸗
wideln können. Denn Alles, was ein principlofer Wirbel zu-
fammenführte in unzwedmäßiger Zufammenjegung und ohne jenes
innere Gleichgewicht der Beſtandtheile und Kräfte, welches dem
425
Gewordenen ein längeres Beftehen im Kampfe mit dem fortwo-
genden äußeren Naturlaufe hätte fihern können: alle das ift
eben Yängft zu Grunde gegangen. Neben und nad unzähligen
mißglüdten Bildungen, welche vielleiht die Vorzeit in raſchem
Wechſel des Entftehens und Bergehens gefüllt haben, ift allmählich
ber Naturlauf in ein engered Bett zufammengegangen und gerettet
hat fih nur jene Auswahl der Geſchöpfe, denen eine glüdliche
Zuſammenfügung ihrer Beftandtheile die Möglichkeit eine Be⸗
ſtehens gegen den Andrang der umgebenden Reize und die Fähig-
feit der Fortpflanzung auf unbelannte Zeit hinaus verliehen hat.
Für wie wenig wahrfcheinlich wir nun immer dieſe Anficht hal-
ten mögen, wir würden fie doch kaum dem entreißen können, dem
fie genügt, und wir können felbft den Reiz nicht hinwegläugnen,
welchen für den wiſſenſchaftlichen Scharffinn immer der Verſuch
haben wird, aus dem formlofen Chaos durcheinandergährender
Bewegungen die Nothwendigkeit einer allmählichen Sichtung und
Die von felbft erfolgende Bildung beftändiger Ablaufsformen der
Erſcheinungen zu entwideln.
Aber jever folche Verſuch beruht auf der einen Vorausſetzung,
daß eine allgemeine Gefeglichleit mit immer gleichem Gebote den
einzelnen Stoffen jener urfprünglichen Unordnung Form und Größe
ihrer Wechſelwirkungen vorzeichne und fie Dadurch zwinge, Ver⸗
bindungen aufzugeben, denen kein Gleichgewicht möglich ift, und
andere einzugeben, in denen fie ruhen oder eine beftändige Form
der Bewegung bewahren können. Und diefe Borausfegung iſt es
nun, deren Zuläſſigkeit wir prüfen müſſen; mit ihr allein ſteht
und fällt die ftolzge Sicherheit dieſer mechaniichen Weltauffaſſung.
Diefe Berehrung eines allwaltenden Naturgeſetzes, als des ein-
zigen Bandes, welches alle zerftreuten Elemente des Weltlaufes
. zu wechjelfeitigen Wirkungen zufammenvränge und bie Geftalt
ihrer Erfolge beftimme, ift fie felbft ein möglicher Gedanke und
ann fie den letzten Abſchluß für unfere Naturanfiht gewähren,
für deren Ausbildung im Einzelnen wir felbft ihr überall ge-
huldigt haben?
426
Nehmen wir an, daß zwei Elemente urjprünglid vorhanden
find, nicht erzeugt von irgendwen, nicht aus irgend einer gemein-
famen Quelle hervorgegangen, fondern in unvordenfliher Wirk⸗
Yichfeit von Ewigkeit beftehend, aber fo beftebend, daß feine an-
dere Gemeinſamkeit als bie Des gleichzeitigen ‘Dafeind fie um-
ſchließt: wie vermöchte Überhaupt der Einfluß des einen überzugehen
auf das andere, da jedes wie in einer Welt für fi ift, und
zwifchen ihnen Nichts? Wie wird durch dieſes Nichts hindurch,
in welchem feine Wege der Vermittlung laufen, die Wirkjamleit
des einen ſich hinfinden zu dem andern? Und wenn wir nun
annähmen, daß durch einen gemeinfamen Raum hindurch die Thä⸗—
tigfeit jedes Elementes wie eine ablösbare Atmofphäre ſich be—
ftändig ausbreitete, gleich dem ausftrahlenden Lichte wirkſam, wo
fie fände, worauf fie wirken könnte, und erfolglos ins Leere ver:
ſchwimmend, wo Nichts fi ihr darböte: was würden wir ge-
wonnen haben? Wir würden unfere eigene Vorftellung nicht
verftehen, weder wie die Wirkung die Grenzen befien verlaffen
könnte, welches fie herborbringt, noch wie fie eine Zeit lang
ſchwebend zwiſchen ihrem Urheber und dem, was fie treffen fol,
im Leeren fi aufhielte, noch endlich, wie fie jenes zulegt errei⸗
hend, eine umgeftaltende Kraft auf feine Zuftände auszuüben
vermöchte. Denn fo wenig der Raum ein Hinderniß des gegen-
feitigen Wirkens für das fein wide, was in ihm von einander
entfernt doch durch eine innere Beziehung verbunden wäre, fo
wenig wird die räumliche Berührung die Nothmwenbigleit einer
Wechſelwirkung herbeiführen, oder ihre Möglichkeit erflären zwifchen
Wefen, deren jedes nur auf ſich felbft beruhend durch die unaus-
füllbare luft innerlicher Gleichgiltigfeit auch dann noch von dem
andern geſchieden bliebe. Nur der gedankenloſen alltäglichen Mei-
nung fcheint der Uebergang der Wirkungen von einem zum andern
Elemente Mar; fie glaubt ihn mit völliger Anfchaulichleit in den
äußeren Bewegungen wahrzunehmen, die ihn begleiten; für jede
tiefer gehende Forſchung wird e8 mehr und mehr zum Raͤthſel,
wie der Zuſtand des einen Weſens eine verbindlide Nöthigung
427
für ein anderes enthalten inne, nun auch feine eigenen inneren
Zuftände abzuändern. So wie wir früher unfern Willen nicht
in feiner Strömung in die beweglichen Glieder verfolgen fonnten,
fondern zugeben mußten, daß alles Wollen eingefchloffen in den
wollenden Geift bleibe und daß eine umbegreiflihde Macht ihm
das Bollbringen folgen lafje: eben jo werben alle Kräfte, die wir
in irgend einer Form dem einen Element inwohnend denen, un-
zureichend fein, die Ausübung eines Einfluffes über das zu be-
gründen, in welchem fie nicht wohnen. Kann num jener Gedanke
des allgemeinen Naturlaufes, den unfere früheren Betrachtungen
bier berbeizogen, kann die Borftellung eines Reiches ewig und
allgemein geltender Gefete dieſe Lücke füllen und die ſpröde Ber-
einzelung der gefchiedenen Elemente zu dem gediegenen Ganzen
einer wechſelwirkenden Welt verichmelzen ?
Sie kann es ohne Zweifel nicht; denn wie bermöchten Ge-
feße, wie eine Nothwendigfeit, die für beftimmte Fälle beftimmte
Erfolge vorfchriebe, überhaupt fir fich felbft zu exiftiren? Nichts
fann fein außer dem GSeienden und feinen inneren Zuftänden,
und nicht zwiſchen den Weſen kann als ein fiir fich beſtehender
fie verbindender Hintergrund, als eine wirkfame fte leitende Macht
eine allgemeine Ordnung ausgegofien fein, dem borangehend was
fie ordnen fol. Blicken wir auf unfer menjchliches Leben zurück,
fo finden wir die Gefete unſeres gejelligen Dafeins nicht neben
uns und nicht zwifchen uns in einer unabhängigen Wirklichkeit
beftehen, nicht als Mächte, die durch ihr Dafein von außen und
zwingen und leiten Könnten; fie exiftiren nur in dem Bewußtſein
der Einzelnen, die ſich ihnen unterworfen fühlen; fie fommen zur
Geltung und Verwirklichung nur durch die Handlungen der leben⸗
digen Individuen; fie find nicht als bie in dem Innern vieler
MWejen übereinſtimmend entwidelte Richtung ihres Wollens, bie
dem fpäteren zuſammenfaſſenden Blicke der Beobachtung als eine
höhere von außen Yeitende Macht erfcheint, weil fie in ihrer ges
meinfamen Geltung fiir viele Einzelne nicht mehr ausſchließlich
als das Erzeugniß eines Einzigen fi barftellt. Die Gefege ber
428
Natur mögen den Einrichtungen des menjchlichen Geiſtes über⸗
legen fein; können diefe Widerfpruch und Unfolgfamfeit erfahren,
jo gebieten jene uneingefchränft und ungehemmt; dennoch wird Die
Natur nicht das an fi) Widerfprechende vermögen und dem eime
felbftändige Eriftenz verleihen, was nur an dem Seienden und in
ihm zu fein im Stande ift. Eine weitverbreitete Gewöhnung ber
Borftellung und des Sprachgebrauches, unſchädlich für Die Beur-
tbeilung der gewöhnlichen Vorkommniſſe des Lebens, auf deren
Beranlaffung fie entftanden ift, pflegt uns in biefen Weberlegungen
zu täuſchen. Wir ſprechen nun einmal von Beziehungen, die
zwifchen den Dingen obwalten, von Berhältniffen, in welche fie
eintreten, bon einer Ordnung, die fie umfaßt, von Gejegen end⸗
ih, deren Wirkſamlkeit zwifchen ihnen bin und her fpielt, und
wir bemerken wenig mehr, welchen Widerſpruch dieſe Begriffe ein-
ſchließen von Berhältniffen, die für fi) bereit lägen, bevor Die
Dinge kämen, um in fie einzutreten, von einer Ordnung, Die vor
dem Georbneten beftände, um es aufzunehmen, von Beziehungen
endlich, die wie baltbare Fäden, deren Stoff wir doch nicht an-
zugeben müßten, über den Abgrund hinmweggeipannt wären, ber
ein Weſen vom andern trennt. Wir bedenken nicht, daß alle
Berhältnifie und Beziehungen wahrhaftes Daſein zunächſt nur in
ber Einheit des beobachtenden Bewußtſeins haben, das von einem
Element zum andern übergehend, die getrennten durch feine zu-
fammenfaffende Thätigkeit umfpinnt, und daß jede wirffame Orb-
nung, jedes Geſetz, welches wir unabhängig von unferem Wiffen
zwifchen den Dingen ung vorftellen möchten, in ganz gleicher Weiſe
nur Dafein haben kann in der Einheit des Einen, welde fie
alle verbindet. Nicht der nichtige Schatten einer Naturorbnung,
jondern nur die volle Wirflichleit eines unendlichen lebendigen
Weſens, deſſen innerlich gehegte Theile alle endlichen Dinge find,
kann die Mannigfaltigkeit der Welt jo verknüpfen, daß die Wedh-
ſelwirkungen über die Kluft Hinüberreichen, welde die einzelnen
felbftändigen Elemente von einander ewig ſcheiden würde. Denn
von dem einen ausgehend, verfinft num die Wirkung nicht in ein
429
Nichts, das zwifchen ihm und dem andern läge, fondern wie in
allem Sein das wahrhaft Seiende daſſelbe Eine ift, jo wirft in
aller Wechſelwirkung das unendliche Welen nur auf fich ſelbſt,
und feine Thätigfeit verläßt nie ben ftetigen Boden des Seins.
Was in dem einen feiner Theile fich regt, ift nicht abgeichloffen
in diefem und fremd für die übrigen; der einzelne Zuftand hat
nicht einen unfagbaren Weg zurücdzulegen, um ein anderes Ele-
ment zu fuchen, dem er ſich mittheile, und bat nicht eine gleich
unbegreiflihe Gewalt auszuüben, um dies gleichgiltige Andere zu
nöthigen, an ihm Theil zu nehmen; jede Erregung des Einzelnen
ift zugleich eine Erregung des ganzen Unenblidhen, das auch im
ihm den lebendigen Grund feines Wefens bildet, und jedes ver-
mag deshalb mit feiner Wirkung überzugreifen in Anderes, in
welchem berfelbe Grund lebt; er ift e8, welcher aus ber Einheit
feiner eignen Natur dem endlichen Ereigniß bier feinen Nach⸗
Hang dort nachfolgen läßt. Nicht ein Endliches überhaupt wirkt
aus fi, als aus dieſem Endlichen heraus, auf das andere; jede
Erregung des Einzelnen vielmehr, indem fie den ewigen Grund
bewegt, der in ihm, wie in allen, das Weſen feines endlichen
Scheines ift, vermag nur durch diefe Stetigfeit der Wefendgemein-
haft hindurch auf das ſcheinbar Entfernte überzumirken.
Zu dieſer Anerkennung einer unendlihen Subftanz, die an
der Stelle eines wejenlofen und unwirklichen Geſetzes durch ihre
wejenhafte Wirklichkeit Die Dinge verbindet, nöthigt uns nicht
allein die Bewunderung einzelner Ereignißfreife, deren befonbere
Bedeutung uns überwältigt, fondern jedes noch jo ärmliche Bei-
fpiel irgend einer Wechſelwirkung, jeder einzelne Fall von Cau⸗
falität zwingt und, um die Möglichkeit eines Veberganges des
Einflufjes zu begreifen, an die Stelle eines bloßen Naturzufam-
menhanges ein ſelbſt fubftantielle8 Unendliche zu fegen, in welchem
das in der Erfcheinung geſchiedene Mannigfache nicht mehr ge-
ſchieden iſt. Nicht zwifchen den Beitanbtheilen des lebendigen
Körpers allein, nicht zwiſchen Körper und Seele vorzugsweis konn⸗
ten wir ein ſolches Band fuchen, als bebürften wir deſſelben nicht
430
überall; inbem wir vielmehr alles Gefchehen, welden Namen es
tragen mag, nur als die innerliche Regſamkeit eines einzigen
Unendlichen betrachten, wird uns ber weitere Verlauf unferer
Anfiht von jener wieverauflebenden Mythologie entfernen, welche,
wie die alten Sagen, einigen vornehmen Erfcheinungen ihre be-
fonderen Genien zuerfennt und die Übrige gemeine Wirflichleit für
ſich ſelbſt forgen läßt.
Denn nicht nur ein Band iſt dies allgemeine Weſen, nicht
nur eine gleichgiltige Brücke, welche dem Uebergang der Wir-
kungen bon einem Element zum andern nırr überhaupt den gang-
baren Weg bereitet: fondern die beftinmmende Macht ift es zu-
gleich, die jedem Borangang die Geftalt und Größe feiner Folge,
jedem einzelnen Weſen den Umkreis feiner möglichen Thätigkeit,
jeder einzelnen Yeußerung berfelben ihre befondere Form vorzeichnet.
Man täufcht fi Darin, daß man die Wirkungsweiſen, welche die
Dinge gegen einander beobachten, als ganz jelbftverftändliche Fol-
gen aus den beftimmten Eigenfchaften, welche num eimmal ihre
Natur ausmachen, und aus dem Miteinfluß der jedesmal ge-
gebenen Umſtände ableiten zu Einnen glaubt. Eine aufrichtige Be-
trachtung führt ung vielmehr zu dem Geftänbniß, daß aus dieſen
Borberfägen allein, mie wir auch ihren Inhalt zergliedern und
wieder verfnüpfen, die Wirkungen, welche bie Erfahrung uns that⸗
fachlich zeigt, al& nothwendige Schlußfäte nicht hervorgehen, ſon⸗
bern Daß eine unbefannte Macht, wie Rückſicht nehmend auf
Etwas, was wir in jenen Borbebingungen nicht antreffen, an
ihre Geftalt die beftimmte Geftalt der Folge gefnüpft hat. Das
Unendliche ift dieſe verborgene Macht, und das, worauf ed Rüd-
fit nimmt in diefer Beſtimmung der Folgen, ift feine eigne
gemeinfame Gegenwart in allen endlichen Elementen, durch welche
Die Welt zur Einheit eines Weſens verbunden ift, und um beren
willen der Lauf ihrer Ereigniffe zur Einheit eines zuſammen⸗
hängenden Ausbrudes fir den Inhalt dieſes Weſens verknüpft
werben muß. Nur jo viel und nur eine ſolche Fähigkeit des
Wirkens wird deshalb jedes Endliche befiten, wie viel und welche
431
das Unendliche ihm als feinen Beitrag zu der Verwirklichung des
Ganzen zugefteht.
Aber wir müffen weitläuftiger fein und uns erlauben, ben
widerfpruchlofen Zuſammenhang der Anficht, in deren Darftellung
wir begriffen find, mit den ſcheinbar entgegengefeßten Voraus⸗
fegungen zu erläutern, denen unfere eigne Betrachtung der ein-
zelnen Erfcheinungen früher gefolgt ift.
In jedem endlichen Dinge, fofern wir es als Erzeugniß bes
unendlichen Einen faflen, werden wir einen gewiflen Thatbeftand
von Merkmalen als die eigenthümliche Form bezeichnen künnen,
in welde in ihm zum Unterfchiede von anderem Endlicden jenes
Eine ausgeprägt if. Wir Können nicht meinen, daß in irgend
einer diefer beftimmten Formen, durch welche das eine Endliche
dieſes, das andere ein anderes ift, fi das volle Wefen des Un⸗
endlichen erſchöpfe, weldes ihnen allen der gemeinſame Grund
ihres Dafeins ift; aber ebenfo wenig birfen wir doch glauben,
daß ber untheilbare Inhalt deflelben, in unzählige Bruchftüde zer-
fallend, in jedem einzelnen Dinge nur mit einem Theile feiner
Fülle gegenwärtig fei. ALS wir die lebendige Thätigfeit der menfch-
lihen Seele überlegten, führte unfere Betrachtung uns zu einer
ähnlichen Forderung, wie diefe ift, welde wir uns bier ftellen
müfjen, und die Erinnerung an Die leichtere Faßlichkeit jenes ein-
zelnen Beifpiel3 Tann uns jet in der allgemeineren Auffafjung
deſſelben Verhältniſſes unterſtützen. Wenn die Seele Vorſtellungen
bildet, ohne noch eine Spur des Gefühles oder des Wollens zu
entfalten, glauben wir ſie doch ſchon in dieſer einſeitigen Weiſe
ihrer Thätigkeit nicht nur mit einem Theile ihres Weſens gegen⸗
wärtig, während ihre übrigen Fähigkeiten in gleichgiltiger Theil-
nahmlofigkeit ſchlummerten. Diefelbe ganze Natur vielmehr, die
unter dem Einfluffe anderer Anregungen Gefühle der Luft und
Unluft, begehrende und abftoßende Strebungen entwideln wire,
4323
meinten wir mit der vollen Fülle ihres Weſens ſchon an der Er-
zeugung der Borftellungen mitbetheiligt. Aber fie erjchöpft fih im
Borftellen fo wenig als in irgend einer andern einzelnen Form
ihrer Aeußerung; in allen vo vorhanden und mitthätig, findet
fie doch in jeder nur einen einfeitigen und partiellen Ausdruck,
und binter jedem Thun, das fie in einem einzelnen Augenblide
entwidelt, bleibt überall ein reicheres uud umfafjenderes Vermögen
unaufgeichloffen und verborgen zurüd. Aber eben dieſes ganze
Weſen der Seele, durch alle mannigfachen Formen ihres Aeußerns
gemeinfam und gleihmäßig fich hindurchziehend, ift das vermit-
telnde Glied, durch welches die Wechſelwirkung der verſchiedenen
inneren Zuftände möglich und die Geftalt ihres Erfolges beftimmt
wird. Nicht aus irgend einer Berwidlung der Borftellungen ſahen
wir an fi ſchon das Gefühl als nothwendige und felbftverftänd-
liche Folge bervorquellen, fondern es entftand, weil ſchon in der
vorſtellenden Thätigleit jene ganze Seele lebendig wirkſam war, in
deren Natur auch das Gefühl begründet Ing, unangeregt damals
aber vorbereitet zum Hervortreten unter Bedingungen, deren einige
der Lauf der Vorſtellungen ſelbſt herbeiführt.
Mit dieſem untheilbaren Weſen der Seele nun vergleichen
wir jenes Unendliche, die Subſtanz aller Dinge; mit den einzel⸗
nen Formen bes geiftigen Thuns diefe endlichen Dinge felbft, die
ſcheinbaren Elemente der Welt, in deren verichievenartige Geftal-
ten jenes ſich ausgeprägt hat. Dann wird, wie in der Seele
die Wechſelwirkung der inneren Zuſtände, jo in dem Weltlauf
die Wechſelwirkung der Dinge nicht nur in ihrer Möglichkeit über⸗
haupt, fondern auch in der Geftalt ihres Erfolges von diefer We-
ſensgemeinſchaft abhängen, welde fie alle verfnüpft. Was jedes
einzelne Element leiftet, das vermag es nicht, fofern es dieſes
Einzelne ift, fondern nur fofern es dies Einzelne als Erſcheinung
dieſes Allgemeinen ift; nicht fchon Deshalb, weil e8 fo und nicht
anders geformt ift und diefe, feine andern Merkmale einfchließt,
bringt es felbftverftändlich Diefe und feine andere Wirkung hervor,
fondern nur weil in diefer feiner Form dieſes Unendliche rubt,
433
deſſen inhaltvolle Natur die Merkmale zuſammenhält, bereit, durch
feine Kraft fie zu vertheidigen oder ihrer Veränderung eine Folge
zu geben. So wirkt alles Endliche im Grunde nur durch das,
was ed im Berborgenen Befjeres ift, als es ſcheint, durch Die
mejenhafte Macht des Unendlichen, die auch in ihm Tiegt; nicht
jener Hülle beftimmter einzelner Eigenichaften, fondern nur biefem
Kerne, fofern er in fie fih hüllt, gehört alle Kraft und Yähig-
feit des Wirkend. Bezeichnen wir nun mit dem Namen der Na-
tur eines Dinges diefe verſchmolzene und in Eins gebildete Zwei-
heit des unendlichen Wefens, welches in ihm dieſe einzelne Form
des Dafeind angenommen bat, oder der endlichen Form, die mit
dem Unendlichen fih erfüllt hat: fo werben wir Recht haben,
von diefer Natur des Dinges alle Weifen feines Berhaltens als
nun nothwendige Folgen abzuleiten. Denn Die eigne innere
Wahrheit und Folgerichtigfeit wird das Unendliche nöthigen, mit
jeder beftimmten endlichen Form, welche es ſich gibt, auch die
unveränberlie Wirkungsweiſe fich feftzufegen, die e8 in ihr
ausitben will, entſprechend dem Sinne, in welchem e8 überhaupt
Diefe einzelne Form als wefentlichen Theil jeiner Ericheinung
ſchöpferiſch geftaltete. Aber der gewöhnliche Hang der Wiſſenſchaft
drängt zu einem andern Spracdhgebraud; eben jenen Thatbeftand
der Merkmale, die alle machtlos find ohne das lebendige Weſen,
welches hinter ihnen fteht, dieſe endliche Hülle des wahrhaft
Seienden pflegt man am meiften als die Natur eines Dinges zu
bezeichnen und wenig mehr ift von dem die Rebe, was wir allein
als den baltbaren und wirlungsfähigen Kern dieſes Scheines be-
trachten Können. Aus diefer nur halben Natur der Dinge glaubt
man ihr Verhalten als notbwendige Folge entwideln zu fünnen;
nit nur die Möglichlert eines übergehenden Einflufjes überhaupt
meint man zu verftehen, fondern in einem Kreife allgemeiner ſich
von jelbft verftehender Wahrheiten au das Mittel zu befigen,
die jebesmalige Geftalt eines Erfolges aus den gegebenen Um—
ftänden und den beftändigen Eigenfchaften der Dinge zu ent-
wideln.
Loge I. 4. Aufl. 28
434
Und hierbei überfieht man eben, daß der Eindrud von Selbft-
verftändlichkeit, melden fo viele Zufammenhänge von Urſache und
Wirkung uns erweden, doch nit von einer uns begreifliden
inneren Nothwendigfeit, fondern nur von der allgemeinen und
überwältigenden Wirflichleit diefer Verknüpfungen herrührt, bie
als überall wiederkehrende thatſächliche Welteinrichtungen uns
mit dem Scheine täuſchen, nicht blos Thatſachen der Erfahrung,
ſondern denknothwendige Verhältniſſe zu ſein.
Nachdem wir durch Erfahrung belehrt find, daß die wäg-
bare Menge des Stoffes in allen feinen Verwandlungen unver-
ändert bleibt, wächft diefe iiberrafchende Beobachtung für uns bis
zu dem erhabenen Eindruck einer unvordenfliden Nothwendigkeit
an, und wir bilden uns num ein, daß ein nothwendiger Vernunft⸗
fag von der Beharrlichfeit der Subftanz uns dieſe Thatfache auch
vor der Erfahrung hätte lehren lönnen. Nachdem wir beobachtet
haben, daß die einmal angefangene Bewegung um fo länger fort-
dauert, je gründlicher man ihre Hinderniſſe hinwegräumt: num
plöglich überfommt uns die Ahnung, Daß ihre ewige Fortdauer,
wo fie nicht gehemmt werde, das nothmwendige Verhalten fei, und
doch fcheitern mir immer, wenn wir biefe vorgeblich denfnothwen-
Dige Wahrheit aus Gründen des reinen Denkens bemeifen wollen.
Nachdem wir endlich gefehen haben, daß der ftoßenbe Körper ben
geftoßenen in Bewegung jet, ſcheint und wohl die Bertheilung
ber Gefchwindigfeiten und die Mittbeilung der Bewegung über-
haupt ein ganz natürlich zu erwartende Ereigniß, und erft bei
dem Berfuche, den Grund diefer Erwartung beftimmt auszu-
Iprechen, finden wir, daß wir feinen wiſſen. Daß jede phufiiche
Kraft mit der wachſenden Entfernung der wirkenden Wefen von
einander abnimmt: wir glauben gar nicht mehr, es anders
denken zu Können, und doch wiffen wir, wenn wir aufrichtig fein
wollen, feinen Grund, warum nicht im Öegentheil die Anziehung
in größerer Nähe geringer fein follte, da fie ja leicht in dem—
jelben Maße abnehmen fönnte, in welchem fie bereit8 befriebigt
ift. Und zulegt, wie naiv legen wir doch den Körpern, wenn
435
ihre chemiſche Gegenwirkung zu erflären ift, eine Verwandtſchaft
bei, nit al8 wenn wir fie aus der übrigen Natur der Körper
ableiten könnten, fondern bier recht eigentlich al8 die Fähigfeit zu
einer Leiftung, welche zu ihrer Natur nur binzulommt. Aller
dings werben wir in dieſem alle die Unfertigfeit unferer Erfah-
rungserfenntniß anflagen; nicht "völlig befannt fei und eben bie
Natur der verichtedenen Elemente; wäre fie e8, jo wiirde man in
ihr aud die Erflärung für ihre chemiſchen Verwandtſchaften fin-
den. Dies mag vielleicht möglich fein, aber gewiß nur fo, daß
die allgemeinen Regeln, nach denen wir aus der beffer bekannten
Natur der Elemente auf ihren Chemismus Ichlöffen, ſelbſt ſchon
eine Menge jener Cauſalzuſammenhänge vorausfegten, Die und
nur al8 unmwiderrufene Thatiachen der wirflihen Welteinrihtung
erweislich, aber nicht als Nothwendigkeiten begreiflich find.
Aus folhen Urthatfachen, nachdem wir ihre Bedeutung und
den Sinn, in weldem fie fi) entwideln wollen, fennen gelernt
baben, vermögen wir dann allerdings die Mannigfaltigfeit ihrer
einzelnen Folgen abzuleiten, aber fie ſelbſt jehen wir nicht aus
der bloßen Betrachtung der gegebenen Dinge ein, fondern würden
fie erft begreifen, wenn wir wüßten, was das Unendliche mit
diefen Dingen im Sinne hatte, da es fie ſchuf. Wer fich ver-
mißt, aus jener unvollftändigen Natur des Endlichen allein Die
Gefeglichfeit der Ereigniffe aufzumweifen, unternimmt die hoffnungs-
Iofe Arbeit, eine Theorie über Bewegungen von Schatten zu
gründen ohne Rückſicht auf die Bewegung der Körper, bon denen
diefe geworfen werden. Denn in der That, fo wie wir nicht aus
der Geſchwindigkeit, mit der zwei Schatten aufeinander zuftreben,
fondern nur aus der Elafticität der Körper, denen fie ent|prechen,
die Schnelligfeit ermitteln Können, mit welder fie aus ihrer Be-
rührung zurückzuprallen ſcheinen werden: jo hängt alles das, mas
die Dinge leiften, nicht von ihren erkennbaren Eigenſchaften allein,
fondern von der Elafticität und Lebendigkeit des Unbedingten ab,
welches als einziges zufammenfafjendes und wirkungsfähiges We-
jen dieſen Schein der Eigenihaften um fi wirft. Nur dann,
28 *
436
wenn wir auch Diefe innere Natur der Dinge durchſchauen und
fagen Einnten, was eigentlich das Unendliche mit diefer Mannig-
faltigfeit der Erſcheinungen und ihrer unermeßlichen Verwicklung
beabfichtigt, nur dann würden wir aus dieſem Zwecke heraus
auch die allgemeinen Gefete des Wirkens verftehen, die es in
diefem Ericheinen fich worgefchrieben bat, und wilrden im Stande
fein, fie nicht blos als Thatfachen hinzunehmen, fondern als Die
eigne Folgerichtigfeit des Unendlichen zu begreifen.
Da dies nun nicht ift, mögen wir ben Sprachgebrauch der
Naturwiſſenſchaft nicht tabeln, fo lange er nur Sprachgebrauch
für die laufende Unterfuchung, nicht Ausbrud fir den Sinn der
vollendeten fein fol. Denn verwertben Finnen wir allerdings Die
Mitwirkung des Unendlihen für die Durchführung der Erflärun-
gen im Einzelnen nit. Eben fo wie wir im Leben das ftille
Bewußtſein ftetig fefthalten, daß jeder unferer Augenblide in der
Hand Gottes fteht, ohne daß wir Doch feinen Namen in der Be—
urtheilung jedes Fleinen Ereignifjes mißbrauchen möchten, deſſen
beſondere Abhängigfeit von feinem Willen wir ja nicht verftehen :
ebenfo werden wir einmal und bleibend die Ueberzeugung faffen,
daß jeder Schritt des Naturlaufes nur gethan wird durch Die
wirfende und geftaltende Kraft des Unendlichen; aber in der Er-
Täuterung der einzelnen Erfcheinungen werben mir dieſe Ueber-
zeugung nicht beftändig wiederholen. Denn eben in dieſem Ein-
zelnen ift das Unendliche nur noch in Geftalt jener abgeleiteten
Principien thätig, in die es fich felbft verwandelt hat, in Geftalt
jener Stoffe Kräfte und Wirkungen, die e8 gejchaffen, denen es
ihre Form und ihre Gefege vorgezeichnet, die es enblih zu dem
zufammenhängenden Ganzen eines mechaniſchen Naturlaufes ver-
flodten bat. Führen wir in diefem Sinne alles Gefchehen der
Natur auf mechanifche Verkettung zuräd, jo handeln wir nun in
dem eignen Sinne des Unendlichen und ehren fein Gebot; nicht
ähm gegenüber ftellen wir als eine unabhängige, feindliche, von
ihm zu überwindende Macht den Mechanismus, fondern wir fehen
in diefem nur die eigne Wirkſamkeit des Unendlihen, Die, welche
437
es in der Welt der Erfcheinungen überall als die verwirklichende
Hand zur Erfüllung feiner Zwecke anerkannt wiffen will. So
kann die Naturwiſſenſchaft allerdings das Unendliche zu entbehren
fheinen, weil fie nicht von ihm fpricht, und die Oberflächlichkeit
unferer phyſikaliſchen Zeitbildung kann glauben e8 entbehren zu
önnen, weil fie, befhäftigt mit den Kleinen Uebergängen von End-
lichem zu Enblicdem, die Anfänge des Gewebes aus den Augen
verliert, in deſſen Mafchen fie wohnt; in der That aber wird
jede aufrichtige Meberlegung zu dem erniten Bemwußtfein der völli⸗
gen Unfelbftändigfeit alles Naturlaufes zurüdgeführt werben, und
fie wird da, mo fie auf Fragen ftößt, wie die, melde und zu
diefer Erläuterung veranlaßten, aud den offenen Ausdruck dieſer
Meberzeugung nicht zurückhalten können.
Wenden wir und nun zu diefen Fragen zurüd, um nicht zu
lange in dem Gebiete allgemeiner Betrachtungen zu verweilen, fo
geben ung zunächft die Zweifel über das endlihe Schickſal der
Seele und die -Bemühungen, zu einer Entſcheidung derſelben zu
gelangen, ein Beifpiel der fruchtlofen Beftrebungen, welde wir
tabelten. Auf drei Wegen ſucht man das Biel, die Gewißheit
der Unfterblichkeit, zu erreichen. Denn außer jenen zahlreichen
Analogien Vergleichen und Bildern, mit denen fidy die zweifelnde
Phantafie immer zunächſt zu behelfen pflegt, und welche wohl die
Stimmung des Gemüthes für die Aufnahme einer Wahrheit
günftig vorbereiten, aber nie diefe ſelbſt beweifen können, fucht
man theils aus der eignen Natur ber Dinge die Unfterblichfeit
als unvermeidlich, theil8 aus Gründen der Gerechtigkeit fie als
nothwendige® Zugeſtändniß der Weltregierung darzuftellen. Es
ift nicht unfere Abficht, die zahlreichen Neflerionen der legten Art
bier zu wiederholen; nur die Behauptung möchten wir hinzufü—
gen, daß nur aus ihrem Kreife, niemals dagegen aus jenen ſchein⸗
bar ftrengeren Unterſuchungen, welche die Natur der Dinge zum
438
Ausgang nehmen, das Gemüth Die Gründe entlehnen wird, auf
welche e8 mit einigem Vertrauen zu ihrer Haltbarkeit feinen Glau-
ben an ewige Fortdauer ftüßen möchte. Es gibt nicht eine folche
Natur der Dinge, die wie ein unvordenkliches Schidfal aller
Wirklichkeit als eine unvermeidlich zu befolgende Reihe von Ge-
feßen voranginge; es gibt nicht einen ſolchen Inbegriff des an
fi Möglihen und Nothmwendigen, auf welden die melterichaffende
Kraft Hinbliden müßte, um zu erfahren, innerhalb welder Gren-
zen ihr die Verwirklichung ihrer Abfichten erlaubt fei, und melde
Berpflichtungen folgerichtiger Entwidlung fie mit jeder Stiftung
irgend eines Keime übernehmen müſſe; e8 gibt endlich nicht ein
ſolches ewiges und vorweltliches Geburtsredht der Dinge oder Sub-
ftanzen, auf das fie ſich ftüßen könnten, um zu verlangen, daß
jede Macht, von welder fie zum Dienfte einer Weltbildung be-
rufen wirden, ihre Privilegien achte und fie nur fo verwende,
wie e8 ihrer angeſtammten Würde angemefjen ſei. Alles, das
Dafein jener Dinge, die Eigentbümlichleiten ihrer Natur und Die
Rechte, die dieſer zuzukommen fcheinen, Alles ift auf einmal und
gleich unbefchränft nur Geſchöpf jener ſchaffenden Kraft felbft; nur
fo viel und ſolches ift überhaupt in der Welt, als das Unendliche
zur Bermirflihung feines Willens nicht ſowohl bedarf als viel-
mehr zuläßt; nur die Rechte befitt jedes, die dieſer ſchöpferiſche
Wille ihm gab, nur innerhalb derjenigen Geſetze fcheinen alle
feine Wirfungen und alle feine Schidfale ſich mit felbftändiger
Nothwendigkeit zu bewegen, innerhalb deren die eigne Yolgerich-
tigleit des ewig Einen jedem einzelnen feiner Erzeugniffe zu blei-
ben gebot. Nur wenn wir in dem fchöpferiichen Mittelpunfte
der Welt ftehend, den Gedanken völlig durchſchauten, aus dem fie
entiprungen ift, Könnten wir rückwärts aus ihm die Schidfale des
Einzelnen vorausfagen, das zu feiner Verwirklichung berufen ift;
wir können es nicht von unſerem menſchlichen Standpunfte, der
uns nur dem Gefchaffenen unmittelbar, aber nicht dem Schöpfer
und feinen Abſichten gegenüberftellt. Beſitzt unfer Geift, wie wir
mit Recht glauben, einen Schag ihm angeborner denknothwendi⸗
439
ger Wahrheit, jo fündigen wir gewiß gegen den Sinn diefer
Wahrheit zuerft und am meiften, wenn wir ihr einen andern
Urſprung zufchreiben, als den, auch ihren Inhalt nur jener ſchöpfe—
rifhen Macht zu verbanten; fie wird uns leiten, das Endliche in
dem Sinne des Ganzen zu verknüpfen, dem es dient, aber fie
Tann die legte Beſtimmung aller Dinge nicht unabhängig von ber
Kenntniß des höchſten Zweckes begreifen wollen, von welchem
allein doch diefe Beſtimmung abhängt.
Daß wir Die Seele als den fubftantiellen und dauernden
Träger der Erſcheinungen unferes inneren Lebens anſehen müfjen,
davon allein haben unfere Betrachtungen uns überzeugen können.
Aber daß die Seele darum, weil fie für diefe Erſcheinungen die
bleibende Subftanz fei, auch eine ewige und unvertilgbare Dauer
als das Vorrecht ihrer Natur befigen müſſe: von der Sicherheit
dieſes Schlufje8 wird das unbefangene Gemüth ſich nie überzeugt
fühlen. Berlangt man das Zugeftändniß von uns, daß jede
Subſtanz ihrem Begriffe nach notbwendig unzerftörbar fei, fo
mögen wir die Richtigleit dieſes Begriffes zugeben, aber wir mer:
den Dann die Seele nicht mehr zu dem rechnen, was in feinen Um⸗
fang fällt. Nichts berechtigt ung zu der Annahme, was einmal
jet, müffe nothwendig immer fein, und Entftehen und Vergehen
bezweifeln wir nur deshalb zuweilen in feiner Möglichfeit, weil
wir mit der gewohnten Neugierde unſeres Denkens eine Anſchau⸗
ung ſeines Herganges haben möchten. Sind wir endlich durch
den Zufammenhang unferer übrigen Anfichten jo jehr darauf hin⸗
gewiejen, in allem Endlichen nur Gejchöpfe des Emwigen zu fehen,
jo können noch weniger die Schidjale dieſes Einzelnen andere fein,
als das Ganze fie ihnen gebietet. Das wird ewig dauern, was
um feines Werthes und feines Sinnes willen ein beſtändiges
Glied der Weltordnung fein muß; das Alles wird zu Grunde
gehen, dem dieſer erhaltende Werth gebricht. Kein anderes höch—
fte8 Geſetz unferer Schieffale können wir auffinden als dieſes, aber
eben biefes iſt unanwendbar in unfern menfchlichen Händen. Wir
fönnen uns nicht vermeſſen wollen, zu beftimmen und zu richten,
440
welche geiftige Entwidlung durch die ewige Bedeutung, zu welcher
fte fi erhoben hat, die Unfterblichkeit fich erwerbe, welcher an⸗
dern fie verfagt bleibe. Weder ob alle Thierfeelen vergänglid,
noch ob alle Seelen der Menfchen unvergänglidh find, dürfen wir
enticheiden wollen, fondern müſſen uns auf den Glauben zurüd-
ziehen, daß jedem Wefen geichehen werde nad, feinen Recht.
Und eben fo wie die Fortdauer nach dem Tode, ift das Da-
fein der Eeele vor der Geburt diefes irdiſchen Lebens fein Gegen-
ftand unſerer menſchlichen Kenntniß. Wer der Unfterblichleit der
Zukunft gegenüber eine unendliche Borgefchichte unferer Seele zu
bedürfen meint, wird in feinem Glauben und in der Phantafie,
mit welder er dieſen in unferer Erinnerung leeren Zeitraum
ausfült, kaum von der Wiffenfchaft beläftigt werden Tünnen.
Aber die Erfahruug unfere® gegenwärtigen Lebens enthält nur
wenige Spuren, welde ein dazu geneigte8 Gemüth auf dieſes
Bordafein unſeres Weſens zurüddenten möchte; die Träume der
Geelenwanderung, zu denen fait unvermeidlich unfere Borftellung
genöthigt fein würde, find bisher Träume der Einbildungstraft
geblieben und noch nie hat man erfolgreih ihnen eine höhere
fittliche Bedeutung für die Ordnung der Welt zu geben vermocht;
endlich zwingt Teine Nothwendigkeit unferer Vernunft, den Ge-
danken einer Entftehung der Seele zu fliehen. Der organifche
Leib, in jeiner Bildung begriffen, erzeugt fie freilich nicht aus
füch ſelbſt; aber diefer Lebendige Leib ift jelbft nicht ein innerlich
zufammenbanglojes Gewirr von Atomen, das nur ein allgemeines
Geſetz in einer übrigens leeren Welt zu beſtimmter Entwidlung
triebe. Wie vielmehr jeder Hleinfte phyſiſche Vorgang, welcher
zwifchen zwei Elementen ſich zu ereignen fcheint, zugleich ein
Geſchehen in dem Innern des Ewigen ift, auf deſſen beftändiger
Gegenwart alle Möglichkeit des Wirkens beruht: ebenſo ift auch
diefe ftillfortichreitende Bildung des organifchen Keimes Tein
vereinjamtes in ſich felbft abgeichlofienes Ereigniß, fondern eine
Entwidlung des Unenblichen jelbfl. Bon ihm gehegt, von ihm in
fein eigne8 inneres Weſen aufgenommen, erregt dieſes Ereigniß
441
des Naturlaufes dort die ſchöpferiſche Kraft zu neuer Entfaltung,
und fo, wie unjere menſchliche Seele die äußeren Reize in fich
aufnimmt und durch die Erzeugung einer Empfindung beant-
wortet, fo läßt die folgerichtige Einheit des unendlichen Weſens
durch dies eine innerlihe Creigniß der phyſiſchen Entwidlung
Dazu ſich erregen, aus ſich jelbft auch die Seele hinzu zu er-
zeugen, Die dem werdenden Organismus gebührt.
Es iſt mehr Einheit und Einfachheit in diefem Vorgange,
als in der Vorftellung, die wir von ihm zu geben vermögen.
Nicht wie in dem Beifpiel des Verhältniffes zwiſchen unferer end⸗
lichen Seele und den Keizen, die uns fremd find, ift auch für
das Unendliche jenes Ereigniß des Naturlaufes ein von außen
fommender Reiz, der einen Weg zurüdzulegen hätte, um den
Mittelpunkt zu finden, aus welchem er die neue Entwidlung her⸗
vorloden fol; jeder einzelne Vorgang der Natur gefhieht in dem
Unenblichen, jeder ift diefem Mittelpunkt gleih nahe und nahe
zu aller Zeit. Und nicht aus diefem Mittelpunkt der ſchaffenden
Kraft entfteht wieder die Seele als ein neues, zweites Element,
das einen Weg zurüdzulegen hätte, um äußerlich dem Körper fich
zu verbinden, ben es auffuchte; ungefchieden der Zeit und dem
Raume nach entfalten fich dieſe beiden Schöpfungen, in deren
gleichzeitiger Entwidlung das Unendliche nur die innere Wahrheit
feines eignen Weſens ausdrüdt. Weder aus dem Körper entiteht
die Seele, noch aus Nichts; aus der Subftanz des Unendlichen
geht fie mit gleicher Wefenhaftigkeit hervor, wie aus demfelben
Duell alle Wirflichfeit der Natur entfprang. Und weder zufällig
fommt zu diefem Körper diefe Seele, noch ift e8 das Verdienſt
des Peibes, durch feine Organifation die Eeele ſich zu fchaffen,
die der möglichen Form feiner Tebendigen Thätigfeit entſpricht;
auch nicht willfürlih wird das Unendliche vorher fertige Geifter
an die beginnenden Keime vertheilen; fondern wie es mit felbit-
gewählter Confequenz jede körperliche Organifation die noth-
wendige Folge ihrer Erzeuger fein läßt, fo wird es auch in ber
Schöpfung der Seelen einem felbftgegebenen Gefege folgen, durch
442
welches auch ihre aufeinanderfolgenden Geſchlechter in die Abftu-
fungen einer innerlichen Verwandtſchaft verflochten werben. Nicht
durch Theilung wird die Seele der Eltern fich zerfplittern in die
Seelen der Kinder, aber die Ahnung bleibt uns, daß die fchaf-
fende Hand des Unendlichen das geijtige Bild der Erzeuger in
biefen wiebererzeuge und auch innerlich die Wefen fi nabe ftehen
laſſe, welche fie am nächſten für das äußerliche Leben mit ein-
ander verkettet bat.
Nur die Ahnung davon bleibt uns; mit taufend Beilpielen
belehrt uns auch hier die Erfahrung von der Unerforfchlickeit die⸗
jer Wege Gottes. Mit treuer und befcheidener Beobachtung ge-
winnen wir vielleicht einen hie und da erweiterten Ausblid auf
die Richtung, welche fie nehmen, aber nie werden wir im Stande
fein, den Lauf diefer geiftigen Weltordnung mit derjelben An-
näberung an die Wahrheit zu überfehen, die unferer Auffaffung
der natürlichen Erfheinungen gewährt ift. Und Alles, was wir
noch hoffen dürfen an Zuwachs ber Erfenntniß zu erreichen, das
werden wir nur von einem gefammelten Bemwußtfein über unfere
Beitimmung, nicht von der Betrachtung unferer allgemeinen gei-
figen Natur erwarten müflen. Nur die Einfiht in das, was
fein ſoll, wird und auch die eröffnen in das, was ift; denn feinen
Thatbeftand, feine Einrichtung der Dinge, Teinen Lauf des Schick⸗
ſals wird es in der Welt geben fünnen, unabhängig von dem
Ziele und dem Sinne des Ganzen, aus welchem jeder Theil nicht
allein fein Dafein, ſondern aud die wirkungsfähige Natur em⸗
pfangen hat, auf welde er ftolz ift.
Schluß.
Ih möchte nicht ſagen, daß es ein Gipfel von hoher Aus-
fit jet, auf welchen unfere Betrachtung durch einen langen und
doch für die Mannigfaltigfeit der Umgebung vielleicht zu kurzen
Weg geführt hat; aber die Höhe haben wir jevenfall$ erreicht,
die unjern Kräften verftattet ift, und zurlidblidenb mögen wir
jegt wohl der Zweifel gedenken, aus deren Mitte wir ausgingen,
und des veränderten Bildes, welches uns jett die durchwandelte
Gegend gewährt. ALS wir den Streit der verjchievenen Natur-
anfichten überdachten, war es bejonders jenes Element einer dunk⸗
len und flarren Naturnothwendigleit, gegen welches der unab-
läffige Kampf des menfchlihen Gemüthes gerichtet war, um end-
lich in einer blinden Hingabe an die Verehrung dieſes blinden
Waltens zu endigen, die mehr aus Entjagung als aus Weber-
zeugung herborzugehen ſchien. Haben wir nun einen Weg ge=
funden, die zwiefpältigen Gedanken, die dort ſich ftritten, zur Ver:
ſöhnung zu bringen, und melden Werth müfjen wir auf die
einzelnen Punkte der Anficht legen, die ſich und allmähli in der
Hinwegräumung jener drängenden Schwierigkeiten gebildet bat?
Dieje Fragen mit aufrichtiger Selbftprüfung noch einmal zufam-
menfafjend zu beantworten, wird Niemand fich erlaffen, den die
Gewohnheit wiffenfchaftlicher Unterfuhung gelehrt hat, wie bleich
444
nah dem Abfchluß derſelben jo häufig der Glanz der rettenden
Gedanken fi ausnimmt, die jo blendend waren in dem Augen-
blick, als fie neu entftanden den Schwierigfeiten entgegeniprangen.
Sie waren angeftrahlt damals von dem hoffnungsvollen Feuer
ber Arbeit und glänzten in ihm weit mehr al8 von dem eignen
Fichte. Vielleicht entgehen wir aud bier dieſem Geſchicke nicht;
vielleicht aber bleibt und auch etwas zurlid als ein feftzubaltender
Gewinn, den wir aus diefer allgemeinen Weberfiht der Bebing-
ungen alle8 Lebens zu der befonderen Betrachtung der menſchlichen
Dinge mit hinübernehmen.
Den Glauben an perjönliche Naturgeifter, in denen die my—
thifche Weltauffafjung die Schönheit und Bedeutung einzelner Er-
ſcheinungen zu lebendigem Genuß verdichtete, haben wir ſtillſchwei⸗
gend aufgegeben. Seine Erfahrung beftätigte diefen Traum; aber
ale Erfahrung war zugleih unfähig, einen anderen Traum zu
widerlegen, in welchem das Gemüth, nach innerlicher Lebendigkeit
der Natur begierig, die verlorene Befriedigung in anderer Weife
wieder gewinnen konnte, Denn Nichts hielt und ab und Bieles
ermahnte ung, in jenen einfachen Wefen, aus deren Zufammen-
ſetzung für uns felbft der Schein der Teblofen Materie hervorgeht,
ein innere8 Leben zu vermuthen, fähig, in den mannigfachften
Formen des Gefühles die Eigenthümlichkeit jeder Lage zu genießen,
in welche der wechielnde Naturlauf fle warf, oder eine beftändigere
Bildung fie fefthielt. Nur verallgemeinert wurde durch dieſe Auf-
faffung der Selbfigenuß der Natur; nicht ein bevorzugter Theil
der Wirflichleit hat feine Genien, während blind und leblos der
andere Tiegt, fondern Alles Tonnte diefe Wärme der Empfindung
durchdringen. Und nicht beichränft mehr auf die Formen des
menſchlichen Seelenlebens wiederholt überall diefe innere Regſam⸗
feit uns das Belannte; völlig andere, uns unfagbare, nur in
träumerifcher Ahnung uns von fern vorjhmebende Arten des Ge-
nufje8 und der Empfindung können wir in dieſe Natur verfireut
denfen, ben befonderen Lagen der einfachen Wefen fo entfprechend,
daß kein Ereigniß des mannigfachen Naturlaufes von diefer Ver⸗
445
.
klärung in Bewußtjein und Selbfigenuß mehr ausgeſchloſſen ift.
Aber wir mögen weit weniger die Vortheile dieſer Auffafjung
ſchildern, die bei der geringeren plaftifhen Anſchaulichkeit der gei-
ftigen Wefen, von denen fie ſpricht, um fo mehr fi dem mufi-
kaliſchen Hange unferer Bildung empfehlen würde: dies wollen wir
vielmehr hervorheben, daß fie zwar vielleicht nicht ein Teerer Traum
ift, aber weitab Tiegt von ben ernften und wichtigen Veberzeu-
gungen, auf welche wir unfere Betrachtung der menſchlichen Bil-
dung gründen möchten. Welche Anficht über das innere Leben
der Natur jedem Zeitalter die herrichende war, davon bat der
Fortſchritt der menſchlichen Entwidlung nur fo lange abgehangen,
als es noch fraglich fein Konnte, ob regelloje Freiheit und Will-
für von Genien und Dämonen oder die unbedingte Folgerichtig-
feit allgemeiner Gefeße die äußere Welt, den Schauplak und den
Gegenftand unfere8 Handelns, beherrſche. Nachdem diefer Streit
entſchieden ift, wird die zartfühlende Phantafie, mit welcher wir
bie Seele der Natur zu belaufchen juchen, den Fortſchritt unferer
Eultur weniger begünftigen, als die Härte des Gemüthes, welche
die Dinge der Natur zunächſt für das nimmt, wofür fie ſich geben:
für blinde, finmme, einer nothmendigen Ordnung untermworfene
Erzeugniffe, die ihr inneres Leben für fi haben mögen, für uns
aber ein Reich benußbarer Sachen bilden. Ohne deshalb der
Einbildungskraft die Verfolgung jener Gedanken zu verargen,
müfjen wir doch behaupten, daß nicht in ihnen, fondern in ber
Profa des alltäglichen Scheines die wichtigere Grundlage unferer
geiftigen Entwidlung liegt.
Jenen perfönlichen Naturgeiftern gegenüber konnte Die My-
tbologie niemald den Gedanken einer unvorbenflihen Nothwen⸗
digkeit unterdrüden, in deren zielfegenden Schranken fi alle
Lebendigfeit ber Göttermelt bewegt. Aber je bereiter wir die Al-
gegenmwärtigfeit diefer notwendigen Ordnung überall zugaben, um
fo entfchiedener haben wir uns der Auffaflung widerſetzt, welche
in ihr ein vorweltliches Schickſal ſah, im Gegenſatz zu ber ſchöpfe—
riſchen Kraft, der dieſe beitimmte Wirflichleit ihre Formen ver-
446
dankt. Es ift nicht fo, wie die Mythologie in dunklen Bilbern
lehrte, daß Dieje Lichte Götterwelt, welche die Orbnung ber vor-
handenen Welt beberrfcht, nur die Nachfolgerin einer früheren,
finfteren und büfteren Gottheit fei, deren unbegreiflihes Walten
die Grundzüge der Wirklichkeit beftimmt babe, in deren Genuß
und Berfchönerung jene thätig fei. Dies war vielmehr der feftefte
Theil unferer Weberzeugung, daß jedes höchſte, ftarrfte, allgemeinfte
und notbwendigfte Gefeß, welches die Welt und irgendwo auf:
zeigte, nur die felbftgemählte Bedingung fei, die das eine jchöpfe-
riſche Unendliche feiner ewigen Entfaltung zu Grunde gelegt habe.
So führte uns unfere Betrachtung von felbft in das Gebiet jener
andern Anfichten iiber, welche die belebenden und befeelenden Triebe
der Erjcheinungen nur als unzählig verſchiedene Ausdrücke jenes
einen Gedankens verehren, der, unausfprehbar an fi, die Fülle
der Weltfeele bilbet.
Indem wir anerlannten, daß nur das tft, was in dem ber-
nünftigen Zuſammenhange der ewigen Idee feine Stelle hat,
nur das fidh ereignet, was in dem Sinne ihrer Entwidlung Liegt,
daß alles Enbliche überhaupt den erflärenden Grund des Triebes,
bon dem e8 bewegt wird, nur in dem Gedanken ber Weltfeele
befige, den e8 verkörpert: fo haben wir in diefen Behauptungen
die wefentlichen Lehren jener Weltanficht ung bewahrt. Und wenn
wir den Begriff der Triebe unzulänglid für die einzelnen Unter-
fuhungen fanden und für ihn den ununterbrochenen Caufalzufam-
menbang einer mechaniſchen Berwirflihung einfegten, fo wiber-
Iprechen mir damit dem Geifte jener Anficht nicht mehr, feitvem
wir alle Gefete dieſes Mechanismus nur als den eignen Willen
der MWeltfeele, alle Verbindungen und Trennungen der wirffamen
Mittel nur als ihre eignen Handlungen, ihre innerlihen Wir-
fungen in ſich felbft, erfannt haben. Aber dennoch, welche Be-
friedigung könnte diefe Anficht gewähren, wenn fie nicht vermöchte,
die beiden großen Gegenfäße, die zuſammen erft die Welt voll-
enden, die Natur und das Reich des Sittlichen, zu vereinigen ?
Und Können wir leugnen, daß alle jene Lehren und an bie Stelle
447
der Weltjeele doch nur eine Naturfeele jegen? Ein Wefen, in
deſſen Einem unendlichen Geftaltungstriebe ſich die unzähligen
einzelnen Triebe ber endlichen Erfcheinungen wie farbige Strahlen
zur Einheit des weißen Lichtes vereinigen? Wo aber Tiegt in
dieſem Wefen der Grund zur Entwidlung ber fittlichen Welt, wo
das, woraus der Unterſchied von Gut und Böſe hervorginge?
Wollen wir nicht, in den alten Gegenfag zurüdfallend, entweber
auf eine unvordenklich gegebene Natur die fittliche Welt äußerlich
gründen, ober in einem höchſten Wefen, da8 wir Eines nennen,
doch unvermittelt neben einander die zwei gefchievenen Wurzeln
beider vorausſetzen, jo bleibt feine andere Wahl, als entweder
das Gute mit in den Kreis der Naturerfcheinungen, oder die
Natur in die Berwirflihung des Guten einzufchließen. Keinen
Augenblid kann e8 mix zweifelhaft ſcheinen, daß nur bie letztere
Wahl uns erlaubt ift: alles Sein, alles, was Form und Geftalt,
Ding und Ereigniß beißt, diefer ganze Inbegriff der Natur Tann
nur als die VBorbedingung für die Wirklichkeit des Guten gelten,
Tann, fo wie er ift, nur deshalb fein, weil nur fo fi in ihm
der unendliche Werth des Guten feine Ericheinung gab. Aber
diefe entichievene Weberzeugung bezeichnet nur ein letztes und
äußerftes Biel, welches unferen Gedanken ihre Richtung geben
mag; fie bezeichnet nicht eine Erkenntniß, die deswegen, weil fie
in eine beweisbare Lehre ſich ausführen ließe, den Namen einer
Wiffenihaft verdiente. Eine unausfüllbare oder bisher wenig-
ſtens niemals ausgefüllte Kluft ſcheidet für unfere menjchliche
Bernunft die Welt der Werthe von der Welt der Geital-
ten, und wie lebhaft unfer empfängliches Gemüth mit zurüd-
gehender Bewegung des Denkens aus den vorhandenen Yormen
ber Natur den Werth ihrer fittlichen Bedeutung herausfühlen mag:
eben jo wenig vermögen wir vorwärts fchreitend aus dem Be⸗
wußtfein der höchften Werthe die Nothmendigfeit zu erweifen, mit
welcher fie in diefe und in feine anderen Yormen der Natur
ſich geftalten mußten. Mit ver fefteften Ueberzeugung von dem
Borhandenfein diefer ungefchiedenen Einheit zwifchen beiden ver-
448
einigen wir den bewußteften Glauben an die Unmöglichkeit ihrer
Erfenntnif.
Wie leicht Fönnten wir dieſes Zugeſtändniß durch Verhüllung
des Thatbeftandes umgehen! Denn wie frudtbar ift doch darin
unfere fpeculative Wiſſenſchaft gewejen, durch immer neue Namen
und Bilder fi die Bitterfeit des Belenntniffes zu erfparen, daß
auch fie doch hier nur die Aufgabe kennt, die dem unbefangenen
menfhlihen Gemüth nie unbefannt war, daß «aber die Löſung
ihr jo unmöglich ift, wie jenem. Wenn es fi fragt, wie aus
der Hand deſſelben Gottes, der die innerliche Heiligfeit der fitt-
lichen Welt gründete, dieſes Spiel der Planeten, diefe Schönheit
der Erbe mit der fröhlichen Formenfülle ihrer Pflanzen und Thiere
und mit der flarren Nothwendigkeit des Darunter verhüllten Me-
hanismus hervorgehen konnte: wie leicht ift e8 do dann und
zugleih wie ärmlid, von einem realen und idealen Factor in
Gott, von einem Weberwiegen des blinden oder des bemußten
Wirkens in feiner Thätigfeit zu ſprechen und jenem die noch immer
in ihren Formen unerflärte Natur, diefem die gleich flüchtig ge=
zeichneten Umrifje des geiftigen Dafeins zuzurechnen. Wie leicht,
in Gott etwa® zu fehen, was noch nicht Gott jelbft ift, einen
dunflen Grund in ihm, ber zu dem ftoffartigen Stamme ber
Natur auswachſe, überwölbt von der Tichteren Entwidlung des
Anderen, was in Gott mehr Ex felbit wäre. Mit fo Fümmer-
lihen Behelfen täufht man den Ernft der Frage hinweg und
jagt weniger, als ber beſcheidene Ausdruck des natürlichen Ge-
müthes, welches einfach in einer unerforichlichen Weisheit Gottes
den Grund aller envlichen Geftaltungen fieht.
Dafjelbe Belenntniß der wiſſenſchaftlichen Undurchführbarkeit
eined darum nicht minder fiheren Glaubens haben wir in un—
jerer Beziehung zu der letzten großen Naturanfiht, der mecha⸗
nifchen, abzulegen. Wir haben fie rückhaltlos zugegeben, fo weit
irgend es ſich um die Unterfuchung der Berhältnifie von Endlichem
zu Endlidem, um die Entftehung und Benwirflihung irgend
welcher Wechſelwirkungen handelte; wir haben ebenfo entichieden
449
ihre Berechtigung geleugnet, wo fie nicht als formelles Mittel
der Unterfjuhung, ſondern al8 abſchließende Weltanficht ſich gel⸗
ten zu machen verjuchte. Aber indem wir die felbftändige Wirf-
lichfeit eines mechaniſchen Naturlaufes Yeugneten, Finnen wir doch
die Ableitung feiner einzelnen Geſetze aus dem höchſten Zwecke
der Welt nicht vollzichen, fondern müfjen e8 dem langſamen Fort-
jhritte der Wiſſenſchaft überlaffen zu zeigen, was in Diefem Ver—
ſuche ausfithrbar fein mag, und was der menjhlihen Erfenntnif
ſtets verjagt bleiben wird. Nur Dies war und möglich anzuden-
ten, wie wenig jener Charakter der Aeußerlichkeit, den man fo
oft der mechanischen Auffaffung zum Vorwurfe macht, mit dem
Geiſte dieſer Anficht nothmendig zufammenhängt. E8 ift ihr nicht
verjagt, in ben wirffamen Elementen, aus deren veränverlicher
Zufammenfegung fie den Wechfel der Naturerfheinungen begrün-
det, innere Zuftände und eine verborgene Regſamkeit ihres Lebens
anzunehmen, die fie fteigern mag bis zu dem Glauben an ein
dem unferigen verwandtes Spiel geiftiger Erregungen. Nicht
nothwendig muß für fie die bunte Fülle der Erfheinungen zu
dem geiftlofen Spiel eined Austaufhes von Bewegungen, einer
immer neuen und immer gleich beveutungslofen Bertheilung von
Geſchwindigkeiten, einer raftlofen Veränderung der Lage und Ber:
bindung ber Theilden verarmen: alle dieſe Wechfelfälle Des äuße-
ren Naturlaufes kann auch fie nur für die Summe der Veran—
Yafjungen anfeben, durch welche nad unwandelbaren Gefegen cin
innerer Naturlauf, die unermeßlihe Mannigfaltigkeit der Gefühle
in dem Innern der Wefen ermedt wird. Nur dieſe äußere Ge—
Ihichte freilich zieht Die mechanische Naturwiſſenſchaft in Betracht
und überläßt die innere, welche fie erfahrungsmäßig nicht ver-
folgen kann, der Geſchäftigkeit unferer Phantaſie. Aber fie glaubt
dafür auch in jener Welt der Bewegungen nicht die wahrhafte
Wirklichkeit, nicht jenes Letzte zu befigen, worauf e8 in allem Da⸗
fein anfam, in aller Schöpfung e8 abgefehen war, ſondern aller
Mehanismus gilt au ihr für nichts weiter als für die Samm-
Yung aller Bermittlungsformen, in denen Gottes . beſchloſſen
Lohze I. 4. Aufl.
450
hat, das unbefannte Innere der gefchaffenen Weſen auf einander
wirken zu laffen und alle ihre Zuftände zu dem unüberfehbaren
Aufommenhange einer Weltgefchichte zu verbinden. Es ift das
Reich der Mittel, defjen Organifation diefe Anfiht zu verftehen
glaubt, nicht das Reich der Zwecke, denen fie dienen. Wie wir
in unferem eignen Leben bie phyſiſchen Bewegungen der äußeren
Natur dazu verwendet jehen, als anregende Reize das viel Höhere
in uns felbft, die bewußte Empfindung, zu erregen, fo, meinen
wir, fei in aller Welt all jenes mechaniſche Geſchehen nur das
äußerlihe Gewebe gejeglih einanderburchkreuzender Reize, bes
ftimmt, in unzähligen Punkten, in dem Inneren zahllofer Wefen,
das wahre Geſchehen eines geiftigeren Lebens zu entzünden.
Legen wir aber Gewicht auf dieſe Unfelbftändigfeit des Na-
turlaufes, fo daß die Bergötterung des Mechanismus, die man
dennod vieleiht und vorwirft, nur darin befteht, daß wir ihn
nicht als ein auf fich "beruhendes Schidfal, fondern nur als Er-
zeugniß der göttlihen Weisheit begreifen: fo müſſen wir ander—
ſeits für ihn auch die Anerkennung feiner ſchrankenloſen Gültigkeit
verlangen. Wir glauben gezeigt zu haben, wie in den meiften
der Fälle, in welchen cine mehr gefühloolle al8 klare Naturan-
fiht, von feiner Starrheit bebrüdt, zu anderen höheren Kräften
und Potenzen flüchtet, uns theils die Erfahrung die Fortdauer
der mechanischen Bedingtheit oft auf das Bitterfte eindringlich
macht, theils unfer Gefühl ſelbſt feinen wahren BVortheil von den
Annahmen haben würde, die e8 mit dem heimlichen Bewußtfein
ihrer Nichtübereinftimmung mit dem ©egebenen magen Tönnte.
Wir haben mit der Stetigfeit und dem feften Zufammenhange
des mechaniſchen Weltbaues felbft die Freiheit formell nicht un-
vereinbar gefunden, welche wir ung zu erhalten füglih wünſchen
können; nur die Unentſchiedenheit dariiber, ob auch nur in diefem
Valle das, was wir annähmen, dem richtig verftandenen Zwecke
feiner Annahme entſprechen möge, Bat uns zögern laſſen, neben
der Möglichkeit der Freiheit von ihrer Wirklichkeit zu fprechen und
auch ihrem Begriffe feine beftimmte Stelle in dem Ganzen des
.. = mn 0 2
451
mechaniſchen Univerfum zu geben. Ye weiter wir jedoch auf Die
fen Wege und von ber fümmerlichen Engberzigfeit jener Anfichten
früherer Zeiten entfernen, denen Mechanismus nichts war, als
eine endlofe Mittheilung gegenfeitiger Stöße, um fo mehr müffen
wir jeden Verſuch zurüdweifen, nun dennoch diefem allgemeinen
Geſetze aller Vermittlung des endlichen Geſchehens einzelne Theile
der endlichen Wirklichkeit entzichen zu wollen. Nirgends ift der
Mehanismus das Weſen der Sache; aber nirgends gibt fih das
Weſen eine andere Form des endlichen Dafeins, al8 durch ihn;
fo mie wir nicht andere Götter haben neben Gott, fo bedürfen wir
außer diefer allgemeinen Wirfungsform der Natur nicht anderer.
Wir verfiehen wohl den Grund jener geringihägigen Ab-
neigung, mit welcher fo viele Gemüther ſich gegen dieſe Aner-
fennung fträuben. Uns allen fcheint zuweilen die Welt der Ge—
ftalten zu fchr die Welt der Werthe, das Reich der Mittel zu
ſehr das Reich der Zwecke zu verhüllen; wir fehnen uns nad)
jener Einheit des wahrbafteften Scins, in welcher Ideen Wirk-
lichkeit haben, ohne an die Vermittlung der Werkzeuge, das höchfte
Glück Beſtand hat, ohne an die taufend Bedingungen beftimmter
Lagen gebunden zu fein, in welcher ein unmittelbares Verftänd-
niß der Geifter alle äufßerlihen Wege der Wechſelwirkung über:
flüffig macht, in welcher endlich Schöpfer und Gefchaffenes in eine
Gemeinfamfeit de8 Lebens verfhmelzen, für deren ahnungsvolle
Tiefe kaum die edelfte Myſtik genügende Ausdrüde darböte. Im
Aufblid zu ſolchem Legten und Höchſten peinigt uns dieſe Welt
des Widerftandes, der Mittelbarkeit, der bedingenden Umftände,
der Verzögerung; e8 beunruhigt und, die Schönheit der natür-
lihen Geftalten nicht ans Einem Hauche ſchöpferiſcher Lebenskraft
begreifen zu follen, fondern fie auf dem Ummege zahlloſer Wechiel-
wirkungen des Vielen berubend zu denken; es quält uns endlich,
jelbft in unferer geiftigen Entwidlung uns gebunden zu wiffen
an das Imeinandergreifen von Kräften, deren allgemeine Gefeß-
mäßigkeit frembdartig ber Wärme unferer Beftrebungen gegenüber
ſteht. Aber fo wenig wir die Wahrbeit der Einheit leugnen
29*
452
wollen, welche jene muftifche Entzüdung des Gemüthes zu ſchauen
glaubt, eben fo gewiß Liegt dies unſer irdiſches Leben nicht in
ihrem Gebiete, jondern in dem Bereiche ber Zweiheit und des
Gegenfages. Weder mit unferem Erkennen noch mit unferem
Handeln ftehen wir in jenem ftillen Mittelpunkte der Welt, jon-
dern in den äuferften Verzweigungen ihres Baues, die laut find
von dem Getriebe der Bermittlungen; und die ungeduldige Sehn-
ſucht, die in jenen zurüdftrebt, möge ſich hüten, daß fie nicht den
Ernft und die Schwere der Bedingungen geringihäge, unter deren
Gebot ein unmwiderrufliher Rathſchluß unfer endliches Leben ge-
ftellt hat. Sind es höhere Anfichten der ‘Dinge, von denen dieſe
Sehnſucht ausgeht, jo ſchweben fie eben wie entfernte Wollen, glän=
zend allerdings von edlen Ahnungen beleuchtet, in einer ficheren
Höhe über al den dornigen Berwidlungen, welche unfere Stellung
hier unten darbietet; einen Weg durd) das Geftrüpp bindurd zeigen
fie nicht, fondern nur einen der Reſignation darüber hinaus.
Aber das Leben des menſchlichen Geſchlechtes beftcht nicht allein
in der Sehnſucht nad) dem Ziel und in dem ſchwärmeriſchen Bor-
traum feiner Anfchauung, fondern in der Arbeit der Wanderung zu
ihm. Wollen wir diefe Aufgabe mit jelbftbemußter Bejonnenbeit
Yöfen, fo fünnen wir nie zu eifrig fein in der Erforfyung der Be-
dingungen, die auch der Entfaltung unferes geiftigen Lebens in der
Natur des Schauplages geftellt find, der uns einjchließt, und in
dem Zuſammenhang der Gejhichte, von dem wir dahingezogen
werden. Wie in dem großen Weltbau der fchöpferifche Geift ſich
unverrüdbare Gefege gab, nad denen er das Reich der Erſchei—
nungen bewegt, die Fülle des höchſten Gutes in die Unzählbar-
feit der Geftalten und Ereignifje zerftreuend und aus ihnen fte
wieder zu dem Glüde bes Bewußtſeins und des Genuffes ver-
dichtend: fo wird der Menfch diefelben Gefege anerfennend, die
gegebene Wirflichfeit in Erfenntniß ihres Werthes, den Werth
feiner Ideale in eine von ihm ausgehende Reihe äufßerlicher Ge-
ftaltungen entwideln müfjen. Zu diefer Arbeit find wir beftimmt,
und der ehrwürdigſte Zug in der Geſchichte unferes Gefchlechtes
453
ift die unverfiegbare Ausdauer, mit welcher die hervorragendſten
Geifter aller Zeiten fi der Vervolllommnung der äußerlichen
Lebensverhältnifje, der Ueberwindung der Natur, dem Fortſchritte
jeder nüglihen Kunft, der Beredlung der gefelligen Formen wid-
meten, obwohl fie es wußten, daß der wahre Genuß des Daſeins
doch nur in jenen ftillen Augenbliden des Alleinfeins mit Gott
Tiegt, in denen jedes menſchliche Tagwerk, alle Eultur und Civili-
fation, der Ernft und die Laft des lauten Lebens zu dem Bilde
einer nur vorläufigen Uebung von Kräften ohne bleibendes Er-
gebnig zuſammenſchwinden. In diefer Regfamfeit einer nicht ins
Unbeftimmte irrenden Freiheit, welche die Frucht wollte ohne das
langjame Wahsthum der Pflanze, fondern mit Bewußtſein an
die feften Schranken einer ihm heiligen Nothmwendigfeit fi bin=
dend und den Spuren folgend, Die fie ihm vorzeichnet, wird der
Menſch das fein, was eine alte Ahnung ihn vor allen Geſchöpfen
fein läßt: das vollfommene Abbild der großen Wirklichkeit, die
Heine Welt, der Mikrokosmus.
Drud von I. B. Hirſchfeld in Leipzig.
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Digitized by Google
Digitized by Google
Digitized by Google
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U. C. BERKELEY LIBRARIES
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