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Full text of "Mikrokosmus : Ideen zur Naturgeschichte und Geschichte der Menschheit ; Versuch einer Anthropologie"

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Mikrokosmus. 


Ideen zur Naturgeſchichte und Geſchichte 
der Menſchheit. 


Verſuch einer Anthropologie 
von 


Hermann Lotze. 


Ersier Vand. 
1. Der Leib. 2. Die Seele. 3. Das Leben. 


Dritte Auflage, 


Leipzig 
Verlag von S. Hirzel. 
1876, 





Das Recht ‚ber Ueberjegung ift vorbehalten. 


Dem treuen Freunde 


Bilhbelm Baum 


und dem Andenken 


Heinrich Ritters 


Zwiſchen den Bedürfniſſen des Gemüthes und den Er⸗ 
gebniſſen menſchlicher Wiſſenſchaft iſt ein alter nie gefchlich- 
teter Zwiſt. Jene hohen Träume des Herzens aufzugeben, 
die den Zuſammenhang der Welt anders und ſchöner geſtal⸗ 
tet wiſſen möchten, als der unbefangene Blick der Beobach⸗ 
tung ihn zu ſehen vermag: dieſe Entſagung iſt zu allen Zei⸗ 
ten als der Anfang jeglicher Einficht gefordert worven. Und 
gewiß ift das, was man fo gern als höhere Anficht der Dinge 
dem gemeinen Erfennen gegenüberftellt, am bäufigften doch 
nur eine jehnfüchtige Ahnung, wohl kundig der Schranken, 
denen fie entfliehen, aber nur wenig des Zieles, das fie er- 
reichen möchte. Denn aus dem beten Theile unjeres Wejens 
entfprungen, empfangen doch jene Anfichten ihre beftimmtere 
Färbung von fehr verfchievenartigen Einflüffen. Genährt an 
mancherlei Zweifeln und Nachgedanken über die Schielfale des 
Lebens und über den Inhalt eines doch immer beſchränkten 
Erfahrungsfreifes, verleugnen fie weder die Eindrücke überlie- 
ferter Bildung und augenbliclicher Zeitrichfungen, noch find 
fie jelbft unabhängig von dem natürlichen Wechjel der Stim- 
mungen, die andere find in der Jugend, andere nach der Auf» 
jammlung mannigfaltiger Erfahrungen. Man Tann nicht 
ernftlich Hoffen, daß eine ſo unklare und unruhige. Bewe⸗ 


VIII 


auflöſen wird, ohne die neuen Verwirrungen zu verſchulden, 
in welche Die vereinzelten Beantwortungen zudringlicher Zwei⸗ 
fel uns ſtets zu verwickeln pflegen. Aber das Ganze der 
Wahrheit dürfen wir nicht als eine abgeſchloſſene Glorie für 
ſich betrachten, von der keine nothwendige Beziehung mehr zu 
den Bewegungen des Gemüthes hinüberliefe, aus denen doch 
ſtets der erſte Antrieb zu ihrer Entdeckung hervorging. So 
oft vielmehr ein Ummwälzung ver Wiſſenſchaft alte Auffaffungs- 
weifen verdrängt bat, wird die neue Geftaltung der Anfichten 
fi) durch die bleibende oder wachſende Befriedigung rechtfer- 
tigen müfjen, die fie den unabweisbaren Anforderungen unfes 
re8 Gemüthes zu gewähren vermag. 

Ihre eigenen Zwede müſſen jedoch die Wiffenfchaft nicht 
minder beftimmen, eine folche Verjtändigung zu fuchen. Denn 
fie jelbft, welchen andern Ort des Dafeins hätte fie, als die 
Ueberzeugung derer, die von ihrer Wahrheit durchdrungen 
find? Aber fie wird nie dieſe Meberzeugung bewirken, wenn 
fie vergißt, daß alle Bereiche ihrer Forſchung, alle Gebiete der 
geiftigen und natürlichen Welt, vor jedem Anfange einer geord- 
neten Unterfuhung längjt von unjern Hoffnungen Ahnun⸗ 
gen und Wünfchen überzogen und in Beli genommen find. 
Ueberall zu fpät kommend, findet fie nirgends eine völlig un- 
befangene Empfänglichfeit; fie findet überall vielmehr bereits 
befeftigt jene Weltanficht des Gemüthes vor, die mit dem gan⸗ 
zen Gewicht, welches fie ihrem Urfprunge aus der lebendigften 
Sehnſucht des Geiftes verdankt, ſich hemmend an den Gang 
ihrer Beweife hängen wird. Und wo eine wiberwillige Ueber- 
zeugung im Einzelnen dennoch erzwungen wird, ba wird ſie 
ebenfo leicht wieder im Ganzen durch die Erinnerung vereitelt, 
Daß ja die Macht jener erften Grundſätze, durch deren Folgen 
die Wilfenichaft uns bezwingen will, zuletzt auch nur auf 
einem unmittelbaren Ölauben an ihre Wahrheit beruht. Mit 
demjelben Glauben meint man viel richtiger fogleich jenes 
Weltbild ſelbſt fefthalten zu müflen, veffen Zuſammenklang mit 


IX 


der Stimme unferer Wünfche feine Wahrheit zu befräftigen 
jcheint. Und fo läßt mar das Ganze der Wiffenfchaft als ein 
Irrſal dahingeſtellt fein, in welches die Erfenntniß, abgelöft 
von ihrem Zufammenbange mit dem ganzen lebendigen Geiſte, 
auf nicht weiter angebbare Weiſe fich verwidelt habe. 

Man kann im Olauben an die Welt des Gemüthes nicht 
Ihwärmen, ohne bei jevem Schritte des wirklichen Lebens bie 
Bortheile der Wiffenfchaft zu benugen und ihre Wahrheit ftill- 
ſchweigend dadurch anzuerkennen; man kann ebenjo wenig der 
Wiffenjchaft Ieben, ohne Luft und Laft des Dafeind zu em- 
pfinden und fich von einer Weltordnung anderer Art überall 
umfpannt zu fühlen, über welche jene faum kärgliche Erläu- 
terungen gibt. Was liegt näher als die Ausflucht,. fih an 
beide Welten zu vertheilen, beiden angehören zu wollen, ohne 
fie Doch zu vereinigen? in der Wiffenfchaft den Grundſätzen 
bes Erfennens bis in ihre Außerften Ergebniffe zu folgen und 
im Leben fi) von den hergebraditen Gewöhnungen des Glau⸗ 
bens und Handelns nach ganz anderen Richtungen treiben zu 
laſſen? 

Daß dieſe Zwieſpältigkeit der Ueberzeugung häufig die 
einzige Löſung iſt, die man findet, iſt nicht befremdlich; trau- 
tiger, wenn fie als die wahre Faſſung unferer Stellung zur 
Welt empfohlen würde. Die Unvollkommenheit menfchlichen 
Wiffens kann ung wohl am Ende unferer Bemühungen zu 
dem Geftänpniffe nöthigen, daß die Ergebnifje des Erkennens 
und des Glaubens fich zu feinem lücdenlofen Weltbaue ver- 
einigen; aber nie können wir theilnahmlos zufehen, wie das 
Erfennen durch feinen Widerſpruch die Grundlagen des Glau⸗ 
bens unterhöhlt, over dieſer fühl im Ganzen das ablehnt, 
was die Wiflenfchaft eifrig im Einzelnen geftaltet hat. Im⸗ 
mer von neuem müflen wir vielmehr den ausdrüdlichen Ver⸗ 
fuch wiederholen, beiden ihre Nechte zu wahren und zu zeigen, 
wie wenig unauflöslich der Widerſpruch ift, in welchen fie 
unentwirrbar verwidelt erjcheinen. | 


VIII 


auflöſen wird, ohne die neuen Verwirrungen zu verſchulden, 
in welche die vereinzelten Beantwortungen zudringlicher Zwei⸗ 
fel uns ſtets zu verwickeln pflegen. Aber das Ganze der 
Wahrheit dürfen wir nicht als eine abgeſchloſſene Glorie für 
ſich betrachten, von der feine nothwendige Beziehung mehr zu 
ven Bewegungen des Gemüthes hinüberliefe, aus denen doc 
jtet8 der erſte Antrieb zu ihrer Entvedung hervorging. So 
oft vielmehr ein Umwälzung der Wiſſenſchaft alte Auffaſſungs⸗ 
weifen verdrängt hat, wird Die neue Geftaltung der Anfichten 
ſich durch die bleibende oder wachjende Befriedigung vechtfer- 
tigen müfjen, die fie den unabweisbaren Anforderungen unſe⸗ 
re8 Gemüthes zu gewähren vermag. 

Ihre eigenen Zwecke müffen jedoch die Wiffenfchaft nicht 
minder bejtimmen, eine folche Verftändigung zu juchen. Denn 
fie jelbft, welchen andern Ort des Dafeins hätte fie, als Die 
Veberzeugung derer, die von ihrer Wahrheit durchdrungen 
find? Aber fie wird nie Diefe Meberzeugung bewirken, wenn 
fie vergißt, daß alle Bereiche ihrer Forſchung, alle Gebiete der 
geijtigen und natürlichen Welt, vor jedem Anfange einer geord- 
neten Unterfuchung längjt von unfern Hoffnungen Ahnun⸗ 
gen und Wünfchen überzogen und in Beſitz genommen find. 
Ueberall zu ſpät kommend, findet fie nirgends eine völlig‘ un- 
befangene Empfänglichfeit; fie findet überall vielmehr bereit$ 
befeitigt jene Weltanficht des Gemüthes vor, die mit dem gan⸗ 
zen Gewicht, welches fie ihrem Urfprunge aus der lebendigften _ 
Sehnfucht des Geiftes verbanft, ſich hemmend an ven Gang 
ihrer Beweife hängen wird. Und wo eine widerwillige Ueber- 
zeugung im Einzelnen dennoch erzwungen wird, ba wird fie: 
ebenso leicht wieder im Ganzen durch bie Erinnerung vereitelt, 
daß ja die Macht jener erjten Grundfäge, durch deren Folgen 
die Wiſſenſchaft ung bezwingen will, zulest auch nur auf 
einem unmittelbaren Glauben an ihre Wahrheit beruft. Mit 
demfelben Glauben meint man viel richtiger fogleich jenes 
Weltbild ſelbſt fefthalten zu müflen, deſſen Zuſammenklang mit 





IX 


der Stimme unferer Wünfche feine Wahrheit zu befräftigen 
ſcheint. Und fo laßt man das Ganze der Wiſſenſchaft als ein 
Irrſal dahingeftellt fein, in welches die Erfenntniß, abgelöft 
von ihrem Zufammenhange mit dem ganzen lebendigen Geifte, 
auf nicht weiter angebbare Weife fich verwidelt habe. 

Man fann im Glauben an die Welt des Gemüthes nicht 
ſchwärmen, ohne bei jedem Schritte des wirklichen Lebens die 
Vortheile der Wiffenfchaft zu benugen und ihre Wahrheit ftill- 
ſchweigend dadurch anzuerfennen; man fann ebenjo wenig der 
Wiſſenſchaft leben, ohne Luft und Laſt des Dafeins zu em- 
pfinden und fich von einer Weltorpnung anderer Art überall 
umfpannt zu fühlen, über welche jene kaum färgliche Erläu- 
terungen gibt. Was liegt näher als die Ausflucht, fih an 
beide Welten zu vertheilen, beiden angehören zu wollen, ohne 
fie Doch zu vereinigen? in der Wiſſenſchaft den Grundjägen 
des Erfennens bis in ihre Außerften Ergebniffe zu folgen und 
im Leben fich von den hergebraditen Gewähnungen des Glau⸗ 
bens und Handelns nach ganz anderen Richtungen treiben zu 
laſſen? 

Daß dieſe Zwieſpältigkeit der ueberzeugung häufig die 
einzige Löſung iſt, die man findet, iſt nicht befremdlich; trau⸗ 
riger, wenn ſie als die wahre Faſſung unſerer Stellung zur 
Welt empfohlen würde. Die Unvollkommenheit menſchlichen 
Wiſſens kann uns wohl am Ende unſerer Bemühungen zu 
dem Geſtändniſſe nöthigen, daß die Ergebniſſe des Erkennens 
und des Glaubens ſich zu feinem lückenloſen Weltbaue ver⸗ 
einigen; aber nie können wir theilnahmlos zuſehen, wie das 
Erkennen durch feinen Widerſpruch die Grundlagen des Glau⸗ 
bens unterböhlt, ober viefer fühl im Ganzen das ablehnt, 
was die Wiffenfhaft eifrig im Einzelnen geftaltet hat. Im⸗ 
mer von neuem müſſen wir vielmehr den ausprüdlichen Ver⸗ 
juch wiederholen, beiden ihre Rechte zu wahren und zu zeigen, 
wie wenig unauflöslicd der Widerfpruch ift, in welchen fie 
unentwirrbar verwidelt erfcheinen. 


x 


- Der Mebermuth der philoſophiſchen Forſchung und bie 
raftlofen Fortſchritte ver Naturwiſſenſchaft Haben von verjchie- 
denen Seiten ber jenes Weltbild zu zerftören gejucht, in wel- 
hem das menfchliche Gemüth die Befriedigung feiner Sehn- 
fucht fand. Die Beunrubigungen jedoch, welche die Angriffe 
der Philofophie erzeugten, bat unfere Zeit durch das wirf- 
famfte Mittel überwunden, durch die völfige Theilnahmlofig- 
fett, mit der fie fi von den faum mehr beachteten Anjtren- 
gungen der Speculation abwendet. Sie hat fich nicht chen 
‚jo leicht der weit zubringlicheren DBerebtjamfeit der Natur- 
wiſſenſchaften entziehen Finnen, deren Behauptungen jeden 
Augenblid die Erfahrungen des alltäglichften Lebens bejtä- 
tigten. Diefer übermächtige Einfluß, den die wahrhaft 
großartige Entwidlung der Naturfenntnig auf alle Beſtre⸗ 
bungen unſeres Iahrhunderts äußert, ruft unfehlbar einen 
ebenjo anwachſenden Widerſtand gegen die Beeinträchtigungen 
hervor, die man von ihm für das Höchfte der menjchlichen 
Bildung erwartet. Und fo ftehen wieder die alten Gegenfäte 
zum Kampfe auf: hier die Erfenntniß der Sinnenwelt mit 
ihrem täglich fich mehrenden Reichthum des bejtimmteften 
Wiſſens und der Veberredungsfraft anſchaulicher Thatſachen, 
Dort die Ahnungen des Meberfinnlichen, kaum ihres eigenen 
Inhaltes recht ficher, jeder Beweisführung ſchwer zugänglich, 
aber durch ein ſtets wiederfehrendes Bewußtjein ihrer dennoch 
nothwendigen Wahrheit noch unzugänglicher für jede Wider- 
legung. Daß der Streit zwifchen biejen beiden eine unnöthige 
Dual ift, die wir Durch zu frühes Abbrechen ver Unterfuchung 
uns jelbft zufügen, dies ift Die Meberzeugung, bie wir be- 
feftigen möchten. 

Gewiß mit Unrecht wendet fi) die Naturwiſſenſchaft ganz 
von den äfthetifchen und religiöfen Gedankenkreiſen ab, vie 
man ihr als eine höhere Auffafjung der Dinge überzuoronen 
liebt; fie fürchtet ohne Grund, ihre fcharfbegrenzten Begriffe 
und die feite Fügung ihrer Methoden durch die Aufnahme von 


XI 


Elementen zerrüttet zu ſehen, die aller Berechnung unfähig, 
ihre eigene Unbeſtimmtheit und Nebelhaftigkeit Allem mitthei⸗ 
len zu müſſen ſcheinen, was mit ihnen in Berührung kommt; 
fie vergißt endlich, daß ihre eigenen Grundlagen, unſere Vor⸗ 
ſtellungen von Kräften und Naturgeſetzen, noch nicht die Schluß- 
gewebe der Fäden find, die fich in der Wirklichkeit verfchlin- 
gen. Auch fie laufen vielmehr für einen fchärferen Blick in 
daffelbe Gebiet des Meberfinnlichen zurück, deſſen Grenzen man 
umgehen möchte. 

Nicht minder unbegründet aber ift, was anderſeits der 
Anerfennung der mechaniſchen Naturauffaflung jo hemmend 
entgegenjtebt: die ängftliche Furcht, vor ihren Folgerungen alle 
Lebendigkeit, Freiheit und Poefie aus der Welt verjchwinden 
zu ſehen. Wie oft ift diefe Furcht ſchon geäußert worben, 
und wie oft hat der unaufhaltfame Fortſchritt der Entvedun- 
gen neue Quellen der Poeſie eröffnet für die alten, die er 
verjhütten mußte! Jenes Gefühl der Heimatlichkeit, mit dem 
ein abgefchloffenes Volk, unkundig des unermeßlichen menjch- 
lichen Lebens auch außerhalb feiner Grenzen, fich felbft als die 
ganze Menjchheit, und jeven Hügel, jede Quelle feines Landes in 
der pflegenden Obhut einer befonveren Gottheit fühlen durfte: 
diefe Einigkeit des Göttlichen und Menſchlichen ift überall zu 
Grunde gegangen in dem Fortfchritte der geographiichen Kennt⸗ 
niß, den der wachfende Völferverfehr berbeiführte. Aber dieſe 
erweiterte Ausjicht verdarb nicht, ſondern veränderte nur und 
erhöhte den poetifchen Reiz der Welt. Die Entvedungen der 
Altronomie zerjtörten den Begriff des Himmels, wie ben ber 
Erde; fie löſten jenen, ven anfchaulichen Wohnfit der Götter, 
in die Unermeßlichkeit eines Luftkreiſes auf, in welchem vie 
Bhantafie feine Heimat des Ueberſinnlichen mehr zu finden 
wußte; fie wandelten Die Erde, die einzige Stätte des Lebens 
und der Gefchichte, in einen der Heinften Theile des grenzen- 
Iofen Weltalis um. Und Schritt für Schritt nahm dieſe Zer- 
ftörung altgemohnter Anjchauungen ihren weiteren Verlauf. 


Xu 


Aus einem ruhenden Mittelpunfte ward die Erde ein verloren 
wandelnder Planet, um eine Sonne freifend, die vorher nur 
zu ihrem Schmud und Dienft vorhanden fchien; felbjt vie 
Harmonie der Sphären jchwieg, und Alle haben wir ung 
barein gefunden, daß ein ftummer, allgemeinen ®ejeken ge» 
borchenvder Umfchwung unzähliger Himmelsförper die um: 
fafjende Welt ift, in der wir mit allen unferen Hoffnungen, 
Wünſchen und Beitrebungen wohnen. 

Daß diefe Umbildung der kosmographiſchen Anſchauun⸗ 
gen auf das Bedeutſamſte im Laufe ver Gefchichte die Phan⸗ 
tafie der Bölfer umgeftimmt hat, wer möchte dies leugnen? 
Anders lebt e8 fich gewiß auf ver Scheibe der Erbe, wenn die - 
fihtbaren Gipfel des Olymp und in erreichbarer Ferne die 
Zugänge der Unterwelt alle höchſten und tiefiten Geheimniſſe 
des Weltbaues in die vertrauten Grenzen ver anfchaulichen 
Heimat einjchließen; anders auf der vollenden Kugel, die we- 
der im Innern noch um fich in der öden Unermeßlichfeit des 
Luftkreiſes Plat für jenes Verborgene zu haben fcheint, durch 
veffen Ahnung allein das menfchliche Leben zur Entfaltung 
feiner höchſten Blüthen befruchtet wird. An dem Faden einer 
heiligen Weberlieferung mochte die Vorzeit das Gewirr der 
Bölfer, das den bunten Markt des Lebens füllt, in die ftille 
Heimlichteit des Paradiefes zurüdleiten, in deſſen Schatten 
die Mannigfaltigfeit der menfchlichen Gefchlechter das verbin- 
dende Bewußtfein eines gemeinfamen Urfprunges wiederfand; 
die Entvedung neuer Erbtbeile erjchütterte auch dieſen Glau⸗ 
ben; andere Völker traten in den Gefichtöfreis ein, unfundig 
der alten Sagen, und die gemeinjame Heimat der Menjchheit 
wurde weit über die äußerſten Grenzen gejchichtlicher Erinne- 
rung binausgerüdt. Enblich that die ftarre Rinde des Pla- 
neten felbft, ven das menfchliche Gefchlecht feit vem Tage fei- 
ner Entjtehung zu befigen wähnte, ihren verfchloffenen Mund 
auf.und erzählte von unmeßbaren Zeiträumen des Dafeins, 
in denen dies menfchliche Leben mit feinem Trotz und jeiner 


d 


XIII 


Verzagtheit noch nicht war und die ſchöpferiſche Natur, auch 
ſo ſich genügend, zahlreiche Gattungen des Lebendigen wech— 
ſelnd entſtehen und vergehen ließ. 

So ſind alle die freundlichen Begrenzungen zerfallen, 
durch die unſer Daſein in eine ſchöne Sicherheit eingefriedigt 
lag; unermeßlich, frei und kühl iſt die Ausficht um uns her 
geworden. Aber alle dieſe Erweiterungen unferer Kenntniffe 
haben weber die Poefie aus der Welt vertrieben, noch unfere 
religiöfen Weberzeugungen anders als förberlich berührt; fie 
haben uns genöthigt, was in anfchaulicher Nähe uns verloren 
war, mit größerer geiftiger Anftrengung in einer überfinnlichen 
Welt wiederzufinden. Die Befriedigung, die unſer Gemüth 
in Lieblingsanfichten fand, ift ftet8, wenn diefe dem Fort- 
ſchritte der Wiffenfchaft geopfert werden mußten, in anbe- 
zen neuen Formen wieder möglich geworden. Wie dem Ein- 
zelnen im Verlaufe feiner Lebensalter, fo verwandeln fich auch 
unvermeidlich in. der Gefchichte des menſchlichen Gefchlechtes 
die beftimmten Umriſſe des Bildes, in dem es den Inhalt 
feiner böchften und unverlierbaren Ahnungen ausprägt. Nutz⸗ 
los ift jede Anftrengung, der Haren Erfenntniß der Wiſſen— 
ſchaft zu wiberjtreben und ein Bild fefthalten zu wollen, von 
dem uns doch das heimliche Bewußtfein verfolgt, daß es ein 
gebrechlicher Traum ſei; gleich übel berathen aber ift die Ver- 
zweiflung, die das aufgibt, was bei allem Wechjel feiner For- 
men doch der unerfchütterliche Zielpunkt menfchlicher Bildung 
fein muß. Geſtehen wir vielmehr zu, daß jene höhere Auf- 
faffung der Dinge, deren wir uns bald rühmen, bald gänzlich 
unfähig fühlen, in ihrem dunklen Drange ſich des rechten We⸗ 
ges wohl bewußt ift, und daß jede beachtete Einrede der Wiffen- 
ſchaft nur eine der täufchenden Beleuchtungen zerftreut, welche 
die wechfelnden Standpunkte unferer veränverlichen Erfahrung 
auf das beftändig gleiche Ziel unferer Sehnſucht werfen. 

Jene Entgötterung des gefammten Weltbaues, welche bie 
fosmograpbifchen Entdeckungen der Vorzeit unwiderruflich voll⸗ 





XII 


Aus einem ruhenden Mittelpunkte ward die Erde ein verloren 
wandelnder Planet, um eine Sonne kreiſend, die vorher nur 
zu ihrem Schmuck und Dienſt vorhanden ſchien; ſelbſt die 
Harmonie der Sphären ſchwieg, und Alle haben wir uns 
darein gefunden, daß ein ſtummer, allgemeinen Geſetzen ge- 
horchender Umſchwung unzähliger Himmelskörper die um— 
faſſende Welt iſt, in der wir mit allen unſeren Hoffnungen, 
Wünſchen und Beſtrebungen wohnen. 

Daß dieſe Umbildung der kosmographiſchen Anſchauun⸗ 
gen auf das Bedeutſamſte im Laufe der Geſchichte die Phan⸗ 
taſie der Volker umgeſtimmt hat, wer möchte dies leugnen? 
Anders lebt e8 fich gewiß auf der Scheibe der Erde, wenn die - 
fihtbaren Gipfel des Olymp und in erreichbarer Ferne bie 
Zugänge der Unterwelt alle höchſten und tiefſten Geheimniſſe 
des Weltbaues in die vertrauten Grenzen der anfchaulichen 
Heimat einjchließen; anders auf der vollenden Kugel, die wer 
der im Innern noch um fich in der öden Unermeßlichkeit des 
Zuftfreifes Pla für jenes Verborgene zu haben jcheint, durch 
beffen Ahnung allein das menfchliche Leben zur Entfaltung 
jeiner höchſten Blüthen- befruchtet wird. An dem Faden einer 
heiligen Weberlieferung mochte die Vorzeit das Gewirr ber 
Völker, das den bunten Marft des Lebens füllt, in die ftille 
Heimlichkeit des Paradieſes zurüdleiten, in deſſen Schatten 
die Mannigfaltigfeit der menschlichen Gefchlechter das verbin- 
dende Bewußtfein eines gemeinjamen Urjprunges wiederfand; 
die Entdedung neuer Erdtheile erjchütterte auch dieſen Glau⸗ 
ben; andere Völker traten in den Gefichtöfreis ein, unkundig 
ber alten Sagen, und die gemeinfame Heimat der Menfchheit 
wurbe weit über die äußerten Grenzen gefchichtlicher Erinne- 
rung binausgerücdt. Endlich that die ftarre Rinde des Pla- 
neten felbft, ven das menfchliche Gefchlecht feit dem Tage fei- 
ner Entjtehung zu befigen wähnte, ihren verfchloffenen Mund 
auf.und erzählte von unmeRbaren Zeiträumen des Dafeing, 
in denen dies menfchliche Leben mit feinem Trotz und jeiner 


— 


XII 


Verzagtbeit noch nicht war und Die fchöpferifche Natur, auch 
jo fich genügend, zahlreiche Gattungen des Lebendigen wech- 
ſelnd entjtehen und vergehen Tief. 

So find alle die ‚freundlichen Begrenzungen zerfallen, 
durch die unſer ‘Dafein in eine fchöne Sicherheit eingefriedigt 
lag; unermeßlich, frei und fühl ift die Ausficht um uns ber 
geworden. Aber alle diefe Erweiterungen unferer Kenntniffe 
haben weder die Poefie aus der Welt vertrieben, noch unfere 
religiöfen Veberzeugungen anders als förderlich berührt; fie 
haben uns gendthigt, was in anfchaulicher Nähe uns verloren 
> war, mit größerer geiftiger Anftrengung in einer überfinnlichen 
Welt wiederzufinden. Die Befriedigung, bie unfer Gemüth 
in Lieblingsanfickten fand, ift ftetS, wenn dieſe dem Fort- 
ichritte der Wiffenfchaft geopfert werden mußten, in ande— 
ren neuen Formen wieder möglich geworden. Wie dem Ein- 
zelnen im Verlaufe feiner Lebensalter, jo verwandeln fich auch 
unvermeidlich in. der Gefchichte des menfchlichen Geſchlechtes 
die beitimmten Umriffe des Bildes, in dem es den Inhalt 
feiner höchiten und unverlierbaren Ahnungen ausprägt. Nub- 
los ift jede Anftrengung, der Haren Erfenntniß der Wiffen- 
haft zu widerftreben und ein Bild fefthalten zu wollen, von 
dem uns doch das heimliche Bemwußtjein verfolgt, Daß e8 ein 
gebrechlicher Traum ſei; gleich übel berathen aber ift die Ver- 
jweiflung, die das aufgibt, was bei allem Wechſel feiner For- 
men Doch der unerjchütterliche Zielpunkt menſchlicher Bildung 
fein muß. Geſtehen wir vielmehr zu, daß jene höhere Auf- 
faffung der Dinge, deren wir uns bald rühmen, bald gänzlich 
unfähig fühlen, in ihrem dunklen Drange fich des rechten We- 
ges wohl bewußt ift, und daß jede beachtete Einrede der Wiffen- 
ſchaft nur eine der täufchenden Beleuchtungen zerftreut, welche 
die wechfelnden Standpunkte unferer veränderlichen Erfahrung 
auf Das beſtändig gleiche Ziel unferer Sehnjucht werfen. 

Jene Entgötterung des gefammten Weltbaues, welche die 
fosmograpbifchen Entvedungen ver Vorzeit unwiderruflich voll- 





xIV 


zogen haben, den Umſturz der Mythologie, dürfen wir als 
verjchmerzt anſehen, und ver legten Klage, die in Schillers 
Göttern Griechenlands fich ergoß, wird nie ein Verſuch fol- 
gen, im Wiberfireit mit den Lehren der Wiflenfchaft den Slau- 
ben an diejes Vergangene wieberberzuftellen. Große Umwäl⸗ 
zungen ber religiöfen Anfichten haben über dieſen Verluſt 
hinausgeführt und längſt ven überreichen Erfat dargeboten. 
Aber wie die wachfende Fernficht der Ajtronomie den großen 
Schauplat des menfchlichen Lebens aus feiner unmittelbaren 
Berfchmelzung mit dem Göttlichen löſte, fo beginnt Das wei⸗ 
tere Vorbringen der mechanischen Wiſſenſchaft auch die kleinere 
Welt, ven Mikrokosmus des menſchlichen Wejens, 
mit gleicher Zerjeßung zu bedrohen. Sch denke nur flüchtig 
hierbei an bie überhandnehmende Verbreitung materialiftifcher 
Auffaffungen, die alles geiftige Leben auf das blinde Wirken 
eines körperlichen Mechanismus zurüdführen möchten. So 
breit und zuwerfichtlich ver Strom dieſer Anfichten fließt, hat 
er feine Quelle doch Teineswegs in unabweisbaren Annahmen, 
die mit dem Geifte der mechanischen Naturforfhung unzer- 
trennlich zufammenbingen. Aber auch innerhalb der Grenzen, 
in denen fie fich mit befjerem Nechte bewegt, ift die zerſetzende 
und zeritörende Thätigkeit diefer Forſchung fichtbar genug und 
beginnt alle jene durchdringende Einheit des Körpers und ber 
Seele zu beftreiten, auf der jede Schönheit und Lebendigkeit 
der ©eftalten, jeve Bedeutſamkeit und jeder Werth ihres Wech- 
jelverfehrs mit der äußeren Welt zu beruhen fchien. Gegen 
die Wahrheit der finnlihen Erfenntniß, gegen die freie Will- 
führlichfeit der Bewegungen, gegen die fchöpferifche, aus fich 
- jelbft quellende Entwidelung des förperlichen Dafeins überhaupt 
find die Angriffe ver phyſiologiſchen Wiſſenſchaft gerichtet ge⸗ 
wejen. und haben fo alle jene Züge in Trage geftellt, in de- 
nen das unbefangene Gefühl den Kern aller Boefie des leben- 
digen Dafeins zu befigen glaubt.” Befremdlich kann daher bie 
Stanphaftigfeit nicht fein, mit welcher die Weltanficht des Ge⸗ 











XV 


müthes als höhere Auffaffung der Dinge den überzeugenden 
Darftellungen der mechaniichen Naturbetrachtung bier zu wi⸗ 
beritreben jucht; um fo nöthiger dagegen der Verſuch, Die 
Harmlofigfeit diefer Anficht nachzuweifen, die, wo fie ung 
zwingt, Anfichten zu opfern, mit denen wir einen Theil un- 
jeres Selbft hinzugeben glauben, doch durch dag, was fie ung 
zurüdgibt, die verlorene Befriedigung wieder möglich macht. 
Und je mehr ich ſelbſt bemüht gewefen bin, den Grund⸗ 
lägen der mechanifchert Naturbetrachtung Eingang in das Ge⸗ 
biet des organischen Lebens zu bereiten, das fie zaghafter zu 
"betreten fchien, als das Wefen der Sache e8 gebot: um fo 
mehr fühle ich den Antrieb, nun auch jene andere Seite her- 
porzufehren, die während aller jener Beftrebungen mir, gleich 
ſehr am Herzen lag. Ich darf kaum Hoffen, ein jehr günjti- 
ges Vorurtheil für den Erfolg diefer Bemühung anzutreffen; 
denn was jene früheren Darftellungen an Zuftimmung etwa 
gefunden haben mögen, das dürften fie amt meiftern der Leich- 
tigfeit verdanken, mit der jede vermittelnde Anficht fich dahin 
ummbeuten läßt, daß fie Doch wieder einer der einfeitigen äufßer- 
jten Meinungen günftig erjcheint, welche fie vermeiden wollte. 
Sleihwohl Liegt in diefer Vermittlung allein der wahre Xe- 
benspunft der Wiffenihaft; nicht darin freilich, daß wir. bald. 
der einen bald der andern Anficht zerftücelte Zugeſtändniſſe 
macen, fondern darin, daß wir nachweilen, wie ausnahms- 
108 univerjell die Ausdehnung, und zugleich wie 
völlig untergeordnet Die Bedeutung der Sendung 
ift, welde ver Webanismus in vem Baue der Welt 
zu erfüllen hat. 
Es ift nicht der umfaſſende Kosmos des Weltganzen, 
deſſen Bejchreibung wir nach dem Mufter, das unferem Volke 
gegeben ift, auch nur in dem bejchräntteren Sinne dieſer aus- 
geiprochenen Aufgabe zu wiederholen wagen möchten. Je mehr 
die Züge jenes großen Weltbilves in das allgemeine Bewußt⸗ 
jein dringen, deſto lebhafter werden fie uns auf ung ſelbſt zu- 


xVI 


rüdlenfen und die Fragen von neuem anregen, welche Be- 
deutung nun der Menfch und das menfchliche Leben mit fet- 
nen bejtändigen Erjcheinungen und dem veränderlichen Laufe 
feiner Gejchichte in dem großen Ganzen der Natur bat, deren 
bejtändigem Einfluffe wir uns nach den Ergebnifjen der neue- 
ren Wiffenichaft mehr als je unterworfen fühlen. Indem wir 
hierüber die Reflexionen zu fammeln fuchen, die nicht allein 
innerhalb der Grenzen ver Schule, fonvdern überall im Leben 
ſich dem nachdenklichen Gemüthe aufprängen, wiederholen wir 
unter den veränderten Anfchauungen, welche die Gegenwart 
gewonnen, das Unternehmen, das in Herders Ideen zur‘ 
Geſchichte der Menjchheit feinen glänzenden Beginn gefun- 
den bat. 





Vorwort zur zweiten und dritten Anflage. 


Keine wejentliche Umgeftaltung der Anficht oder ver Dar- 
jtellung unterjcheidet Diefe neue Auflage des erften Bandes 
meines Buches von der früheren. Zahlreiche Aenderungen im 
Einzelnen find zum Vortheil der Klarheit verfucht worben; fie 
find nicht von der Bedeutung, daß es nöthig fchiene, auf fie 
im Voraus die Aufmerffamfeit zu lenken. Ich Tann dagegen 
meine Arbeit nicht von neuem veröffentlichen, ohne den auf- 
richtigſten Dank für die ausgebreitete, noch mehr für bie herz. 
liche Theilnahme auszufprechen, die fie in ihrer früheren Ge⸗ 
ftalt gefunden bat; möge gleiches Wohlwollen fie in ihrer 
neuen begleiten! 

Göttingen, 22. Nov. 1868. — 7. Juni 1876. 


9. Lotze. 











Iuhalt. 


IErſtes Bud. 
Der Leib. 


@rfted Kapitel. 
Der Streit der Naturanfichten. 
Die Mythologie und die gemeine Wirklichkeit. — Perfönlihe Naturgeifter und 
das Rei ber Sachen. — Die Weltfeele und bie pefeetenben Triebe. — 
Die Kräfte und ihre allgemeinen Gefeke .. ... 


Zweites Kapitel. 
Die mechaniſche Natur. 

Allgemeinheit der Geſetze. — Beſtimmung des Wirkſamen. — Die Atome und 
der Sinn ihrer Annahme. — Die phyſiſchen Kräfte. — Geſetze der Wirkun⸗ 
gen und ihrer Zuammenſeduns—. — Altzemeine weigen für die Eratuns der 
Naturerfheinungen. . . . 0. 


Drittes Kapitel. 
Der Grund des Lebens. 

Die chemiſche Vergänglichleit des Körperd. — Wechſel feiner Beftandtheil.e — 
Fortpflanzung und Erhaltung feiner Kraft. — Die Harmonie feiner Wirkun- 
gen. — Die wirkfane Idee. — Zwedmäßige Sernferbaltırp. — Reigbartell, — 
Die Mafchinen der menfhlihen Kunft . . 


Bierted Kapitel. 
Der Mechanisntus des Leben. 
Beftändige und periodiſche Verrichtungen. — ortfchreitende Entwicklung. — 
Geſetzloſe Störungen. — Die Anwendung der chemiſchen Kräfte und ihre 
Folgen für das Leben. — Geftaltb ldung aus fermloſem Keime. — Sof 
wechfel; feine Bedeutung, feine Form und feine Organe . . 


Seite 


31 


57 


84 


XX 


Seite 
Fünftes Kapitel. 
Der Bau des thieriſchen Körpers. 

Das Knochengeruſt. — Die Muskeln und bie motoriſchen Nerven. — Das 
Gefäßſyſtem und ber Rreleauf bes Blutes, — Athmung und Ernhruns. 

— Ausſcheidungen.. . 1. 112 
Sechſtes Kapitel. 
Die Erhaltung des Lebens. 

Phyſiſche, organiſche, pſychiſche Ausgleichung der Störungen. — Beifpiele ver Her: 
ftelung des Gleichgewichtes. — Das ſympathiſche Nervenfoften. — Beſcandige 
Unruhe alles Organiſchen. — Allgemeines Bild des Lebens. 136 

weites Bud. 
Die Seele, 
Erfied Kapitel. 
Das Daſein der Seele. 

Die Gründe für bie Annahme der Seele. — Freiheit des Willens. — Unvergleich- 
barfeit ber phofifchen und ber pſychiſchen Vorgänge. — Nothwendigkeit zweier 
verfhiedenen Erflärungdgründe — Annahme ihrer Bereinigung in bemfelben 
Weſen. — Die Einheit des Bewußtſeins. — Was fie nicht iſt, und worin fie 
wirklich beſteht. — Unmöglichkeit, fie aus der Zuſammenſetzung vieler Wirkungen 
zu erklären. — Das beziehende Wiſſen im Gegenſatz zu phofiſcher Reſultanten⸗ 
bildung. — Ueberſinnliche Natur ber Seele . . 159 

Zweites Kapitel. 
Natur und Vermögen der Seele. 

Die Mehrheit der Seelenvermögen. — Mängel ihrer Annahme — Ihre Verein: 
barkeit mit der Einheit ber Seele. — Unmittelbare und erworbene Vermögen. 
— Unmöglichkeit eines einzigen Urvermögend. — Borftellen, Fühlen und Wollen. 

— — PLBeſtändige Thätigkeit des ganzen Wefend ber Seele. — Niedere und höhere 
Rüdwirkungen. — Veränberlichleit der Seele und ihre Grenzen. — Das bekannte 

188 


und das unbekannte Weſen ber Sede . . . a . 


Dritted Kapitel, 


Bon dem Verlaufe der Borftellungen. 
Das Beharren ber Vorftelungen und ihr Vergeflenwerden. — Ihr gegenfeitiger 
Drud und die Enge bed Bewußtfeind. — Die verſchiedene Stärke ber Empfin- 
dungen. — Klarheitägrabe ber Erinnerungsbilder. — Der Gegenfab ber Bor: 
ftelungen. — Der innere Sinn. — Leitung des Dorfeitungeiaufes durch die 
Geſetze der Affociation und NReprobudion . . . 0.0... 216 





XXI 


Bierted Kapitel. 
Die Formen des beziebenden Wiſſens. 


Die Verhältniffe zwifchen ben einzelnen Borftelungen als Gegenftände neuer Vor⸗ 
ftellungen. — Wechſel des MWiffend und Wiflen vom Wechſel. — Ungeborene 
Ideen. — Die räumlich zeitliche Weltauffaffung der Sinnlichkeit. — Die den: 
kende Weltauffaffung des Verſtandes. — Der Begriff, dag Urthel der ab 
— Das zufammenfafjende Beftreben ber Vernunft . . .. 


Fünftes Kapitel. 
Bon den Gefühlen, dem Selbftbewußtjein und dem Willen. 


Eniftehung und Formen der Gefühle. — Ihr Zufammenhang mit ber Erfenntniß. 
— Die Werthbeftimmungen ber Bernunft. — Selbftbewußtfein; empirifched und 
reine Ih. — Triebe und Streöungen, — Der Wille und ‚fine grelheit — 
Schlußbemerkung... .. .. 


Driftes Bud. 
Das Leben. 


Erſtes Kapitel. 


Der Zuſammenhang zwifchen Leib und Seele. 
Verſchiedene Stufen ber Weltauffaffung; die wahren und bie abgeleiteten Stand⸗ 
punkte. — Das allgemeine Band zwifchen Geift und Körper. — Die Möglich: 
feit und die Unerflärlichleit der Wechſelwirkungen zwifchen Gleichartigem und 
Ungleichartigem. — Die Entftehung der Empfindungen. Die Lenkung der 
Bewegungen. — Der geſtaltbildende Einfluß der Seele . 


Zweites Kapitel. 
Bon dem Site der Seele. 
Bebeutung ber Frage. — Beihränkter Wirfungsfreis der Seele. — Gehirnbau, — 


Art der Entftehung von Bewegungen. — Bedingungen der räumlichen Ans 
fhauung. — Bebeutung der unverzweigten Nervenfafern. — Augegenwart der 
Seele im Körper— en . 


.DSDrittes Kapitel. ’ 
Formen der Wechſelwirkung zwilchen Leib und Seele, 


Drgan ber Seele. — Organ ber Raumanſchauung. — Körperliche Begründung ber 
Gefühle. — Höhere Intelligenz, fittliched und äfthetifches Urtheil. — Organ bes 
Gedächtniſſes. — Schlaf und Bewußtloſigkeit. — Einfluß körperlicher Zuftände auf 
den Borftellungslauf. — Centralorgan ber Bewegung. — Reflerbewegungen. — 
Angeübte NRüdwirkungsformen. — Xheilbarkeit der Seele. — Phrenologie. 
— Hemmung bed Geiſtes durch die Verbindung mit dem Körper 


246 


269 


299 


354 


XXI 


Seite 
Biertes Kapitel. 


Das Leben der Materie. 


Die beftänbige Täuſchung ber Sinnlichfeit. — Unmöglichkeit bes Abbildes ber Dinge 
in unferer Wahrnehmung. — Eigner und höherer Werth ber Sinnlichkeit. — 
Die innere Regſamkelt der Dinge. — Die Materie Erſcheinung eine Weber: 
finnlicden. — Ueber bie Möglichlelt außgebehnter Weſen. — Die allgemeine Be 
feelung ber Welt. — Der Gegenſatz zwiſchen Körper und Seele nicht zuruche⸗ 
nommen. — Berechtigung ber Vielheit gegen bie Einheit . 386 


Fünftes Kapitel. | 
Bon den erften und ben letten Dingen bes Seelenlebens. 
Beihränftheit der Erkenntniß. — Fragen über bie Urgeſchichte. — Unſelbſtändigkeit 
alles Mechanismus. — Die Naturnothwendigkeit und bie unendliche Subftanz. 


— Möglichkeit des Wirkens Überhaupt, — Urfprung beftimmter Belege bes 
Wirkens. — Unfterblichleit. — Entjtehung ber Selen . . -» . . 416 


leer. 48 








Loge I. 3. Aufl. 


Erfies Bud. 


Der Leib, 


Erftes Kapitel. 
Der Streit der Naturanficdten. 





Die Mythologie und die gemeine Wirklichkeit. — Perfönliche Naturgeifter und das 
Reich der Sachen. — Die Weltfeele und bie befeelenden Triebe — Die Kräfte 
und ihre allgemeinen Geſetze. 


Nach der früheſten Vorzeit unſeres Geſchlechtes wenden wir 
zuweilen, ein verlornes Gut beklagend, unſere Gedanken zurück. 
Damals, in der ſchönen Jugend der Menſchheit, habe gegenſeitiges 
Verſtehen die Natur dem Geiſte genähert und freiwillig habe ſie 
vor ihm das verwandte Leben ihres Innern entfaltet, das fie 
jeßt dem Angriffe unferer Unterfuhung verberge. Um die Außen- 
feite der Erfcheinungen irrend treffe der ermattete Blick der 
Gegenwart nur auf den Umtrieb felbftlofer Stoffe, auf das blinde 
Ringen bewußtlofer Kräfte, "auf die freudlofe Nothwendigkeit 
unvermeiblicder Borherbeftimmung; unmittelbar in die Tiefen. _ 
dringend babe das hellere Auge des jugenblihen Menfchen- 
geſchlechts Nichts von diefen Schreden geſehen: mitwiffend habe 
damals der Geift die ewigen Ideen erkannt, die ihrer felbft be=- 
wußt das Iebendige Wefen der Dinge find, mitgefühlt die ver- 
ſtändlichen Regungen der Sehnfucht, weldhe Die Beweggründe ihres 
Wirkens bilden; nicht als thatfächliche Gefeglichkeit von unbegreif- 
licher Herkunft fei der Zufammenhang der Wirklichkeit ihm gegen- 
übergeftanden, denn in ſich felbft habe er die ſchöpferiſche Abficht 

1* 


4 


nacherlebt, aus deren feliger Einheit heraus die Natur, unbeengt 
dutch ihr vorangehende Schranken, die Fülle ihrer Erſcheinungen 
heroortreibt. 

Ich laſſe nahingeftellt, ob. jene Anklage der Gegenwart ge- 
recht ift; aber ich will zeigen, daß die Vorftellung von einer fo 
veftlofen Befeelung der Natur, wie diefe leidenſchaftlichen Aus- 
drücke fie preifen, zu feiner Zeit die menjchliche Weltanficht aus- 
ſchließlich hat beherrſchen können. Alle jene Regſamkeit freilich, 
die unſer eigenes Gemüth füllt, den vielgeſtaltigen Lauf der Ge— 
banken, das heimliche Spiel der Gefühle, die Lebendige Kraft des 
Strebens, in deren gejeglofer Freiheit uns das ſchönſte Gut unfers 
Dafeins gegeben fcheint: Das alles glaubt die Kindheit des Ein- 
zelnen und glaubte die Jugend der Erfenntniß auch unter den 
fremdartigften Formen der Außenwelt miederzuerfennen. Doch 
nur dem Rinde mag der geringe Umfang feiner Erfahrungen und 
der geringe Ernft ihrer Verknüpfung den Genuß diefer Täuſchung 
friften. Die Jugend des menſchlichen Geſchlechtes dagegen umfaßt 
das Altern vieler Einzelnen; ſchon früb mußte fie deshalb die 
volle Mannigfaltigfeit der Erfahrungen, die ein ganzes menjd- 
liches Leben füllen, und mit ihr ein binlängliches Maß verftändiger 
Einfiht befigen, um jenen Gedanken einer ſchrankenlos befeelten 
Natur nur wie einen Fefttagstraum zu hegen, der am Werktag 
unverftändli wird. 

Denn nur ein thatlos beſchauliches Träumen Könnte ſich 
ungeftört an der Vorftellung einer Lebendigkeit erfreuen, die mit 
freier willführlicher Regung alle Gebiete der Natur durchdränge. 
Das thätige Xeben Dagegen muß für die Befriedigung feiner Be- 
dürfniſſe und für alle Zwecke feines Handelns auf Beſtändigkeit 
und Berechenbarfeit der Ereigniffe und auf voraus erkennbare 
Nothwendigkeit ihres Zufammenhangs bauen dürfen. Die all- 
täglicgften Erſcheinungen reihen Hin, und von dem Borhanven- 
fein dieſer willenlofen Zuverläffigfeit in den Dingen zu über- 
zeugen, und fie mußten früh ſchon das Gemüth gewöhnen, bie 
Welt, in der die menſchliche Thätigfeit fih bewegt, als ein Reid) 





5 


benugbarer Sachen zu behandeln, in welchem alle Wechſelwirkungen 
an die Ieblofe Regelmäßigkeit allgemeiner Gefege gebunden find. 

Die gewöhnlichften Vorkommniſſe des Lebens lehrten unver: 
meidlich die Wirkungen der Schwere fennen; der rohefte Verſuch 
zum Bau eines Obdachs erregte Vorftellungen vom Gleichgewicht 
der Maffen, von der Vertheilung des Drudes, von den Bor- 
theilen des Hebels; Erfahrungen, die wir in der That ſchon die 
mindeft gebildeten Völker zur dem mannigfadhften Gebraude an- 
wenden jehen. Pfeil und Bogen benugend mußte die frübefte 
Jagdkunſt auf die Schnellfraft der gefpannten Saite rechnen; ja 
fie mußte ftillfchweigend auf die Regelmäßigfeit vertrauen, mit ber 
dieſe Eigenſchaft unter wechjelnden Bedingungen wächſt und ab- 
nimmt. Selbit die nod einfachere Fertigkeit, durch den gefchleu- 
derten Stein das Wild zu erlegen, wäre nie geübt worden, hätte 
nit wie eine unmittelbare Gewißheit gleihfam in Fleiſch und 
Blut des Armes die Borausficht gelebt, Richtung und Geſchwindig⸗ 
feit des geworfenen Körper8 werde durch die fühlbaren Unter- 
ſchiede in der Art und Größe unferer Anftrengung vollftändig 
beftimmt fein. 

Keine Mythologie hat diefe Erfeheinungen und das in ihnen 
fihtbare Band einer allgemeingefeglihen Verknüpfung abfichtlich 
in da8 Ganze ihres Weltbildes aufgenommen. Und doch lagen 
alle diefe Dinge, Schwere Gleichgewicht der Maflen Stoß und 
Mittheilung der Bewegung, täglih vor Aller Augen; Doch find 
fie e8, durch deren abfichtliche Benugung der Menfh um fi her 
jenen fünftlichen Verlauf der Dinge, jene technifche und wöhnliche 
Natur begründet, auf die mit dem Anwachſen der Bildung fein 
Leben bald ungleich mehr al8 auf die urſprüngliche wilde Kraft 
und Schönheit der Schöpfung bezogen ifl. Aber mie viel zu 
nahe dieſe Thatſachen auch Tiegen mochten, um unbemerkt zu 
bleiben, dennoch befremdet uns nicht, daß die mythologiſche Phan- 
tafte fich Der Gedanken gänzlich entichlug, welche fie erregen mußten. 
Denn nicht nur den Neger fehen wir abwechſelnd feinen Fetiſch 
prügeln und anbeten; auch unfere Bildung wiederholt zuweilen, 


6 


obwohl mit mehr Geſchmack, dieſe Wunderlichkeit. Nur allzu= 
leicht wohnen in derfelben menſchlichen Secle die verfchiebenften 
Gedanken friedlich neben einander, ohne daß ihr Widerſpruch bis 
zur Nothmendigfeit einer Ausgleichung empfunden wird. Mit 
weitfichtigem Blick konnte daher die dichtende Phantafie iiber das 
hinmwegfeben, was ihr vor den Füßen lag, und das blendende 
Bild einer lebendig befeelten Natur entwerfen, während das han- 
delnde Leben unbefangen fortfuhr, für feine Abſichten die Leblofig- 
feit der gemeinen Natur voranszufegen und auszubeuten. Mit 
der Blindheit deffen, der nicht fehen will, 309 fi die mythologiſche 
Naturauffaffung frühzeitig von allen den Erſcheinungen zurüd, 
die wir entweder felbft fünftlich erzeugen, oder deren Verhalten 
zu augenſcheinlich von Maßbeftimmungen äußerer Anläffe geregelt 
wird. Sie beſchränkte ihre poetifhe Deutung auf Vorgänge, die 
entweder in wandelloſer Regelmäßigfeit, wie Die Bewegung ber 
Geftirne, die Jahreszeiten und der Kreislauf des Pflanzenlebeng, 
ober in unberechenbarer Unorbnung, wie die Iaunenhaften Ber: 
änderungen des Luftkreiſes, allen umgejtaltenben Einflüffen unferer 
Willkühr ‚entzogen find. In diefen Auszug einer auserwählten 
Natur vertiefte ſich die Phantaſie jener Geſchlechter und in feiner 
Berberrlihung wurde fie durch Feine Erinnerung an die gemeine. 
Wirklichkeit geftört, Die doch täglih vor ihren Augen ald ein 
mafjenhaftes Zeugniß für die blinde Nothwendigfeit im Zuſammen⸗ 
hange der Dinge dalag. 

Es iſt anziehend, im Einzelnen hier vorübergehend zu be⸗ 
merken, was wir int Allgemeinen erwarten fonnten: auch dieſe 
Scheidung einer vornehmen und einer gemeinen Natur war völlig 
undurhführbar; auch auf dem engeren Gebiete, welches fie fich 
gewählt hatte, gelang es ber Mythologie keineswegs, Die äußere 
finnlihe Wirklichkeit gänzlich zu vergeiftigen; auch hier vermochte 
fie den dunklen und ſpröden Kern der Sachlichkeit und des blind- 
gefeglihen Zufammenhanges, den fie floh, nur zuridzudrängen 
und zu verhiüllen, ohne ihn auflöfen oder auch nur entbehren zu 
können. 





—— — 


Denn zuerſt: in anderer Geſtalt als in der des menſch⸗ 
hen und des verwandten thierifchen Lebens hat geiftige Neg- 
famfeit nicht jene überredende Anfchanlichkeit für uns, die den 
vollen unbefangenen Glauben erzeugt. Mochten die Germanen 
Die Feimende Saatfpige, indem fie den Boden durchbohrt, als ein 
lebendiges Wefen feiern, fo hatte doch der mythiſche Ausprud 
diefer zierlihen Naturbeobachtung kaum einen andern Sinn als 
ben eines Bildes, das im Stillen doch wieder von dem Bezeich- 
neten unterfchieden wird. Auch dem Griechen konnte Demeter 
nicht das ſproſſende Grün, nicht die Seele der Feldfrucht felbft 
fein; fie blieb die menſchlich geftaltete Göttin, die beſchützend und 
fördernd fih um das Gebeihen eines Keimes bemüht, deſſen Ent- 
wicklungskraft zulegt Doch nur in dem Dunkel feines eignen Innern 
lag. Jeder Fortichritt des Yeldbaus mußte die Kenntniß der 
Bedingungen erweitern, die diefe Entwidlung begünftigen, und der 
gläubigen Verehrung blieb Nicht der Göttin zu danken übrig, 
als die erfte unbegreiflihe Schöpfung des Keimes, während den 
einmal entftandenen die Wechfelfälle des Naturlaufs entfalteten. 
Mag die dichterifche Sprache den Flußgott felbft pahinfließen laffen, 
immer zieht fi doch fühlbar die Phantaſie auf die Vorftellung 
zurüd, ihn in menſchlicher Geftalt als die beberrichende Perſön⸗ 
lichkeit zu faflen, der das flüffige Element zwar als nächftes 
Eigenthum, aber doch ftetS als ein fremdes und Anderes gegen: 
über bleibt. Nur ein Werkgeug in ber Hand Juppiter find die 


-Blige; die Winde werben eingefangen und entlaflen von ihren 


göttlichen Gebietern: überall tritt die elementare Welt in den 
alten Gegenſatz zu dem Reiche der Geifter zurüd, ein geftaltbarer 
Stoff für ihre Herrſchaft, aber nie felbft zu eignem geiftigen Leben 
erwachend. Es mag eine poetifche Naturauffaffung gemefen fein, 
für die nach den Worten des Dichterd aus dem Schilfe Die Klage 
der Syrinx tönte, oder die Tochter des Tantalus in dem Steine 
ſchwieg; aber dieſe und wie wiele Ähnliche Sagen überzeugen uns 
doch nur, daß der Mythologie die einpringende und eigenthüm-⸗ 
liche Befeelung der Natur mißlang. Denn nur dadurch mußte 


8 


fie ja Stein und Schilf zu befeelen, daß fie beide als verwandel- 
te8 menſchliches Leben faßte, und e8 num der Anftrengung der 
Phantafie überließ, die Erinnerung an dies verftänbliche vor- 
malige Dafein an die ſpröde Unverſtändlichkeit der verwandelten 
Form zu knüpfen. 

Die trügerifche Farbenpracht des Herbſtes, der jedes Blatt 
zur Blüthe zu veredeln ſcheint, vergleicht ein reizendes Gedicht 
Rückerts mit der gediegenen Lebenskraft des Frühlings, die unter 
allem Blühen niemals ven vollen dunflen grünen Trieb ver- 
Yeugnet. Dies berbftlihe Beginnen mar das zweite, worin bie 
Mythologie fcheiterte; wie fie den Stoff nicht zu vergeiftigen 
vermocht hatte, fo mißlang ihr auch, die Ereigniffe in lauter 
blühende Freiheit zu verflären: unüberwindlich trat der dunkle 
Trieb einer urſprünglichen, unausdenkbaren Nothwendigkeit wieder 
zu Tage Es half ihr nicht, daß fie feinen Anblick floh und 
allein dem Glanze der Götterwelt und ihrer Herrichaft über das 
Reich der Stoffe ſich zuwandte. Denn auch hier mußte fie, um 
nur diefe Herrihaft möglich zu finden, einen Kreid ewiger und 
allgemeiner Gefege befennen, unter deren Zuftimmung allein jeg= 
liher Wille Macht gewinnt über die ZJuftände der Dinge. In 
der Verehrung eines unergrünblihen Schickſals, das auch die 
Götter binde, ſprach fie dieſen Gedanken in feiner Beziehung zu. 
dem Gange der fittlihen Welt aus; minder ausbrüdlic aber 
doch erkennbar genug wiederholt ihn jede Schilderung des Wech— 
ſelverkehrs zwifchen den göttlichen Weſen und den Elementen ver 
Natur. - Wo jegt der feelenlofe Feuerball fi dreht, mochte da⸗ 
mals in ftiller Majeſtät Helios den goldnen Wagen lenken; aber 
das Rad dieſes göttlichen Wagens vollendete feinen Umſchwung 
nit nach anderen Gefegen, und nicht nach anderen übte und 
litt die Are Drud, als nad welchen allezeit auf Erden fich die 
Räder jegliches Wagens um ihre belaftete Are Drehen werben. 
Nur der mühſeligen Anftrengung bes eignen Handanlegens konnte 
die Poefie die Götter überheben, aber nie hat fie ganz die Vor- 
ftellung einer allgemeinen Ordnung der Dinge entbehren können, 











9 


nach deren Gefegen allein der lebendige Wille die Welt der Stoffe 
bewegt. Während Kronion den Blitz noch durch die Anftrengung 
feiner Hände fchleudert, bewegt allerdings das Zuden feiner Augen- 
brauen mühelos die Tiefen des Olymp; aber dies ergreifende 
zweite Bild der göttlichen Macht wiederholt doch nur verhüllter 
denfelben Hergang einer mittelbaren Wirkſamkeit, den jenes erfte 
in anſchaulicher Ausführlichleit ausfpriht. Selbft die moſaiſche 
Schöpfungsgefchichte, erhabener als andere, weil fie unmittelbar 
daſtehen Täßt, was der göttliche Wille befahl, ohne durch Schilde: 
rung phyſiſcher Vermittlungen den Eindrud der Allmacht zu 
ſchwächen, auch fie hält doch den ſchweigenden Gedanken noch nicht 
für den genügenden Anfang der Schöpfung. Sie läßt Gott wenig- 
ſtens das Wort ausſprechen, die zartefte allerdings, aber doch 
immer eine deutliche Borbedingung, Die hergeftellt fein zu müſſen 
ſchien, damit durch fie angeregt die ewige Nothmendigfeit der 
Dinge das gebotene Werden vollbrädhte. 

So bleibt denn in Wahrheit die Mythologie weit hinter 
dem zurüd, was fie zu verfprechen ſchien; den Zwieſpalt der 
MWeltanfänge, den fie ſchlichten wollte, hat fie kaum verdedt. Nicht 
die Welt der Sachen wußte fie zu befeelen: nur eine zweite 
Welt konnte fie zu ihr hinzudichten, jene göttlichen Seelen, die 
um den dunklen Kern der Dinge oder über ihm ſchwebend jeden 
Zufall des blinden Naturlaufs in ihrem eignen Innern zu Be— 
wußtfein und Genuß verflären; aber fie find das Reale nicht, 
das fie genießen. Sie konnte chenfowenig das unvordenkliche 
Recht der Sachen, die geſetzliche Nothmwendigfeit in dem Zu: 
fammenhange der Dinge, verflüchtigen; nur hinzugedichtet hat fie 
die felige Willführ eines himmlischen Lebens, deſſen Freiheit fid 
farbig von Diefem dunklen Grunde abhebt; aber doch nur in 
dieſem Grunde findet jeder Schritt dieſes Lebens den feften Boden 
für feinen Auftritt. 


10 

Einer andern Richtung der Gedanken blich die Erneuerung 
des mißlungenen Verſuchs überlaffen. Käme es darauf an, den 
Hergang diefer Wandelungen der Anfichten gefhichtlich zu ſchildern, 
fo dürften wir allerdings fo nicht ſprechen. Denn mit grübeln- 
der Reflerion fcheint vielmehr meit früher die Menfchheit dem 
Gedanken eines allgemeinen Naturlebens nachgehangen und ihn 
bi8 in die fremdartigften Formen des Daſeins Hinein- verfolgt zu 
baben; von ihnen zog ſich fpäter erft.die Phantafie auf einen 
engern Kreis anfchaulicher Geftalten zurüd, deren ideale Schön= 
heit verftändlich blieb, als Yängft die Erinnerung an ihre urfpräing- 
liche Bedeutung verloren war. Aber als ein völlig abgethaner 
Traum tritt doch fir und die mythologiſche Weltanficht in größere 
Ferne zurüd; jene andere Auffaffung dagegen, deren wir bier 
an zweiter Stelle gedenken mollen, wie fie vielleicht die frühefte 
Blüthe des forfchenden Geiſtes war, ift zu allen Zeiten lebenbig 
geblieben, und gilt der Gegemmart kaum geringer als der Vorzeit. 

Es ſchien Fein Berluft, daß die wachſende Erfahrung den 
Glauben an anfchauliche Gdöttergeftalten zerftört hatte, indem fie 
nie eine Anfchauung berfelben gewährte. Denn eben dies ver- 
langte der neue Gedanke nicht mehr, Die belebenden Naturgeifter 
al8 gefonderte Wefen neben den todten Stoffen zu‘erbliden; ver- 
einigen wollte er vielmehr, was die Mythologie unter. ihren 
Händen ftet8 wieder in zwei getrennte Welten zerfallen ſah; 
unmittelbar in fich felbft lebendig follte der Körper der natür- 
lichen Gebilde die feelenvolle Kraft feiner Entwidlung im eignen 
Innern tragen. Aber als man in diefer Abficht Tebendige Reg- 
famfeit über das Reich der organifchen Geſchöpfe hinaus bis in 
die formlofeften Beftandtheile der Außenwelt zu verfolgen ftrebte, 
da mußte, wie der Umrif der menſchlichen Geftalt, fo noch weiter 
auch das Bild des menfchlihen Seelenlebend unzureihend zur 
Bezeihnung der gefuchten Xebendigfeit werden. Denn nur wenige 
Erzeugniffe der Natur ftellen fih fo als abgefchloffene Ganze dar, 
daß e8 Leicht ift, ſie als Wohnftätten perjönlicher Geifter zu deuten. 
Man mag au andern noch die Fähigkeit zufchreiben, Eindrücke 


11 


in fih aufzunehmen und von ihnen zu leiden; aber Die Abweſen⸗ 
heit jener Gliederung, an welche nad unferer Erfahrung die 
Möglichkeit finnliher Anfhauungen, ihre Verknüpfung zu einer 
georoneten Weltanfhauung und die Rückwirkung des Willens gg= 
bunden ift, verhindert uns, in ihnen eine Form des Seelenlebens 
zu vermutben, die ihnen geftattet, fih auf gleichem Wege mit uns 
zum Selbfibemußtfein zu entwideln. Je mehr wir endlich von 
zufammengefegten Gebilden zu den einfadhen Elementen zurld- 
gehen, um fo mehr verfhmwindet der Schein einer unberechenbaren 
Freiheit des Handelns; um fo deutlicher zeigt fi jede Natur 
auf eine einförmige und unter ähnlichen Bedingungen ftet8 ähnlich 
wiederkehrende Weife des Wirkens beſchränkt, ohne Anzeichen einer 
inneren Fortbildung und ohne jene Auffammlung und Verarbeitung 
der Eindrüde, durch melde jede einzelne Seele im Laufe ihres 
Lebens zu einer unvergleichlichen Eigenthumlichkeit vertieft wird. 
Durch folde Beobachtungen geleitet fpricht die neue Auffaflung, 
die wir der mythologiſchen Weltanficht gegenüberftellen, nicht mehr 
von Seelen, welde die Dinge treiben, fondern von Trieben, 
welche fie befeelen. Aber mit der neuen Wendung des Ge: 
dankens, deren Furze Bezeihnung ich vorläufig durch dieſen Gegen- 
fag verfuchte, ſcheinen wir doch mehr einzubüßen, als wir zunächft 
wiederzuerfegen im Stande find. 

Denn vor allem: völlig verftändlih iſt uns doch nur das 
volle bewußte geiftige Leben, das wir in uns felbft erfahren. 
Müffen wir auf feine Allgegenwart in der Natur verzichten, fo 
mag für verftändlich auch der entgegengeſetzte Gedanke einer völlig 
blinden Notbwendigfeit des Wirkens gelten, für verftändlich wenig- 
ſtens infofern, al8 wir den Anfpruch nit mehr machen, uns in 
dies vollkommene Gegentheil unfers eignen Weſens hineinzuempfin= 
den. Aber eben darum Tann freilich dieſe Vorftellung und nur 
genügen, fo lange wir uns bejcheiden, die Ereigniffe der Natur 
nur berechnen und zur Befriedigung unferer Bebitrfniffe beberr- 
[hen zu können; der fortbeftehenden Sehnſucht, und in das 
Innere der Dinge hineinzuverfegen, gewährt fie Nichts. Deshalb, 


12 


um diefer drohenden Selbftlofigkeit aller Dinge zu entgehen, ſchaffen 
wir den Begriff des Triebes; denn nicht dies allein meinen 
wir in dieſem Namen auszudrüden, daß fein fremder Zwang 
mit grundlofer Nothwendigkeit die Dinge zu ihren Wirkungen 
dränge; auch in ihrer eigenen Natur fol diefer Drang nit nur 
vorhanden fein, er fol von ihnen auch als der ihrige gemußt, 
genofjen, von ihnen gewollt und von ihnen beftändig in fich felbft 
wiebdererzeugt werden, oder auf welche Weife man fonft das Ber- 
langen ausdrücken will, ihn als die eigene, lebendige Natur 
der Dinge, als ihre Selbftheit zu erfaflen. Anftatt der Haren 
Sonne des perfönlihen Bewußtſeins, die in den Geftalten der 
mythiſchen Welt glänzte, hat man baber ſtets wenigftens das 
Mondliht einer unbewußten Vernunft in den Dingen wieder 
aufgehen laffen, damit das, was fie leiften, nicht nur von ihnen 
auszugehen heine, fondern in irgend einer Weife auch für fie 
jelbft vorhanden fei und von ihnen als ihr eigned Thun und 
Dafein erlebt werde. 

Die Menge der Umfchreibungen und Bilder, die ich bedurfte, 
und die man wohl immer bebirfen wird, um empfindbar zu 
machen, was wir hier fuchen, macht von jelbft ſchon bemerflich, 
wie zwijchen jene beiden Extreme, den Glauben an perfünliche 
Naturgeifter und den Gedanken einer blinden Nothmendigfeit des 
Wirkens, diefe VBorftellung von einer unbemwußten Vernunft 
höchſt unflar in Die Mitte tritt. Aber eine entfchievene Vorliebe 
pflegt doch das menfchlihe Gemüth in den mannigfachften Wen- 
dungen immer wieder zu dieſer Vorftellung zurückzuführen, bie 
aljo Doch wohl einem tieferen Bedürfniſſe des Geiftes entſprechen 
muß. Und in der That, ſuchen wir uns hierüber Rechenfchaft 
zu geben, fo begegnen wir fhon in unferem gewöhnlichen Em— 
pfinden mander Spur einer Neigung, dem vollen Xicht bes 
geiftigen Lebens cin gedämpftere8 Zwielicht vorzuziehen und bie 
Grenzen zwiſchen bewußtem Handeln und unbewußtem Wirken zu 
verwiſchen. 

Wohl wiſſen wir als die beiden weſentlichen Züge, durch 


13 


bie der Geift fi von den Dingen fcheidet, das befonnene Denken 
zu fhägen, das unfere innern Zuftände verknüpft und die Will- 
führ, die ihre Entjchlüffe fich felbft zurechnet; aber das Schönfte 
des geiftigen Lebens ſcheint uns nicht immer in dieſen beiden 
zu liegen. Nicht jedes Wort der Aeußerung fol als Ergebniß 
eines nachrechenbaren Gedankenganges erſcheinen; wir freuen ung 
vielmehr der Unmittelbarfeit, mit der aus unbewußten Tiefen 
der Seele der Ausdruck ihres Lebens unaufflärbar und doch ver- 
ftändlich hervorbricht. Wir bemundern die durchſichtige Confequenz, 
mit der eine lüdenlofe Kette von Folgerungen vom Anfangspımlt 
einer Unterfuhung zu ihrem Ergebniß führt, aber viel höher gilt 
und Doch oft jene andere Folgerichtigkeit, welche in Werken der 
Kunft Gedanken aus Gedanken feimen läßt, ohne daß Die ver⸗ 
mittelnden Glieder nachweisbar würden, deren verfnüpfende Wirk⸗ 
ſamkeit wir empfinden. Und ebenfo mögen wir uns als Gefchöpfe 
unjer eignen Willens nur da betrachten, wo wir in fittlicher 
Selbftbeurtheilung Werth oder Unwerth einer einzelnen Handlung 
auf uns zu nehmen haben; aber es gilt und zugleih als Auf- 
gabe her Erziehung, daß nicht nur die geringfügigen Bewegungen, 
zu denen die Vorkommniſſe des täglichen Lebens anregen, fondern 
daß auch unſere ganze fittlihe Haltung als unmillführliche 
Aeußerung einer fhönen Natur erfcheine, ohne den ſchwerfälligen 
Ernft der Abfichtlichkeit und darum auch ohne alle Erinnerung 
an die Möglichkeit ihres Andersſeins. Auch die Mythologie 
verftand Dies nicht anders, wenn fie die Erſcheinungen der Natur 
aus geiftigen Bemweggründen deutete. Nicht jedem Sonnenaufgange 
gebt ein ermeuerter Entſchluß des Gotte8 voraus; Der urfpräng- 
lihe Wille wirkt, wie in dämmernde Entfernung zurüdgetreten, 
mit der unbewußten Macht einer anmuthigen Gewohnheit fort. 
Dadurch eben gibt die Natur fih als Natur, daß fie unter dem 
Einfluß von Beweggründen ſich zu regen ſcheint, deren Bewußt⸗ 
fein in ihr felbft verflungen tft, und deren Macht nur noch traum: 
haft als ein zurücdgebliebener unmillfübhrliher Zug empfunden 
wird. Und in diefe Dämmerung Tieben wir auch unjer eigenes 


14 


Sein zu verfenten; wie hoch wir aud die Helligkeit des Denkens 
und die Freiheit unferes Wollens fhägen mögen: Die Gegemmart 
einer unbewußt und unwillkührlich wirkenden Natur aud in uns 
ſelbſt Teugnen wir nicht, fondern heben mit Vorliebe ihre be= 
ftändige ftile Thätigkeit hervor. 
Kaum find wir und über die Grlinde Mar, die und in diefer 
Neigung beftärken, und ich hoffe nicht, fie hier zu erſchöpfen. Aber 
e8 ſcheint mir zuerft, al8 übermältigte ung zumeilen die Eınpfindung, 
wie fehr alle Unterfuchung und Bemweisführung alle Erwägung 
und Entſchließung zu dem mühfeligen Verfahren desjenigen Lebens 
gehört, das noch auf dem arbeitvollen Wege nach einem entfern⸗ 
ten höchſten Gute begriffen if. Dann fühlen wir die Verlodung 
nah, die in fo vielen fhärmerifhen Seelen die Sehnſucht nad 
der Austilgung ihres perfünlichen Lebens in der umfaffenden Flut 
eines allgemeinen Geiftes erzeugte: jene in ſich verſunkene Be- 
ſchaulichkeit, fire welche alle ftraffen Bänder eines georpneten Ges 
danfenzufammenhanges fi löſen und die Grenzen zwifchen dem 
Ich und feinem Gegenftand in träumeriſcher Identität verſchwim⸗ 
men, jene® pflanzenartige Leben, das jeden Willen und jeded 
Streben nad) Entferntem aufgegeben hat: Diefe fheinen und in dem 
ungegliederten allgemeinen Gefühl, mit dem fie uns ausfüllen, 
in wirklicher Gegenwart jenes höchſte wahrhafte Gut zur befigen, 
deſſen fernes Abbild der rubelofen Arbeit unferer Gedanken und 
unſers Willens vorſchwebt. Den Frieden diefer endlichen Er- 
füllung ziehen wir der unendlichen Raftlofigfeit der Sehnſucht 
vor. Aber vielleicht eben fo fehr reizt ung die Ausficht in ein 
Unendliches, die un® gleichzeitig durch jene Beobachtung einer 
bewußtlos in und wirkenden Natur aufgeht. Ein gemifchtes 
Glück des Selbſtgefuhls und der Demuth fcheint in der That 
für und von der Wahrnehmung auszugehen, daß unfer eigenes 
Innere eine Welt verbirgt, deren Geftalt wir nur uwollkommen 
ergründen, und deren Wirken, mo e8 in einzelnen Zügen in unfere 
Beobachtung fällt, und mit Ahnungen unbelannter Tiefen unfers 
eignen Weſens überraſcht. Wer fich felbft ganz durchſichtig märe, 


15 


fhiene uns mit ſich fertig zu fein; nur wer ſich felbft allmählich 
findet, bat Grund für fein eignes Daſein Theilnahme zu empfinden. 
Darum möchten wir jenen dunklen Kern unſers Innern nicht 
miffen; wir zählen ihn ebenfo fehr zu unferer eigenen Perjünlid- 
feit, die fi fo für uns bis zu der Größe einer Welt erweitert, 
in der uns felbft noch Entdedungen zu machen find, und eben- 
ſowohl erkennen wir ihn als Etwas, das in uns felbft doch nicht 
wir jelbft if. Dann treten wir befangen vor dieſem geheimniß- 
vollen Rüdhalt unferes Weſens zurüd, und glauben in ihm nun 
jenes Unendliche zu ſehen, das aller endlichen Erfcheinungen ewige 
Grundlage bilbet. | — 
Ih füge nur flüchtig noch das legte hinzu. Wie wir in 
unferem Innern die Grenzen des Bewußten und des Unbewußten 
zu verwifchen lieben, fo pflegen wir auch dies Innere felbft nicht 
in ſcharfen Gegenfag zu feiner leiblihen Außengeftalt zu fegen. 
Faft nur, wo die VBorftellung des Todes Gedanken an eine fernere 
Zulunft vege macht, denken wir daran, den Körper nur als Die 
wieder abzubrechende Hülle zu betrachten, "in die der Geift fid 
nur einmwohnt, ohne mit ihr zu verſchmelzen. Aber das unbefangne 
Leben kennt dieſe Auffaffung ſehr wenig, und felbft wo unfer 
Nachdenken fie fefthält, gelingt e8 uns doch nie, fic aus einer 
mittelbaren Meberzeugung bis zur Klarheit eines unmittelbaren 
Lebensgefühls zu fteigern. Immer wird Hand und Fuß, immer 
bie drudempfindende Oberfläche unſers Körpers uns als ein Theil 
unſers eignen Selbft erfcheinen, und feineswegs als cin benach⸗ 
bartes Gebiet der Außenwelt, über welches die Herrſchaft der 
Seele ſich nur unbedingter als über entlegenere Theile derfelben 
erftredte. Ueberall fträubt fi unfer Gemüth, jene innige Ein— 
beit zwifchen Leib und Seele aufzugeben, deren Gefühl aus ber 
Berfettung unferer Organtfation uns allen als eine freundliche 
Zäufhung entfpringt. Dann erxft ſcheint der Geift feine Be- 
fimmung zu erfüllen, wenn er nicht eine fremde Maſſe von 
außen bewegt, fondern in fie hinein thätig fich fortfeßt; dann 
erft jcheint auch der Stoff volle Berechtigung feines Dafeins zu 


18 


Ausubung einer Geberde, ohne das Größere in ſich zu erleben, 
als deſſen Ausdruck allein dieſe gerechtfertigt wäre. Die gegen- 
feitige Anziehung der Stoffe würde die Mythologie ebenſo wie fie 
die Wendung der Blume nic der Sonne erklärt, auf eine ver- 
ftändliche Sehnfucht zurüdgeführt und dieſe Sehnſucht jelbft aus 
ber Gefchichte vergangener Schidfale begründet haben. Die räum⸗ 
lihe Bewegung wilde ihr fo als der augenblidlide Ausdruck 
eines mannigfachen und in feiner Mannigfaltigfeit uns noch 
empfindbaren geiftigen Lebens gegolten haben, dad mit dem Reid- 
thum feines Inhalts weit über dieſe einzelne Aeußerung hinaus: 
reicht und eben deshalb diefe einzelne wahrhaft aus fidh zu moti- 
viren vermag. Ein Trieb der Anziehung dagegen, den wir in 
der Natur der Stoffe zu finden meinen, wiederholt uns eigent- 
ih nur die unverftandene Thatfadhe der Bewegung und fügt 
anftatt des crflärenden Beweggrundes nur den Gedanken einer 
gleich unverftändlihen Nothwendigfeit hinzu, welche die Dinge 
nöthige, fie auszuführen. In der That, jo erfheinen uns die 
Naturereigniffe nur snod mie die ſtummen Gefticulationen von 
Geftalten, deren Bilder ſich gegen den Horizont abgrenzen, während 
ihre Worte die Entfernung verfchlingt. 

Das war e8 nun doch nicht, was dieſe ganze Beltonficht 
wollte, zu allen Zeiten finden wir fie daher bemüht, durch eine 
weitere Ausbildung ihrer Gedanken diefer Verkümmerung ber 
Naturauffaffung wieder zu begegnen. Auf einen zufammenfaffen- 
den Weltgrund, auf Eine unendlide Vernunft führte fie vor 
allem die zeriplitterte Vielheit der Erſcheinungen zurüd; in das 
Innere biefer träumenden und ſchaffenden Weltfeele verlegte- fie 
finnvolle Urtriebe, die in unerfchöpflider Mannigfaltigleit der 
Tormen fih ausgeftaltend diefe Wirklichkeit begründen. In ein= 
zelnen Geſchöpfen zu vollem Selbftbemußtfein hindurchdringend, 
wird dieſe ewige Kraft doch auch in jenen Gebilvden, in denen fie 
nur träumend und unbewußt fi) regt, von denſelben Beweg⸗ 
gründen ihres Handelns geleitet, und jedes einzelne Erzeugniß 
der Natur drückt in anſchaulicher Berförperung einen jener Ge— 


19 


danken aus, in welche der lebendige Inhalt des Höchſten fi aus- 
einanderlegt. Dieje Gedanken, aus demfelben Urgrunde entiprungen 
und in ihm zu dem Ganzen einer unerichöpflichen Idee zuſam⸗ 
menftimmend, ftiften zwifchen ven Dingen, deren befeelende Triebe 
fie find, eine durchdringende Verknüpfung des Sinnes und ber 
Weſensgemeinſchaft. Und an diefer Gemeinfchaft ihres Grundes 
und ihres Zieles, von welcher vielleicht eine dunkle Erinnerung 
ihnen geblieben ift, gewinnen die Dinge jenen tieferen Rüdhalt 
ihres Wefens wieder, den wir vermißten. Die Weußerungen, 
denen das Einzelne nad der Nothwendigfeit feines Triebes fich 
überläßt, geſchehen nicht mehr um ihrer felbft willen; fie find 
das, was jedem an feinem Orte als feinen Beitrag zu der Ver— 
wirflihung des allgemeinen Sinnes der Welt zu leiften obliegt. 
Und wenn die Gefchöpfe in veränderliher Entwidlung eine Reihe 
von Zuftänden durchlaufen, over in wechſelnden Yormen auf 
äußere Anläffe zurückwirken, jo find fie auch dazu nicht durch eine 
zufammershanglofe Mehrheit vereinzelter Anftöße gezwungen. Aus 
der Einheit der Idee vielmehr, die ihr befeelender Trieb ift, ent: 
fpringen wie mit der poetifhen Nothwendigkeit eined Gedichtes 
alle die mannigfaltigen Formen des Dafeind und Benehmens, 
die wir an ihnen beobachten. So ift jedes Einzelne eine leben- 
dige gefchloffene Einheit, und bat doch jedes zugleich an dem 
großen Ganzen den erflärenden Hintergrund des befonderen Trau⸗ 
mes, von dem es bewegt wird. 

Um der Wahrheit willen, melde fie unftreitig einſchließt, 
wird dieſe Auffaffung ihren Eindrud auf das menfchlihe Gemüth 
nie verfehlen; aber vielfache Schwierigkeiten treten ihr doch ent- 
gegen, wenn fie ernſtlich an die Deutung der Erſcheinungen geht. 
Für jenen unendlich hohen Inhalt der Weltfeele, defien einzelne 
Ausftrahlungen die Geſchöpfe der Natur find, bat noch Niemand 
einen Ausbrud gefunden, der den angeregten Erwartungen ge- 
nügen, oder und für die verftändliche Lebendigkeit entſchädigen 
könnte, mit der die Mythologie die Natur erfüllt hatte. Denn 
alle jene Strebungen nah Entwidlung und Entfaltung, nad 

. 2* 


20 


Bielheit in der Einheit und Einheit in der Bielheit, nach Gegen: 
fäglichfeit und Verfühnung der Gegenfäge, fie alle, durch die man 
das Innere der Weltſeele zu bezeichnen fuchte, können Doch dem 
unbefangenen Gemüth nur als nichtige, kümmerliche Aufgaben 
erfcheinen, kaum ber fpielenden Thätigkeit des kindlichen Geiſtes 
wirdig, am wenigften geeignet, die ernften Schöpfungstriebe des 
-Weltgrundes auszudrücken. Ginge in folden Beftrebungen die 
Fülle feines Inhaltes auf, fo könnten wir nicht leugnen, daß jeder 
zufällig herausgegriffene Augenblid aus dem Leben eines menfch- 
lichen Herzens unendlich feelenvoller fei als die Tiefe der Weltfeele. 

Indeſſen wiirde Die Unvollkommenheit unferer Berfuche, Diefe 
Tiefe zu ermeffen, nicht gegen die Wahrheit der Anficht ſelbſt 
bemeifen; auch wenn jenes Höchfte und beftändig nur in unaus- 
iprehbarer Ahnung vorſchweben follte, könnte e8 doch ein Gewinn 
fein, wenigftens durch Feſthaltung diefer Ahnung die Lebendigkeit 
unferer Naturanfhauung zu fihern. Aber derjelbe Vorwurf, 
den wir der Mythologie zu machen hatten, erhebt ſich auch gegen 
die Leiftungen dieſer Anfiht. Denn aud fie, jo ausdrücklich fie 
das Ganze der Natur zu umfaffen verfpricht, hat doch in allen 
den Ausführungen, die fie fi bisher gegeben, in Wahrheit nur 
jene auscrwählten großen Umriffe des Naturlaufs vor Augen ge: 
habt, auf welche ſchon die mythologiſche Phantafie fich befchräntte; 
fie vernachläſſigt, wie diefe, Die Fülle der Heinen gemeinen Wirf- 
lichkeit, die, weniger poetifch aber deſto unabmeisbarer, fi rings 
um und ber ausbreitet. In der Regſamkeit des Thierkörpers, 
in dem Wachsthum der Pflanze, und nod in der Kryſtallform 
des Feſten und in dem Umlauf der Geftirne, kurz überall da, mo 
die Einzelwirfungen der Elemente ſich zu einer beftändigen fich 
felbft erhaltenden Geftalt de8 Dafeind und der Bewegung be- 
reits zufammengefunden haben, überall da mögen wir leicht den 
Widerſchein von Ideen finden, die wir in dem Innern der Welt- 
feele als Mufter ihres Schaffens vorausfegen. Aber die Thaten 
des Hebeld und der Schraube, Die Geſetze des Gleichgewichts und 
bed Stoßes, Die Wirkungen des Drudes und der Spannung, biefe 





21 


ale haben immer weitab von dem Entwidlungsgange der Welt: 
feele zu Liegen gefchienen und find meift völlig außer dem Ge— 
fichtöfreife der fo Philoſophirenden geblieben. Die freie land⸗ 
ſchaftliche Schönheit der Schöpfung mag die Neigung zu diefer 
vornehmen Naturbetrahtung nähren; die häusliche Gefchäftigfeit 
unferer Technik, die nicht das Fertige bewundern, fondern die 
Möglichkeit feines Zuftandelommens beachten lehrt, muß noth- 
wendig zu andern Gebanfen führen; unvermeidlich wird durch fie 
die Lehre von den fhöpferifchen befeelenden Naturtrieben gezwungen, 
einer Dritten Anſicht zu weichen, der legten von denen, die im 
Großen in der Geſchichte der menſchlichen Gedanken einen Ab: 
ſchnitt bilden. 


Sn weit größerer Mannigfaltigkeit, als frühere Zeiten, um— 
giebt jet und täglich eine Menge künftliher Vorrichtungen, deren 
lebloſe Beftandtheile mit zufammengreifenden Bewegungen die 
Regſamkeit des Lebendigen glücklich nachahmen. Auf diefer merk⸗ 
würdigen Zwiſchenwelt ſelbſtarbeitender Werkzeuge, die ihre Stoffe 
der Natur, die Form ihrer Leiftung aber der menfchlihen Will- 
kühr verdanken, kann unfer Blid nicht wiederholt und dauernd 
ruben, ohne daß unfere ganze Weile der Naturauffaflung den 
Einfluß folder Beobachtungen erführe. Zur Bildung dieſer 
Mafchine, die fih vor uns regt, lag in den Stoffen, aus denen 
fie gebaut ift, feinerlei innere Vorherbeſtimmung; Tein lebendiger 
Naturzwed hat fie in diefe Form der Vereinigung zujammenge- 
führt, fein befeelender Trieb ihnen den Rhythmus ihrer Be— 
wegungen eingehaudt. Wir wiſſen e8 ja, daß nicht von innen 
heraus durch ein eignes Entwicklungsſtreben, fondern durch frem⸗ 
den Zwang von außen her die bewunderungswerthe Spiel ein- 
ander ablöfender Zuftände an die verbundenen Maffen gekommen 
iſt. Biel einfachere Eigenſchaften und Wirkungsweifen waren an 
fih den einzelnen Stoffen eigen, die wir verfnüpften, nad all- 


22 


gemeinen Gejegen mit der Veränderung beftimmter Bedingungen 
veränderlih. Dieſe unfheinbaren Kräfte hat unjere Technik durch 
bie liftige Verbindung, in welche fie ihre Träger verftridte, unter 
Umftänden zu wirken genöthigt, unter denen ihre Folgfamfeit 
gegen .jene allgemeinen Geſetze ohne eigene Abfiht die Zwecke 
unferer Abſichten verwirklichen mußte. Iſt dies nun fo, laſſen 
fih unter unfern Händen die Elemente der Natur wie benuß= 
bare Sahen zu den merkwürdigſten Leiftungen verbinden, zu 
denen feine entwidlungsbegierige Neigung ihres eignen Innern 
fie trieb; warum follte es in der Natur felbft anders fein? 
Auch in ihr vielleicht entftehen die bedeutungsvollen Geftalten 
der Geſchöpfe doh nur von außen ber durh den Zwang bed 
Weltlaufs, der die Elemente bald fo bald anders zufammenführt, 
und unvermeidlich in jeder diefer Gruppen das Syftem von Be— 
wegungen und Reiftungen entftehen läßt, welches nad allgemeinen 
Gefegen der jedesmaligen Weile ihrer Verknüpfung entipricht. 
So würden Alle Geſchöpfe das fein, wozu fie dur den Zufammen- 
fluß vieler äußeren Bedingungen gemacht werden, und fie befäßen 
ebenfo wenig einen lebendigen Trieb in ihrem Innern, wie die 
Erzeugniffe unferer Hände, von deren Selbftlofigfeit wir über— 
zeugt find. | 

Je vieljeitiger und Fräftiger ſich Die praktiſche Herrichaft der 
menschlichen Technik über die Natur ausbreitet, um fo zuverficht- 
licher fehen wir auch diefe Folgerung gezogen. Und auch da, wo 
wir nicht mehr von Grund aus Neues aus benugbaren Elemen- 
ten aufbauen, fondern nur umzugeftalten ſuchen, was die Natur 
freiwillig: erzeugt, fheinen die Erfolge dieſe Zuverfiht zu ſtärken. 
Aus den Miſchungen der Stoffe, welche die Erde und darbietet, 
bat die Hand des Chemikers zahllofe andere hervorgebracht, bie 
niemal8 in ber Natur beftanden, ehe die Kunft fie dargeftellt 
hatte, und viele von ihnen find durch Dauer und Feftigkeit ihres 
Dafeins, durch den Glanz ihrer finnlihen Eigenfhaften, durch 
die BVielfeitigfeit ihrer Wirffamkeiten den merkwürdigſten berer 
ebenbürtig, welche die Natur uns als ihre eignen Erzeugniffe 


23 


ſchenkt. Künftlihen Befruchtungen und langer forgfamer Pflege 
unterworfen, haben die Pflanzen Blüte und Frucht zu erhöhter 
Schönheit entwideln mäfjen und unfere Gärten füllt eine Flora, 
die fo, wie fie uns entzüct, nirgend& eine natürliche Heimat bat. 
Selbft die Geftalt der Thiere erfährt den umbildenden und verz 
edelnden Einfluß der menfchlihen Zucht; wohin wir uns aud 
wenden, wir begegnen faum irgendwo den urfprünglicen Zügen 
ber Natur; in allen ihren Gebieten hat der berechnende Eingriff 
des Menſchen folgenreiche Veränderungen zu ftiften gewußt. Der 
Eindrud diefer Beobachtungen verftärft nothmwendig die Ber: 
muthung, die Natur erzeuge ihre Gebilde nicht durch von innen 
befeelende Triebe, denen wir nichts Gleichartiges entgegenzujegen 
hätten, fondern durch Zufammenfegung derſelben Einzelkräfte, 
durch deren Anwendung es uns gelingt, ihre Gefchöpfe umzu⸗ 
geftalten. . " 

Eine andere Ueberlegung aber fohien dieſe Vermuthung zur 
Gemißheit zu machen. Wenn jedes einzelne Gebilde der Natur 
völlig auf fich ſelbſt bernhte und aus fich ſelbſt fi entiwidelte, 
ohne einer äußeren Welt zu bebitrfen oder fiir ihre Eingriffe zu⸗ 
gänglich zu fein, dann wäre e8 möglich, jedes diefer einzelnen auf 
einer einzigen, ihm cigenthlimlichen, befeclenden Idee beruhend zu 
denken, die jede Beſonderheit feiner Hinftigen Entfaltung mit 
vorbevenfender finniger Confequenz aus fih entließe. Und fo 
eben hatte jene Anfiht, welche an die befeelenden Triebe der 
Dinge glaubte, die Natur aufzufafien gelicht; fie hatte die Wirk: 
lichkeit als ein großes ruhendes Bild vorgeftellt, und jede ein- 
zelne Geftalt dieſes Gemäldes anf feinen ihm eigenthümlichen 
Sinn zu deuten gefucht. Worliber biefe Beſchaulichkeit hinweg⸗ 
gefehen hatte, das flel un! jo mehr ber neuen Denkart ind Auge, 
die fi im praktiſchen Berfehr wit den Dingen gewöhnt Hatte, 
nad ben Wegen zu fragen, auf denen jegliches Erzeugniß zu 
Stande fommen kann. Ihr war es Mar, daß die Wirffich- 
feit ein fehr bewegtes Bild ift, deſſen einzelne Theile in beftän- 
diger Wechfelmirkung einander erzeugen, unterhalten, verändern 


24 


und zerftöven. Alles aber, was nicht einfam in einer Welt für 
fih wächſt und Tebt, fondern in dem Zuſammenhang einer Wirk— 
lichkeit, von der e8 leiden kann, Alles alfo, was Bedürfniſſe bat 
und Bedingungen feiner Entwidlung, das wird in feinem Thun 
und Laffen ſich den allgemeinen Gefegen eines Welthaushaltes 
unterwerfen müffen, der, für alles Wirkliche gleihmäßig gültig, 
dem Einzelnen die Befriedigung feiner Bebürfnifje allein gewähren 
kann. Jeder Verkehr verlangt dieſe gegenfeitige Ergreifbarkeit 
der Verkehrenden für einander und ſetzt nothwendig irgend cin 
allgemeinverbindliched Recht voraus, welches die Größe und Form 
ber wechfelfeitigen Leiffungen beftimmt, melde fie austaufchen. 
Nun ift c8 der bedeutjamften einzelnen Erfheinung nicht mehr 
möglich, ſich als eine abgefchloffene und untheilbare, nur aus fich 
ſelbſt verftändliche Einheit zu geberben; wie fle ſich entfaltet, was 
fie Teiftet und was fie leidet, das ift nicht mehr die unberechen— 
bare Erfindung ihres eignen Genius, fondern außer ihr ift dar- 
über von Ewigkeit ber entfchieden, und jede ihrer Wirkungen, jeder 
ihrer Zuftände wird ihr durch die allgemeinen Gefege des Welt- 
verkehrs und durch die befondern Umſtände zugemeflen, unter denen 
fie von ihm erfaßt wird. 

Die unorganiſche Natur dieſer Betrachtungsweiſe zu ent- 
ziehen hat man felten ernftlih verſucht; man hat länger ſich ge— 
fträubt ihr auch die lebendigen Gejchöpfe zu unterwerfen. Aber 
diefelben Gründe nöthigen und auch hier fie zuzulaſſen. Thiere 
und Pflanzen erzeugen weder aus ſich ſelbſt noch aus Nichts die 
Stoffe, durch deren Anlagerung ihre Geftalt wählt; fie entlehnen 
fie au8 dem allgemeinen Borrath der Natur. In beftändigen 
Kreislauf überliefert die Erdrinde und das Luftmeer dem Pflan- 
zenreihe und dieſes der Thierwelt jene. unzerftörbaren Elemente, 
bie bald dieſer bald jener Form des Lebens dienen und zeitweis 
in das formlofe Dafein unorganifher Körper zurücktreten, zu 
Allem benutzbar, aber aus eigenem Antriebe weder für Die eine noch 
für die andere Form ihrer Verwendung begeiftert. Dieſe Noth- 
wendigfeit, aus dem allgemeinen Vorrath zu fchöpfen und die ge- 


25 \ 

fuchten Elemente erft aus Schon beftchenden Berbindungen zu Iöfen, um 
fie zu dem eigenen Dienfte zu zwingen, fest dem freien Schwunge 
der Lebenskraft in jedem Gefchöpfe enge Grenzen. Gern vielleicht 
würde dieſe Kraft, den ganzen Lauf ber fünftigen Entwidlung vor- 
bevdenfend, mit einem Griffe und aus ber Einheit einer Abſicht 
heraus die Entfaltung des Lebens lenken, ihrerfeit8 geneigt, jene 
Geſetze zu überfpringen, welche der übrigen Welt gelten. Aber 
die ıumentbebrlichen Stoffe, deren fie bedarf, werben nicht bie 
gleihe Neigung theilen; fie werben unerbittlich verlangen, nad 
denſelben Gefegen auch bier gerichtet zu werben, denen ihre Natur 
in allen andern Fällen unterworfen ift. Niemals wird die Pflanze 
die Kohlenſäure des Luftkreifes zerfegen, ohne der chemiſchen Ver⸗ 
wandtſchaft, die deren Theile zufammenhält, eine andere in be: 
ſtimmtem Maße überwiegende Verwandtſchaft entgegengefegt zu 
haben, und nie wird die Kohlenfäure die treunende” Kraft einer 
andern Anziehung anerkennen, als einer ſolchen, die an ein be- 
ftimmtes Maß einer Törperlihen Mafle gebunden if. Und mo 
das gewonnene Material im Innern des lebendigen Körpers in 
die Formen zu bringen tft, melde der Plan der Organifation 
verlangt, da wird e8 chenfo wenig freiwillig ſich diefer Geftaltung 
fügen. Wie jede zu bewegende Laſt wirb es vielmehr erwarten, 
durch beftimmte Größen bewegender Kräfte, von beftimmten Maſſen 
ausgelibt, feine Theilchen in die verlangte Lage gefchoben zu jehen, 
nad denfelben Gefegen einer allgemeinen Mechanik, nad denen 
auch außerhalb des Lebendigen alle Bewegungen ber Stoffe erfolgen. 

Welcher Tebendige Tricb daher auch das Innere der Ge- 
ſchöpfe befcelen mag: nicht ihm verdanken fie doch ihr Beftehen 
gegen die Angriffe des Aeußern und die Verwirklichung ihrer be= 
abfichtigten Leiftungen; fie verdanken beides in jedem Augenblide 
den urfprünglichen Kräften ihrer elementaren Theilchen, die in 
Berührung mit der Außenwelt tretend Reize aufzunchmen und 
auf fie wirkſam zu antworten verftehen. Und welche finnreiche 
Anfeinanderfolge die Lebenserſcheinungen eines Gefchöpfes zu dem 
Ganzen einer zuſammenhängenden Entwidlung verfnüpfen mag: 


26 


auch fie wird ihm nur gewährt durch die urfpränglich vorhandene 
Anordnung feiner Theile, die dem Gefammterfolg ber einzelnen 
Wirkungen beftimmte Geftalten gibt, jo wie durch die fortfchrei= 
tende Veränderung, die dieſe Theile ſelbſt fih im Laufe ihrer 
Thätigfeit bereiten. 

So lange die Naturforfhung von der Einheit jenes leben⸗ 
digen Triebed ausging und in ihm die hinreichende Erflärungs- 
quelle für die veränderlihe Entwidlung eines Gefchöpfes fuchte, 
ift fie wenig glüdlic in der Aufbellung der Erſcheinungen ge- 
wefen. Ste nahm den Iebhafteften Aufſchwung, ſeitdem fie Die 
Thätigkeit der Hleinften Theile ins Ange faßte, und, von Punkt 
zu Punkt die einzelnen Wirkungen zufammenfegend, die Entftehung 
bes Ganzen aus der vereinigten Anftrengung unzähliger Elemente 
verfolgte. Noch Tieß fie eine Zeit lang jenes Innere, Die eine 
Lebenskraft jedes Gefchöpfes, mit hergebrachter Verehrung in der 
Meinung der Menſchen beftehen, und fie gab tbeoretiich zu, daß 
die Idee des Ganzen der Wirkſamkeit der Theile worhergebe, 
während fie praftifch ſich längſt barauf eingerichtet hatte, alle 
wirklich fruchtbringende Erklärung nur in dem Zuſammenwirken 
der Theile zu fuchen. Diefe legte Schen hat die Gegenwart 
überwunden, und müde, ein Inneres zur verehren, das doch nie 
werfthätig fi äußerte, bat fie die Hare und beftimmte Auf- 
fafſſungsweiſe der mehanifhen Naturwiffenihaft ebenfo 
zum Bortheil der Forfhung wie unleugbar zur Beunrubigung des 
Semüths über alle Gegenftände unferer Naturfenntniß ausgedehnt. 

An die Stelle des lebendigen Triebes, der als Ein Hauch 
das Ganze zufammengefegter Bildungen befeelte, feßte fie die ein- 
fachen und unzerftörbaren Kräfte, welche den Elementen beftändig 
anbaften. Mit veränderlicer Thätigfeit hatte der Trieb bald 
diefe bald jene Wirkungsmeife entfaltet, hier zuriidhaltend mit 
feinem Bermögen, dort mit Anftrengung feine Aeußerung be- 
fhleunigend; ausgleihend und ergänzend, wo es Noth that, war 
er nit durch ein immer gleiches Gefeg feines Handelns ein- 
geengt, fondern nur durch die Rückſicht auf das Endziel beftimmt, 


27 


zu dem alle Einzelheiten der Entwidlung zufammenlaufen follten. 
Mit unveränderlicher ftet8 gleicher Wirkungsweiſe haftet Dagegen 
die Kraft an den Klementen der Maſſe, in jedem Augenblide 
Alles mit Nothwendigkeit Teiftend, was nach allgemeinen Gefegen 
die vorhandenen Umftände gebieten, und weder im Stande, von 
ihrer möglichen Wirkung etwas zurüdzuhalten, noch zu ergänzen, 
was die Ungunft der Umftände ihr verfagt. Bon keinem Ziele 
geleitet, das vor ihr ſchwebte, ſondern nur Durch die Gewalt des 
Naturlanfes, der hinter ihr ftcht, vorwärts getrichen, ftrebt fie 
nicht von felbft der Verwirklichung eines Planes zu, ſondern jede 
zufammenhängende Orbnung mannigfadher Wirkungen beruht auf 
den eigenthümlichen Bedingungen, unter welchen zahlreiche Elemente 
durch die einmal vorhandene Form ihrer Verfnüpfung zufammen- 
zuwirken gezwungen find, 

Indem fo die Naturwiſſenſchaft die Einheit der belebenven 
Macht in die Zerjplitterung unbeftimmt vieler Elementarkräfte 
auflöft und von der Verbindungsweife diefer Die endliche Geftalt 
der Gefchöpfe begründet denkt, läßt fie die Trage nad dem Ur: 
fprunge diefer Anordnungen übrig, Die fo glüdlich gewählt fich 
finden, daß das Schönfte und Bedeutſamſte der Natur fih als 
ihre nothwendige Folge entwideln muß. Nur darauf gerichtet, 
die Erhaltung der einmal beftchenden Welt zu erflären, darf fie 
in der That diefe Frage aus dem engeren Gebiete ihrer Unter: 
ſuchungen ausſchließen. Iſt fie zumetlen gencigt, den Urſprung 
diefer Ordnung einem Zufall zuzurechnen, fiir den befondere 
Grimde aufzufuchen unnöthig fei, fo tft c8 ihr Doch eben fo mög- 
Th, die erfte Stiftung derfelben von der Weiäheit eines gött- 
Tihen Geiſtes abzuleiten. Aber allerdings pflegt fie, auch dies 
vieleicht mit Ueberſchreitung ihrer Befugniß, zu behaupten, daß von 
ber fchöpfertichen Freiheit dieſes Geiſtes Fein Hauch in das Ge— 
Ihaffene übergegangen jet, und daß die Natur, einmal vorhanden, 
fih wie jedes Kunfterzeugniß nach jenen unbeugfamen Geſetzen 
forterhalte, deren Unveränderlichkeit die Weisheit des Urhebers 
ebenfo ſehr wie die völlige Selbſtloſigkeit des Geſchöpfes bezeugt. 


28 


Und in dieſem munderbaren Automat der Natur, deſſen 
raftlofer Gang uns überall umgibt, welche Stellung nehmen wir . 
jelbft ein? Wir, die wir einft verwanbte Göttergeftalten hinter 
der Hülle der Erfcheinungen zu erfennen glaubten; wir, in denen 
die allgemeine Vernunft der Weltfeele wenigſtens traumbaft fich 
großer Zwecke und eines ewigen Triebes bewußt wurde, der ung 
mit der Natur zu einem gemeinfamen großen Weltbau zufammen- 
ſchließt? Mit den Ahnungen unferes Gemüthes, mit den For- 
derungen unferes fittlihen Weſens, mit der ganzen Wärme unferes 
inneren Lebens fühlen wir uns fremd in diefem Reiche der Sachen, 
da8 fein Inneres kennt. Doc vielleicht ift auch dieſes Gefühl 
des Zwieſpalts nur der Reſt eines Irrthums, den wir abthun 
müffen. 

Denn nicht allein die Anfichten der Natur haben im Raufe 
der Zeit die geſchilderten Wandelungen erfahren; mit ihnen hat 
zugleid unſere Selbfterfenntnig neue Geftalten angenommen. 
Arglos Tonnte das Berwußtfein der jugenvlihen Menfchheit ſich 
feiner Lebendigkeit erfreuen, Die, gleich der Pflanze Alles aus 
eigenem Keime heroortreibend und von feinem Gefühle fremden 
Zwanges bebrüdt, auch das Bebürfnig einer Anerkennung ihrer 
Freiheit nicht empfand. Die fortfehreitende Erfahrung und bie 
allmählich fich erweiternden Ucherfihten des menſchlichen Daſeins 
zeigten auch die Entwidlung des geiftigen Lebens an allgemeine 
für Alle giltige Gefege gebunden und dem eigenen Verdienſte des 
Einzelnen mehr und mehr entzogen. Mit Beruhigung unterwarf 
fih das Gemüth diefer Nothwendigkeit, jo lange es in ihr bie 
ftill zwingende Gewalt der einen eiwigen Idee fah, in der wir 
leben und find; es fühlte den Drud, als an die Stelle dieſer 
auch hier Die zerftreute Vielheit der bevingenden und geftaltenden 
Kräfte trat. Wie Vieles von dem, was wir zu der unantaft- 
barften Eigenheit unfer8 perſönlichen Weſens zählten, zeigte fich 
als das Erzeugniß von Einflüfjen, die fih an und kreuzen, unter- 
fügen und befämpfen! Immer mehr ſchmolz die Fülle deſſen zu⸗ 
fammen, was wir an ung jelbft unfer wahres Eigenthum nennen 


29 


durften; einen Theil nahmen bie Förperlihen Werkzeuge als Ge- 
ſchenk ihrer Organifation in Anfprud, ein anderer fiel den all- 
gemeinen Kräften des Scelenlebens zu, die verdienftlos in allen. 
Einzelnen nad gleihen Geſetzen thätig find; ein Feines Gebiet 
allein, Das, welches die Freiheit unferd ſittlichen Handelns be- 
herrſcht und geftaltet, ſchien den Zufluchtsort deffen zu bilden, 
was wir felbft find. Auch diefem legten Punkte wahrhafter 
Innerlichkeit Tieß die Wiſſenſchaft, als cinem möglihen Gegen: 
ftande des Glaubens, ein zweifchhaftes Beftehen; aud ihn fcheint 
fie im Begriff völlig aufzugeben. Seitdem man und wieder: 
holt, daß der allgemeine Haushalt der Welt eine gewiſſe jähr- 
liche Summe der Verbrechen ebenſo erfordere, wie eine gewiſſe 
Größe der Temperatur: ſeitdem Tiegt e8 nahe, auch in.dem geiftigen 
Lchen den ununterbrodgenen Zufammenhang eines blinden Mecha— 
nismus zu ſehen. Gleich dem beftändigen Wechſel des Aeufern 
wird auch unſere innere Regſamkeit nur noch ein Wirbel von 
Bewegungen fein, den die ungezählten Atome unfere8 Nerven: 
gebäudes durch unabläffige Wechfelmirktung unterhalten. Weit 
über die unbefangene Kindlichkeit mythologiſcher Weltauffaſſung 
find wir Hinausgefommen; wir haben nicht allein die perfönlichen 
Naturgeiſter aufgegeben, fondern die Möglichkeit eines perfönlichen 
Dafeins überhaupt zu dem dunkelſten Räthſel gemacht. Einge— 
ihloffen in das große. Automat der Natur fteht das Hleinere des 
menſchlichen Geiſtes; künſtlicher als jedes andere, da es feine 
eigenen Regungen fühlt und die des andern Spielzeugs bemun- 
dert; aber zulegt zerführen feine Beftandtheile doch auch, und 
der Ernſt und der Scherz, die Liche und der Haß, die dieſes 
feltfame Wefen bewegten, wären dahin. 

Auch diefe letzten Conſequenzen find gezogen worden, hier 
mit Jubel, dort mit vergweifelndem Gemüth. Aber auch fie find 
nit allgemein gezogen worden; an den verſchiedenſten Punkten 
des Weges zu ihnen haben Unzählige angehalten und nad ver- 
fhiedenen Richtungen bin dem unerwünſchten Ziele zu entgehen 
verſucht. Und durch alle Ummandelungen der Anfichten hindurch 


‘ 


30 


hat doch auch ein einfacher Glaube fi) ungeftört erhalten, ber 
Glaube an einen ewigen Urheber, der dem Reiche ber Geifter 
lebendige Freiheit zum Streben nad cinem heiligen Ziele verlich 
und fie dem Reihe der Sachen verfagte, damit ed in blinder 
Nothwendigkeit Schauplag und Mittel für die Thätigfeit des 
Strebenden fei. Mit Diefer klaren Theilung gemann das Gemüth 
die Möglichkeit, in dem Kreife der Dinge fi einzurichten, bauend 
auf ihre unwandelbare Gefeglichfett und feine eigene Freiheit. 
Aber zu erringen würde ihm noch die andere Möglichkeit bleiben, 
die zahlreichen Fragen über die gegenfeitige Begrenzung der beiden 
Gebiete des Freien und des Nothmwendigen zu beantworten, zu 
benen die aufmerkſame Beobachtung der Einzelheiten des Ratur- 
laufs anregt. 

Bon folden NRäthieln fühlen wir uns umftridt; nit als 
ob fie nicht zu jeder Zeit vorhanden geweſen und empfunben 
worden wären; aber mehr als je hat fie jeßt die wachſende Ber: 
breitung der Naturkenntnig in den Vordergrund unferer Betrady- 
tungen gerüdt. Zu lange bat ohne Zweifel der menſchliche Geift 
in der Ausbildung feiner Weltanfiht jenes dunkle, ftarre Element 
der Nothwendigfeit, das Reich der Sachen, überjehen; mit fteigen- 
der Macht ift c8 im Fortſchritte der Erfahrung beroorgetreten, 
und vergeblich würden wir und zu verbergen ftreben, daß feine 
Herrſchaft über die finnliche Welt feft fteht. Wollen wir dennoch 
von Neuem verfuchen, ihm das zu entziehen, was wir ihm nicht 
ohne Aufgeben unſeres eigenen Wefens überlaffen zu können 
glauben, fo dirfen wir nicht damit beginnen, das zu beftreiten, 
was der vereinigte Eindruck der gefammten Erfahrung immer 
wiederholt uns beſtätigt. Auch für unfer eigenes Törperliches 
. Dafein müfjen wir vielmehr die vollfommene Giltigkeit jener 
Grundjäge zugeftehen, nach denen bie mechauiſche Naturforfhung 
die Sinnenwelt erflärt. Indeſſen unterfcheidet fich vielleicht das, 
was in der Leivenfchaft des Streited von manchen Seiten ber 
als unverbrüchliche Grundlage der Naturmiffenfchaft gelten ges 
macht wird, merklid von dem, mas die Wiffenfchaft felbit, hierin 





31 


duldſamer als einzelne ihrer Jünger, gewiß zu wiſſen und überall 
unerbittlih verlangen zu dürfen glaubt. Vielleicht auch zeigt e8 
fich endlich, daß die Gefammtheit alles Mechanismus, weit ent- 
fernt, den wahren Aufgaben des geiftigen Lebens entgegenzuftehen, 
vielmehr felbft als ein nothmwendiges. Dienendes Glied in den Zu= 
fammenhang jenes großen Ganzen aufgenommen ift, von dem bie 
veränderliche Richtung des Zeitgeiftes bald die eine, bald die 
andere Seite dem menſchlichen Geiſte allein entgegentehrt. 


Zweites Kapitel. 
Die mechaniſche Natur. 





— 


Allgemeinheit der Geſetze. — Beſtimmung bed Wirkſamen. — Die Atome und ber 

‚ Sinn ihrer Annahme — Die phyſiſchen Kräfte — Gefche ber Wirkungen und 

ihrer Zuſammenſetzung. — Allgemeine Folgen für bie Erflärung ber Naturers 
ſcheinungen. | 


Nothwendige Verknüpfung bat in irgend einem Sinne jebe 
Zeit und jede Anfiht in den Dingen gefucht; nicht Dies ift es, 
was die mechaniſche Wiffenfhaft der Gegenwart auszeichnet, fon- 
bern der andere Gedanke, den fie ber Bebeutung und Urfprung 
dieſer Nothwendigkeit hinzufügt. Auch der finfterfte Wberglaube, 
indem er durch nichtigen Zauber das Schickſal des räumlich Ent: 
fernten zu beftimmen dachte, berief fih auf eine unbegreifliche 
Berfnüpfung, nad ber auf feine Beſchwörungen die verlangte 
Wirkung folgen werde. In doppeltem Sinne meint die Wiffen- 
ſchaft es anders. Nicht durch dieſe unbegreifliche Nothwendigkeit 
follen den Dingen ihre einzelnen Zuftände nur nach einander zu— 
getheilt werden, jondern aus einander follen fle begreifbar her- 
vorgehen und jeder frühere in fich felbft den Grund enthalten, 
ans dem er nah einem allgemeinen und verftändlichen Rechte 
ben fpäteren als feine Folge verlangen darf. Und eben jo wenig 


32 


ſoll jede einzelne Wirklichkeit nad einem ihr allein verliehenen 
Rechte Zuftand aus Zuftand entwideln; die Nothwendigkeit viel- 
mehr, die in dem einen Gejchöpfe waltet, verdankt ihre nöthigende 
Kraft denjelben allgemeinen Gejegen, Die aud in allen andern 
wirffam Gleiches dem Gleihen und dem Verſchiedenen Ber- 
ſchiedenes zumefjen. Nicht vereinzelt auf befondern und unver- 
gleihbaren Borherbeftimmungen beruhen alfo die verfchiedenartigen 
Erſcheinungskreiſe, deren Contraft -die Welt füllt; fie alle find 
nur mannigfaltige Beifpiele deffen, was alles die Kraft der all: 
gemeinen Gefege je nad den verfchiedenen Umftänden begründet, 
die veränderlih nad Zeit und Ort fi ihrer Entfheidung unter- 
ordnen. Auf diefen Gedanken eincd gemeinfamen, alle Natur 
beberrfchenden Rechtes, aus dem allein alle Berbindlichkeiten und 
Fähigkeiten des Wirkens für Die Dinge fließen, hat die mechanifche 
Naturauffaffung das ausgedehnte Gebäude ihrer Kehren gegründet. 

Aber zu der Kenntniß dieſes allgemeinen Rechtes fünnen 
wir von den Erfheinungen aus, die uns allein umgeben, nur 
durch Schlüffe gelangen, die das Gebiet des Wahrnehmbaren 
überfteigen. Nicht jeder der Schritte, die bier gethan worden 
find, ift gleich zweifellos. Nicht überall reichen die an ſich ge— 
wiffen Grundfäge unſers Erkennens zur Gewinnung nützlicher 
Ergebniffe- Hin; in Manchem bat ein glüdlicher Blick die frucht- 
baren Geſichtspunkte errathen müffen. Und allerdings nicht über- 
al bat ſchon die bisherige Gefchichte der Wiffenfchaft die Richtig— 
feit ſolcher Blicke beftätigt, die, als fic gethan wurden, durd die 
Eröffnung großer Ausſichten überrafchten; auch nicht überall ift 
es gelungen, Vermuthimgen, deren thatſächliche Richtigkeit bie 
Erfahrung glänzend bewährte, auf ihre cigene innerliche Notb- 
wendigkeit zurüdzuführen. Mancherlei Anftände mögen ſich daher 
dem Zweifelnden ergeben, und die Hoffnung, fi einzelnen Folge: 
rungen der mechaniſchen Naturanficht zu entziehen, wird im Stillen 
an diefe nicht in allen Stüden vollendete Grundlegung berjelben 
anfnüpfen. Aber man würde wenig gewinnen, wenn man mit 
den zuſammengerafften Einwänden, welche der augenblidliche 





33 


Eindruf mander Säge erweden mag, den großen Bau dieſer 
Anfiht zu erſchüttern dächte. Auf einer unermeßlichen Fülle zu— 
fammenftimmendber Thatſachen ruhend, verdient er es, felbft gleich 
einer Naturerſcheinung mit dem Zutrauen betrachtet zu werden, 
dag eine fpätere Einfiht in den Zufammenbang aller Theile 
bie früheren Zweifel an den einzelnen zerftreuen werde. Und in 
der That, glei einem Naturgebilve ift auch diefe Anficht der 
Natur noch einer reihen umgeftaltenden Entwidlung fähig. Nur 
eine ſehr unvollftändige Kenntniß ihres Geiftes könnte die Grund- 
füge, denen fie bisher Anwendung gegeben hat, als ben ab- 
gefchloffenen und nicht vermehrbaren Beftand möglicher Geſichts⸗ 
punkte anſehen. Im Vergleich mit der unendlihen Mannigfaltig- 
feit der Ereignifje, mit denen und die Natur täglich umgibt, weiß 
vielmehr die Phnfit fchr wohl, daß fie ihren Unterfuchungen 
bisher nur wenige Gebiete volftändig hat unterwerfen können. 
Sie weiß, daß die allgemeinen Grundfäge, deren fie ſich bedient, 
zum Theil aus den befonderen Geftalten abgeleitet find, in denen 
fih die wirkende Natur auf diefen wenigen beftbefannten Ge— 
bieten darftellt, und fie fühlt, Daß mit jedem neuen Erfahrungs: 
freife, der im Laufe der Zeit vollftändiger befannt in die Reihe 
der Unterfuhungsgegenftände eintritt, auch eine Aufforderung ent- 
fteht, den früheren Grundlagen ihrer Betrachtungen allgemeinere 
und umfaflendere Ausdrücke zu geben. Sie wird in diefer Selbſt— 
entwicklung felten in den Fall kommen, zurüdzunchmen, was fie 
früher feftgefegt hatte; aber fie wird häufiger finden, daß Geſetze, 
deren Giltigkeit fie in diefem Fortſchritte unangetaftet läßt, doch 
nur befondere Fälle allgemeinerer Beitimmungen find, welde fie 
nun aufgefunden bat. Und fo wird die wahre Naturwiſſenſchaft 
nicht jene kümmerliche Haft zeigen, mit der man fo oft alle Er- 
ſcheinungen ausfchlieglih nach dem Modelle derjenigen zu erflären 
fucht, welche der Zufall oder der augenblidlihe Ausbildungsgrad 
der Beobachtung am meiften für und ins Licht gerüdt hat. In 
diefer Bildſamkeit der Wiffenfchaft haben wir Die wenigen Bunte 
hervorzuheben, die fie in der That fiir nothwendig und allgemein 
Lotze I. 3. Aufl. 


34 


gültig ausgibt, von ben übrigen aber den Grad der Wahrfchein- 
Yichfeit kennen zu lernen, welchen allein fie fiir diefelben in An- 
ſpruch nimmt. 


Ein Zug ift es nun, welcher neben jener Heberzeugung von 
einem allgemeinen geſetzlichen Verbande den Geift der mechaniſchen 
Naturanficht auf das Wefentlichte bezeichnet: die unabläffige 
Sorgfalt, mit der fie für jede Wirkung, deren fie gedenkt, genau 
die Elemente zu beftimmen fucht, von denen diefe Wirkung aus- 
gelibt oder erlitten wird. Nicht ummer hat die frühere Zeit dieſe 
Borfiht beobachtet. Man ſprach von Wirkungek, die da über— 
haupt gefhähen, ohne zu jagen, wer fie hervorbrächte; man ſprach 
von Thätigkeiten, ohne nambaft zu machen, von wen fic aus- 
gingen und wen fie träfen; an zuſammengeſetzte Gebilbe, die eine. 
Menge von. heilen unterfcheiden lichen, fnüpfte man im Ganzen. 
und Großen Kräfte, Entwidlungen und Leiftungen, die fo nur 
auf unbeftimmte Weife in dem Innern diefer Gebilde ſich zu er- 
eignen ſchienen, wie eleftrifhe Entlabungen ın Wolken, deren 
Schimmer man fieht, ohne Umriſſe deffen, von dem er ausgeht. 
- Der Strenge, mit der fie diefen Fehler vermied, verbanft Die 
neuere Wiffenfhaft Alles, was fie geleitet. Indem fie forgfältig 
jede8 Element, von dem eine Wirkung entjprang, nad) feiner 
Lage zu andern und nad allen den Umftänden zu bejtimmen 
fuchte, in denen es fih im Augenblide feiner Thätigkeit befand, 
gelangte fie dahin, die Wirfungen der Dinge nicht nur nach ihren 
allgemeinen Bormumriffen und nad der Art, wie fie fih aus- 
nehmen, kennen zu lernen, jondern ihre Größe Richtung und 
Dauer, jo wie den Einfluß, den fie nad irgend einer Seite hin 
ausüben, an beſtimmte Geſetze des Maßes zu Fnüpfen. 

Sie hat hierdurh einen Standpunkt überwunden, auf benz 
wir die Beurtheilung geiftiger Entwidlungen zu großem Theile 
noch verweilen fehen. Nach den platten Verſuchen, den Lauf der 


35 


Geſchichte und Alles, was in ihren Ereigniffen von Werth ift, 
aus nüchterner Willführ der Einzelnen zu erklären, finden wir 
nun wieder mit Vorliebe von einem allgemeinen Geifte und 
feinem unbewußt organifchen Wirken gefellige Zuftände der Men- 
hen veligiöfe Stimmungen und die veränderlichen Richtungen 
der Kunft abgeleitet. Die ſchönen Erfolge, die wir Diefen Be— 
mähungen verdanken, werden durch das Geftändniß nicht ge= 
ſchmälert, daß doch die Geſchichte ſich nicht ohne die perfünlichen 
Geiſter mache, und daß eine genauere Beobachtung in jenem all» 
gemeinen Geifte doch nur die gleichförmige Endrichtung erkennen 
werde, welche die Einzelnen unter dem Eindrude allgemeingiltiger 
Bedingungen und durch die Wechſelwirkungen ihres Verkehrs an- 
nehmen. Nicht als wären darum alle fchönen und bedeutfamen 
Formen des Dafeins in Natur und Geſchichte nur nachgeborene 
Folgen von Umftänden, die thatfächlih nun einmal vorangingen; 
wohl mag vielmehr das, was wir als ibealen Gehalt in der 
verwirklichten Welt finden, auch der erfte treibende Grund zu einer 
beftunmten Orbnung der Dinge gewefen fein, als deren noth- 
wendiges Ergebniß wir e8 beftändig wiedergeboren werden fehen. 
Aber überall da, wo mir nicht nad) dem MWerthe des Gewordenen, 
ſondern nad der Möglichkeit feines Werdend und dem Hergange 
feiner Verwirklichung fragen, da wird unfer Blick fih doch noth- 
wendig auf Die einzelnen realen Elemente richten, in Deren ge- 
jeglicher Wechſelwirkung die Vermittlung alles Werdens allein 
Viegt. Und fo wird Gefchichte und Naturwiſſenſchaft jede Ent- 
ftehung eines: neuen, jede Erhaltung eines früheren Zuftandes. 
aus dem gegenfeitigen Verkehr vieler einzelner individueller Punkte 
herleiten, in denen allein die Idee fi zu thatkräftigen Wirklich: 
feiten verdichtet hat. . 

In diefe Bahn der Unterfirhung nothwendig geleitet, mußte 
die Wiſſenſchaft verſuchen, jene erften Ausgangspunfte aller Wir- 
kungen aufzufinden, welche völlig einfach und unveränberlich durch 
ftet8 gleiche und darum berechenbare Beiträge den vielgeftaltigen 
Naturlauf zufammenfegen: Was fich zuerft der unmittelbaren Be- 

3* 


36 


obachtung als abgeſchloſſene Einheit darftellt, die bewegliche Geftalt 
Des Thieres oder die ſcharf gezeichnete Form der Pflanze, das zeigte 
doch durch den Verlauf feines Lebens, wie fein Daſein und feine 
Leiftungsfähigfeit auf einer beftimmten Verbindung von Theilen 
beruht und mit ihrer Auflöfung wicder verſchwindet. Nocd mehr 
erichienen die unlebendigen Körper Durch ihre Trennbarfeit in gleidh- 
artige oder das fihtbare Hervortreten ungleichartiger Beftanbtheile 
als Zufammenfegungen, deren Eigenfchaften von der Natur der 
Menge und den Kräften der zu ihnen verbundenen Elemente ab: 
hängen. Aber der Verſuch, diefe felbft aufzufinden, überzeugte 
bald, daß die einfachen und unveränderlichen Beſtandtheile der Dinge 
fih der finnlihen Wahrnehmung überhaupt entzichen. Denn was 
im kleinſten Raume fich den Sinnen als gleihartiges und beftän- 
diges Element darftellt, das zeigt ſich im Fortſchritt der Erfahrung 
doch noch als veränderlich oder löſt ſich vor dem bewaffneten Auge 
auf's Neue in eine Welt des Mannigfaltigen auf, und wieder ſieht 
man unbeſtimmte Anzahlen von Theilchen beſchäftigt, durch ihre 
Wechſelwirkungen dieſe kleinen Geſtalten aufzubauen, die uns mit 
dem Scheine einer gleichförmigen und innerlich unbewegten Exiſtenz 
täuſchen. So mußte man, was die Wahrnehmung nicht darbot, in 
einem ihr entgehenden Gebiete vorausſetzen und ſuchte die letzten 
Beſtandtheile der körperlichen Welt in unzählbaren Atomen von 
unſichtbarer Kleinheit unwandelbarer Dauer und unveränderlicher 
Beſtändigkeit ihrer Eigenſchaften. In den vielfachſten Weiſen bald 
zuſammentretend, bald unverändert aus dieſen wechſelnden Gefel- 
lungen fih trennend, bringen fie durch die Mannigfaltigkeit ihrer 
Stellungen und Bewegungen die verfchiedenen Formen der Natur: 
erzeugniffe und deren wandelbare Entwidlung beroor. 

Die mikroſtopiſche Torfhung, die uns fo oft das ſcheinbar 
Gleichartige in eine wohlgefügte Gliederung mannigfaltiger Theile 
auflöft, Scheint am natürlichften Die Neigung zu begünftigen, die wirk⸗ 
famen Elemente des Körperlihen an einzelne Punkte des Raumes 
vertheilt und die Eigenfchaften der größeren wahrnehmbaren Ge- 
bilde von der Berbindungsweife dieſer Theile abhängig zu denken. 


37 


Aber lange vorher hat fchon das Altertbum diefen Gedanken 
ausgebildet, geleitet durch Ueberlegungen, deren Werth zum Theil 
noch in unverminderter Geltung befteht. Der Mangel zufammen- 
hängender ausdrücklich zu dieſem Zwecke angeftellter Beobachtun- 
gen hinderte jedoch die Alten, diefer Borftellungsmeife eine mathe: 
matifche Ausbildung zu geben, und fie blieb bei ihnen mehr ein all- 
gemeiner Gedanke über die Art einer möglichen Naturerflärung, als 
daß irgend eine beftimmte Gruppe von Erfcheinungen durch fie eine 
erhebliche Erläuterung gefunden hätte. Während jedoch Die Alten 
die Ergiebigkeit ihres Princip8 wenig zu nugen wußten, gingen fie 
in anderm Sinne weit über das hinaus, was die Atomiftif der 
heutigen Phyſik zu fein beabſichtigt. In den Atomen glaubten fie 
die legten und unvorbenflichen Elemente aller Wirklichkeit gefunden 
zu haben, und was uns jegt nur als das Beftändige in dem Laufe 
der gefchaffenen Welt gilt, das galt ihnen als das Unbebingte und 
wahrhaft Seiende, dem Nichts vorangche, während e8 felbft Allem 
vorangehend die an fi nothwendige und unabhängige Grundlage 
jeder möglichen Schöpfung fei. Daß nun eine unzählbare Vielheit 
jelbftändiger und zufammenhanglofer Punkte den Uranfang der 
Welt bilde, und daß nur ihren planlofen Begegnungen das in- 
einandergreifende Ganze der Erfheinungen entfpringe: dieſer Ge- 
danke wird ftet8 die lebhafte Sehnſucht des Geiftes gegen ſich haben, 
der die Natur als Einheit aus Einem Duell und Plane zu ent- 
wideln ftrebt. Aber diefes Bedenken, das wir mit Recht gegen 
die Meinung des Alterthums gelten machen, würde man mit Un- 
recht gegen die atomiftifhen Grundlagen unferer Phyſik wenden, 
mit deren Geift und Bebürfniffen die Erneuerung jener Meinung 
nicht nothwendig verbunden if. Wenn wir von unzerftörbaren 
Atomen ſprechen, die an Geftalt und Größe verfchieden find, fo 
glauben wir damit nur die Reihe der Thatfachen, die wir wirklich 
beobachten, durch eine glückliche Vermuthung um eine neue, vorzugs⸗ 
weis fruchtbare, aber der unmittelbaren Wahrnehmung entzogene 
Thatfache vermehrt zu haben. Daß alle Veränderungen im Natur- 
laufe nur bis an die Grenze diefer Heinften Theilchen reichen und bei 


38 


aller Umgeftaltung ihrer äußern Berhältniffe doch fie ſelbſt als un- 
veränderte Ausgangspunfte unabläffigen Fortwirkens übrig laſſen: 
dieſe Thatſache glauben wir, von unzähligen Andeutungen der Er- 
fahrung geleitet, als einen charakteriſtiſchen Zug der Ratur, wic 
fie und nun einmal vorliegt, glücklich errathen zu haben. Auch fie 
mag, wie andere Thatfachen, nod weiter zurüdgehende Fragen 
nah ihrem Sinn und Urfprung mit Hecht veranlaffen. Aber bie 
Naturwiſſenſchaft felbft, nur auf Erflärung defjen bedacht, was in= 
nerhalb der einmal vorhandenen Schöpfung geſchieht, wird ihrer- 
ſeits Recht haben, bei irgend einer Icgten Thatſache anzuhalten, 
welche einen allgemeinen und unwiderruflichen Charafterzug dieſer 
Schöpfung auf eine für die Erflärung der Erſcheinungen fruchtbare 
Weiſe bezeichnet. Unverändert und ungetheilt alfo nicht um einer 
unbedingten Ungerftörbarkeit ihres Wefens willen, fondern meil der 
wirflihe Naturlauf die Beranlafjungen nicht erzeugt, denen ihre 
Auflöfung gelingen könnte, bilden die Atome für den Aufbau der 
Erſcheinungen die unmwandelbar feften Bunte. An welchen höheren 
Bedingungen aud ihre eigene Eriftenz hängen mag: für Die Erflä- 
rung der einmal vorhandenen Natur dürfen wir diefe Bedingungen 
dahingeſtellt fein laſſen, weil fie beftändig in ihr erfüllt find, nie 
verloren gehen und deshalb nic wieder von Neuem hergeftellt zu 
werben brauchen. 

Welche weiteren Vorftelungen wir uns iiber die Natur der 
Atome zu machen haben, kann nur nad den Andeutungen der Er- 
fabrungen, die und überhaupt zu ihrer Annahme nöthigen, ent- 
fchieden werden, und Vieles hiervon bleibt der Zukunft vorbehal⸗ 
ten. Der unbefangenen Ueberlegung Tiegt es am nädften, Die 
verſchiedenen Eigenſchaften des Sichtbaren auch von verſchiedenen 
Beſchaffenheiten der kleinſten Elemente abzuleiten; die Wiſſenſchaft 
Dagegen bat ein natürliches Intereſſe daran, die auseinandergehende 
Mannigfaltigkeit der Erſcheinungen auf die möglich kleinſte Zahl 
urſprünglich verſchiedener Principien zurückzuführen. Und in ber 
That lehrt die Unterſuchung ſehr bald erkennen, daß viele zunächſt 
weſentlich ſcheinende Unterſchiede der Dinge doch nur von Verſchie⸗ 





89 


benheiten der Größe und Verbindungẽweiſe an ſich gleichartiger 
Beftandtheile abhängen. Dennoch dürfte die Feftigkeit, mit welcher 
mande Naturerzeugniffe unter höchſt wechfelnden Bedingungen ihre 
charakteriſtiſchen Unterſchiede von andern aufrechterhalten, den Ver: 
fuch erſchweren, aus durchaus gleihen und gleihartigen Atomen nur 
durch Die Mannigfaltigkeit ihrer Berknüpfungsarten alle abweichen: 
den Formen der Körper und Verſchiedenheiten ihre® Verhaltens zu 
erfären. Kein höherer Gefichtöpunft verlangt übrigens dieſe Gleich: 
beit der Atome; denn nicht darin beftebt die Einheit des Weltgan: 
zen, daß alle feine urfpränglichen Beſtandtheile identiſch feien, 
fondern nur darin, daß die verſchiedenen in den Sum eine® zu⸗ 
ſammenfaſſenden Planes fi fügen. 

Die Atomiftif der Alten mar von dieſem Gedanken der Weſens⸗ 
gleichheit der Heinften Elemente beherrſcht; und da der Zweck der 
Naturerflärung dennoch Unterfchiede derfelben verlangte, fo fuchten 
fie diefe ausfhlicklih in der Wannigfaltigkeit der Formen und 
Größen, welhe den Atomen zufämen. Aber ein völlig gleicher 
Stoff ſchien vielmehr überall auch gleiche Form und Größe zu ver: 
langen; fo fam man darauf, die Atome felbft aus noch kleineren, 
gleichartigen und gleich großen Theilchen zufammtengejegt und 
ihre Formen von den Lagerungsverhältnifien diefer abhängig zu 
denfen. Die Atome waren daher nicht eigentlich einfache Elemente, 
fondern ungertrennlihe Syſteme mehrerer Theilden. Dennod 
waren fie, und nicht dieſe Theilchen, die Elemente des Naturlauſes. 
Denn die Verfaüpfungen jener Heinften Urbeftandtheile zu ben 
größeren und mannigfach geformten Geftalten der Atonıe jah man 
als ewige und unwiderrufliche Thatfachen an, deren Begrändung 
vor aller Schöpfung der beftehenden Welt und bamit außerhalb 
des Rreifes naturmiffenichaftlicher Forſchung liegt. Jetzt, nachdem 
bie geichaffene Welt einmal befteht, vermögen alle Wechſelwirkun⸗ 
gen des im ihr noch fortdauernden Naturlaufes nur noch fo viel, 
die zufammengefegten fihtbaren Körper tn ihre Atome, nicht aber 
auch diefe noch im ihre gleiharttgen Urbeſtandtheile zu zerfällen. 

Zu diefer Annahme einer unerklärlichen erſten Zuſammen⸗ 


40 


fügung wird indeffen dieſe merkwürdige Vorftellungsweife nur durch 
ihre VBorausfegung von der völligen ©leichartigfeit der kleinſten 
Theilhen gedrängt. Denn allerdings ließ fih num fein Grund 
mehr finden, warum es durchaus Feiner der im Naturlauf entſtehen⸗ 
den Kräfte gelingen follte, die Verbindungsweife jener Theilhen in 
einem Atome zu ftören und fie in Die andere Form der Ber: 
fnüpfung überzuführen, in der fie in einem zweiten von jenem 
verſchiedenen Atom fich befinden, und die ‚chen deshalb, weil fie 
fich hier verwirfliht findet, der Natur jener Theilchen nicht an 
fi) zumider fein Tann. Anders wiirde e8 fein, wenn wir jene 
Borftellung der Alten fo erneuerten, daß wir nicht gleichartige, 
fondern vielmehr wefentlih verſchiedene Urbeftandtheile zu den 
Heinen Gebilden der Atome vereinigt dächten. Jedes von diefen 
würde dann unzertrennlich fein können, meil zwiſchen den Be— 
ftandtheilen eines jeden eine Wahlverwandtſchaft herrſchte, Die 
durch feine andere überboten werden fünnte, und jedes würde zu= 
gleich eine beftimmte Größe und Geftalt befigen, weil nur bet 
begrenzter Anzahl der Theile und beftimmter Lagerung derfelben 
ihr gegenfeitiger Zufammenhang Veftigfeit genug befäße, um jeder 
Entreifung eines einzelnen zu wiberftchen. Auch diefe Gebilde, 
die durch ihre Ungzerftörbarfeit den Namen der Atome verdienten, 
würden mithin nicht die legten und einfachften Elemente ber 
Körperwelt, wohl aber die legten fein, bis auf melde die Ver— 
änderungen in der Natur zurüdgehen, und melde in allen Zufam- 
menfegungen und Trennungen als die unwandelbaren Baubeftand- 
theile erhalten werben. 

Aber man ficht Leicht, daß diefe Vorftelungsmeife uns zu— 
gleich geftattet, von einer räumlichen Ausdehnung jener Urbeftand- 
theile gänzlich abzufehen und fie als überfinnlihe Wefen zu be— 
trachten, die von beftimmten Punkten des Raumes aus durch ihre 
Kräfte ein beftimmtes Maß der Ausdehnung beherrihen, ohne ' 
c8 doch im eigentlihen Sinne zu erfüllen. Durch ihre Wechfel- 
wirfungen würden diefe unausgedehnten Punkte fih ihre Ent- 
fernungen von einander und ihre gegenfeitige Rage vorzeichnen, 





41 


und fie würden bierdurd die Umriffe einer Raumfigur cbenfo 
beftimmt und ſicher umfchreiben, als wenn fie das Innere ber- 
felben durch ftetige Ausdehnung einnähmen. Und denken wir an 
diefe einzelnen realen Punkte Kräfte der Anzichung und Ab- 
ftoßung nach außen gefnüpft, fo würden größere Zufammen= 
häufungen derfelben dur ihren Widerftand gegen eindringende 
Gewalt die Erſcheinung einer greifbaren Körperlichleit oder durch 
Zurückwerfung der Lichtwellen den Anblid einer farbigen Ober- 
fläche ebenſo gut gewähren, als wenn die wirffamen Wefen mit 
eigener ftetiger Ausdehnung den Raum erfüllten. Der Phnfik, 
welcher die Hleinften Theile nur als Mittelpunkte ausgehender 
Kräfte wichtig find, widerftrcht es nicht, dieſen Schein einer aus- 
gedehnten Materie aus einfachen überfinnlihen Weſen abzuleiten; 
die philofopbifhe Naturbetrachtung wird ſich zu dieſem Verſuche 
genöthigt jehen, denn cr allein verbindet die Torftellung von ber 
Einfachheit der wirklich legten Elemente mit der glei unent= 
behrlichen Bormenmannigfaltigfeit der Atome, die wir als bie 
nächſten Baubeftandtheile des Körperlichen vorausfegen müffen. 


Welche Vorſtellung wir uns indeffen von der Natur der 
Atome bilden mögen: das wefentlichte Bedürfniß der Natur: 
erflärung wird dieſes fein, allgemeine Geſichtspunkte zu finden, 
nach denen die Erfolge ihres Wirkens fih an beftimmte Geſetze 
knüpfen lafien. Das deutliche Bemußtfein iiber dieſe Grundlagen 
ihrer Beurtheilung unterfcheidet die neuere Wiffenfchaft völlig von 
der Atomiftit der Alten, die in ihren Verſuchen, die Erſcheinungen 
auß wechfelnden Verbindungen der Elemente zu erklären, zwar 
überall die Geſetze des Wirkens, an die und der alltägliche An- 
blick der Naturereigniffe gewöhnt bat, ſtillſchweigend vorausfekte, 
ohne doch dieſe Grundfäge abfichtlih heroorzubeben und die 
Grenzen ihrer Gültigkeit zu unterſuchen. Uns aber wird es nütz⸗ 
ih fein, zuzugeftchen, daß auch unfere Wiſſenſchaft hierin noch 


42 


nicht vollendet ift, und daß fie manche ihrer Grunbfäge nur Den 
Ausfagen der Erfahrung verdankt, mithin, Durch neue Erfahrungen 
vielleicht in Zukunft anders belehrt, fih nicht jeder Umgeftaltung 
von vorn herein verfchließen darf. 

Unbefannt bleibt uns zunähft das Innere der Atome. 
Allein welche inneren Zuſtände und Beftrebungen wir auch immer 
in ihnen vorandfegen möchten, nie wird ſich doch um ihretmillen 
das Einzelne von felbft in Bewegung ſetzen, ohne durch feine 
Beziehungen zu andern dazu genöthigt zu fein. Denn der Raum 
an ſich umgibt jedes Atom gleichförmig von allen Seiten, und 
fein Punkt dieſer gleichgältigen Ausdehnung befigt einen Vorzug 
vor den andern, um deswillen das ruhende Atom ſich nad ihm 
aufmachen, oder das bewegte aus feiner Richtung nad ihm ab- 
lenken müßte; feiner entjpricht der Natur des Atoms befier als 
ein anderer, jo daß es ihn fchneller auffuchte oder zügernder ver 
Tieße. Jedes ruhende wird daher, jo Lange nicht äußere Einflüffe 
Hinzutreten, in Ruhe, und jedes bewegte in der Richtung und 
Geſchwindigkeit feiner Bewegung verharren, bi8 neu dazwischen 
wirkende Urfachen diefe hemmen oder ablenken. 

Dieſes Geſetz der Beharrung, das aller unferer Beurtheilung 
der Bewegungen zu runde Tiegt, bezeichnet gleihwohl einen 
Val, der nie in diefer Reinheit vorkommt. Denn cben jene 
äußeren Urſachen, welche Richtung und Geſchwindigkeit des Fort- 
gangs ändern, fehlen in Wirflichfeit dem Bewegten niemals. 
Das einzelne Atom umgibt der Raum nicht leer, fondern an 
unzähligen Bunkten durch andere, gleichartige oder verſchiedene 
Atome beſetzt. Zwiſchen ihnen allen, als Beftandtheilen derſelben 
Welt, dürfen wir einen Zuſammenhang gegenfeitiges Fürein- 
anderſeins voraußfegen, aus welchem eine unmittelbare Wechſel⸗ 
wirfung ihrer innern Zuftände entfpringt. Aber dieſe innern 
Erlebniffe der Atome entgehen umferer Beobachtung völlig; nicht 
fie macht daher die Naturwiſſenſchaft zu ihrem Gegenftand, fon- 
dern nur die räumlichen Bewegungen, die ihr äußerer Abdruck 
und ihre Folge find. Zwiſchen zwei unveränderlihen Atomen 


⸗ 





43 


am leeren Raume Tann diefer Ausdruck ibrer innern Wechfel- 
wirkung nur in Berlirzung oder Verlängerung ihres gegenfeitigen 
Abftandes beftehen. Welcher von beiden Erfolgen in einem be- 
ſtimmten Falle eintreten, ob alfo die Erfheinung einer Anziehung 
oder Abftoßung entftehen wird, dies hängt von den unbekannten 
inneren Beziehungen der wechſelwirkenden Atome ab und kann 
deshalb nur dur Erfahrung von uns gefunden werben. Nur 
auf dem vereinigten Eindrud der Erfahrungen können wir ferner, 
bis jet wenigftens, die Hegel gründen, daß die Lebhaftigfett 
jeder Wechſelwirkung mit der wachſenden Entfernung der wirken- 
den Eleniente von einander abnimmt, mit ihrer ſteigenden gegen- 
feitigen Näherung wächſt. Nach welchem beionderen Maßftabe 
fie aber nad der wechſelnden Größe des Abſtandes fich richtet, 
aud dies ift für jeden einzelnen Fall nur nad den Ausfagen ber 
Erfahrung zu entfeiden; diefe allein endlih belehrt uns über 
den Grad der Stärke, mit weldem überhaupt zwiſchen zwei 
Atomen von beftimmter Natur Anziehung oder Abſtoßung ſich 
eutwickeln wird. 

Die Fähigkeit oder die Röthigung, eine beftimmte Wirkung 
heroorzubringen, liegt nach allem Erwähnten niemal® in ber 
Natur eines einzelnen Atomes oder eined eingelneu Körpers fertig 
enthalten. Wie vielmehr die Nothwendigkeit eines Wirkens über- 
haupt nur aus der gegenfeitigen Beziehung zweier Elemente ber- 
vorgeht, fo Liegt auch die Entſcheidung darüber, ob das eine fich 


anziehenn oder abftoßend werhalten merbe, zugleich mit in Der 


Natur des andern, gegen welches es dieſe Thätigfeit richtet; Die 
Größe des Einfluffes ferner, den jedes auskbt, wird ihm theils 
durch daſſelbe Verhältniß zu der eigenthümlihen Natur feines 
Gegners, theil® durch feine Entfernung von ihm, alſo durch 
augenblicklich obmaltende Umftände zugemeflen. Allein obgleich 
auf dieſe Weiſe die beftimmte Kraft des Wirkens jedem Atom 
eigentlich exft im Augenblide feines Wirkens zumädft, jo pflegt 
doch die Naturwiſſenſchaft die Kraft als beftändig anhaftend dem 
Atom zu bezeichnen. Sie verichuldet dadurch allerdings Miß- 


44 


verftändniffe bei denen, melde den Sinn diefer Ausdrudsmeife 
nicht in ihren Anwendungen verfolgen. Denn die Verfuhung 
Tiegt nahe, die Kraft, die dem Stoffe beftändig anhaften jo, 
als einen neuen und doch ftofflofen Stoff, al8 eine Eigenfchaft, 
die doch verborgen bleibt, al8 eine Thätigfeit in Ruhe, oder als 
ein Streben aufzufaffen, dem das Bewußtſein des Zieles ebenſo 
wie die Willführ des Handelns und die Wirklichkeit der Aus- 
übung fehle. Niemand würde diefelben Schwierigkeiten empfinden, 
ſprächen wir etwa von der Kraft unſeres Gemüthes, zu haffen 
oder zu’ lieben. Wir wiffen, daß Liche und Haß nicht von An— 
fang an fertig als folde in unferer Seele liegen, wartend auf 
die Gegenftände, gegen die fie fi wenden könnten; beide ent- 
wideln fi in beftimmten Maße erft im Augenblide der Be- 
rührung unſeres Weſens mit einem fremden. Dennod dulden 
wir den Ausdrud, daß die Kraft des Haffes und der Siebe 
unferem Gemüthe eigen inwohne; wir wiffen, nichts damit fagen 
zu wollen, als daß die beftändige Natur unferer Seele, fo wie 
fie nun einmal ift, nothwendig unter dem Einfluffe beftimmter 
Bedingungen Die eine oder die andere jener Aeuferungen ent- 
wideln werde. Mit vdemfelben Rechte des Ausdruckes verlegt 
auch die Naturbetrachtung die Fähigkeit zu einer Leiftung, die ein 
körperliches Element nach Hinzutritt gewiſſer Bedingungen er- 
wirbt, als eine vorher fertige Kraft der Anziehung oder Ab- 
ftoßung in deffen eigenes Innere. Sie darf nicht beforgen, durch 
diefe Abkürzung des Ausdrucks zu Irrthümern in der Anwendung 
geführt zu werben; denn feine Anmendung des Begriffes der 
Kraft ift möglich, ohne daß in jedem alle die wahre Sachlage, 
auf die fein Gebraud fi gründet, in anderer Form Doch wieder 
berüdfichtigt würde. Wir ſprechen von den Atomen nicht, fofern 
fie nicht wirfen, fondern fofern fie wirken; aber wir Finnen von 
feiner Wirfung des einen fprechen, ohne das zweite zu erwähnen, 
von dem fie erlitten wird; und wir können zwiſchen dieſen beiden 
feine Anziehung oder Abftogung geihehen Yaffen, ohne zugleid 
eine beftimmte gegenfeitige Entfernung beider im Anfangsaugen- 





45 


blick des Wirkens vorzuftellen und von Diefer die Größe der ent- 
widelten Kraft nach einem erfahrungsmäßig bekannten Geſetze ab- 
zuleiten. So tft e8 daher für alle Anwendung gleichbedeutend, ob 
wir behaupten, daß aus den inneren Beziehungen der Elemente 
gegen einander jedem einzelnen die Nöthigung zu einer beftimmten 
Form und Größe der Wirkung erft im Augenblide unter dem 
Einfluß der vorhandenen Umftände entftehe, oder ob wir fagen,. 
daß von wmanderlei Kräften, die fertig, aber unthätig in dem 
Atome ſchlummern, in jedem Augenblid diejenige zur Ausübung 
gelange, die in den eben vorhandenen Umftänden die Bedingungen 
ihrer Wedung und Aeußerung finde. Doc hatte die Phyſik aller- 
dings Grund, die Iegtere Form des Ausdrucks als bequemer für 
die Anwendung vorzuziehen. 

Liegen die inneren Zuſtände, die vielleicht jedes Atom im 
Augenblide feines Wirfens erfährt, feine Natur fo verändert zurüd, 
daß e8 auf eine völlig gleiche fpätere Anregung anders zurückwirkte, 
als auf die frühere, jo würden wir von beftändig ihm anhaftenden 
Kräften nicht ſprechen können. Die Erfahrung hat im Allgemeinen 
eine ſolche Veränderlichkeit nicht Fennen gelehrt. Ein chemiſches 
Element, nachdem es bald mit diefem bald mit jenem andern zu 
einer innigen Verbindung zufammengetreten und aus berfelben 
wieder ausgeſchieden ift, kommt am Ende diefer Schieffale mit kei— 
nen andern Eigenfchaften wicher hervor, als die waren, mit denen 
e8 in die erfte diefer Verbindungen eintrat. Und wo es fich etwa 
anders zu verhalten fcheint, Liegt der Grund der augenblidlich ver: 
änderten Eigenfchaften in der noch anhaltenden Fortwirkung der 
Borgänge, dic feine legte Ausſcheidung begleiteten. Wie-viele und 
wie verſchiedene Zuftände alfo das Atom erfahren haben mag, 
immer geht es aus diefen wechfelnden Lagen als völlig daſſelbe 
wieder hervor und erwirbt feine neuen Gewohnheiten, wie ſich deren 
in zufammengefegten Gebilden entwideln, noch zeigt jih in ihm 
eine Spur von Gedächtniß, durch welches die vorübergegangenen 
Zuftände mit maßgebend fir das Verhalten der Zufunft würden. 
Seine Wirfungsmeife läßt fi daher voraus beftimmen, wenn wir 


38 


aller Umgeftaltung ihrer äußern Verhältniſſe doch fie ſelbſt als un- 
veränderte Ausgangspunkte unabläffigen Fortwirkens übrig Laffen: 
dieſe Thatſache glauben wir, von unzähligen Andeutungen der Er- 
fahrung geleitet, als einen charakteriſtiſchen Zug der Natur, wie 
fie und nun einmal vorliegt, glüdlih errathen zu haben. Auch fie 
mag, wie andere Thatſachen, no meiter zurüdgehende Fragen 
nah ihrem Sinn und Urfprung mit Recht veranlaffen. Aber bie 
Naturwiſſenſchaft felbft, nur auf Erklärung deſſen bedacht, was in= 
nerhalb der einmal vorhandenen Schöpfung geſchieht, wird ihrer- 
ſeits Recht haben, bei irgend einer letzten Thatfadhe anzuhalten, 
welche einen allgemeinen und unwiderruflichen Charakterzug diefer 
Schöpfung auf eine für die Erflärung der Erfheinungen frudtbare 
Weife bezeichnet. Unverändert und ungetheilt alfo nit um einer 
unbedingten Ungerftörbarkeit ihres Weſens willen, fondern weil der 
wirflide Naturlauf die Beranlaffungen nicht erzeugt, denen ihre 
Auflöfung gelingen Könnte, bilden die Atome für den Aufbau der 
Erſcheinungen die unmwandelbar feften Punkte. An welchen höheren 
Bedingungen au ihre eigene Eriftenz hängen mag: für die Erflä- 
rung der einmal vorhandenen Natur Dürfen wir diefe Bedingungen 
dahingeſtellt fein laſſen, weil fie beftändig in ihr erfüllt find, nie 
verloren gehen und deshalb nie wieder von Neuem bergeftellt zu 
werben brauchen. 

Welche weiteren Borftelungen wir und über die Natur der 
Atome zu machen Haben, kann nur nad den Andeutungen der Er: 
fahrungen, dic uns überhaupt zu ihrer Annahme nöthigen, ent⸗ 
ſchieden werden, und Vieles hiervon bleibt der Zukunft vorbehal- 
ten. Der unbefangenen Ueberlegung Liegt e8 am nädften, die 
verjchievenen Eigenſchaften des Sichtbaren aud von verſchiedenen 
Beichaffenbeiten ver kleinſten Elemente abzuleiten; die Wiffenfchaft 
Dagegen bat ein natürliches Interefje daran, Die auseinandergehende 
Mannigfaltigfeit der Erfcheinungen auf die möglich Heinfte Zahl 
urfpränglich verfhiedener Principien zurädzuführen. Und in der 
That lehrt die Unterſuchung fehr bald erkennen, daß viele zunächſt 
weſentlich jcheinende Unterfchieve der Dinge doch nur von Verſchie⸗ 


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benheiten ber Größe und Verbindungsweiſe an fich gleichartiger 
Beitandtheile abhängen. Dennoch dürfte die Feftigfeit, mit welcher 
manche Naturerzeugniffe unter höchſt wechſelnden Bedingungen ihre 
charakteriſtiſchen Unterſchiede von amdern aufrechterhalten, den Ber: 
fuch erſchweren, aus durchaus gleichen und gleihartigen Atomen nur 
durch die Mannigfaltigfeit ihrer Berfnüpfungsarten alle abweichen: 
den Formen der Körper und Berfchievenheiten ihres Verhaltens zu 
erfären. Rein höherer Gefichtspunft verlangt übrigens dieſe Gleich⸗ 
heit der Atome; denn nicht darin befteht die Einheit des Weltgan: 
zen, daß alle feine urſprünglichen Beſtandtheile identiſch feien, 
fondern nur darin, daß die verfchiebenen in den Sinn eine® zu: 
jammenfaffenden Plancs fi fügen. 

Die Atomiftif der Alten mar von diefem Gedanken der Weſens⸗ 
gleichheit der Heinften Elemente beberrkht; und da der Zweck ber 
Naturerflärung dennoch Unterſchiede derfelben verlangte, fo fuchten 
fie diefe ausfhlichlih in der Mannigfaltigkeit der Formen und 
Größen, welhe den Atomen zufämen. Aber ein völlig gleicher 
Stoff ſchien vielmehr überall auch gleiche Form und Größe zu ver: 
langen; fo fam man darauf, die Atome felbft aus noch Fleineren, 
gleihartigen und gleich großen Theilchen zufammiengejegt und 
ihre Formen von den Lagerungsverhältniffen diefer abhängig zu 
denken. Die Atome waren daher nicht eigentlich einfache Elemente, 
fondern ungertrennlihe Syſteme mehrerer Theilden. Dennoch 
waren ſie, und nicht Diefe Theilchen, die Elemente des Natırrlaufes. 
Denn die Berfnüpfungen jener Heinften Urbeſtandtheile zu ben 
größeren und mannigfach geformten Geftalten der Atonıe jah man 
als ewige und unwiderrufliche Thatfachen an, deren Begrändung 
vor aller Schöpfung der beftehenden Welt und bamit außerhalb 
des Kreifes naturwiſſenſchaftlicher Forſchung liegt. Jetzt, nachdem 
die geſchaffene Welt einmal beſteht, vermögen alle Wechſelwirkun⸗ 
gen des in ihr noch fortdauernden Naturlaufes nur noch ſo viel, 
die zuſammengeſetzten ſichtbaren Körper in ihre Atome, nicht aber 
auch dieſe noch im ihre gleihartigen Urbeſtandtheile zu zerfällen. 

Zu diefer Annahme einer unerklärlichen erſten Zuſammen⸗ 


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fügung wird indeffen dieſe merkwürdige Vorftellungsweife nur durch 
ihre Vorausſetzung von der völligen Gleichartigkeit der Meinften 
Theilchen gedrängt. Denn allerdings Lich fih nun fein Grund 
mehr finden, warum c8 durchaus feiner der im Naturlauf entftehen- 
den Kräfte gelingen follte, die Verbindungsweiſe jener Theilchen in 
einem Atome zu ftören und fie in die andere Form der Ber: 
knüpfung überzuführen, in der fie in einem zweiten von jenem 
verſchiedenen Atom fich befinden, und die ‚eben deshalb, weil fie 
fich hier verwirklicht findet, der Natur jener Theilden nicht an 
ſich zuwider fein fannı. Andere wide c8 fein, wenn wir jene 
Borftellung der Alten fo erneuerten, daß wir nicht gleichartige, 
jondern vielmehr weſentlich verfchiedene Urbeftandtheile zu den 
Hleinen Gebilben der Atome vereinigt dächten. Jedes von biefen 
“ würde dann umnzertrennlich fein können, weil zwifchen den Be— 
ftantheilen eines jeden eine Wahlverwandtſchaft herrichte, Die 
durch keine andere überboten werden Könnte, und jedes würde zu= 
gleih eine beftimmte Größe und Geftalt befigen, weil nur bei 
begrenzter Anzahl der Theile und beftimmter Lagerung derjelben 
ihr gegenfeitiger Zuſammenhang Feftigfeit genug befäße, um jeder 
Entreißung eines einzelnen zu wiberftehen. Auch dieſe Gebilve, 
die durch ihre Ungerftörbarteit den Namen der Atome verdienten, 
würden mithin nicht die legten und einfachſten Elemente ber 
Körperwelt, wohl aber die legten fein, bi8 auf welche die Ver— 
änderungen in der Natur zurüdgehen, und welde in allen Zufam= 
menfegungen und Trennungen als die unwanbelbaren Baubeftanb- 
theile erhalten werden. 

Aber man ficht Leicht, daß diefe Vorftellungsmweife und zu 
gleich geftattet, von einer räumlichen Ausbehnung jener Urbeftand- 
theile gänzlich abzufehen und fie als itberfinnlihe Wefen zu be- 
trachten, die von beftimmten Punkten des Raumes aus durch ihre 
Kräfte ein beftimmtes Maß der Auspehnung beherrihen, ohne 
es doch im eigentlihen Sinne zu erfüllen. Durch ihre Wechfel- 
wirfungen würden dieſe unausgedehnten Punkte ſich ihre Ent- 
fernungen von einander und ihre gegenfeitige Lage vorzeichnen, 


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und fie würden bierdurd die Umriffe einer Raumfigur ebenſo 
beftimmt und fiher umfchreiben, al8 wenn fie das Innere Der- 
felben durch ftefige Ausdehnung einnähmen. Und denken wir an 
diefe einzelnen realen Punkte Kräfte der Anziehung und Ab— 
ftoßung nah außen gefnüpft, fo würden größere Zuſammen— 
häufungen derfelben durch ihren Wiberftand gegen eindringende 
Gewalt die Erfheinung einer greifbaren Körperlichfeit oder durch 
Zurückwerfung der Lichtwellen den Anblid einer farbigen Ober- 
fläche ebenfo gut gewähren, al8 wenn die wirffamen Weſen mit 
eigener ftetiger Ausdehnung den Raum erfüllten. Der Phyſik, 
welcher die Fleinften Theile nur als Mittelpunkte ausgehender 
Kräfte wichtig find, widerftrebt es nicht, diefen Schein einer aus— 
gebehnten Materie aus einfachen überfinnlichen Wefen abzuleiten; 
bie philofophifche Naturbetrachtung wird ſich zu diefem Berfuche 
genöthigt ſehen, denn er allein verbindet die NTorftellung von ber 
Einfachheit der wirklich legten Elemente mit der gleih unent- 
behrlichen Bormenmannigfaltigfeit der Atome, die wir als die 
nächſten Baubeftandtheile des Körperlichen vorausfegen müſſen. 


Welche Vorſtellung wir uns indeffen von der Natur der 
Atome bilden mögen: das mefentlichfte Bedürfniß der Natur: 
erflärung wird dieſes fein, allgemeine Geſichtspunkte zu finden, 
nach denen die Erfolge ihres Wirfens fi) an beftimmte Geſetze 
knüpfen lafien. Das deutlihe Bewußtſein über diefe Grundlagen 
ihrer Beurtheilung unterſcheidet die neuere Wiſſenſchaft völlig von 
der Atomiftil der Alten, Die in ihren Verſuchen, die Erſcheinungen 
aus wechlelnden Verbindungen der Elemente zu erklären, zmar 
überall die Gefetze des Wirkens, an bie uns der alltägliche An= 
blick der Naturereigniſſe gewöhnt hat, ftillfchweigend vorausſetzte, 
ohne doch dieſe Grundfäge abfichtlidh hervorzuheben und die 
Grenzen ihrer Gültigkeit zu unterfuden. Uns aber wird es nütz⸗ 
lich fein, zuzugeftehen, daß auch unfere Wiffenihaft Hierin noch 


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nicht vollendet ift, und Daß fie manche ihrer Grundfäge nur den 
Ausſagen der Erfahrung verdankt, mithin, Durch neue Erfahrungen 
vieleicht in Zukunft anders belehrt, ſich nicht jeder Umgeftaltung 
von vorn herein verfhließen darf. | 

Unbelannt bleibt und zunächſt das Innere der Atome. 
Allein welche inneren Zuftände und Beftrebungen wir aud immer 
in ihnen vorandjegen möchten, nie wird ſich Doch um ihretwillen 
das Einzelne von felbft in Bewegung fegen, ohne durch feine 
Beziehungen zu andern dazu genöthigt zu fein. Denn der Raum 
an fi umgibt jedes Atom gleichförmig von allen Seiten, und 
fein Punkt dieſer gleihgültigen Ausdehnung befigt einen Vorzug 
vor den andern, um beöwillen das ruhende Atom fih nad ihm 
aufmachen, oder das bewegte aus feiner Richtung nach ihm ab- 
Yenfen müßte; einer entjpridht der Natur des Atoms befier als 
ein anderer, fo daß es ihn fchneller auffuchte oder zögernder ver- 
ließe. Jedes ruhende wird daher, fo lange nicht äußere Einflüffe 
Hinzutreten, in Nube, und jedes bewegte in der Richtung und 
Geſchwindigkeit feiner Bewegung verharren, bi8 nen dazwiſchen 
wirfende Urſachen diefe hemmen oder ablenten. 

Diefes Gefet der Beharrung, das aller unferer Beurtheilung 
der Bewegungen zu Grunde liegt, bezeichnet gleihwohl einen 
Fall, der nie in diefer Reinheit vorfommt. Denn cben jene 
äußeren Urſachen, welche Richtung und Geſchwindigkeit des Fort- 
gangs ändern, fehlen in Wirklichleit dem Bewegten niemals. 
Das einzelne Atom umgibt der Raum nicht Ieer, fondern an 
unzähligen Punkten durch andere, gleichartige oder verſchiedene 
Atome bejegt. Zwiſchen ihnen allen, als Beftandtheilen derſelben 
Welt, dürfen wir einen Zuſammenhang gegenfeitiges Fürein- 
anderſeins vorausfegen, aus welchem eine unmittelbare Wechfel- 
wirkung ihrer innern Zuftände entfpringt. Aber diefe innern 
Erlebniſſe der Atome entgehen unferer Beobachtung völlig; nicht 
fie macht daher die Naturwiſſenſchaft zu ihrem Gegenftand, ſon⸗ 
dern nur die räumlichen Bewegungen, die ihr äußerer Abdruck 
und ihre Folge find. Zwiſchen zwei unveränderlichen Atomen 


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im leeren Raume Tann diefer Ausdruck ihrer inneren Wechlel- 
wirkung nur in Verkürzung oder Verlängerung ihres gegenfettigen 
Abſtandes befteben. Welcher von beiden Erfolgen in einem be- 
fiimmten Falle eintreten, ob alfo die Erfheinung einer Anziehung 
oder Abſtoßung entftehen wird, dies hängt von den umbelannten 
inneren Beziehungen der wechſelwirkenden Atome ab und kann 
deshalb nur durch Erfahrung von und gefunden werben. Nur 
auf deu vereinigten Eindrud der Erfahrungen können wir ferner, 
bis jegt wenigftens, die Negel gründen, daß die Lebhaftigfeit 
jever Wechſelwirkung mit der wachſenden Entfernung ber‘ wirken⸗ 
den Elemente von einander abnimmt, mit ihrer fleigenden gegen- 
feitigen Näberung wählt. Nach welchem bejonderen Maßitabe 
fie aber nach der wechſelnden Größe des Abſtandes fich richtet, 
auch Dies iſt far jeden einzelnen Fall nur nad den Ausſagen der 
Erfahrung zu entſcheiden; dieſe allein endlich belehrt uns über 
den Grad der Stärke, mit meldem überhaupt zwiſchen zwei 
Atomen von beftimmter Natur Anziehung oder Abſtoßung ſich 
entwickeln wird. 

Die Fähigkeit oder die Röthigung, eine beftimmte Wirkung 
hervorzubringen, Tiegt nach allem Erwähnten niemals in ber 
Natur eines einzelnen Atomes oder eines einzelnen Körpers fertig 
enthalten. Wie vielmehr die Nothwendigkeit eines Wirkens über⸗ 
Baupt nur aus der gegenfettigen Beziehung zweier Elemente ber- 
vergeht, jo Tiegt auch die Entfheibung darüber, ob das eine fid 
anziehend oder abftoßend verhalten werde, zugleich mit in ber 
Natur des andern, gegen welches es dieſe Thätigkeit vichtet; bie 
Größe des Einfluffes ferner, den jedes ausäbt, wird ihm theils 
durch daſſelbe Verhältniß zu der eigenthümlichen Natur feines 
Gegners, theils dur feine Entfernung von ihm, aljo durch 
augenblicklich obwaltende Umftände zugemefien. Allein obgleich 
auf dieſe Weife die beftimmte Kraft des Wirkens jevem Atom 
eigentlich exft im Augenblide feines Wirkens zuwächſt, fo pflegt 
doch die Naturwiſſenſchaft Die Kraft ale beftändig anhaftenn dem 
Atom zu bezeichnen. Ste verſchuldet dadurch allerdings Miß- 





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verftändniffe bet denen, welche den Sinn diefer Ausdrucksweiſe 
nicht in ihren Anwendungen verfolgen. Denn die Berfuhung 
Tiegt nahe, die Kraft, die dem Stoffe beftändig anhaften fol, 
als einen neuen und doc ftofflofen Stoff, als eine Eigenſchaft, 
die doch verborgen bleibt, als eine Thätigfeit in Ruhe, oder als 
ein Streben aufzufaffen, dem das Bewußtſein des Zieles ebenſo 
wie die Willführ des Handelns und die Wirklichkeit der Aus- 
übung fehle. Niemand würde diefelben Schwierigfeiten empfinden, 
fprähen wir etwa von ber Kraft unfered Gemüthes, zu haſſen 
oder zu Tieben. Wir wiffen, daß Liebe und Haß nicht von An- 
fang an fertig als folde im unferer Seele Liegen, wartend auf 
die Gegenftände, gegen die fie ſich wenden könnten; beide ent- 
wideln fi) in beftimmten Maße erft im Augenblide der Be— 
rührung unſeres Wefend mit einem fremden. Dennod dulden 
wir den Ausbrud, daß die Kraft des Haffes und der Liebe 
unferem Gemüthe eigen inwohne; wir wiffen, nichts damit fagen 
zu wollen, als daß die beftändige Natur unferer Seele, jo wie 
fie nun einmal ift, nothwendig unter dem Einfluffe beftimmter 
Bedingungen die eine oder die andere jener Aeußerungen ent- 
wideln merde. Mit demfelben Rechte des Ausdruckes verlegt 
auch die Naturbetrachtung die Fähigkeit zu einer Leiſtung, die ein 
förperliches Element nah Hinzutritt gewiffer Bedingungen er- 
wirbt, als eine vorher fertige Kraft der Anziehung oder Wb- 
ftoßung in deffen eigened Innere. Sie darf nicht beforgen, durch 
biefe Abkürzung des Ausdruds zu Irrthiimern in der Anwendung 
geführt zu werben; denn feine Anwendung des Begriffes der 
Kraft ift möglich, ohne Daß ın jedem Falle die wahre Sachlage, 
auf die fein Gebraud fi gründet, in anderer Form doch wieder 
berüdfichytigt würde. Wir ſprechen von den Atomen nicht, fofern 
ſie nicht wirken, fondern fofern fie wirfen; aber wir können von 
feiner Wirfung des einen fprechen, ohne das zweite zu erwähnen, 
von dem fie erlitten wird; und wir können zwiſchen dieſen beiden 
feine Anziehung oder Abſtoßung geichehen laſſen, ohne zugleich 
eine beftimmte gegenfeitige Entfernung beider im Anfangsaugen- 








45 


blick des Wirkens vorzuftellen und von Diefer die Größe der ent- 
widelten Kraft nad) einem erfahrungsmäßig befannten Gefege ab- 
zuleiten. So ift e8 daher für alle Anwendung gleichbedeutend, ob 
wir behaupten, daß aus den inneren Beziehungen der Elemente 
gegen einander jedem einzelnen die Nöthigung zu einer beftimmten 
Form und Größe der Wirkung erft im Augenblide unter dem 
Einfluß der vorhandenen Umftände entftehe, oder ob wir fagen,. 
daß von manderlei Kräften, die fertig, aber unthätig in dem 
Atome fhlummern, in jedem Augenblid diejenige zur Ausübung 
gelange, die in den eben vorhandenen Umftänden die Bedingungen 
ihrer Wedung und Acuferung finde. Doc hatte die Phyſik aller: 
dings Grund, die legtere Form des Ausdrucks als bequemer für 
die Anwendung vorzuziehen. 

Liegen die inneren Zuftände, Die vielleicht jedes Atom im 
Augenblide feines Wirkens erfährt, feine Natur fo verändert zurüd, 
daß e8 auf eine völlig gleiche fpätere Anregung anders zurückwirkte, 
al8 auf die frühere, jo würden wir von beftändig ihm anhaftenden 
Kräften nicht ſprechen können. Die Erfahrung hat im Allgemeinen 
eine ſolche Veränderlichkeit nicht Fennen gelehrt. Ein chemifches 
Element, nachdem es bald mit diefem bald mit jenem andern zu 
einer innigen Berbindung zufammengetreten und aus derfelben 
wieder ausgeſchieden ift, Eommt am Ende diefer Schidfale mit kei— 
nen andern Eigenfhaften wieder hervor, als die waren, mit Denen 
e8 in die erfte diefer Verbindungen eintrat. Und mo es fi etwa 
anders zu verhalten fcheint, Liegt der Grund der augenblidlich ver- 
änderten Eigenfchaften in der noch anhaltenden Fortwirkung der 
Borgänge, die feine legte Ausſcheidung begleiteten. Wie-viele und 
wie verſchiedene Zuftände alfo das Atom erfahren habe mag, 
immer gebt es aus diefen wechjelnden Lagen als völlig daſſelbe 
wieder hervor und erwirbt keine neuen Gewohnheiten, wie ſich deren 
in zufammengefegten Gebilden entwideln, noch zeigt jih in ihm 
eine Spur von Gedächtniß, Durch welches die vorübergegangenen 
Zuftände mit maßgebend für das Verhalten der Zukunft würden. 
Seine Wirkungsweise läßt fih daher voraus beftimmen, wenn wir 


46 


feine ursprüngliche Natur und die Summe aller augenblicklich noch 
fortwirtenden Bedingungen kennen, ohne daß es nöthig ift, den 
Berlauf der Gefchichte zu berüdfichtigen, welche e8 zwiſchen zwei 
Zeitpunkten erlebt hat, Diefe beftändige Rückkehr zu gleichem Ber- 
halten unter gleihen Bedingungen ift es eigentlich, worein wir 
Die Unveränberlicleit der materiellen Atome fegen. Denn nicht 
dies blrfen wir behaupten, daß ihre Natur überhaupt niemals 
Beränderungen ihrer inneren Zuſtände erfahre; aber diefe Verän- 
derungen erlöfchen, wenigftend was ihren Einfluß auf das DVer- 
halten nach außen betrifft, mit dem Aufhören ihrer äußeren Be— 
dingungen, und überall wo die legten genau zu einer früheren Eon- 
ftellation zurückgekehrt ſind, kehrt auch das Atom zu demjenigen 
feiner Zuftände, der diefer entſprach, mit vollfommener Elafticität 
zurück und tritt num wieder ald diefelbe Kraft oder Diefelbe Laſt, 
wie damals, in das Spiel der weiteren Wechſelwirkungen ein. 
Unfere Kenntniß der Erfcheinungen ift nicht jo umfaſſend, daß 
wir wagen dürften, dieſe Unveränderlichkeit als eine durchaus all- 
gemeine Eigenſchaft aller Naturelemente auszufpreden. Es ift wohl 
möglih, daß in Gebieten, in denen wir noch am Anfange der 
Unterfuhung ftehen, Andeutungen einer fortfchreitenden inneren 
Entwidlung der Atome fi} ergeben. Allein wie die bisherige 
Erfahrung eine Nothwendigkeit diefer Annahme nicht fühlbar ge- 
macht hat, fo läßt fih auch im Allgemeinen leicht überfehen, daß 
wenigftens in beſchränkter Ausdehnung die Unveränderlichfeit der 
Elemente immer ihre Geltung wird behaupten müffen. Denn ein 
Bau der Natur, in weldent die Gattungen der Geſchöpfe ſtets 
diejelben Geftalten und dieſelbe Gliederung ihrer gegenfeitigen 
Berhältniffe, der Lauf der Ereigniffe im Großen ftet8 dieſelben 
Umriffe forterhalten fol, ift nicht denkbar, wenn die Elemente jelbft, 
aus denen dieſe Mannigfaltigkeit ſich ſtets von neuem erzeugen 
fol, auch ihrerſeits einer beftändigen Veränderung unterliegen. 
Bielleiht duchläuft nun in der That die ganze Natur eine fort- 
ſchreitende Entwidlung; aber fo groß ift nach dem Zeugniß der 
Erfahrung ihre Beftändigkeit- Doch immer, daß wir alle Zeiträume 


47 


ihres Daſeins, die wir geſchichtlich Überbliden können, nur unter 
der Borausfegung unveränderlidder Elemente verftehen, Die nad 
jevem abgekhloffenen Umlauf der äußeren Bedingungen ebenfalls 
auf den anfänglichen Zuftand ihres Weſens zurückkommen und fo 
der Erneuerung deſſelben Spieles die alten Anknupfungspunkte 
wieder verfchaffen. 


Bietet num diefe Annahme die allgemeinfte Grundlage für 
Die Vorherbeſtimmung eintretender Wirkungen, jo hat die Erfah- 
rung ebenſo Die ausgedehnte Gültigkeit einer andern Vorausfegung 
beftätigt, nach der wir die Erfolge beurtheilen, die aus dem Zu- 
ſammenwirken mehrerer Bedingungen an demfelben einfaden Ele- 
ment entſtehen. Die Bewegung, in der cin Atom ſich bereits be⸗ 
findet,. hindert nicht die Annahme einer zweiten; nicht wiberftre- 
bend ober nur zum Theil, ſondern jo vollfommen genügt das be> 
wegte Atom auch dem andern Antriebe, als wäre die frühere Be= 
wegung in ihm nicht vorhanden gewefen, und die Geſchwindigkeit, 
bie e8 im Ganzen erlangt, ift die vollftändige Summe der eins 
zelnen Geſchwindigkeiten, die ihm durch diefe verfchiedenen Kräfte 
nad; gleicher Richtung mitgetheilt werden. Denken wir num dieſe 
mebreren Kräfte als völlig gleich unter einander und verbinden fic 
in beliebigen Mengen zu der Vorftellung von Gefammtlräften, 
deren Größe wir dann nad) der Anzahl der einfachen und glei- 
den Auftöße ſchätzen, die jede von ihnen in ſich vereinigt, jo läßt 
ſich dem Borigen leicht der Sag entnehmen, daß die Geſchwindig⸗ 
feiten, die durch verfchtedene Kräfte demſelben Element mitgetheilt 
werden, fi; wie die Größen Ddiefer erzeugenden Kräfte felbft ver- 
halten. Erneuert ferner eine Kraft, ftetig wirkend, in jedem 
Augenblide venfelben Anftoß, den fie im vorigen gab, jo wird die 
erzeugte Geſchwindigkeit im Verlauf der Zeit durch Die beftändige 
Summirung der fpäteren Eindrüde mit den nach dem Gejege ber 
Trägbeit fortbauernden früheren wachſen und die Bewegung wird 


48 


in jene beſchleunigte übergeben, die wir unter Anderem in dem 
Falle der Körper durch die ſtetige Anzichung der Erde entſtehen 
ſehen. Verſuchen endlich verſchiedene Kräfte mit verſchiedenen Ge- 
ſchwindigkeiten und Richtungen daſſelbe Elcment gleichzeitig zu be= 
wegen, jo wird e8 aud) bier keineswegs, der einen allein gehorchend, 
fih den andern entziehen, fondern den Antrieben aller zugleich ge— 
nügen. An dem Ende eines beftimmten Zeitraumes befindet fich 
daher das Element durch das Zufammenmwirken zweier Kräfte an 
demfelben Orte, den e8 erreicht haben würde, wenn c8 beiden nach 
einander geborchend fich zuerft in der Richtung der einen, und 
während eines zweiten gleichen Zeitraumes von dem nun crreich- 
ten Orte aus in der Richtung der andern Kraft bewegt hätte. 
Sudt man nad) derfelben Vorausfegung die Orte auf, an denen 
ſich das Bewegte am Ende des erften, des zweiten und jedes fol- 
genden unendlich Heinen Abſchnittes jenes Zeitraumes befindet, fo 
bezeichnet die Linie, welche diefe Punkte unter einander verbindet, 
Die gerade oder Frummlinige Bahn, die das Element unter dem 
Zuſammenwirken beider Kräfte wirklich durchläuft. Sie zieht ſich 
in einen Punkt zufammen und da8 Element ruht, wenn die Sum- 
men der Kräfte gleich find, Die es nad) entgegengefegten Richtungen 
treiben. 

Findet endlich zwiſchen zwei Elementen die Nothmendigfeit 
einer Wechſelwirkung einmal ftatt, fo findet fie ganz ebenfo ftatt, 
wenn dem einen nicht mehr eines, fondern eine Mehrheit gleich- 
artiger, einzeln oder zu einer Maffe vereinigt, gegenüberftcht. ‘Die 
Empfänglicfett für Wechſelwirkung ift auch bier nicht fo erichöpf- 
bar, daß das eine Element feinen Einfluß ‚nur auf eine beftimmte 
Anzahl anderer erftreden oder die Größe deſſelben zwifchen Diefe 
vertheilen müßte. Welches vielmehr auch die Anzahl diefer feiner 
Gegner fein mag, zwiſchen ihm und jedem einzelnen derſelben ent- 
ſpinnt ſich die Wechfelwirkung ganz ebenfo, wie fle ausfallen witrde, 
wenn alle übrigen nicht vorhanden wären. Jedem derfelben ertheilt 
daher das eine Element, und von jedem derfelben empfängt es ein= 
mal die Gefhwindigfeit, die Überhaupt der Wechſelwirkung zwiſchen 


49 


Atomen ſolcher Gattung entfpriht. Es ſammelt alfo ebenfo viel- 
mal in ſich ſelbſt diefe Geſchwindigkeit, als die Maſſe feines Geg- 
ners ihm felbft gleiche Elemente vereinigt, deren jedem es einmal 
diefelbe Geſchwindigkeit mittheilt. Nennen wir daber Größe der 
Bewegung das Product aus der Gefchmwindigkeit in Die Anzahl 
der gleichartigen bewegten Theile oder in ihre Mafle, fo erhält 
jedes der beiden Glieder eined wechſelwirkenden Paares Diefelbe 
Dewegungsgröße, jedes mithin eine Geſchwindigkeit, welche wächſt, 
je größer fein Gegner und je Heiner feine eigne Maſſe if. Die- 
je8 Geſetz der Gleichheit der Wirfung und Gegenwirkung geftattet 
in Berbindung mit dem Borigen eine Beftimmung ber Bahnen, 
welche ungleih große Maſſen, fie mögen urſprünglich in Ruhe 
oder in Bewegung gewefen fein, durch ihre gegenfeitigen Kräfte 
einander vorfchreiben. 

In allen diefen Regeln der Bertheilung zuſammengeſetzter 
Ereigniſſe liegt die allgemeine Vorausſetzung, daß die Wechſelwir⸗ 
kung, in welcher ſich ein Element mit einem zweiten befindet, kei⸗— 
nen Einfluß auf das Gefeg ausübe, nach welchem es gleichzeitig 
in Wechfelwirkung mit einem dritten treten fol. Nicht die Wir- 
kungsweiſe der einzelnen Kraft fondern nur ihr Erfolg wird dur 
das Zufommentreffen mit andern gleichzeitig einwirkenden verändert ; 
denn in dem Erfolge allerdings müſſen die entgegengefchten An- 
triebe verſchiedener Kräfte, denen dafjelbe Element nicht gleichzeitig 
folgen Tann, fi aufheben, die übrigen aber zu einer mittleren 
Sefammtleiftung ſich zufammenjegen. Diefe Borausfegung nun 
ift Die einfachfte und günftigfte fir die Beftimmung der Effecte, 
die das Zuſammenwirken mehrerer Bedingungen heroorbringt; denn 
fie geftattet, die Leiftung jeder einzelnen Kraft zunächſt für ſich 
und ohne Nücdficht auf die Übrigen zu berechnen, und dann die 
gefundenen einzelnen Erfolge zu einem Endergebniß zu verbinden. 
Und demfelben Grundgedanken würde man ferner zu folgen geneigt 
fein, wenn man angenommen bätte, daß nicht allein der Größe 
fondern aud der Art nad verſchiedene Kräfte ſich gleichzeitig am 
demfelben Atome begegneten. Auch bier wiirde man vorausſetzen, 

Loge J. 3. Aufl. 4 


50 


daß ihre Kreuzung nicht die einzelnen Gefege ändere, nach denen 
das Element gegen jede derfelben einzeln zurückwirkt oder von ihr 
leidet; nur im Erfolge würden auch hier fih die entgegengefegten 
Leiftungen aufheben, die von den verjchiedenen Kräften ihrem ge= 
meinſchaftlichen Objecte zugleich zugemutbet werden. Aber wir 
würden do in der That nicht angeben fünnen, wie weit bie 
Gültigkeit dieſer Vorftellungsmeife reiche. Denn jene Gleihgültig- 
feit, mit welcher verſchiedene Kräfte in demfelben Element neben 
einander wirken, ohne fich gegenfeitig zur Veränderung ihres Stre— 
bens zu veranlaffen, tft Feine an fi nothmwendige Annahme; fie 
kann im Gegentheil unter mehreren möglichen als die unmwahr: 
ſcheinlichere gelten. 

Berbindet zwei Perfonen gegenfeitige Zuneigung, und fteht 
jede für fih in gleich freundlichem Verhältniß zu einer dritten, 
io Laßt doch nicht immer der Hinzutritt der legten die Gefinnungen 
zwifchen den beiden erften unverändert; er wandelt eben fo oft 
ihre frühere Freundſchaft in Zwiefpalt um, oder die früher ent- 
zweiten vereinigen fi) zu gemeinfamer Abftogung des Dritten. 
Diefes Beifpiel, aus einem ganz fremdartigen Gebiete entlehnt, 
hat vieleicht Feine tiefer Tiegende Aehnlichkeit mit dem einfachen 
Falle, der uns beſchäftigt, aber c8 erläutert anfhaulich, was wir 
nun ohne Gleichniß allgemein ausprüden können. ‘Denken wir die 
Wechſelwirkungen der Dinge nit äußerlih an fie geknüpft, fon- 
dern, wie wir müffen, von Veränderungen ihrer inneren Zuftände 
entweder abhängig oder Doch begleitet, fo ift jedes Element im Augen= 
blide feines Wirkens im Grunde ein anderes, als e8 vorher war, 
oder nachher fein wird. Wohl kann ed nun fein, daß dad Geſetz, 
nad dem c8 aus feinem unthätigen Zuftande heraus mit einem 
zweiten in Wechſelwirkung getreten fein würde, auch jest noch für 
das ſchon thätige Element gültig bleibt; denn die Veränderung 
des inneren Zuftandes, die mit feinem Wirken verbunden ift, 
braucht nicht nothmwendig jene Züge feiner Natur anzutaften, auf 
denen feine Unterordnung unter dieſes Gefeg beruhte. Und dann 
wird der erwähnten Annahme gemäß jede neue Wechſelwirkung 





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ebenfo beginnen, als wäre die frühere nicht vorhanden. Aber 
gewiß iſt e8 im Allgemeinen ebenjo denkbar, daß eine fchon vor 
fih gehende Thätigfeit den innern Zuftand des wirkenden Elementes 
zu weſentlich abändert, ald daß es nun gegen ein anderes ſich 
nach dem früheren Gejege feiner Wirkfamfeit noch ferner äußern 
könnte. Denn die Kräfte, wie wir gefehen haben, find nicht un- 


zerſtörbare Eigenthiimlichfeiten, die ohne Rückſicht auf alle Verhält⸗ 


niffe an der Natur eines Elemente beftändig haften; fie und 
ihre Gefege find nur Ausdrücke jener Nöthigungen zur Wechfel- 
wirkung, bie für die Dinge allemal erft aus ihren gegenfeitigen 
Bezichungen entfpringen. Aendern fih die inneren Zuftände ber 
Dinge, jo können mit ihnen dieſe Beziehungen fi ändern, und 
fo fih Antriebe zu neuen anders geftalteten Wirkungen, alfo neue 
Kräfte oder neue Gefege derfelben entwideln. Ohne Zweifel Dürfen 
wir e8 daher als einen möglichen Gedanken bezeichnen, daß auf 
eine freilich ſelbſt geſetzliche Weife fih auch das Wirkungsgefet 
einer einfachen Kraft mit den wechſelnden inneren Zuſtänden ihres 
Trägers ändere. 

Die Erfahrung hat allerdings in den Gebieten, die einer ge= 
nauen Theorie bisher zugänglich geweſen find, kaum noch Spuren 
gezeigt, welche auf eine praftifche Wichtigkeit Diefer allgemeinen 
Betrachtung hindeuten; dennoch müffen wir die Unveränderlichkeit 
der Wirkungsgefege, fo weit fie vorkommt, als eine jener Erfah- 
rungsthatſachen betrachten, welche uns über die Grundzüge des 
wirklichen Weltbaues aufklären, aber wir dürfen fie nicht für eine 
an ſich nothiwendige Einrichtung anfehen, die in jeder Natur, 
oder auch nur in diefer Natur uneingeſchränkt vorfommen müßte. 
Und nod weniger würden wir und erlauben dürfen, ſie ſtillſchwei⸗ 
gend auch auf das Gebiet des geiftigen Lebens überzutragen, als 
habe fie ein Recht, ohne befondere Beftätigung der Erfahrung 
fir die allgemeine Regel in allen Ereigniffen überhaupt zu gelten. 
Raum ift e8 endlich nöthig hinzuzufügen, daß überhaupt von ihr 
nur in Bezug auf jene einfachen Kräfte die Rede fein kann, die 
wir der Natur eines einzelnen Elementes in feinem Verhältniß 

“ 


52 


zu einem zweiten beftändig zufehreiben. Die Gejammtleiftungen 
größerer Verbindungen von Elementen find dagegen natürlich von 
ber Berbindungsweife diefer Beftandtheile abhängig, und feine 
allgemeine Regel würde fi über die Veränderungen aufftellen 
laſſen, die ſolche Kräfte durch die mannigfachen möglichen Ber- 
ſchiebungen der verbundenen Elemente erleiden fünnen. Manches 
kann in einem fo zufammengefetten Syſtem durch äußere Eindrücke 
unheilbar zerrüttet werben, und die Rückkehr derjelben äußeren Be— 
dingungen würde ihm nicht bie Fahigkeit zu derſelben Rüdwir- 
fung wiedergeben, die e8 unter gleichen Bedingungen früher ent- 
faltete. Bon den einfadhen Elementen dagegen würden wir eine 
folde Abnutzung ausfchliegen, und felbft wenn die erwähnte 
Beränderlichkeit ihrer Wirkungsweise: ftattfände, würden mir doch 
immer voraußfegen, daß jeder Wiederholung einer völlig gleichen 
Conftellation der äußern Beringungen auch eine Wiederkehr der 
nämlihen Wirkungsgeſetze entſpreche. 

Von ſolchen Grundlagen ausgehend hat die Wiſſenſchaft Er— 
klärungsgründe für die Naturereigniſſe entwickelt, indem ſie dieſen 
allgemeinen Sätzen beſtimmte, den erfahrungsmäßig vorkommenden 
Verhältniſſen möglichſt angenäherte Combinationen von Umſtänden 
unterordnete und die Erfolge berechnete, welche die vorhandenen 
Kräfte unter diefen Umftänden beroorbringen müffen. Sie ift 
hierdurch theils zur vollftändigen Aufbellung einzelner Kreife von 
Erſcheinungen, theils wo die zu große Anzahl mitwirkender Be- 
dingungen ihre unmittelbare Berechnung erſchwert, wenigftens zu 
allgemeinen Geſichtspunkten gefommen, durch welche Die zu erwar- 
tenden Erfolge in gemwiffe Grenzen eingefchloffen werden. So 
würde ſich aus der Gleichheit von Wirkung und Gegemvirfung 
leicht die Folge entwideln laſſen, daß die inneren Wechſelwirkungen 
eined verbundenen Maſſenſyſtems zwar feine Form, aber nicht 
feinen Ort im Raume ändern können, oder daß bei allen inneren 
Beränderungen eined Syſtems doch fein Schwerpunft in Ruhe 
bleibf, wenn er in Ruhe war, over ohne Veränderung feiner _ 
Richtung und Geſchwindigkeit eine ihm früher eigene Bewegung 





53 


fortfegt. Jeder Ortöwechjel, der durch die eigenen Kräfte eines 
Körpers eingeleitet wird, fest daher die Wechſelwirkung mit ir- 
gend einem Xeußeren voraus, das als Stügpunft oder richtunge 
beftimmender Widerftand dient. Die Betrachtung des Lebens, 
der wir zueilen wollen, nöthigt uns nicht, in dieſe Einzelheiten 
der phyſikaliſchen Dynamik: einzugehen; fie veranlaßt uns dagegen, 
noch einige andere Bemerkungen über die Auffaffungsmeifen der— 
felben hinzuzufügen. 

In unferem geiftigen Leben finden wir die Größe vieler 
Thätigkeiten von der Zeit abhängig; das Intereffe des Gefühls 
an ben Gegenftänden, die Klarheit der Vorftellungen, die Kraft 
des Willens: fie alle fcheinen ohne neue Anregungen im Laufe 
der Zeit abzunchmen. Der gewöhnlichen Meinung muß es daher 
am wahrfcheinlichften vorkommen, daß jede Wirkung überhaupt, 
mithin auch die Acußerung jeder Naturkraft einer folden allmäb- 
Iihen Ermüdung und Erſchöpfung unterliege. Daß eine mitge- 
theilte Bewegung am Ende von felbft aufhöre, ift deshalb lange 
die gewöhnliche Borausfegung geweſen und das Geſetz der Behar- 
rung erſchien ihr gegenüber als eine fonderbare Entvedung ber 
Wiſſenſchaft. Auch in dem Geifte ift es natürlich nicht Die Zeit 
ſelbſt, welche die Kraft der Thätigfeit verzehrt, ſondern die vielfachen 
Ereigniffe, die ſich in ihm beftändig kreuzen, hemmen durch ihre 
wechfelfeitigen Einfläffe die ungefchmälerte Fortdauer jedes einzel- 
nen. In den einfachen Elementen der Natur findet entweder 
biefe Vielheit innerer Zuftände nicht ftatt, oder fie äußert feinen 
Einfluß ähnlicher Art; denn fo weit wir bie Geſchichte der Er⸗ 
ſcheinungen überbliden innen, find die Kräfte gleicher Maſſen 
zu allen Zeiten diefelben geweſen. Keine von ihnen nimmt nur 
um deswillen ab oder zu, weil fie bereitö eine Zeit hindurch ge= 
wirft bat, und wie fie feine Erſchöpfung erfährt, fo erwirbt auch 
feine durch Wiederholung ihrer Ausübung eine Gewohnheit des 
vollfonnnneren Wirkens. Fur jede Fähigkeit zu einer Leiftung, die 
wir irgendwo neu entftehen fehen, werben wir daher den Grund 
in einer neuen Ocftaltung der veränderlicen Umftände fuchen 


54 


müffen, durch welche den ftet8 gleichen Kräften Hinderniffe ihres 
Erfolges binweggeräumt oder früher fehlende Bedingungen ihrer 
Aeußerung gewährt worden find; für jedes ſcheinbare Erlöſchen 
einer Kraft werben wir ebenfo den Grund in Veränderungen ber 
gegenfeitigen Beziehungen der wirkenden Maffen fuchen, die ent- 
weder die fernere Aeußerung durch Widerftand aufheben, oder fie 
dur Bertheilung auf einen wacjenden Kreis von Objecten für 
unfere Beobachtung unmerflih machen. Für jede Erklärung eines 
[päteren Zuftandes muß daber das Fortwirken des früheren mit 
dem Werthe, den er augenblidlih noch hat, als die eine, und 
bie Summe aller neu eingetretenen Umftände als die andere 
Mitbedingung des neuen Erfolged in Anfchlag gebracht werden. 

Man fieht, wie wir durch diefe Betrachtungen mit Nothiwen- 
digkeit dahin geführt werben, jede VBeränderlichfeit der Wirkungs- 
weife, jeve Mannigfaltigfeit der Entwidlung und alle Vielſeitigkeit 
der Aeußerungen, die wir in irgend einem Naturgebilde antreffen, 
theil8 auf innere Bewegungen, durch welche die Beziehungen feiner 
eigenen Theile raſtlos umgeftaltet werben, theils auf wechſelnde 
Berhältniffe zurüdzuführen, die c8 mit der Außenwelt verknüpfen. 
Daft Alles aber, was in der Natur unfere lebbaftefte ZTheil- 
nahme feffelt, gehört zu dieſem Gebiete der veränderliden Er- 
[heinungen, und unter allen zieht am meiften das organifche Leben 
und Die in einander greifende Ordnung der Ereigniffe im Großen 
unfere Aufmerkſamkeit an. Unvermeidlih muß die Wiſſenſchaft 
auch Über diefe Erfheinungen jene Grundfäge ihrer Unterfuhung 
ausdehnen, und ebenfo unvermeidlich wird fie vorübergehend wc= 
nigftend den böfen Schein auf fih nehmen müſſen, als gewährte 
fie der fuchenden Phantafie nirgends ein Inneres, nirgends wahre 
Lebendigkeit. Denn wenn unfer unbefangenes Gemüth eben da⸗ 
rum das Bild des Lebens verehrt, weil e8 in aller feiner Man— 
nigfaltigfeit doch nur die zufammenbängende Fülle Eines Wefens, 
in aller beweglichen Bielfeitigfeit feiner Entwidlung nur die all: 
mähliche Entfaltung eines und deſſelben unverlierbaren Charakters 
fieht: fo können wir nit leugnen, daß die Wiffenfchaft allerdings 


55 


den Werth diefes ſchönen Bildes vernichtet, indem fie feine ein- 
zelnen Züge aus vielerlei zerftreuten Bedingungen, die nicht von 
einander wiffen, zufammenfegt. Die Dinge leben nicht mehr 
aus fi heraus, fondern durch die wechſelnden Umftände wird an 
ihnen ein veränderliches Geſchehen hervorgebracht, das wir zwar 
ihr Leben noch nennen, ohne doch das angeben zu können, was 
als Einheit dieſen Wirbel neben einander ablaufender Ereigniſſe 
zu einem Ganzen innerlich verſchmölze. Dieſer Vorwurf einer 
äußerlichen, muſiviſchen Zuſammenſetzung deſſen, was nur aus 
einem Guſſe hervorgehend für uns Werth zu haben ſcheint, iſt 
den Erklärungsverſuchen der Naturwiſſenſchaft nic erſpart worden 
und wir ſind weit davon entfernt zu verlangen, daß er nicht ge— 
macht werde. Denn dieſe Stimmen ſind es immer geweſen, deren 
Zuruf die Unterſuchung, wenn ſie mühevoll durch die Verwicklungen 
der einzelnen Erſcheinungen ſich hindurch kämpfte, an die großen 
Ziele erinnerte, um deren willen allein ihre ganze Bemühung 
menſchliches Intereſſe hat; ſie haben überall die Ausſicht auf 
einen unermeßlichen Geſichtskreis von Neuem eröffnet, wo die Be— 
friedigung, die wir aus der theilweis gelungenen Hinwegräumung 
ber nächſten Schwierigfeiten fchöpfen, uns zu vorzeitigem Abſchluß 
unferer Anfichten verleiten wollte. Aber indem wir auf das Aus: 
drüdlichfte Die volle Berechtigung diefer Einwürfe anerkennen, 
müflen wir doch Hinzufügen, daß es Feiner der Auffaflungsweifen, 
von denen fie am lebhafteften gemacht zu werden pflegen, biöher 
gelungen ift, mit Umgehung der Grunbfäge der mechaniſchen Na= 
turwiſſenſchaft gleich unbeftreitbare und eben jo fruchtbare Erfolge 
zu erringen, wie fic mit diefen Grundſätzen auf allen Gebieten 
der Naturerflärung bereit8 gewonnen worden find. Nicht durch 
eine Ablenkung von dem Wege, den wir bisher genommen, fondern 
durch feine Verfolgung bis zum Ende dürfen wir deshalb hoffen, 
auch diefer Sehnſucht des Geiſtes gerecht zu werben, welche zu- 
rückzuweiſen keineswegs in dem Sinne der mechaniſchen Natur: 
auffafſung Liegt. 

Denn mit Unrecht fügt man zu jenem Vorwurf, daß ſie Die 


56 


Einheit des Lebendigen ftöre, den andern hinzu, daß fie auch Die 
einfachen Elemente, aus deren Verbindung fie Alles berleite, noth⸗ 
wendig als lebloſe und innerlich weſenloſe Punkte betrachte, an 
die nur äußerlich Kräfte mannigfadher Art gefnüpft feien. Sie 
enthält fich vielmehr nur der Behauptungen, die für die Erreihung 
ihrer nächften Zwecke unnöthig find; und für ihre Zwecke allerdings 
reicht fie mit jener Annahme aus, welche die Atome lediglich als 
Anfnüpfungs- und Mittelpunfte aus- und eingehender Wirkungen 
betrachtet. Denn nachdem uns die Erfahrung gelehrt bat, daß 
die inneren Zuftände der Atome, wenn fie deren erfahren, doch 
feinen umgeftaltenden Einfluß auf die Gefeglichkeit ihres Wirken 
äußern, dürfen wir diefelben aus der Berechnung der Erfcheinungen 
weglaffen, ohne fie deshalb aus dem Ganzen unferer Weltanficht 
überhaupt verbannen zu müſſen. Im Gegentheil würde eine 
weiterfortgehende Meberlegung uns bald zu dem Gedanken zurüd- 
führen, den wir der bißherigen Darftellung überall fogleich zu 
Grunde gelegt haben, zu dem nämlich, daß Kräfte fih nit an= 
nüpfen laſſen an ein Ieblofes Innere der Dinge, fondern daß 
fie aus ihnen entfpringen müffen, und daß Nichts ſich zwiſchen 
den einzelnen Wefen ereignen kann, bevor fih Etwas in ihnen 
ereignet hat. Alle jene äußerlichen Begebenheiten der Verknüpfung 
und Trennung werden daher auf einem innerlichen Leben der 
Dinge berufen oder in einem foldhen ihren Widerhall finden, 
und wenn die Naturwifjenfchaft die Einheit zufammengefester Ge⸗ 
bilde duflöſt, jo wird doch jedes einzelne Element des Moſaiks, 
das fie an ihre Stelle fest, ein lebendiger und innerlich erregter 
Punft fein. Ich bezweifle nicht, daß dieſer Erſatz, der einzige, 
den wir zunächſt bieten zu können fcheinen, nicht blos für einen 
kärglichen, fondern Vielen felbft für einen unmöglichen gelten 
wird. Meberlafien wir e8 den fpäteren Betrachtungen, ſowohl feine 
Möglichkeit nachzuweiſen, als zu zeigen, daß feine Bedeutung doch 
weit größer ift, als fie ſcheint. Vielleicht finden wir auch, daß 
nod in einem andern Sinne aud für uns jene zufammenfaffende 
Einheit der auseinanderfallenden Ereigniffe möglich ift, ohne daß 














57 


wir genöthigt werden, die Geltung der mechanischen Natunviflen- 
{haft zu leugnen, zu deren Anerkennung wir willig oder wider 
willig doch immer wieder durch den Geſammteindruck unferer 
Beobachtungen zurüdgezwungen werben. 


Drittes Kapitel. 
Der Grund bes Lebens. 





Die chemiſche Vergänglichlelt des Körpers. — Wechſel feiner Veſtandtheile. — dort⸗ 
pflanzung und Erhaltung ſeiner Kraft. — Die Harmonie ſeiner Wirkungen. — 

Die wirkſame Idee. — Zweckmaͤßige Selbſterhaltung. — Reizbarkeit. — Die Nas 

ſchinen der menſchlichen Kunſt. — 

Nur langſam haben auch in unſerer Zeit die Grundſätze, 
welche wir ſchilderten, Eingang in die Betrachtung des Lebendigen 
gewonnen. Die planvoll aufſteigende Geſtalt der Pflanze und 
bie unberechenbare Regfamleit des Thieres ſchied eine zu große 
Kluft von der Starrheit und Negellofigfeit ihres unorganifchen 
Wohnplatzes, als daß die unmittelbare Anſchauung noch ein Gefühl 
weſentlicher Gemeinſchaft zwiſchen beiden Gebieten der Wirklichkeit 
erwedt hätte. Mit der Mannigfaltigfeit ihrer inneren Gliederung, 
Die cine Fülle der verfchiebenartigften Zuftände in fefter Ordnung 
aus fi entwidelte, überwältigte die Erfheinung des Lebens die 
Einbildungskraft; Fein Zweifel ſchien übrig, daß ein Kreis von 
Borgängen, defien Sinn und Bedeutung fo unvergleichlich Alles 
überragt, was Natur und Kunft außer ihm gefchaffen, unvergleich⸗ 
lich auch in feiner Entftcehung fein müſſe. So bildete fih jene 
Borftelung von einer eigenthämlichen Lebenskraft, deren weſent⸗ 
lichen Sinn wir früher ſchon gefchilbert, und deren einzelne Be⸗ 
hauptungen wir jet fo erwähnen wollen, wie fie den vordringenden 
Anfprüchen der mechanischen Naturauffaffung, fruchtlos wie uns 
ſcheint, entgegengeftellt werden. Wie groß aud der Unterfchieb 


58 


des Lebens von dem Unlebendigen in Bezug auf die Gedanken 
fein wird, zu deren Darftellung in der Welt der Erſcheinungen 
beide berufen fein mögen, fo wenig darf doch die Wiffenfchaft den 
urfächlihen Zufammenhang der Verwirflihung und Erhaltung des 
Lebens auf andere Geſetze und Kräfte zurückführen, als in der übrigen 
Natur gelten, aus der auch das Xebendige ſich entwidelt und in 
die e8 vergehend zurückkehrt. So lange jener Zuſammenhang 
obwaltet, den wir ſchon früher als den entſcheidenden Punft für 
unfere Anfichten hervorhoben, folange das Leben alle feine Mittel 
aus dem allgemeinen Borrath der Natur fchöpfen muß und nur 
an den Stoffen, die diefe darbietet, fi) entwideln ann, fo lange 
wird e8 alle Eigenthüimlichfeiten feiner Entfaltung nur der voll- 
ftändigen Fügſamkeit verdanken, mit der e8 fi) den Geſetzen des 
allgemeinen Naturlaufs unterwirft. Nicht durch eine höhere, 
eigenthümliche Kraft, die fich fremd dem übrigen Geſchehen über- 
ordnete, nicht durch unvergleichlih andere Geſetze des Wirkens 
wird das Lebendige ſich von dem Unlebendigen unterjcheiden, fon- 
dern nur durch die befondere Form der Zufammenorbnung, in 
Die es mannigfaltige Beftandtheile fo verflicht, Daß ihre natürlichen 
Kräfte unter dem Einfluffe der äußern Bedingungen eine zufam- 
menhängende Reihe von Erfcheinungen nad) denfelben allgemeinen 
Geſetzen entwideln müffen, nach denen auch fonft überall Zuſtand 
aus Zuftand zu folgen pflegt. So wenig wir nun bereits im 
Stande find, die ganze verwidelte Fülle der Lebensvorgänge in 
dem Geifte diefer Auffaffung vollftändig zu erflären, fo leicht wird 
ſich doch zeigen laſſen, daß die großen Umriſſe derjelben und die 
eigenthümlichen Gewohnheiten des Wirkens, durch welche das 
Lebendige ſich zuerſt unbedingt von dem übrigen Daſein zu un- 
terſcheiden ſchien, ihr nicht unbegreiflich ſind, und daß die An- 
ſichten, die noch immer ſich ihr entgegenſtellen, manche ber. Vor⸗ 
theile entbehren, die wir in der That bereits in der ſchärferen 
Beurtheilung des Einzelnen aus jenen Grundſätzen einer mechani— 
ſtiſchen Betrachtungsweife ziehen können. 





59 


Kaum irgend eine andere Erfcheinung ſcheidet für den Augen- 
fein jo beveutfam das Leben von dem Unlchendigen, wie ber 
Anblid der Verweſung, die den todten Körper verzehrt. Auf 
das eindringlichfte fcheint fie uns zu lehren, daß nur das über: 
mächtige Gebot einer höheren Kraft während des Xebens die 
Beftandtheile in ihrer Mifhung erhalte und den gegenfeitigen 
Berwandtichaften wehre, durch welche fie nach dem Tode in weit 
andere und einfachere Formen der Zufammenfegung übergeben. 
Und doc zeigt eine leichte Ueberlegung die Grundlofigfeit Diefer 
Bolgerung. Denn warum follten wir derſelben Erſcheinung nicht 
vielmehr den andern Schluß entnehmen, daß das Spiel des Lebens 
eben nur jo lange dauern könne, als die chemifche Znſammen⸗ 
fegung des Körpers ibm feine nöthigen Bedingungen darbietet, 
und daß die Berwefung des Todten nichts Anderes fei als die 
nun offenkundig beroortretende Störung dieſer Mifhung, bie 
vieleicht fchon Lange weniger bemerfbar die Bedingungen des 
Lebens erſchüttert Hat? Ueberredend wird diefe Folgerung in den 
dällen fein, in denen eine deutliche Krankheit, im Innern des 
Körpers entftanden, fein Leben vernichtet hat; aber die Verwefung 
ergreift, obgleich eimas langſamer, auch den Xeib, den ein ge= 
waltfamer Tod in der Fülle gefunden Lebens traf; und fo fcheint 
c8 doch wieder, al8 wenn die Mifchung der Beftandtheile, während 
des Lebens durch eine befondere Kraft aufrecht erhalten, mit dem 
Erlöſchen diefer Kraft nun erft den allgemeinen Gefegen der che— 
miſchen Thätigkeiten anbeimficle. 

Aber die nähere Beobachtung entdeckt doch in dem lebendigen 
Körper einen faum geringeren Wechfel feiner Beſtandtheile. Beftän- 
dig fehen wir durch mannigfaltige Tormen der Abſonderung 
Maffentheile aus ihm ausgefchieven werben, deren chemifche 
Zufammenjegung zwar nicht den Erzeugniffien der Verweſung 
gleich ift, aber ihnen weit näher fteht, als die Form, in welcher 
der lebenskräftige Körper feine Elemente verbindet. Zahlreiche 
Beobachtungen Ichren aber, daß ein großer Theil der Gewebe, 
aus denen der Iebendige Leib befteht, einer ununterbrocdenen 


60 


Wiederzerfegung und Neubildung unterliegt, und daß die Stoffe, 
die wir in den verfchtebenften Formen aus dem Körper austreten 
ſehen, zum Theil die Trümmer find, in welche biefe Berfegung 
das vormals Kebensfähige umgewandelt hat. Kein Grund nöthigt 
zu der Annahme, daß der Vorgang diefer Zerfegung während 
des Lebens anderen Gefegen folge, al8 denen, die auch nad) dem 
Tode das Zerfallen des Körpers beherrihen. Denn zu [ehr ver- 
fchieden find die bedingenden Nebenumftände, welche beide Vor— 
gänge begleiten, als daß wir nicht Leicht auf dieſe Die große Ver- 
ſchiedenheit in den Erfcheinungen ihrer Erfolge zurüdführen Könnten. 
Die beftändige Bewegung der Säfte gibt im lebenden Körper 
den zerfegten Beftandtheilen Gelegenheit, in Eleinen und unmerf- 
lichen Mengen den Abfonderungsorganen zuzuftrömen, durch welche 
fie der umgebenden Welt zurückgegeben umd die nachtheilige Wir- 
fung verhitet wird, die ihr längeres Verweilen im Körper für 
die Mifchung der übrigen Beftandtheile haben könnte. Zahlreiche 
geregelte Bunctionen führen ferner im lebendigen Körper zu ein- 
ander, was durch feine Wechſelwirkung den Beitand feines Baues 
fihern und feinen Wiedererfag befchleunigen kann; aber fie ent- 
fernen von einander das, deſſen Zufammentreffen chemische Proceffe 
weitergreifender Zerftörung anregen fünnte. So entfteht aus Zer⸗ 
fegung und Neubildung jener langſame Wechfel der Beftandtheile, 
der, auf lange Zeiten unmerflich vertheilt, und den Yebendigen 
Leib als ein beharrliches Bild ericheinen läßt. Alle diefe günftigen 
Umftände fehlen bem erftorhenen Körper. Mit dem Aufhören 
aller Functionen find die Wege geichloffen, auf denen das Zerftörte 
entfernt, neuer Erfag gemonnen werden fünnte; bewegungslos 
ſich anſammelnd wirken die ſchon in Zerſetzung begriffenen Stoffe 
länger aufeinander und zernagen die Scheidemände, die früher 
ihre wechfelfeitigen Berührungen hinderten; um ſich greifend und 
durch Feine Ordnung mehr geregelt, laufen die chemifchen Bor- 
gänge in das müßte Bild der Fäulniß zuſammen. Wie groß das 
Gewicht ift, Das dieſe fo abweichende Geftaltung der bedingenden 
Nebenumftände für den Verlauf des lebendigen Chemismus hat, 


61 


Davon überzeugen und noch außerdem die Beobachtungen mannig- 
facher Krankheiten, in denen der Aufhebung oder Schmälerung ein= 
zelner von jenen bewegenden und regelnden Verrichtungen fo 
häufig Erſcheinungen einer theilmeis beginnenden Verweſung des 
Körpers folgen. Sp nöthigt uns diefer Thatbeftand keineswegs, 
in dem Yebendigen Körper eine eigene befondere Kraft zu ſuchen, 
Die gegen das allgemein gültige hemifche Recht feine Beftandtheile 
in einer Mifhung erhielte, melde ihren natirlihen Neigungen 
widerftrebte. Er erlangt dieſes Ergebniß vielmehr, indem er, 
jenem Recht fig völlig unterwerfend, die Zerfegung beffen gewähren 
läßt, mas unter den vorhandenen Bedingungen feine Zufammen- 
fegung nicht aufrecht erhalten kann. Aber durch eine wohlgeoronete 
Reihe ineinandergreifender Bewegungen verhindert er den Nachtheil 
von Vorgängen, die er zu verbieten feine Macht hat, und erjegt 
wieder, was durch dieſe zerftört fich feinem Dienfte entzogen hat. 
Diefelben Gefege der chemiſchen Verwandtſchaft beherrichen daher 
ohne Zweifel den Zerfall des todten wie bie Fortdauer des leben- 
den Körpers, aber der trüben Fäulniß des erften gegenüber ift 
ba8 Leben cine organifirte Zerfegung, abhängig vonder Ordnung, 
in welcher unabläffig fortgehende Verrichtungen die Behjelwir- 
kungen der Stoffe allein verftatten. 

Und endlih: vielleicht hätten wir gleich mit dem Hin- 
weiß auf die Webertreibung beginnen müſſen, mit welder die 
Hinfälligkeit organifher Körper gefchildert wird. Das Holz 
der Bäume, aus dem wir umfere Gebäude unfere Geräthe 
unfere Schiffe zimmern, die Federn des Vogelflügels, mit 
benen wir biefe wunderlichen Behauptungen fhreiben, die 
thierifhen Häute, die unfere Körper gegen die Unbill des 
Wetter verteidigen: find fie wirklich unter unfern Händen 
in eiliger Zerfegung begriffen? Sie gehören im Gegentheil zu 
ben bauerhafteften Gebilden, die nur Yangjam den Angriffen 
der äußeren Bedingungen unterliegen, während zahlreiche Er— 
zeugniffe des unorganifchen Chemismus nicht davor beſchützt 
werben Fönnen, durch geringfügige Veränderungen der Tempe- 


62 


ratur, dur Zutritt von Luft und Wafler plögli in ihre Be— 
ftandtheile zerfprengt zu werden. Jene große Zerſetzlichkeit gehört 
daher nur denjenigen organischen Stoffen, auf deren leichte Ver— 
änberlichfeit der Plan des Lebens rechnen mußte; und felbft 
von ihnen bleibt e8 zweifelhaft, wie weit unter gewöhnlichen 
Umftänden ihre Zerfallbarkeit reiht und ob nicht erft die Ein- 
wirfung anderer Tebendiger Organismen, die auf ihre Koften 
fi zu entwideln ftreben, die Kraft bildet, weldhe ihren Zufam- 
menhang zernagt. | 
Das eigenthiimliche Spiel des Stoffwechſels, das wir vorhin 
nur als eine Thatſache zur Erklärung einer auffallenden Erſchei— 
nung benugten, werden wir fpäter in feinem Werthe für die Be- 
gründung bes Lebens kennen lernen; zunächft finden wir es von 
der gegnerifhen Anfiht als einen neuen Beweis für die eigen- 
thümliche Natur der Tebenskraft benust. Denn während in dem 
Gebiete des Unorganifchen jede Kraft an einer beftimmten Maffe 
hafte und mit dem Wachfen und Abnehmen derfelben gleiche Ber- 
änderungen erfahre, überdaure die Lebenskraft den Wechfel der 
Körperbeftandtheile und erfcheine über ihrer Vergänglichkeit als 
eine höhere und nicht an den Stoff gebundene beftändige Macht. 
Kaum würde jedoch diefe Meinung eine eigene Wiberlegung 
erfordern, wenn eine ſolche nicht Gelegenheit gäbe, zugleich die 
wirflihe Eigenthümlichkeit des Lebens deutlicher zu machen. 
Denn fie behauptet offenbar zu viel, wenn fie die Lebenskraft 
die Bergänglichkeit der Beftandtheile überhaupt überbauern läßt. 
Nur wenige Theile des Körpers können vielmehr in jedem Augen- 
blick der Zerfegung Hingegeben werben, ohne daß der Ablauf 
des Lebens geftört wiirde, für deſſen Fortdauer die unverhält- 
nißmäßig größere Menge jener Beftandtheile, die während Diefer 
Zeit in Mifhung und Berbindung unerjhüttert fortbeftehen, 
eine hinreichend feſte Grundlage darbietet. Die gewöhnlichſten 
Erfahrungen zeigen, daß dieſes Verhalten zu einfach ift, um 
als weſentliches Kennzeihen das Leben von dem unorganifchen 
Geſchehen zu unterjheiden. Der Zufammenhalt der Theile in 


63 


jedem Bauwerk pflegt groß genug zu fein, um die einftweilige 
Dinwegnahme eines fhabhaften Steines zu geftatten, ohne daß 
bis zu feinem Erſatz dur einen andern die Form des Baues 
in ihrem Fortbeftande bedroht wäre. Aber diefelben Beobachtungen 
lehren zugleich, daß die Theile des Gchäudes während ber Dauer 
biefer Erneuerung nicht diefelbe Laft zu tragen im Stande find, 
die fie in ihrer früheren Bollftändigkeit aushielten. Wo baher die 
Hinwegnahme eines Beftandtheild zwar die äußere Form eines 
- zufammengehörigen Syſtems von Maflen nicht ändert und vielleicht 
jelbft den Ablauf feiner inneren Bewegungen nicht ſichtbar umge⸗ 
ftaltet, da Tann fie doch die Widerſtandskraft des Syſtems gegen 
äußere Störung und die Größe der Leiftungen, die e8 ausführen 
fann, auf das Wefentlichfte beeinträchtigen. Wir haben feinen 
Grund zu glauben, daß in diefer Beziehung das Leben ſich anders 
verhalte. Denn was wir unmittelbar beobachten, befteht doch 
nur darin, daß die gewöhnliche Geſchwindigkeit, mit welcher der 
Stoffmechfel des gefunden Körpers vor fich geht, die Form feiner 
Lebensverrihtungen und die natürliche Reihenfolge derſelben nicht 
auffallend ändert; aber wir haben in den Erfcheinungen feinen 
Grund zu der Behauptung, daß aud die Größe der Wiberftands- 
kraft gegen äußere Einflüffe und die Fähigfeit zu lebendigen 
Leiftungen von den Schwankungen in dem Maffenbeftande des 
Körpers nicht berührt werde. So Yange allerdings Zerfegung 
und Wiedererfag in gleihförmigem Strome fortlaufend einander 
entfprehen, wird aud die Kraft des Körpers auf gleihmäßiger 
Höhe bleiben; wo dagegen der Stoffmwechfel in beftimmten Zeit 
räumen anwächſt oder abnimmt, da fehen wir auch Perioden 
geringerer oder größerer Wiverftandsfähigkeit gegen Störungen 
eintreten. Und zulegt lehrt die allgemeine Sterblichfeit der Ieben- 
digen Wefen, daß der beftändige Wechfel der Beftandtheile doch 
nicht immer von der Lebenskraft überdauert wird, ſondern daß er 
unvermeidlich aud ohne die Einwirkung äußerer Schädlichkeiten 
zu neuen Beziehungen zwifchen den Beftandtheilen führt, mit denen 
die Fortdauer des früheren Spieles der Bewegungen unvereinbar 


64 


wird. Nicht als ein Geift, der über den Waflern ſchwebte, wird 
daher die Lebenskraft fih in dem Wechſel der Maſſen erhalten, 
fondern die beftimmte Verbindungsmeife der Theile, die nicht mit 
gleicher Geſchwindigkeit vergehen, fondern von denen ein langfamer 
fih verändernder Stamm ſtets den geſetzgebenden Kern für die An- 
Ingerung des kommenden Erſatzes gewährt, wird die Fortfegung 
der Lebenserfcheinungen eine Zeit lang möglih machen, ohne 
doch ihr Ende zulegt verhüten zn können. 


Aber das neue Leben, das aus dem vergehenden ſich uner- 
ſchöpflich wieder entwidelt, erregt neue Zweifel; ohne eine Schwächung 
ihrer Stärke zu erleiden, vwertheilt fi in der Fortpflanzung bie 
Lebenskraft ber die neu erzeugten Organismen, während unorga- 
niſche Kräfte, über eine wachſende Menge von Stoffen verbreitet, 
jedem einzelnen nur mit dem Bruchtheil ihrer Stärke zu Theil 
werben, der ihrer Anzahl entfpriht. In der That nicht nur Feine 
Schwähung, fondern eine offenbare Vermehrung der Lebenskraft 
erbliden wir in den Rindern, neben denen das Leben der Eltern 
fortblüht. Aber nur der erfte Eindrud, nicht die nähere Betrach⸗ 
tung läßt uns bier Räthſelhafteres fehen, al8 in der unbelebten 
Natur vorgeht. Auch der Magnet theilt feine Kraft, ohne daß fie 
in ihm ſelbſt ſchwächer wird, vielen Eifenftäben mit; auch der 
flammende Körper fegt eine unbefchränfte Anzahl anderer in ben 
gleihen Brand ohne durch dieſe Mittbeilung zu erkalten. Nicht 
Kräfte überhaupt werden irgendwo, iwie eintheilbare Flüffigkeiten, 
die ihren Ort wechfeln könnten, von einem Stoffe auf den andern 
übertragen; in jedem Falle der Wechſelwirkung verſetzt vielmehr 
der eine den andern in veränderte innere und äußere Zuftänbe, 
unter denen feiner Natur neue Fähigfeiten des Wirkens zuwachſen, 
oder früher vorhandene von den Hinderungen ihrer Aeußerung be- 
freit werden. Ein Stoß, auf eine flarre Maſſe ausgeht, deren 
inneren Zufammenhang er nicht ändern Tann, wird diefer nur 
eine Ortöbewegung mittheilen, deren Geſchwindigkeit um fo Meiner 


65 


— 


ausfallen wird, je größer wir uns die Maſſe denken, auf welche 
der Einfluß des Stoßes ſich vertheilen muß. Die Wirkung wird 
ſich anders geſtalten, wenn derſelbe Stoß auf eine geringe Menge 
von Knallſilber ausgeübt wird, deſſen gewaltſame Exrplofion eine 
ungleich größere Zerſtörung in der Umgebung hervorbringen wird, 
als jener Stoß ſelber es vermocht hätte, wenn er unmittelbar auf 
dieſelbe Umgebung getroffen hätte. Unleugbar iſt hier durch die 
Dazwiſchenkunft der explodirenden Subſtanz eine große Vermeh⸗ 
rung der Kraft eingetreten. Sie entſtand, indem der urſprüngliche 
Stoß auch hier den Theilen jener Subſtanz unmittelbar nur die 
geringfügige Geſchwindigkeit mittheilte, die er auch jedem andern 
Körper von gleicher Maſſe gegeben haben würde; aber dieſe un: 
ſcheinbare Erſtwirkung traf bier auf Theilchen, denen nur eine 
ſchnelle gegenfeitige Annäherung nöthig war, damit die chemiſchen 
Berwandtichaften, Die zwiſchen ihnen längſt beftanden, die letzte 
nöthige Bedingung ihres Ausbrechens in eine geräuſchvolle Wirk: 
ſamkeit erhielten. So reiht. bier ein Kleiner Anftoß hin, um eine 
große Wirkung plöglich zu erzeugen; er wird auch hinreichen, um 
eine lange dauernde Reihe fi aus einander entwidelnder und zu 
großen Erfolgen anwachſender Vorgänge beroorzubringen, ſobald 
die Kräfte, die er aus ihrem Gleichgewicht Löfte, durch die natür- 
lichen Beziehungen der Theilden, an denen fie haften, nur zu 
einer allmählihen Abwidlung ihrer Erfolge befähigt find. 

So fehr daher die Fortpflanzung des Lebendigen durch die 


forgfältige Anordnung zufammenftunmender Thätigfeiten, welche fie 


vorausfest, ſtets unſere Bewunderung erweden wird, fo ift fie doch 
nicht aus jenem Grunde räthfelhaft, den wir vorhin für Die An- 
nahme einer eigenthümlichen Lebenskraft gelten gemacht fanden. 
Denn ihr wirklicher Hergang befteht doc nur darin, daß ein fehr 
unbebeutender Maffentheil des miütterlihen Organismus fih von 
diefem, mit defjen Lebensverrichtungen er in feimem wichtigen Zu— 
ſammenhange ftand, als Keim. eines neuen Geſchöpfes ablöft. 
Wollten wir felbft annehmen, daß auf ihn ſich ein Theil der Les 
benstraft feiner Erzeuger übertrüge, jo würde wenigfiene diefer - 

Lotze l. 3. Aufl. 


66 


Antheil verfhmwindend Fein fein; denn die Lebenskraft des Keimes 
finden wir urfpränglic eben fo Flein und fie erwächſt zur Größe 
einer erheblichen Leiftungsfähigkeit immer erft durch eine lange 
Entwicklung, in der fie ſich durch Herbeiziehung der Stoffe aus 
der Außenmelt verſtärkt. Nur meniged würde aljo auch im 
diefem Falle der erzeugende Organismus verlieren und gewiß find 
unfere Beobachtungen völlig unzureichend zu der Behauptung, daß 
diefer Meine Berluft nicht mit einer entfprechend Fleinen Schwächung 
ber elterlichen Lebenskraft verbunden fei. Aber e8 hat wenig 
Werth, einen Gedanken zu verfolgen, deſſen allgemeine Unmöglid- 
fett wir ſchon kennen gelernt haben; nicht Kräfte werden von einem 
zum andern mitgetheilt, fondern nur Bewegungen können übertragen 
oder Stoffe von einer größeren Berbindung zu felbftändiger Fort- 
erifteng abgelöft werden. Darauf wird daher alle Fortpflanzung 
beruhen, daß dem Erzeugenden die Herftellung eines Keimes möglich 
wird, der unbedeutend an Maſſe fih nur durch die forgfältig an- 
geordnete Derbindungsweife und Mifhung feiner Beftandtheile 
auszeichnet und nur durch fie befähigt wird, unter dem Einfluffe 
äußerer begünftigenden Bedingungen fih mit zunehmender Kraft 
in ein lebendiges Gebilde zu entwideln. So ift die erfte Erzeugung 
eined neuen Weſens Feine Aufgabe, von der eine Verminderung 
ber Lebenskraft für Die Erzeuger zu erwarten wäre; mohl aber 
mögen die zahlreichen Anftrengungen, die in vielen Geſchöpfen ber 
mütterliche Organismus zur früheften Kräftigung und Entwicklung 
des Keimes zu machen bat, feine Lebensfähigkeit ernftlicher be- 
drohen. 

Aber erneuert fi nicht dafjelbe Räthfel, das wir aus dem 
Geheimniß der Bortpflanzung zu entfernen fuchten, ſogleich wieder 
in dem Gcheinmiß des Wachsthums, in welchem der neu erzeugte 
Organismus feine Kraft und Maſſe beftändig vermehrt? Mit 
der Zunahme der Laft, die fie zu beherrichen hat, ſehen wir bie 
Lebenskraft wachfen, während fonft jede Fähigkeit an ihren zu— 
nehmenden Aufgaben zu erlahmen pflegt. Doch auch Diefe Schwie- 
rigfeit läßt die nähere Betrachtung des wirflichen Hergangs ver- 











— 


67 


ſchwinden, und fie verdient Erwähnung nur um cines allgemeinen 
Borurtheild willen, das fih an fie knüpft. Wenn der wachſende 
Körper die Stoffe der Außenwelt in ſich hincinzieht und zu feinem 
Dienfte zwingt, fo ftellen wir ung zu oft dieſes errungene Material 
zu gleichgültig und fo entblößt von gegenfeitigen Wechſelwirkungen 
vor, daß es überall einer befondern zufammenhaltenden Kraft zu 
bedürfen Schiene, die das einmal Zufanımengeführte in den Formen 
feiner Verbindung feflelte. Unfere Anſchauungen über die Ver— 


- nüpfung der organischen Theile find zu fehr nach dem Bilde eines 


Bündels von Gegenftänden entworfen, die gleichgültig gegen einan- 
der und ohne alle eigene Kraft wechſelſeitigen Anhaftens eines 
ihnen allen äußerliden Bandes bedürfen, Das fie zufamnıen- 
ſchnürt. Denn das ift ja die gewöhnliche Sehnſucht, das Band 
fennen zu lernen, das Leib und Seele oder das die Beftandtheile 
des Leibes zufammenhält, oder am Ende das geiftige Band, melches, 
wahrſcheinlich von edlerer Natur als die finnlihen Bindemittel, doch 
nicht den mefentlichen Begriff eines Stranges überfteigt; denn es 
fol, da es als Eines gedacht wird, doch wohl in ähnlichen äußer- 
lichen Windungen, wie Diefer, eine Bielheit beziehungslofer 
Theile unter fi verfetten. Es ift anders in Wirklichkeit. Die 
Herbeifhaffung der Stoffe, durch melde der organische Körper 
wachfen fol, mag eigene Anftrengungen erfordern, deren wir an— 
derswo gebenfen werden; ihre Erhaltung aber in den Formen der 
gegenfeitigen Lagerung, die fie einmal angenommen haben, ift fein 
Act der Gewalt, gegen den fie widerfpenftig wären, jo daß eine 
befondere Lebenskraft, ftärker als die Kräfte aller Theile, zu feiner 
Durchführung nöthig wäre; nicht einmal gleichgültig find die Ele- 
mente gegen diefe Aufgabe, fondern fie führen fie felbit aus. Denn 
indem fie in den Bereich des lebendigen Körpers eingetreten find, 
haben fie die Kräfte nicht abgeftreift, die ihrer Natur vorher eigen 
waren; fondern mit diefen Kräften cben haften fie aneinander und 
folgen nun in diefer Gemeinfchaft und den Bebürfnifien des Or— 
ganismus entfprechend denfelben Gefegen des Wirkens weiter, denen 


fie früher außerhalb deffelben vereinzelt gehorchten. Anftatt eines 
5* 


68 


Bandes, das mit oberflächlihden Windungen die ganze Unzählbar- 
feit der Theile umſchlöſſe, finden wir daher unzählige Bänder, 
die je zwei einzelne Elemente des Körpers verfnüpfen, und dieſe 
Bänder find Nichts als die eigenen Kräfte der Elemente felbft, 
die es weder bedürfen von irgend einem höheren Gebote zu ber 
Wirfung erwedt. zu werden, die ihrer Natur eigenthümlich iſt, 
noch es ertragen wilrden zu einer andern erregt zu werben, Die 
ihr widerfpricht. Jedes einzelne Atom, das die Maſſe des Körpers 
vermehrt, tritt in feinen Zufammenhang durch die anziehende 
Kraft ein, Die e8 von irgend einem Theile deffelben erfährt; feft- 
gehalten durch diefelbe Kraft, deren Ausübung feine Anftrengung 
für den Körper ift, ftellt e8 diefem nun auch feine eigene Maſſe 
mit allen den Kräften mechanifcher und chemifcher Art zu Gebot, 
bie an ihr haften, und durch die num dem Körper eine Möglichkeit 
größerer Einwirkung auf die Außenwelt mithin ein Zuwachs 
feiner Kraft entſteht. Nur darin befteht die Leiftung des Lebens, 
daß der fchon beftebende Stamm der Teiblihen Beftanbtbeile ſtets 
jo georonet iſt und ftet8 in folder Borm mit dem Material der 
äußeren Welt in Berührung tritt, daß die ſich entfpinnenden 
Wechſelwirkungen und als ihre Folge der neue Anſatz von Theilchen 
den Bebürfnifjen des Lebens angemefjen geichieht. 

Man kann auch diefe Aufgabe benugen, um die alten 
Schwierigkeiten zu erneuern. Wie vorhin ein Band fir die all- 
zurubigen, jo ſucht man jest vielleicht für die lebendig gewordene 
Anzahl der Theile einen Zügel, der ihre Wirkungen hier geftatte, 
fie dort verbiete, fie jett befchleunige, dann verzögere. Eine kaum 
lösbare Aufgabe gewiß, wenn fie in die Hand Einer Kraft gelegt 
werden müßte, die den Plan der Organifation in jevem Augen- 
blicke durch befondere Nachhülfen aufrecht zu erhalten hätte. Wber 
auch dieſe Leiftung vollzieht ſich von felkft, fo lange nicht freind⸗ 
artige Störungen die Verhältniffe unberechenbar verſchieben. Eine 
Zufammenftellung von Theilden, die den Keim eined organischen 
Weſens bildet, kann leicht jo geordnet fein, daß fie im Laufe ihrer 
Entwidelung nur beftimmte Stellen für fpätere Wechſelwirkung 


69 


offen läßt; andere verfeftigt fie jo, daß an ihnen die Stoffe der 
Außenwelt wirkungslos vorübergehen, um auf den Wegen, die 
ausihlieplich für den Fortgang der Bildung organifirt find, ſich 
in dem Körper zu verbreiten und einen feften Gang des Wachs⸗ 
thums einem ftet8 eingehaltenen Mufter gemäß möglich zu madjen. 
Nicht überall fegt ſich Thon an den Kruftall der neue Niederfchlag 
des gleichen Stoffes an, fondern Die Kräfte des fchon Gebildeten 
zeichnen den fpäteren Theilen Ort und Form ihrer Anlagerung 
vor und erhalten im Wahsthum die urfprüngliche Geftalt oder 
doch das urfprüngliche Geſetz ihrer Bildung Was hier die un- 
organische Natur ausführt, das Leiftet in unvergleichlich größerer 
Feinheit und Berwidlung, aber doch nicht nach anderen Principien 
des Wirkens, auch der lebendige Körper, und die nähere Betrachtung 
feines Baues und feiner Verrichtungen wird uns zeigen, wie leicht 
fih hier vieles ſcheinbar Schwierige von felbft vollzieht, weil ſtu— 
fenweis in dem langen Laufe der Entwidlung jeder frühere Zus 
ftand die Zahl der unbeftimmten Möglichleiten des Weiterwirkens 
befhränft und die fpäteren Ereigniffe in genauer vorgefchriebene 
Bahnen einengt. 


Sp würde alfo auch die Innehaltung der Ordnung in der 
veränderlihen Mannigfaltigkeit der Lebensproceſſe nicht von dem 
beftändig erneuerten Eingriffe einer beſondern regelnden Macht, 
fondern von der einmal gegebenen Anordnung eines Syſtems von 
Theilchen abhängen und durch die gewohnten Wirkungen dieſer 
Elemente im Einzelnen verwirflicht werden. Wir haben oben fchon 
binzugefügt, daß dieſes Ergebnig die Abhaltung äußerer Störungen 
vorausfege. Aber gerade hierin findet man eine neue Eigenthiim- 
Tichleit des Lebens, daß e8 mit zweckmäßig zurückwirkender Heil: 
fraft auch diefe Störungen überdaure und befeitige. Alle feine 
andern Erſcheiuungen mögen ſich anfehen laſſen, wie die allmäh- 
lich und gefeglich abrollenden Bewegungen einer Mafchine, deren 
einmal vorhandener und in Anftoß verfegter Bau eine Man: 


70 


nigfaltigfeit von Wirfungen nach einander entfaltet; aber Die aus- 
gleihende Thätigfeit, die den Umftänden fit) anbequemt und mit 
Auswahl der beften Mittel den urſprünglichen Plan immer inne= 
zuhalten fucht, fcheint nur einer Lebenskraft möglich, die yicht wie 
die übrigen phyſiſchen Kräfte dur ein monotones Geſetz ihrer 
MWirkungsweife, ſondern durch die bewegliche Rückſicht auf den 
Zweck des Wirkens geleitet wird. Aber wie Vieles, Beobachtung 
und Ueberlegung, vereinigt fi, um diefen blendenden Schluß zu 
beftreiten! Denn blendend ift er zunädft, indem er die That— 
ſachen in einem viel zu günftigen Lichte erfcheinen läßt und Die 
tiefen Schatten verſchweigt. Der Tod, der fo vieles Leben vor 
dem natürlichen Abſchluß feiner Entwicklung dahinrafft, aus 
Störungen hervorgehend, die in ihrer Kleinheit unferer Beobachtung 
fi entziehen, überzeugt uns zuerft, daß jene zweckmäßige Heil- 
fraft des Körpers nicht unbedingt, und die Menge der Krankheiten, 
Die, nur unvollfommen überwunden, fpätere Tage verfimmern, 
lehrt uns weiter, daß fie in hohem Grade befchränft iſt. Auch 
das gejunde Leben, da es nicht ein aus fich felbft allein quellendes 
Spiel von Bewegungen ift, fondern in fteter Wechfelwirkung mit 
dem Aeußeren verläuft, fehließt eine große Menge von Verände- 
rungen des Körpers ein, die zunädft als Störungen feines Be- 
ftandes zu betrachten find, und zu deren Wiederbefeitigung ſchon 
in der erften Anlage des Leibes eine Mannigfaltigfeit beftändig 
fortgehender Berrichtungen begründet iſt. Ein Syſtem von Theilen 
nun, deſſen Berhältniffe einmal fo zwedmäßig geordnet find, daß 
feine Wirkungen innerhalb einer gewiffen Grenze die regellofen 
Einflüffe des Aeußeren überwinden können, verliert nicht augen- 
blicklich diefe Fähigkeit, fobald unter ungewohnten Umftänden diefe 
Grenze überfchritten wird. Mit der Mannigfaltigfeit der glid- 
lihen Einrichtungen, die e8 einmal beſaß, gelingt es ihm häufig, 
auch Größen und Formen der Störung, auf die e8 nicht berechnet 
war, entweber völlig oder doch fo weit zur befiegen, daß die Beichä- 
digung, die es erleidet, nicht auffallend Die Geftalt feiner Bewe— 
gungen ändert. Aber allerdings wird e8 unheilbar zerrüttet werben, 


71 


fobald in feinem Baue und feinen Verrichtungen ſich Fein glüdlicher 
Umftand findet, der die Störung nöthigte, fich felbft durch die 
Rücdwirkungen aufzureiben, die ihr Reiz in den Thätigkeiten des 
Syſtems hervorbringt. Zahlreiche Beiſpiele zeigen uns, wie weit 
felbft die menſchliche Technik mit den immer unvolllommenen 
Mitteln, die ihr zu Gebote ftehen, diefe Aufgabe zu löſen ver- 
mag. Auch fie weiß Mafchinen fo zu bauen, daß die ungleiche 
Ausdehnung, melde verſchiedene Metalle dur gleiche Wärme: 
grade erfahren, die ſchädliche Folge wieder aufhebt, welche Die 
Beränderlichleit der Temperatur fir Die Genauigkeit ihrer Leiftungen 
haben könnte; aud fie Tann die bewegte Locomotive nöthigen, 
eine Borrihtung felbft in Gang zu fegen, durch die den Rädern 
das reibungvermindernde Del gerade in dem Maße zugeführt 
wird, in welchem e8 bie jedesmal erlangte Gefchmwindigfeit Des 
Zuges erfordert. Wenn wir auf diefe Leiftungen mit einem ge- 
wiſſen Stolz bliden, fo bezeichnet es eben die Geringfügigkeit 
menſchliches Vermögens, daß ſchon ſolche Erfolge e8 find, auf die 
wir ſtolz -jein innen; gewiß find fie überaus unbedeutend im 
Bergleihe zu der unendlichen Feinheit und Bielfeitigfeit, mit 
welcher der Lebende Körper unzähligen Fleinen Störungen gleich— 
zeitig widerſteht; «aber diefer Unterſchied des Werthes berechtigt 
Doch nicht zu dem Schluffe auf ebenjo großen Unterfchied in den 
Principien der Wirkungsart. 

Auch in dem Organismus ift die heilende Rückwirkung an 
die einmal beftehende Zweckmäßigkeit feiner inneren Einrihtung 
geknüpft, und fie reiht nur fo weit, al8 die äußeren Eingriffe 
diefe Anordnung in ihrer mejentlihen Form unangetaftet Taffen. 
Ste wird aber vergeblich erwartet, fo oft Die Gewalt der Störung 
diefe glücklichen Umftände verjhoben bat, obgleich au dann die 
Nachwirkung der urfprünglichen Trefflichkeit fo groß ift, Daß nicht 
fofort die völlige Auflöfung, fondern ein erträglicher einiger Dauer 
fähiger und die Umriffe des Lebensplanes wenigftend im Ganzen 
noch fefthaltender Zuftand an die Stelle der unmöglich gewordenen 
Geſundheit tritt. Niemals fehen wir dagegen heilende Rück⸗ 





12 


wirfungen eintreten von neuer und ganz ungewohnter Art, ſolche, 
von denen nicht das gefunde Leben bereit8 cinen beftändigen Ge- 
brauch machte, Nur in verftärkter Heftigfeit und in anderer Ber: 
nüpfung erregen zuweilen die äußeren Störungen dieſe ftet8 ſchon 
vorhandenen Thätigfeiten, und eben biefer Aufruhr, wie er zu— 
weilen ungewöhnliche Erfolge bedingt, führt in eben fo zahlreichen 
Fällen die völlige Vernichtung herbei. Belebte eine eigenthümliche 
Heilkraft den Körper, mit irgend melcher Freiheit der Wahl und 
irgendwie unabhängig mit den phyſiſchen und chemifchen Kräften 
der Maflen jchaltend, fo würde es ſchwer fein zu erklären, warum 
fie, die einmal der natürlichen Nothwendigkeit überhoben wäre, in 
der Ausführung ihrer Abfichten jemals fcheitern Könnte; wir be- 
greifen die Nothwendigkeit ihrer Beichränktheit, wenn wir fie als 
bie Summe deſſen fafjen, was der lebendige Körper mit denjenigen 
zweckmäßigen Thätigkeiten, die auf die gewöhnlichen Umftände 
des Lebens berechnet find, unter ungewöhnlichen noch zu leiften 
vermag. 


So groß iſt jedody die Bewunderung, welche der ineinanders 
greifende Bau des Lebens auch der mechaniſtiſchen Auffaffung 
defjelben abnöthigt, Daß wir den Gegnern nicht verargen, wenn fie 
ihre Borftellung einer eigenthümlichen Lebenskraft unter immer 
neuen Formen ‚und wieder and Herz legen. Nicht eine neue 
Kraft, werben fie fogen, nicht eine plöglich eingreifende Heil- 
thätigfeit verlangen wir, bie, in den beftändigen Einrichtungen 
des Lebens nicht begründet, erft im alle feiner Störung hervor⸗ 
träte; fondern den ganzen Ablauf der Lebenserfcheinungen ver: 
mögen wir nur zu begreifen, wenn die lebendige Idee Des 
Ganzen beftändig die Theile als das waltende Princip zuſam⸗ 
menfaßt; ihre Thätigfeit ift e8, die weniger auffallend in dem 
gejunden Zuftande, an deſſen fortwährennes Wunder wir ges 
wöhnt find, deſto mehr in ihren gefteigerten Ruckwirkungen gegen die 





13 


Gewalt der Störungen offenbar wird. Nur in den unorganifchen 
Gebilden entftehe das Ganze aus der Zufammenfegung der Theile, 
im.Lebendigen gebe es den Theilen voran. Es ift Mar, daß dieſe 
Iebte Behauptung nur den Sinn haben kann, daß Die Form des 
Ganzen bereitS als belebende und gefeßgebende Gewalt dem ſich 
bildenden Körper inwohne, nod ehe die vollzählige Summe der 
Theile, durch die jeine Umriſſe einft ausgefiillt werden, vorhanden 
oder in die ihnen zulommenden Lagen gebradt if. In der 
That zeigen mehrere Vorgänge in der erften Ausbildung des 
Keimes, daß an die Orte der Geftalt, an denen beftimmte Organe 
ſich bilven follen, zunächſt formlos erſcheinende Maſſen abgelagert 
werben, die erft jpäter in fich Die Gliederung in Theile entwideln, 
welche das fertige Organ beibebält. Ereigniffe biefer Art mögen 
augenblidlich jene Borftellungsweife begänftigen; aber dieſe geſetz⸗ 
lichen Entwidlungen, die, zu einem gemeinfamen Plane des 
Ganzen übereinftimmend, an verfchiedenen Stellen des Keimes 
gleichzeitig vor fich geben, verlieren Diefe Mebereinftimmung, wenn 
duch Erſchütterung oder Trennung der mechaniſche Zufammen- 
bang der Keimtheile geftört wird. Diefe Thatfache zeigt ung, 
daß die zerftreuten Bildungsprocefie doch nicht allein durch eine 
über ihnen ſchwebende Idee, jondern durch die beftummte Anorb- 
nung der Wechſelwirkungen unterhalten werben, bie zwiſchen 
allen einzelnen Theilen vermöge ihrer beftimmten Lagerung gegen 
einander obwalten. Durch fie wird an vorgezeichneten Orten das 
bildungsfähige Material abgelagert und durch ihre weiteren Leift: 
ungen, die durch Diefen erften Erfolg felbft neue Bedingungen 
fpäterer gewonnen haben, entjpinnt ſich die allmähliche Gliederung 
der Fleinften Beftandtheile. Witrde ed meniger wunderbar fein, 
wenn bie Bildung, von einem einzigen Mittelpunkt ausgehend, 
ftet8 Die zunächft gelegenen Umgebungen fogleih in ihrer endlichen 
Geſtalt erzeugte, und würden wir nicht dies noch mehr räthjelbaft 
finden? Gewiß hängt alſo die Bildung jedes organischen Theiles 
davon ab, daß er ſich in beftändiger Gemeinjhaft mit allen andern 
entwidelt, die mitt ibm zum Ganzen gehören; aber diefe Gemein: 


74 


ſchaft befteht nicht in der Umfaffung aller durch eine thätige Idee, 
fonbern darin, daß alle in ein Syſtem phyſiſcher Wechfehvirkungen 
verflodten find, aus denen fir jeden einzelnen Richtung Form 
und Geſchwindigkeit feiner Entmwidlungsbemegung fließt. " 

Die Thatſachen wenigſtens geftatten diefe Anſicht; eine all- 
gemeinere Ueberlegung zeigt fie als nothwendig. Denn nur in 
zweifacher Weife können wir von einer Idee des Ganzen ſprechen. 
Sie kann uns zuerft als das Mufter und der Plan gelten, den 
unfere Erfenntniß in dem ausgeführten organiſchen Gebilde dar— 
geftellt, oder in feiner allmählichen Entwidlung beftähbig befolgt 
findet. Aber fein Mufter, kein Blan, den mir vielleicht als den 
Zweck eines Naturprocefjes faflen, verwirklicht fih von ſelbſt; nur 
dann wird er ſich vollzichen, wenn die Stoffe, in deren Geftal- 
tung er erſcheinen fol, durch eine urfprüngliche Anordnung ihrer 
Verhältniſſe von felbft genöthigt find, durch ihre Kräfte nach den 
allgemeinen Gefegen des Naturlaufes das herporzubringen, was 
er gebietet. So übt er ſtets nur eine ſcheinbare Macht aus, 
und fo wenig wir Die Idee der Unordnung als ein thätiges und 
treibende Princip in einer vegellojen Reihe von Veränderungen 
anfchen, jo wenig dürfen wir Die Idee irgend einer Ordnung als 
die bewirfende und erhaltende Urſache eines regelmäßigen Kreifes 
von Ereigniffen betrachten. In beiden Fällen gefchieht, was nad 
der einmal gegebenen Lage der Sachen geſchehen mußte und ber 
Vorzug des letzteren befteht nicht in einer ftetig handelnden Zweck⸗ 
thätigfeit, jondern in der beftänbig nachwirkenden Zweckmäßigkeit 
der erften Anordnung. Aber diefe erfte Anordnung felbft, 
wird man und einmwerfen, woher rührt fie? Wir wiſſen es 
nicht, und wir haben feinen Grund, hier fhon Die Vermuthungen 
auszuſprechen, die wir über fle hegen fünnen. Nicht das ift un= 
fere Abfiht, in dem Lebendigen die Spuren einer Weiäheit zu 
leugnen, die und über die mechaniſche Verfettung bloßer Ereig— 
niffe auf eine unverftandene ſchöpferiſche Kraft hinausweiſen; aber 
unfere Aufgabe iſt c8 noch nicht, den erften Urfprung des Lebens 
zu ſuchen; wir fragen nur nad den Gejegen, nad; denen das 


75 


wunderbar erſchaffene fi innerhalb der Grenzen unferer Beobadh- 
tung erhält. Und wir finden, daß das Leben innerhalb Diefer 
Grenzen nicht mehr neu entfteht, daß feine Erhaltung vielmehr 
an die ununterbrochene Tradition beftimmter Stoffe mit beftimm- 
ter Lagerung ihrer Fleinften Theile gebunden ift, fo wie fie in 
der Fortpflanzung beftändig von einem zum andern überliefert 
werben. Wir fehen darin den Beweis, daß die Ideen nicht im 
Stande find, fih in Stoffen zu verwirklichen, deren innere Glie- 
derung nicht Schon in forgfamjter Weile jo geordnet ift, daß aus 
ihr allein ohne den meiteren Beiftand ber Ideen, ja felbft wenn 
diefe e8 nicht mollten, dennoch von felbft Die von ihnen vorge- 
zeichnete Geftalt entfpringen müßte. Wohl mögen die Ideen am 
Anfange der Welt die beftimmenden Gründe für die erften Ber: 
knüpfungen der Dinge gewefen fein; in ihrer Erhaltung dagegen 
find e8 die Wirkfamfeiten der Theile, die den Inhalt der Ideen 
realifiren. 

Doch wir willen, daß die Anficht, die wir bekämpfen, die 
Idee des Ganzen nicht fo verfteht, als wäre fie ein unmirfliches 
Mufter, das machtlos der Wirklichkeit der Stoffe gegenüber 
ſchwebt. Aber indem fie die Idee als eine felbft Iebendige und 
thatkräftige Macht auffaßt, wird fie genöthigt fein, zu der andern 
beftimmten Bedeutung überzugeben, die wir dem vielmißbrauchten 
Worte geben können. Sol die Wirkfamfeit der einzelnen Theile 
nicht zur übereinjtimmenden Ausbildung des Ganzen binreichen, 
fo wird doch das höhere Band, das ergänzend binzutritt, überall 
von der Lage der Dinge, in die es eingreifen foll, einen Ein- 
druck erfahren müſſen, um im vechten Augenblide das der vor- 
handenen Lage Angemefjene zu bewirken. Solche Eindrüde laffen 
ſich als Zuftandsänderungen des Bandes faffen, welche mit gefeg- 
licher Nothwendigkeit eine beftimmte Rückwirkung deſſelben hervor- 
rufen. Es ift offenbar, daß unter dieſer Borausfegung jenes 
Band Feine höhere Rolle fpielt, als jeder der Stoffe, die, von 
einander Eindride empfangend, durch das Smeinandergreifen ihrer 
Ruckwirkungen auch nach unferer Anfiht die Bildung des Or: 





76 | 


ganifchen heroorbringen. Nur darin wiärde eine Eigenthitmlich- 
feit diefer Borftellung Tiegen, daß fie nicht von allen Xheilen 
einen gleich werthoollen Beitrag zur Begründung des Lebens er- 
wartet, fondern einen einzigen vorzugsweis als den Brennpunkt 
in die Mitte der übrigen ftellt, in welchem die zufammenlaufen- 
den Wirkungen aller eine Vielheit zufammenftimmender Thätig- 
feiten hervorrufen. Ohne Zweifel nun ift e8 richtig, daß Die 
verſchiedenen Theile ſehr verfchiedene Wichtigfeit für die Begrün- 
dung und Erhaltung einer beftimmten Lebensform befigen; Doc, 
vergeblich jehen wir und in der Erfahrung nad einer Thatfache 
um, melche uns berechtigte, einen einzigen in jo ausſchließlicher 
Weile als den Vertreter der Idee des Ganzen zu betrachten. 
Aber gewiß wollte jene Anfiht in dem höheren Bande, das fie 
fucht, eben nicht jene lebloſe Nothwendigkeit des Wirken wieder⸗ 
finden, die fie ja aus dem Organismus überhaupt zu verbannen 
wünſchte. Ste wird verlangen, daß jenes Band auf die Ein- 
drücde, die ihm zulommen, Nachwirkungen folgen Iafje, die nad 
phyſiſchen Gefegen allein nicht nothwendig an dieſe gefnüpft fein 
würden. Aber weil der Plan der Organifation fie verlangt, er- 
zeugt fie das Band und ergänzt auf diefe Weiſe den nicht voll- 
fommen geſchloſſenen Zuſammenhang der Natururfacen. 

Wollen wir nun nit völlig ins Unbeftimmte abſchweifen 
und zum Erflärungsgrunde Etwas wählen, von deffen Art und 
Wefen wir und nicht die entferntefte Borftellung zu machen im 
Stande find, jo werben wir und mohl zugeftehen müfjen, daß 
diefe Art zweckmäßiges Wirkens nur einer Seele, nicht einer Idee 
zufoınmen Tann, und in dieſen beutlicheren Begriff müffen wir 
die ihrer ſelbſt ungemwiffe VBorftellung der Idee verwandeln. Aus- 
geftattet mit der Fähigkeit, die Erinnerung vergangener Eindrüde 
wieder zu erzeugen, vermag allein die Seele, jene Lücke der na= 
tärlichen Saufalität zu ergänzen. Indem fie angeregt wird durch 
eine Mannigfaltigkeit von Reizen, die doch an ſich noch nicht 
die vollftändigen Bedingungen eines wünſchenswerthen Erfolges 
einfchließt, erzeugt fie die Borftellung deſſen, was augenblid- 


-— 


77 


lich in der Wirklichkeit fehlt, hinzu, und von dieſem Gedanken, 
als Stellvertreter des wirklichen Eindrucks, gelangt ſie zu dem 
zweckmäßigen Entſchluſſe, der nun wieder thätig in die äußere 
Wirklichkeit eingreift. So wird der Zufammenbang, der auf phy— 
fiidem Gebiete abgebrochen war, durd cine Reihe von Wirkungen 
hergeftellt, Die, auf geiftigem Gebiete verlaufend, zwei Ereignifie 
an einander knüpfen, deren erftes allein den vollftändigen Grund 
bes zweiten nicht enthielt. 

Auch diefe Hypotheſe nun bat der Geſchichte der Wifjenfchaft 
nicht gefehlt, daß die Seele es jet, deren Thätigfeit die Ordnung 
und Zwedmäßigfeit der organifhen Entwidlung beherriche. Aber 
wenn dieſe Anficht einen Theil von Wahrheit einſchließt, den mir 
fpäter hervorzuheben Gelegenheit finden, fo begünftigt doch unfere 
Erfahrung den Verſuch nicht, fie als eine genügendere Erklärung 
der mechanischen Auffaffung entgegenzuftellen. Mag e8 vielleicht 
in manden Thierfeelen, in deren Inneres wir und nicht verfegen 
können, fich anders verhalten: in unferer Seele wenigftens finden 
wir fein Bewußtfein diefer bildenden Thätigfeit. Und doch hing 
nur von dem Bemwußtfein und den eigenthümlichen Geſetzen des 
Borftellungslaufes diefe Fähigkeit der Seele ab, mehr zu leiften 
al8 der Naturlauf für fih, Nur wo in Folge früberer Uebung 
fidh eine Gewohnbeit zwedmäßiges Wirkens als zweite Natur in 
ber Seele befeftigt bat, mag der Borftellungslauf, der ihr zu 
Grunde Tiegt, nicht in jedem einzelnen Falle mebr zum Bewußt⸗ 
fein kommen. Die Annahme dagegen, daß die Seele von Anfang 
an mit unbewußter Thätigfeit den Körper organifire, würde nur 
dahin zurüdführen, fie ebenfo wie alle materiellen Theile dei- 
felben als ein unfreies Element zu betrachten, das angeregt durch 
die Umftände, nach allgemeinen Gefegen nothwendige Wirkungen 
entfaltet. Vielleicht hat in diefer Deutung die erwähnte Anficht 
ihren Werth; unter den vielen Beitandtheilen, die zum Bau bed 
Lebens beitragen, ift vielleicht auch ein foldher, den feine übrige 
Natur durch einen größeren Unterfchied von allen iibrigen trennt; 
aber feine Gegenwart würde Doc die Thatfache nicht ändern, daß 


78 


alle zmestmäßigen Wirkungen in dem Xebendigen von ber Verbin— 
dungsweiſe der Theile, unter Denen nun auch er ſich befände, mit 
Nothwendigkeit abhängen. Zu verlangen dagegen, daß die Seele 
Yeifte, was auf diefe Weife noch nicht vollftändig begründet ift, 
und daß fie Diefe Leiftung unbewußt vollziehe, das würde nur 
heißen, von ihr die Erfüllung einer Arbeit fordern und gleich- 
zeitig ihr die einzige Bedingung verfagen, die deren Gelingen mög- 
lich macht. 


Wir haben die Lehre von einer eigenthümlichen Lebenskraft 
in die verſchiedenen Vorſtellungsweiſen verfolgt, in denen ſie nach 
und nach ſich gelten gemacht hat; alle entſprangen kürzer oder 
auf längeren Ummegen aus der Beobachtung, daß die Rüdwir- 
fungen des Lebendigen anf die Eindrlide, denen es ausgefegt ift, 
nicht in diefen Anregungen allein, oder daß die Yormen, in 
denen es ſich ohne fihtbaren äußern Anftoß entwidelt, in ben 
vorhergegangenen Umftänden nicht vollftändig begründet fchienen. 
Diefe Reizbarkeit, die dem äußern Einfluß unerwartete, weder 
an Stärke noh an Dauer noch felbft in ihrer Form ihm ent- 
ſprechende Rüdwirfungen folgen Täßt, ſchien das Lebendige vom 
Unlebendigen zu trennen; denn die Wirkungen des Letzteren meinte 
man vollftändig aus der Summe aller gegebenen Beringungen 
als ſelbſtverſtändlich nothwendige Folgen entwideln zu können. 
Man täufcht fi) etwas in Bezug auf beide Glieder dieſes Ge- 
genfages. Wo irgend ein äußerer Anftoß auf ein zufammen- 
gehöriges Ganze vieler Theile trifft, da hängt Größe, Dauer 
und Form der Endwirkung, die er erzeugen wird, nie von ihm 
allein, ſondern zugleih und meift in viel höherem Grade von 
dem inneren Zufammenhang jener von ihm getroffenen Theile 
ab. Die gegenfeitigen Verhältnifje diefer fünnen auf die mannig- 
fachfte Weife Die Größe des empfangenen Eindrudes mindern, 
erhöhen, auf eine beftunmte Anzahl von Punkten vertheilen, feiner 


79 


Fortpflanzung Wege anmeifen, auf denen er gebundene Thätig- 
feiten löfen, wirkende in Ruhe verfegen kann; am Ende diefer 
vielfältigen Vermittlungen wird cin Erfolg auftreten, der dem 
urſprünglich erzeugenden Anftoß in Feiner Meife ähnlich ift. Diefe 
Reizbarkeit befigt jede Maſchine. Während der Arbeiter ein äu- 
ßeres Rab mit beftändig gleicher Geſchwindigkeit nad) derſelben 
Richtung bewegt, bemirft das innere Getriebe, dem Ddiefer Anftoß 
zu Theil wird, das abwechſelnde Auf- und Abfteigen eines Kol- 
bens, der felbft, je nach der Art feiner Verbindung mit äußern 
Gegenftänden, auf die mannigfaltigfte Art die Kraft feiner Be- 
wegung weiter übertragen kann. Zwiſchen den Eindriden, bie 
wir von außen auf den lebendigen Körper treffen jehen, und 
der endlichen Rückwirkung, die von ihm ausgeht, ftcht auf völlig 
gleiche Weife die unendliche Diannigfaltigfeit feiner Theile mit 
ihren beftändigen inneren Bewegungen in der Mitte. Haben 
wir im Allgemeinen ein Recht, auf dieſes Zwiſchenglied die Er— 
icheinungen der lebendigen Reizbarkeit zurüdzuführen, ohne gleich- 
wohl bei ber großen Verwicklung ber Lebensproceffe Die Kette aller 
vermittelnden Glieder vollftändig verfolgen zu können, fo fönnen 
wir in ihr nicht eine eigenthüimliche wirkende Kraft des Lebens, 
fondern nur eine Form des Wirkens fehen, die dem lebendigen 
Körper mit jedem zufammengejegten Gebilde gemein ift. 

Wir würden fie jevoh mit Unrecht auf zufammengefeßte 
Syſteme beſchränken, obgleich auf dieſe hauptfählic ihr Name 
bezogen zu werben pflegt. Sie ift dem einfachften Subftrat nicht 
minder eigenthümlih. Oder wüßten mir etwa nachzumeifen, wie 
in der Erhöhung der Temperatur und der gegenfeitigen Annähe- 
rung zweier Elemente die Nothwendigfeit ihrer chemiſchen Ber: 
bindung ſchon völlig begründet liegt? Wir müffen im Gegentheil 
annehmen, daß eine qualitative Eigenthümlichfeit ihrer Natur 
durch diefe äußern Umſtände nur gereizt mird zu einer Wirkung, 
welche Diefelben Umftände nicht heroorbringen würden, wenn fie 
auf andere Stoffe wirkten. Ueberall hängt der entftehende Er- 
folg außer den äußern Bedingungen, an die er gefnüpft ift, zu- 


80 


gleih von der Natur deſſen ab, auf welches dieſe wirken. Nur 
darin geftaltet fich Die Rückwirkung des. Unorganifchen einfacher, 
daß fie auf gleiche Reize in gleicher Form und Größe zu erfol- 
gen pflegt, meil fie von einer beftändigen und in ihrem Beftande 
unveränderlihen Erregbarfeit ausgeht. Das Lebendige Dagegen, 
innerlich in fortwährender Bewegung begriffen, bietet den gleichen 
Reizen in verſchiedenen Augenbliden verſchiedene Erregbarkeit, 
und feine Rückwirkungen nehmen dadurch in größerem Maße 
den Schein der Unberechenbarkeit an, als die mehr gleichfürmigen 
des Unbelebten, mit denen fie doch in Bezug auf die legten Ge— 
fee ihrer Entftehung völlig übereinſtimmen. 

So kehren mir auch nach diefer Betrachtung zu jener mecha⸗ 
niftifchen Auffafjungsmeife zurüd, die in dem Leben, wie überall, 
die Möglichkeit Form und Verknüpfung zufanmengefegter Erfolge 
von der zufammenftimmenvden Wirkfamkeit der Theile abhängig 
macht und die Vorftellung einer. einzigen Kraft aufgibt, melde 
mit verändberlicher Thätigkeit nur durch die Rüdfiht auf die Er- 
veihung eines Zieles geleitet witrde. Aber den ungänftigen Schein, 
der im Gegenfag zu den befämpften Anfichten auf die unfrige 
fällt, wollen wir noch durch einige Bemerkungen zu mildern 
fuhen. Dies zwar können wir nicht verfprechen, jenen Vortheil 
ebenfalls zu gewähren, der eben nur mit dem Grundgebanten 
der von und abgelehnten Anſchauung vereinbar ift: wir können 
jene ſchöne Einheit und Imnerlichfeit des Lebens, an der unfere 
Bewunderung zu hängen pflegt, nicht aus der Wechſelwirkung von 
Theilen entftehen laſſen, die in ihren innigften Beziehungen zu 
einander Dod immer verſchiedene bleiben, und verſchiedene bleiben 
müſſen, wenn fie diefe Vielheit wirkender und leidender Punkte 
bilden follen, auf deren mannigfacher Verknüpfung chen die Bor- 
theile unferer eigenen Anficht beruhen. Dennoch wäre es kaum 
gerecht, uns den Vorwurf zu machen, daß wir den lebendigen 
Körper völlig als Maſchine betrachten. Denn wie bereitwillig 
wir auch zugeben, daß wir in der That in beiden dieſelben all- 
gemeinen Gefege des Wirkens annehmen, fo Tiegt doch in ber 


81 


Art, in welder die Erzeugniſſe unferer Technik diefe Gefege ver- 
wenden, eine gewiſſe Kinnmerlichkeit, die wir ungern auf bie frei- 
willigen Gebilde der Natur übergetmmgen fehen möchten. 

Unfere Mafchinen arbeiten mit Kräften zmeiter Hand; fie 
beruben auf der Feſtigkeit, der Cohäſion, der Elafticität gewiſſer 
Stoffe; aber fie erzeugen feine dieſer Eigenſchaften neu, jondern 
feßen voraus, daß fie in dem Waterial, welches die äußere Natur 
liefert, durch die Kräfte der Elemente bereit8 gebildet find. 
Ein beftimmter unveränderliher Grad diefer Eigenschaften ift «8, 
was für den Gang der Maſchine erfordert wird; jede Verändes 
rung dieſes Grades wirkt als Störung over als Abnutzung ber 
richtigen Verhältnifie. Auf eine ſcharfſinnige Verflechtung eins 
zelner Theile ift ferner der Rhythmus gegründet, nad welchem 
die mitgetheilte antreibende Bewegung fi fortpflangt; aber Diefe 
Berbindungsmeife wird nicht durch die thätige lebendige Anzich- 
ung ber Beftandtheile felbft hervorgebracht; durch Nägel, Bolzen, 
Reifen und Schrauben fehen wir hier die feſte Verknüpfung, dur 
Drehung um fefte Aren die Beweglichkeit auf einander ſich bes 
ziehender Theile erzwungen; nicht die unmittelbaren Anziehungen 
und Abftogungen der Elemente, diefe Kräfte erfter Hand, jon- 
bern ihre zur Ruhe gelommenen Producte, Starrheit und Un⸗ 
durchdringlichkeit, find benugt, um durch Außerlihe Zufammenftel- 
lung die Zwecke der Maſchine zu erfüllen. Und ebenfo ift das Thä- 
tige in ihr kaum irgendwo eine nen fi erzeugende Kraft ober 
Bewegung, fondern alle ihre Verrichtungen beruhen auf ber 
Mittheilung oder Fortpflanzung eines empfangenen Anftopes. 
Nur diefen Anftoß felbft erzeugt unfere Zeit am häufigften durch 
die Benugung elementarer Kräfte, indem fie die Iebendige Span⸗ 
nung der Dämpfe durch erhöhte Temperatur entwidelt. Aber 
auch dieſe lebendige Kraft dient und nur als der Erreger über- 
haupt einer an ſich formlofen Bewegung; feine beſtimmte Ge— 
ftaltung und dadurch feinen Nugen für die Zwecke der Maſchine 
erhält auch diefer Antrieb doch nur durch die Stellung der ftarren 
Räder oder Getriebe, auf die er fällt. 

Loge I. 3. Aufl. 6 


|. | 





82 


Es ift anders in den freiwilligen Gebilden der Natur. 
Kein materielles Band knüpft den Planeten an die Sonne, aber 
die unmittelbare Wirkſamkeit einer Elementarkraft, der allgemeinen 
Anziehung, hält beide unfihtbar mit einer Elafticität ihres Wir- 
kens zufammen, die Feine künftliche Vorrichtung wird nachahmen 
fönnen. Keine feftftehende Are, Kein Schraubengang, fein ſich um— 
und abwidelndes Seil nöthigt den Planeten, aus feiner grab- 
Iinigen Bewegung in gekrümmte Bahnen überzugehen, aber der 
beftändig vorhandene und beftändig neu fi) geftaltende Etreit 
zwifchen feiner urfprünglichen Geſchwindigkeit und ber Anziehung, 
die ihn zur Sonne treibt, führt ihn mit unfihtbarer und ficherer 
Hand in gefchlofienen Bahnen bin und her, und feine Ahnugung 
der Bewegungsmittel ftört Die Fortdauer dieſes ſchönen Spieles. 
Und doch Liegt diefem Fein anderes allgemeines Wirkungsgefeg zu 
Grunde, als jene, die auch unfern Maſchinen gelten. Mit unend- 
lich größerer Mannigfaltigkeit wiederholt diefelbe Weife der Thätig- 
feit auch der lebendige Körper. Auch er wirft nicht mit äußerlichen 
Berbindungen von Mitteln, Die gegen einander gleichgültig wären ; 
überall taucht auch in ihm das Geſchehen in den Strom ber 
unmittelbaren Wirkungen unter; jedes feiner Elemente entfaltet, 
ſich bildend, fi zurüdbildend, ſich verändernd, gegen feine Nach— 
barn die ganze Fülle jener urjprünglichen Kräfte, die ihm cigen 
find, und diefe Wirkungen find hier nicht Störungen für den 
Berlauf des Ganzen, fondern fie find Die Bedingungen, die dei- 
fen Wirflichkeit jo wie jede zarte Feinheit feiner Form immer 
aufs Neue begründen. Und jelbft da, wo ber Ichendige Körper 
wirklich zur Erfüllung einzelner feiner Aufgaben die Wirkungs- 
weife der Mafchine benugt, wie in der Bewegung ber Glieder, 
deren feſte Knochen er nach den Geſetzen des Hebels durch die Seile 
der Muskeln zieht, felbft da bildet und erhält er Hebel und Seile 
durch eine nie ablaffende Thätigkeit, die in einer vielverflochtenen 
Kette unmittelbarer Wirkungen von Atom zu Atom befteht. 

Diefelbe Beihränfung auf flarre fertige Mittel und auf eine 
äußerliche Verbindung zwiſchen ihnen giebt den Mafchinenmir- 


’ 


83 


fungen jenes unheimliche Anfchen, um deöwillen wir am meiften 
bie Bergleihung des Lebens mit ihnen zu fliehen pflegen. Lange 
Zeit hindurch ſehen wir häufig zwei Theile eines Getriebes be- 
ziehungslos neben einander, regungslos vieleicht das eing, das 
andere in einer Bewegung begriffen, die Alles umber gleichgültig 
läßt; plöglich bei einer befonderen Stellung, die endlich erreicht 
ift, erfolgt ein Stoß, und die einzelnen Theile fehen ſich haftig 
in eine Wechſelwirkung geriffen, zu der feine allmählich reifende 
Vorbereitung in ihnen zu entdeden war, und aus ber fie im näch— 
ften Augenblide in ihre gleihgültige Ruhe zurüdfallen. Durch 
den ununterbrodenen Fluß der Wirkungen, der von Atom zu 
Atom beftändig durch ihre unmittelbaren Kräfte überquillt und 
einen Durchdringenden Zuſammenhang des Ganzen in jedem Augen- 
blicke vermittelt, vermeidet das Leben dieſe Unftetigfeit der Ent- 
wicklung. In jedem Heinften Theile fcheint ein Verſtändniß deffen 
vorhanden, was in einem andern fid, vorbereitet, und die unab- 
läfitge nicht auf einzelne Momente ſtoßweis vertheilte Wechſel⸗ 
wirkung aller bringt jenen ſchönen Schein der Weichheit und an- 
muthiger Milde der Entwidlung hervor, mit dem alles Lebendige 
dem gefpenftifhen Unzufammenhang in den Bewegungen Tünft- 
licher Automaten ſiegreich gegenüberfteht. 

So ift alfo doch wohl aud nad) unferer Anfiht noch in dem 
Lebendigen ein wirkliches Leben, das der fcheinbaren Regſamkeit 
der Mafchine fcharf genug gegenüberfteht, um feine göttliche Abkunft 
von der Aermlichkeit menfchliher Kunft zu unterfcheiven. Dennoch 
wollen wir noch einmal auf den Grund der Hartnädigfeit zuräd- 
fommen, mit welcdyer wir diefe Anficht in ſcheinbarem Streit gegen 
manches Bedürfniß des Gemüthes fefthalten, deſſen Recht wir doch 
völlig anerfennen. Es ift nicht die Neigung, das Leben als das 
Ergebniß einer zufälligen Verfammlung von Theilen zu faffen; im 
Gegentheil laſſen wir feinen erften Urfprung als ein Geheimniß 
vorläufig dahingeſtellt; nur feine Erhaltung glauben wir dem Zu— 
fammenhange des Naturlaufes ohne das Eingreifen neuer Kräfte 


übertragen. Und eben fo, wie die Geſetze, nach denen der Umlauf 
6* 





— or 


84 


unfered Planetenfuftens erfolgt, in einer bisher unwiderlegten 
Wiſſenſchaft erkaunt wurden, noch ehe eine glaubhafte Bermuthung 
über die Entftehung feiner gegenwärtigen Anordnung aufgetreten 
war, ‚eben fo wird eine Lehre von der Erhaltung des Lebens 
felbftändig einer andern von feiner erften Entftehung vorangeben 
bürfen; ja ſie jelbft wird e8 fein, deren völlige Ausbildung uns 
zeigen wird, in welcher Richtung wir Aufklärung über dieſen Ur- 
fprung hoffen fünnen. Was und bewegt, ift die eine Ueberzeu⸗ 
gung, daß die Natur nicht blos ihrem Sinne nach, fondern auch 
in den Gefegen ihres Haushaltes nothmendig cin Ganzes bilbet, 
deſſen verichiedene Erzeugniffe nicht nad) verſchiedenem Recht, 
fondern nur nach der verſchiedenen Benugungsweife defielben Ge— 
fegkreifes von einander abweichen. Auf diefer Vorausfegung be- 
ruhen alle Hoffnungen, die wir für den Fortſchritt der Wifjen- 
haft begen, und alle Gewohnheiten unferes praktiſchen Lebens. 
Wer vor der ungeheuren Aufgabe zurückſchreckt, die unendliche Man- 
nigfaltigfeit des Xebens auf diefe Grundlagen wirklich zurückzubrin⸗ 
gen, empfindet ein Gefühl, das wir völlig theilen. Aber die Größe 
der geforderten Leiftung darf uns nicht bewegen, zu ihrer be= 
quemeren, aber nur ſcheinbaren Erfüllung Principien zu wählen, 
deren Möglichfeit wir eben fo wenig einfehen. Die Borftellung 
einer einzigen wirkenden Lebenskraft gehört zu diefen Principien. 
An wen fie haften folle, ift unflar, wenn nicht eben an ber 
Totalität der lebendigen Theile und ihren planmäßigen Verbin- 
dungen; wie fie dazu kommen folle, ihre Wirkungsweiſe zu ändern 
und das Nöthige in jedem Augenblid zu thun, ift unklar, fo 
lange wir nit annehmen, daß fie mit gefeßlicher Nothwendigkeit 


‚ unter veränderten Umftänden eine andere wird und anders wirkt, 


gleich jeder Kraft, welche das Ergebniß einer Mannigfaltigfeit 


.  veränderlicher Theile ift. Daß fie an diefen Theilen haftet, von 


ihrer Verbindungsweiſe abhängig ift, daß fie nur in beftändiger 
Wechſelwirkung mit dem Unorganifchen etwas Leiftet, ruft und bie 
Erfahrung überall zu; es ift nicht gerechtfertigt, dDiefe Zurufe zu 
vernachläſſigen und das, was ſich nur als ein Geſchöpf beftimmter 


85 


Bedingungen zeigt, als eine Macht zu faffen, Die mit einer nie 
genau abzugrenzenden Unabhängigkeit und Freiheit über Diefen Be- 
Dingungen ſchwebe. Wie wenig die Züge, die man als Die unter- 
ſcheidenden Eigenfchaften der Lebenskraft hervorgehoben hat, die An= 
nahme derfelben nothwendig machen, haben wir umfaffender nach⸗ 
gewiefen; welche anderen Grunde und zu ihr zurückführen follten, 
wüßten wir ebenfo wenig anzugeben als den Nugen, den diefelbe 
bisher der Wiſſenſchaft gebracht hätte. 


Bierted Kapitel. 
Der Mehanigmus des Lebens. 





Beftändige und periodiſche Verrichtungen. — Fortſchreitende Entwidlung. — Ges 
ſetzloſe Störungen. — Die Anmwenbung ber chemiſchen Kräfte und ihre Folgen für 
das Leben. — Geftaltbilbung aus formloſem Keime. — Stoffwechjel ; feine Bebentung, 
feine Form und feine Organe. 


Als wir die Wandelungen überblidten, welche die Natur- 
auffaffung im Ganzen während des Lanfes der menfhlichen Ge- 
fhichte erfahren hat, haben wir bemerkt, wie vergeblich wir Die 
fchöne Vorſtellung ber befeelenden Triebe da zu benußen ſuchen 
würden, wo e8 ſich handelt, die Berwirflihung und Erhaltung 
der einzelnen Exfcheinungen in dem zufammenhängenden Haushalt 
der Natur zu erflären. Wir haben ferner gejehen, wie durch ihre 
Aufgaben die phyfikaliſche Forſchung mit Nothmendigkit dahin 
getrieben wird, jedes zufammengejegte und in veränberlicher Ent— 
wicklung fi) entfaltende Geſchöpf als das Erzeugniß vieler Kräfte 
anzufehen, deren Geſammtwirkung ihre beftimmte Form von ber 
Berfnüpfungsweife ihrer Träger erhält. Die Ueberlegung ber 
Erſcheinungen endlich, bie als Die großen Hauptzäge des Leben® 
Jedem beiannt find, hat uns zur Befefligung ber Ueberzeugung 
gedient, daß auch das Lebendige, wie unermeßlich fein Werth: 


86 


und feine Bedeutung alles übrige Dafein überragen mag, dennoch 
zur Erflärung feines Zufammenhanges und feiner Leiftungen 
die Rückkehr zu der Annahme einer befonders gearteten Xebens- 
kraft nicht erfordert. Um fo mehr wird man von und die Angabe 
jener eigenthümlichen Anordnungen verlangen, durch welche die Be— 
ftandtheile des lebendigen Körpers in ben Stand gejegt werben 
follen, ohne die erneuerte Nachhülfe einer höheren Kraft dies reichhal⸗ 
tige Spiel der Entwidlung durchzuführen. Je genauer wir jedoch die 
Mannigfaltigfeit der vorliegenden Lebenseriheinungen mit unferer 
bisherigen Kenntniß ihrer Bedingungen vergleichen, deſto weniger 
werben mir Die vermeffene Hoffnung hegen, biefe Aufgabe je voll- 
ftändig gelöft zu fehen. Die zuverſichtlichen Verſuche, mit den 
äußerft unzureichenden Mitteln, die wir jegt befigen, jede Frage 
endgültig entfcheiden zu wollen, können nur die entgegengefeßte 
Anſicht ermuthigen, aus den Schwierigkeiten, welche fie beffer zu 
würdigen weiß, auf die Unmöglichkeit des Zieles zu fchlichen, 
das ungeachtet feiner Unerreichbarfeit unferen Unterfuhungen 
doch ihre Richtung geben muß. Dennoch ift unfere Unkenntniß 
nicht jo groß, daß wir nicht in der Beihreibung der einzelnen 
Lebensverrihtungen auf lange Streden hin den mechaniſchen Zu- 
fammenhang der Wirkungen verfolgen, und nicht jo beſchränkt un⸗ 
ſere Ueberfiht über das Ganze, daß wir nicht einige der Grund— 
züge hervorheben Fünnten, durch welche fi die Verwendung der 
allgemeinen Mittel der Natur für die Zwecke des Lebens von 
den übrigen vorfommenden Benugungsweifen derjelben abtrennt. 
Verſchiedene Ablaufsformen der Ereigniffe ſehen wir in dem 
Lebendigen einander durchkreuzen. Mit gleichfürmiger Stärke 
dauern einige Berrichtungen lange Zeiten hindurd unverändert 
fort; andere vollenden in verſchiedenen Perioden abgejchloffene 
Kreisläufe und kehren nahezu mieber zu den Zuſtänden zurüd, 
von denen fie für eine Weile fich entfernt hatten. Aber dieſe 
ftetigen oder. in ſich ſelbſt zurüdlaufenden Bewegungen werben 
überall von einer andern fortfchreitenden Entwidlung begleitet, durch 
die der lebendige Leib nach einem inwohnenden Gefege allmäh- 








87 


licher Entfaltung feine äußere Geftalt und den inneren Zuſammen⸗ 
bang feiner Berrihtungen ummandelt, um mit der Auflöfung 
zu endigen, die nicht nur den unvermeiblichen, ſondern den natür- 
ih vorausbeſtimmten Abſchluß feiner Erfcheinung bildet. Aber 
auch dieſen Entwidlungsgang und die gefegliche Aufeinanderfolge 
feiner Stufen unterbrigt in jedem Augenblide des Lebens die 
Mannigfaltigfeit der äußeren Eindrüde und die nicht geringere 
der Rückwirkungen, in denen das Lebendige bald mit vorübergehen⸗ 
der Erregung bald mit bauernder Anftrengung ſich felbft und 
die Gegenftände der Außenwelt bewegt. Weber jene Eindrüde 
noch dieſe Bewegungen find an ein feſtes Geſetz ihrer zeitlichen 
Wiederkehr oder ihrer Reihenfolge gebunden; in unberechenbarer 
Zufälligfeit einwirkend und angeregt, können fie zunädft nur 
als Störungen des Körpers und derjenigen feiner Einrichtungen 
gelten, auf welche der ftetig zufammenbängende Gang feiner be= 
ftimmt geftalteten Entwidlung begründet ift. Aber dennoch liegt 
nicht in der ftillen und unverrüdten Entfaltung, fondern eben 
in diefer Leiftungsfähigfeit, die in jevem Augenblide einen Ueber— 
ſchuß Ichendiger Kraft gegen vegellofe Eindrüde zu verwenden ver- 
mag, der weſentliche Charakter alles thierifchen Lebens. ‘Deshalb 
muß zu diefen Rückwirkungen, die im Einzelnen nicht vorgeſehen 
und vorberechnet fein fonnten, wenigftens die allgemeine Möglichkeit 
in einem weſentlichen Zuge des thierifchen Haushalts gefichert fein. 

Bon der beftändigen Fortdauer eines und deſſelben Ereig- 
niffes, fo wie von dem abgefchloffenen Kreislauf in fih zuräd- 
gehender Entwidlung bietet und die unorganiſche Welt Beifpiele 
von fehr einfacher Begründung. Im der That würde der Fort⸗ 
beftand jeder einfachen Bewegung eines Körpers Teine andere 
Hülfe als die Abhaltung ftörender Urſachen erfordern ; und wiederum, 
der Hinzutritt einer einzigen Störung, jener Anziehung etwa, 
die den bewegten Körper an einen andern feflelt, veichte hin, ſei⸗ 
nen Weg zu krümmen, und nur wenige nähere Bedingungen 
würden nöthig fein, um biefen in die gefchloffene Bahn zu ver: 
wandeln, in welcher der Planet um feinen Hauptlörper kreiſt. 





88 


Und endlos würde dies regelmäßige Spiel von Bewegungen zwi- 
ſchen beiden Körpern ſich fortfegen und wiederholen, fo lange fie 
jeder inneren Beränderung ihrer Maſſen und Kräfte, fo wie jedem 
Eindrude der Abrigen Welt um fie ber entzogen blieben. Aber 
es würde eine Täufchung fein, wenn wir biefe Beifpielc beitändig 
gleichförmiger oder im fich zurüdgehender Entwidlungen als Belege 
für die Leichtigfett anführen wollten, mit welcher aud dem Leben 
die Berwirflihung feiner ähnlich geformten Verrichtungen gelingen 
müßte. Denn obgleih auch feine Wirkſamkeit zulegt anf ber 
Benutzung jener einfachen Gefege der Beharrung und der Zus 
fammenfegung der Kräfte beruhen wird, fo finden wir bei näbe- 
rem Einſehen doch die Verrichtungen, die innerhalb des lebendi⸗ 
gen Körpers in einem gleichförmigen Strome fortgehen, wie Die 
beftändige Aneignung und Erhaltung in den Feinften Theilen, 
durch weit zufammengefestere Vorgänge vermittelt, als Die ein= 
fache Geftali des herauskommenden Erfolges vermuihen Tief. 
Sie gleichen dem ruhigen Lichte der Kerze, deſſen gleichför= 
miger Schimmer nichts von der Reihenfolge ineinandergreifender 
Wirkungen erzählt, durch die er ſich nährt. Als der erfte ent= 
zünvete Theil des Dochtes ſich mit dem Sauerftoff der atmofphä- 
riſchen Luft verband, erzeugte er verbrennend mehr als Die nöthige 
Wärme, um auch den benachbarten Theil fo weit zu erhitzen, 
daß er derfelben Berwandtihaft zum Sauerftoff folgen konnte. 
Sp ſchlug vom zweiten zum dritten und über das Ganze bie 
Flamme auf, indem jeder Punkt durch einen Theil feiner ent= 
dundenen Wärme die gebundenen Kräfte des andern zum Aus- 
bruch in gleihe Entzündung löſte. Aber die Flamme würde 
zu ſchnell das zarte Gewebe der Yäben verzehrt haben, wenn 
wicht ein anderer Theil der Befreiten Wärme das Wachs in 
Fluß geiett hätte, das beſtimmt ift, den Brand zu nähren. 
Durch die anffaugende Anziehung bes Dochtes fteigt die fläffige 
Maſſe auf und indem fie fein Gewebe vor zu fchneller Zer⸗ 
flörung trankend ſchützt, gelangt fie bis zu einem Punkte, Durch 
defien gefteigerte Temperatur fie ſelbſt entflammt wird, während 





89 


bem auffteigenden Strome der erhigten Luft, die fi von ber 
Flamme erhebt, an diefem Punkte von unten eim frifher Nach⸗ 
zug, die eingeleitete Berbrennung unterhaltend, nachfolgt. So 
entlaftet Die geſchmolzene Flüſſigkeit, nun felbft durch den Brand 
verflüchtigt, Die gefüllten Fäden des Dochtes wieder und gewährt 
dem neuen Material, zu deſſen Schmelzung fie felbft beitrug, 
freien Raum, um nad oben nachrädend diefelbe Folge von Vor- 
gängen fortzufegen. 

Auf ähnlichen Beranftaltungen beruhen die ſcheinbar ein= 
fachen und gleihförmig fortgebenden Berrichtungen des Lebendigen. 
Nur dag die Flamme erlifcht, wenn das einmal vorhandene Ma- 
terial verzehrt ift; den lebendigen Thätigfeiten führt der Zufam- 
menbang des Ganzen die Möglichkeit ihrer Fortfegung wieder 
von Neuem herbei. So erfcheinen fie nicht ſowohl als die ele- 
mentaren Borgänge, deren gleichförmige Beſtändigkeit den halten- 
den Boden fir Die Veränderlichleit der übrigen darbietet, fondern 
mehr als Leiftungen, die der Zuſammenhang eines größeren und 
verwidelteren Planes zwar mit einfacher Form ihres Berlaufes 
aber mit feiner und vickjeitig verfälungener Begründung vermit- 
telt. Nicht weniger unzureichend würden die Analogierf des Plas 
netenlaufe® zur Erklärung der periodifchen Kreisläufe fein, welche 
wir andere Berrichtungen des lebendigen Körpers vollenden fehen. 
Die Pulſationen des Herzens, die rhythmiſchen Zufammenzieb- 
ungen ber Eingeweide, der Wechjel des Athmens, Das alles 
find Vorgänge, die Feine Achulichkeit mit den einfachen Bewegun- 
gen freiſchwebender Körper haben. Große Anzahlen unter einan- 
der feftwerbumdener Theile fehen wir hier zu gemeinfamen Be- 
wegungen zufammenmirfen, deren Ausführung nicht ohne eine 
Aenderung in der Berfnüpfungsweife der Theile, nicht ohne Auf: 
opferung einiger der Bedingungen möglich ift, an denen eben 
ihre Wirkfamleit hängt. Auch diefe Leiftungen find deshalb einem 
allgemeineren und umfafienderen Plane untergeorpnet, der ihnen 
den Wiebeverfag der verbrauchten Berhältniffe und die regelmäßige 
Wiederkehr der Anregungen fichert, deren fie bebürfen. 


90 


Bergeblih würden wir die dritte der Ablaufsformen zufam- 
mengefegter Ereigniffe, die wir oben erwähnten, die fortichreitende 
Entwielung dur eine Stufenreibe vorausbeftimmter Zuftände, 
in der unorganifchen Welt aufſuchen. Ste gehört dem Leben allein 
und tritt in der vollen Schönheit und Reinheit ihrer Bedeutung 
in der Entfaltung der Pflanzen hervor. Dennoch ift e8 nicht 
ganz ohne Werth, den unvolllommneren Borandeutungen zu fol- 
gen, die wir von ihr in dem unlebendigen Gefchehen finden kön— 
nen. Nur zwifchen jenen beiden Körpern, die wir früher anführ- 
ten, könnte das Spiel einer Freifenden planetarifhen Bewegung 
in endlofer Regelmäßigfeit fortdauern; der Hinzutritt jedes brit- 
ten würde die Wechfelmirtung der beiden erften verändern und 
fie nötbigen, in Bahnen fi) zu bewegen, welche den Einfluß 
einer äußern Störung verriethen. Nur in längeren Perioden, 
wenn überhaupt, würde e8 dieſem Syſtem von Körpern gelingen, 
völlig wieder in feine urfpränglicde Anordnung zurückzukehren und 
von ihr aus die vollendete Bewegung genau in gleicher Weife zu 
wiederholen. Mit der Anzahl der gegen einander wirkenden Glie- 
der wird die Schwierigkeit eines rhythmiſch in fich zurückkehrenden 
Verlaufs der Veränderungen wachſen, und es wird befonders 
günftige Bedingungen bebitrfen, wenn die gegenfeitigen Störungen 
auf ein Maß der Kleinheit beſchränkt bleiben follen, bei welchem 
fie im Ganzen die Geftalt des Syſtems und feiner Bervegungen 
nicht wejentlich beeinträchtigen. Soldye Bedingungen finden ſich 
für das Planetenſyſtem unferer Sonne verwirklicht, und zu ihnen 
gehört vor Allem dieſe, daß es mit aller innern Mannigfaltig- 
feit feiner Bewegungen body ein abgefchloffenes und ifolirtes Ganze 
bildet, bis zu welchem ſich die Einwirkungen der noch außer ibm 
gelegenen Welt, der entfernteren Firfterne, nicht mehr in merk— 
lihen Spuren erftreden. Anders würde es ſich verhalten, wenn 
diefes Syſtem, ebenſo wie der Körper ber Pflanze, den Einflüffen 
von außen geöffnet wäre und, wie fie, e8 erleiden müßte, daß 
alle die Bewegungen, in die es nad der Anlage feiner eigenen 
Natur geriethe, durch eine regelmäßige oder unregelmäßige Wieder: 


91 


kehr äußerer Eindrücke getroffen und verwandelt wirben. Neh— 
men wir an, daß ein Syſtem von Himmelskörpern dur einen 
Raum fi fortbewegte, in welchem es Maffen, auf welche feine 
Anziehungskraft wirken könnte, nach irgend welchem Gefete ver- 
theilt vorfände, fo wilde e8 nicht nur wachſen, indem es dieſe 
in die Kreife feiner eigenen Bewegungen hineinzöge und für bie 
Zukunft an ſich feffelte, fondern durch den Zutritt dieſer neuen 
Beſtandtheile würden auch die gegenfeitigen Beziehungen der frühe: 


ren verändert werben umb bie Bewegung des Ganzen fidh beftän- 


dig in neuen Formen entwideln, deren jede aus der eben voran= 
gegangenen und aus ber Einwirkung ber neuen Bedingungen 
des Augenblides fi) mit Nothwendigfeit ergäbe. So entftände 
eine georbnete Stufenfolge von Zuftänden, den einzelnen einander 
ablöfenden Entwidlungsphafen des Kebendigen vergleichbar. Denn 
eben der lebendige Körper ift ein ſolches offenes Syſtem von 
Theilen, gegen die Einwirkungen des Aeußern nicht abgefchlofien, 
fondern ihrer zu feiner Entmwidlung bedürftig. Zu dem, wozu 
er ſich entfaltet, liegt nicht der vollftändige Grund in ihm felbft; 
nicht allein des Zuftromes der Maffen ift er benöthigt, aus denen 
feine wachſende Geftalt erbaut werben foll, fondern auch erregen- 
der Eindrüde, die feinen eigenen Kräften Richtung und Aufein- 
anderfolge ihrer Aeußerungen beftimmen; ſcheinbar abgefchloffen 
in ſich felbft, ift er doch nur die eine Hälfte von dem Grunde 
des Lebens, während die andere ergänzende noch geftaltlos in dem 
allgemeinen Strome de8 Naturlaufs Liegt, der an ihn herandringt. 


Die Entwidlung des Lebendigen beruht jedoch nicht allein 
hierauf; eine andere Eigenthümlichleit müfjen wir hinzufügen, 
durch Die es ſich wöllig von jenem Bilde eines ſich entwidelnden 
Sternenſyſtems unterjcheiden würde. Es ift die ausgedehnte Be- 
nugung der chemiſchen Verwandtichaften und der Anziehungen 
auf unmerkliche Entfernungen, welche hier an die Stelle der den 


92 


Weltraum durchdringenden und das Entferntefte verknüpfenden 
Gravitation getreten find. Die gewöhnliche Anſchauung, wenn 
fie nur den Körper ber Pflanze und des Thieres als ein leben⸗ 
dig zufammengeböriged Ganze, das Planctenfyftem als eine Ge⸗ 
fellung ſelbſtändiger Wefen anfteht, macht diefen Unterſchied nicht 
ohne Grund; er hängt mit diefer Berfchievenartigfeit der Kräfte 
zuſammen, denen im beiden Fällen der weſentlichſte Antheil an 
der Berwirffihung der veränderligen Entwidlung zufält. Auch 


ber Körper der Planeten wird durch jene Anziehungen gebilvet . | 


und zufammengebalten, die nur in größter Nähe wirkſam, in 
merflichen Entfernungen verſchwinden, und unanfhörliche chemifche 
Beränderungen geftalten wenigftens feine Oberfläche unabläffig 
um; aber dieſe inneren Schwankungen haben feine Bedeutung 
für Die Anziehung, dur Die er als Ganzes in dem reife der 
Himmelskörper feine Stelle bat. Auch in dem lebendigen Körper 
umgefehrt wirkt die Schwere überall, jo viel ihr nach allgemeinen 
Gefetzen möglich ift; aber wie wichtig und bebeutfam dieſe Wir- 
tungen für einzelne Fälle fein mögen, ein durchgreifender Einfluß 
zur Geftaltung der Lebenserfheinungen tft ihnen nicht eingeräumt. 
Mit feiner Anziehung in Die Ferne, melde ungemeffene Welt- 
räume noch wirkſam durchdringt, vermag das Planetenſyſtem jene 
für den Anblid fo Iofe und doch in der That fo fefte Verbindung 
von Theilen zu bewirken, deren Größe gegen die Ausdehnung 
ber Entfernung zwifchen ihnen verſchwindet; der lebendige Körper 
Dagegen gewinnt durch jene Kräfte, die ſchon in geringer Entfer— 
nung von Ihrem Ausgangspunkt nichts mehr Teiften, aber in un- 
mittelbarer Berührung der wechſelwirkenden Theile große Wider- 
ftände bezwingen, jenes fefte zufammenbängende Geflige, durch 
das er überall als eine gefchloffene Einheit fich won feiner Um— 
gebung abhebt. Und dieſer Unterſchied befteht nicht allein fire 
den Anblid. Sich felbft überlaſſen, mag der Zufammenbang 
eines Sternenfoftens feft fein; aber wie er nur hergefteßit: wirb 
durch Kräfte, deren Wirkfamleit in die Berne bringt, fo ift er 
uch flörbar durch folge, die aus der Yerne kommen, und er 





93 


wird durch entfpreddende Schwankungen den Einfluß der leifeften 
Beränderungen in der Anordnung ber ihm äußeren Welt ver- 
rathen, gegen die er auf feine wirkſame Weiſe ſich abfchlichen 
kann. Dem lebendigen Körper dagegen, der zu beftändiger Wech- 
ſelwirkung mit der äußern Welt beftimmt ift, dient dieſe eigen- 
thümliche Ratur feiner Kräfte zur Schutzwehr; die geringe Ent: 
fernung, in welcher die chemiſche Verwandtſchaft und die Cobäfton 
ihre Wirffamfeit verlieren, umgibt ihn mit einer Zone von 
Gleichgültigkeit, während dieſelben Kräfte feine eigenen ſich berüh— 
renden Theile mächtig genug zufammenhalten, um felbft der wirk⸗ 
lid andringenden Gewalt Widerſtand zu Ieiften. Während ba- 
ber das Iodere Gefüge eines Sternenfuftems mit einer bewun⸗ 
dernswürdigen Empfindlicfeit die Veränderungen des übrigen 
Weltalls in feinen eigenen Veränderungen abfpiegeln würde, kehrt 
der lebendige Körper, hierin von derberer Natur, aud nach gro- 
gen Schwanfungen in die frühere Lage feiner Theile zurüd, und 
bietet uns dadurch den Anblick einer ſich gleihbleibenden und doch 
nicht ftarren, fondern beweglichen Geftalt. 

Noch einen andern Vortheil möchten wir bier erwähnen, den 
das Lebendige aus demfelben Umftande zieht, und der im erften 
‚Augenblide vielleicht als ein Nachtheil erfcheinen mag Man 
bat fih fo fehr daran gewöhnt, einen der mefentlichften und wun⸗ 
berbarften Vorzüge des Lebens in der überaus feinen wechſelſeitigen 
Verfnüpfung der Theile zu fehen, daß es auffallen fann, wenn 
wir gerade den Mangel einer ſolchen in gewiſſem Sinne als feine 
wirflihe Eigenſchaft hervorheben. Dennoch findet fich dieſer 
Mangel und man ann fich Teiht überzeugen, daß in ibm, der . 
nur für beftimmte Zwecke durch eigenthümliche Beranftaltungen 
wieder ausgeglichen ift, eine größere Sicherheit fiir den Fortbeſtand 
des Lebens, als in jenem nicht vorhandenen Uebermaß durchdrin⸗ 
gender Verknüpfung liegt. Wären alle Theile des lebendigen 
Körperd ummittelbar fo durch Wechſelwirkungen verbunden, daß 
jede Heine Veränderung des einen ihren Wiederhall über die Ges 
fammtheit der übrigen verbreiten müßte, fo wilde hierin eine 


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reihe Quelle unendliher Störungen für das Ganze liegen, die 
eben fo umfängliche Beranftaltungen zu ihrer Ausgleihung er- 
forderten. Denn nicht überall würde e8 wohl möglid fein, die 
Störung fih an ihren eigenen Erfolgen breden zu laſſen, und 
geſchähe felbft dies, fo witrde Doch die Unruhe überhaupt, die dadurch 
in das Ganze käme, ein Uebel fein, fobald fie nicht nebenher 
zur Erreichung anderer Zwede nugbar gemacht wirde. Im dem 
Syſtem der Himmelskörper fchen wir den Erfolg diefer durchdrin⸗ 
genden Wechfelwirfung, indem Fein einzelner Planet feine Bahn 
jo befhreiben kann, wie er fie ohne die Störungen durch die An- 
ziehung der übrigen befchreiben würde. ‘Der lebendige Körper ftellt 
durch den befonderen Bau feines Nervenſyſtems den engeren Zu— 
fammenbang da und in dem Sinne in größter Teinheit ber, wo 
und wie er zwedmäßig für die Aufgaben des Lebens ift; an ſich 
aber hängt bei dem geringen Wirkungskreiſe der Kräfte, Die hier 
in vorberfter Reihe thätig find, jeder einzelne Theil nur mit wenigen 
feiner nächften Nachbarn fo unmittelbar zufammen, daß jeder Zu— 
ftand des einen mit bemerfliher Wirfung fi auf den andern 
verbreiten müßte. Daraus entfteht für einzelne Gruppen von 
Theilen die Freiheit, ihre Geftalt, ihr Gewebe und ihre Mifchung 
mit einer gewiſſen beharrlihen Selbftänbigfeit auszubilden und 
ungeftört durch vorlibergehende Schwankungen de8 Uebrigen Ver: 
rihtungen zu vollziehen, auf deren gleichmäßigen Verlauf der Zu: 
fammenhang des Ganzen rechnet. 

Kaum ift c8 nun nöthig, die eigenthümlichen Erfolge befon- 
ders hervorzuheben, melche für das Leben aus der Benugung der 
hemifchen Vorgänge entfpringen. Die himmlifhen Bewegungen 
gefhehen an gleihbleibenden Maffen ; die mafchinenbauende Technif 
verivendet zwar chemiſche Kräfte zur Herftellung des bewegenden 
Antriebes, aber die Form der Leiftung gründet fie ebenfalls auf 
einen ftarren Bau unveränderlider Theile; das Lebendige allein 
zeigt uns eine Entwidlung, deren Träger nicht nur an Maffe wacdh- 
fen, fondern während ihrer Thätigkeit eine voraus beftimmte Aende⸗ 
rung ihrer Natur erfahren. In viel mejentliherem Sinne als 


| 


95 


dort ift daher hier jeder zufünftige Erfolg durch den unmittelbar 
vorhergehenden Zuftand bedingt. Auch in der Maſchine gelingt 
die Leiftung des fpäteren Augenblid® nur durch das Verdienft des 
früheren, der die Theile des Getriebes in die erforderliche Stel- 
lung gerüdt bat; aber es bleiben doch in dem einen wie in dem 
andern diefelben wirffamen Maffen und diefelben Kräfte; Die 
Leiftung des Ganzen ift deshalb auf eine vielleicht mannigfaltig 
zufammengefegte, aber doch immer wiederkehrende und fi nicht 
fteigernde Reihe von Erfolgen beſchränkt. In dem Tebendigen 
Körper fett jede geſchehene hemifche Aenderung Kräfte in Wirk: 
famfeit, die früher nicht vorhanden waren, und bringt andere zur 
Ruhe; fo wird in jedem Augenblide für die fpätere Entwidlung 
eine neue Grundlage gefchaffen, dic bald eine Fortdauer der 
früheren Zuftände, bald eine Entfaltung in neue, bald beides 
mit einander verbindend, iiberhaupt die Ausbreitung in ein viel 
reichhaltigere8 Spiel der Geftaltung und der Leiſtung ge- 
ftattet. ‚ 

Man muß diefe ſtufenweis erfolgende Wiedergeburt der 
Grundlagen jelbft im Auge behalten, wenn man die Entftehung 
des Organismus aus feinem Keime verftehen will, ohne den be= 
ftändigen Eingriff einer ordnenden Macht nöthig zu finden. Die 
Erfahrung macht e8 uns freilich bis zu faft völliger Gewißheit 
wahriheinlih, daß in dem gegenwärtigen Naturlauf fein Or- 
ganismus fi mehr unmittelbar aus einer Verbindung elementarer 
Stoffe erzeugt; nur in der Fortpflanzung durch Gleichartiges 
läuft noch die Tradition des Lebens fort und erhält beftändig 
in dem Samen und dem Ei die beflimmt angeoronete Summe 
von Theilen beifanımen, aus deren Anregung dur äußere Reize 
die Reihe der Lehenserfcheinungen fi wieder entwideln kann. 
Selbft dieſe Ueberlieferung jedoch erſcheint uns häufig zu gering, 
dieſer Anfangspunkt zu einfah, als daß mir in ihn allein die 
Bedingungen der Fünftigen Wieverentwidlung niedergelegt denfen 
könnten. Wir vergefien dann, daß es in der That ein langer 
Bildungsgang tft, der durch unzählige Vermittlungen von der 


96 


Unſcheinbarkeit des Keimes bis zu der Vollendung der Blüthe 
und Frucht fiihrt, und daß auf jeder Stufe dieſes Weges Mög- 
Tichfeiten entftehen, die auf der vorhergehenden noch fehlten. Wir 
find weit entfernt davon, eine Geſchichte dieſer Ummandlungen 
und der Gefege fchreiben zu können, nad denen fie wirklich in 
beftimmter Reihe in der Entwidlung des Lebendigen auf ein- 
ander folgen; aber wir find nit ganz außer Stand, im All⸗ 
gemeinen bie Hülfsmittel zu jhägen, welche die Ratur hier auf- 
geboten haben Tann, und deren Bermittlung die große Kluft 
zwifchen dem Anfangs: und dem Endpuntte der Bildung durch 
Theilung in viele Zwiſchenſtufen verringert. 

Selbft wenn und nichts am Anfange vorläge, als cine 
Flüffigfeit von genau beſtimmter Mifhung ihrer Beſtandtheile, 
ohne daß noch irgend ein fefter Kern als Grundlage des werdenden 
Drganismus fi auszeichnete, jo würden doch die erften chemiſchen 
Einwirkungen der Umgebung binreihen können, diefen Kern zu 
erzeugen. Durdy Gerinnung würde ein Beſtandtheil fi aus- 
ſcheiden, und da der Natur jedes Stoffes nicht nur eine beftimmte 
Form entfpricht, die er fich felbft überlaffen annimmt, da vielmehr 
unter Umftänden auch die Größe der Geftalt beftimmt fein kann, 
die er durch feine Kräfte zufammenbaltend abſchließen kann, fo 
würde dieſe feſtwerdende Subftanz in eine beftimmte Anzahl von 
Theilen zerfallen, die nun die gegenfeitige Stellung einnehmen, in 
welcher fic mit allen vorhandenen Bedingungen im Gleichgewicht 
find. Mag indeffen hierdurch oder durch den jchon beftehenden 
Bau des Samens der erfte fefte Kern der weiteren Bildung 
gegeben fein, wir beblirfen nichts als eine geringe Ungleichartigfeit 
feiner Anordnung nad verſchiedenen Richtungen, um zu begreifen, 
wie die Entwidlung des nächſten Augenblicks, indem fie gleiche 
äußere Reize auf dieſe abweichend gebauten Theile einwirken 
läßt, ihre Ungleichartigfeit fteigert und fo das Hervortreten ver- 
fhiedener und weit auseinander gehender Formen aus dem 
Iheinbar gleihartigen Urfprunge vorbereitet. Jede gefchehene che⸗ 
mifche Umwandlung wird zunäcft die räumliche Anordnung nad 


97 


fih ziehen, Die dem veränderten Stoffe entfpricht; aber jede fo 
herbeigeführte neue Geftaltung wird die fpätere Einwirkung der 
Reize mitbedingen, indem fie diefelben von jegt unzugänglich ge— 
wordenen Theilen abhält und auf andere zugänglich gebliebene 
zufammendrängt und fo wiederum der fpäteren Entwidlung näher 
beftimmte Wege vorzeichnet. 

Wie jedoch jede chemiſche Miſchung eine beftimmte Geftalt, 
jo führt aud die gewonnene Geftalt neue Gewohnheiten des 
hemifhen Wirkens berbe. In den Werkftätten unferer Kunft 
vermeiden wir es, das Gefäß an den hemifchen Wechſelwirkungen 
feines Inhalts theilnehmen zu laſſen; in dem lebendigen Körper 
bilden die Gewebe nicht nur den theilnahmlofen Schauplag, der 
andere Stoffe zu gegenfeitiger Einwirkung zufammenbrängt, fondern 
üben durch ihre Dichtigkeit, ihre Form, und durch die anzichenden 
_ oder abftoßenden Kräfte, welche fie auf ihren Inhalt äußern, auf 
den Gang der Stoffummwandlung einen mitbeftimmenden Einfluß 
aus. Durch diefe ſtufenweis fortichreitende Ausbildung des Ge- 
fäßes, in dem fie enthalten find, werden die ernährenden Flüſſig⸗ 
feiten zur Erzeugung feinerer Miſchungen ausgearbeitet und ben 
äußeren Lebensreigen ein immer beftummter angeorbneter Zutritt 
verftattet. Keins diefer zufammenmirkenden Elemente dürfen wir 
gering fhägen, und wie vollfommen wir aud überzeugt find, daß 
feiner von allen dieſen Borgängen der lebendigen Entwidlung ſich 
den allgemeinen Gefegen des phyſiſchen und hemifchen Wirfens ent- 
ziehen könne, fo wenig können wir hoffen, mit dem bisher befannten 
Theile diefer Geſetze die unüberfehbare Berwidlung zu erflären, 
mit welcher die beftändigen Veränderungen der Form, der 
Miſchung und des Zutritts der äußeren Reize bier in einander 
greifen. Am wenigften dürfen wir hoffen, daß e8 der menjdh- 
lichen Kunft je gelingen werde, einen irgend wie wefentlichen Be- 
ftandtheil eines Ichendigen Körpers nachahmend zu erzeugen. Denn 
fo gewiß jedes Tebendige Erzeugniß durch Feine andern Kräfte 
entftehen konnte, als durch die des allgemeinen Naturlaufs, fo 
gebörte doch zu feiner Entſtehung ebenfo nothwendia die ganz be- 

Loge I. 3. Aufl. 


98 


ftimmte Anordnung diefer Kräfte und ihrer Träger, die allein 
erft dem fünftigen Erfolg feine Form vorzeichnen fonnte. Und 
diefe Anordnung fehen wir nie ſich von felbft wiedererzengen ; ihre 
Bewahrung hat die Natur der beftändigen Ueberlieferung durch 
Fortpflanzung vorbehalten. Jede Hoffnung, fünftlih das Leben 
von Neuem zu fchaffen, würde Die anmaßende Zuverfiht ent- 
halten, daß wir mit mwenigeren und unzureihenden Mitteln und 
auf fürzerem Wege das heroorzubringen vermöchten, was die Natur 
jelbft nur durch einen langen Entwidlungslauf unb nur burd 
das Einfegen bereitd organifch georoneter Kräfte zu verwirklichen 
vermag. 

Zu verſchiedenen Zeiten nun hört die Bildungsfähigkeit der 
verfchiedenen Theile eines jo fich entwidelnden Syſtems auf; einige 
haben die Reihe der Ummwandlungen durchlaufen, zu denen fie unter 
den vorbamdenen Umftänden fähig waren, während andere nod) in 
ber Mitte ihres Bildungslaufes find. So zieht der verholgende 
Stengel der Pflanze fih allmählich von der Theilnahme an ber 
weiteren Entwidlung zurüd, aber er fährt fort mit feinen phyſiſchen 
Eigenfhaften der Feftigfeit und Starrheit dem Ganzen zu dienen, 
indem er ben beweglich gebliebenen Theilen den Schauplag ihrer 
Thätigkeit vorzeichnet. Auf die mannigfaltigfte Weiſe ſchafft fich 
jo die Entwicklung in ihrem Fortſchritt neue Unterlagen, von denen 
aus fie weiter wirkt, aber fie erzeugt ſich dadurch auch zugleid) 
Schranken, melde die Möglichkeit des Wirkens auf beftimmte 
‚Formen zurückbringen, und fo entweder die Feſthaltung eines 
durchgehenden Bildungstypus oder zugleich den endlichen Abſchluß 
des Lebens und die völlige Erfhöpfung aller Gelegenheiten des 
Weiterwirkens herbeiführen. Alle diefe Züge, welche für ung das 
Bild einer in fi abgeichlofienen Entwidlung zufammenfegen, wird 
man an die Benugung der hemifchen Verwandtſchaften und an die 
Anwendung jener molecularen nur in der Berührung wirkenden 
Kräfte gefnitpft finden. 


99 


Die Pflanze, das deutlichfte Beifpiel diefer Entwidlung, bat 
feine andere Aufgabe ihres Lebens, als die Ausbildung ihrer eige- 
nen Geftalt. Böte ihr die Außenwelt die Stoffe fertig dar, welche 
fie zu dieſem Bau benugen könnte, jo wiirde fie nur aufnehmend 
fi verhalten, aber e8 läge Feine Nothwendigkeit vor, um deren 
willen fie vor ihrer gänzlichen Zerftdrung der Außenwelt Stoffe 
zurückgeben müßte; Die einmal aufgenommenen würden ihre bleiben= 
den Beftandtheile fein. Aber fie findet dies fertige Material nicht, 
fondern ift genötbigt, es aus den Elementen zu erzeugen. Bei 
diefer Arbeit kann ein Theil des verwendeten Stoffes als un= 
benußgbares Nebenproduct abfallen und der Außenwelt zurüdge- 
geben werden; andere Stoffe, wie die großen Mengen des auf- 
genommenen Waſſers, durchkreifen den Planzenförper, nit um 
ihm als Beftandtheile anzugehören, fondern um als Löfungsmittel 
die Beweglichkeit der wirkſameren Theile zu fihern; auch fie gehen 
nach Leiftung ihres Dienftes in die Außenwelt zurüd; mandes 
endlich, was für gewiſſe Perioden des Wachsthums von Werth 
war, löſt fih nah Erfüllung feiner Aufgabg vertrodnend ober 
vermwelfend vom Ganzen ab. Aber feinen Grund haben wir an= 
zunehmen, daß diejenigen Stoffe, welche einmal in den feften 
Bau der Pflanze eingegangen find, einer wiederholten Erneuerung 
unterliegen. Der thieriſche Körper verhält fih befanntlih in 
biefer Beziehung anders, und obgleich nicht alle Zmeifel über bie 
Ausdehnung feines Stoffwechſels befeitigt find, fo ift doch gewiß, 
daß ein großer Theil feiner Maffe in beftändiger Zerfegung 
und Wiederernenerung durch friichen Anfag begriffen iſt. Diefe 
Thatfache, deren Umfang wir fpäter ins Auge faffen werben, 
wollen wir zunächſt in ihrer Bedeutung für denjenigen Zug des 
tbierifchen Lebens überlegen, mit dem fie unftreitig in nächſtem 
Zufommenhang fteht, nämlich mit den Leiftungen, die der thie- 
riſche Körper, ohne ein beftimmtes Gefeg ihrer Wiederkehr und 
Reihenfolge, noch außer ber Ausbildung und Erhaltung feiner 
eigenen Geftalt ausführt. 

Keiner der unzähligen Eindrüde, mit denen die Außenwelt 

7* 


100 


bie Sinne fortwährend vegellos beſtürmt, und deren Umfegung 
in Empfindung die Aufgabe der thierifchen Secle iſt, kann von 
dem Körper aufgenommen werben, ohne daß die auffaffenden Or- 
gane durch ihn eine Aenderung des Zuftandes erführen, in welchem 
ihre wirffamen Theile fi im Augenblide der Ruhe befinden. 
Keiner der ebenfo zahlreichen Bewegungen, durch welche das in- 
nere Leben des Thieres auf diefe Reize zurückwirkt, iſt ausführbar, 
ohne Daß die große Lagenveränderung feiner Glieder durch eine 
unzählbare Menge von Beränderungen in der gegenfeitigen 
Stellung ihrer Heinften Theilchen vorbereitet würde. Alle dieſe 
Borgänge, da fie nicht wie voraus beftimmte Entwidlungszuftände 
in georbneter Reihenfolge fondern jedem mathematiſchen Geſetze 
entzogen eintreten, können nur als flörende Erſchütterungen der 
Berhältniffe gelten, die den Beſtandtheilen des Körpers durch 
das Mufter feiner Gattung vorgefchrieben find. Wollten wir 
uns in Möglichkeiten ergeben, die feine nachweisbare Beziehung 
zur Wirklichkeit haben, fo Könnten wir uns wohl vielleicht vor⸗ 
ftellen, der Bau des Körpers fer fo geordnet, daß feine Organe 
aus jeder diefer Erſchütterungen mit vollfommener Elafticität wie- 
der in ihren vorigen Zuftand zurückkehrten. Aber nur in gerin- 
ger Ausdehnung finden wir in der Erfahrung diefe Annahme 
beftätigt, indem wenigftens die Kräfte de8 Zuſammenhalts zwi⸗ 
fhen den Theilen der feften Gewebe mächtig genug find, um 
augenblidliche Bedrohungen deſſelben zu überwinden. Die Er- 
Ihöpfung der Sinne dagegen, die Ermüdung der Muskeln, die 
nach gewiſſer Dauer ununterbrochener Arbeit unfehlbar eintritt, 
überzeugt uns, daß das, was vielleicht denfbar mar, doch jeden- 
falls nicht wirklich ift, und daß das Leben mit denjenigen Mit- 
teln, welche ihm der gewöhnliche Naturlauf zur Verwendung 
ftellte, feine Organe zu bilden vermochte, bie nicht durch bie 
Wechſelwirkung mit den für fie beftimmten Reizen eine allmäh- 
liche Abnutzung erführen. In den Zwecken bes Lebens Tiegt es 
aber, die Spuren früherer Eindrüde faft überall wieder zu tilgen 
und die Werkzeuge wieder in jenen Zuftand zurüdzuführen, in 





101 J 


dem fie neu eintretenden Aufgaben völlig unbefangen und un— 
geihmächt durch Art und Größe der ſchon vollzogenen Leiftungen 
entgegenfommen. Es fragt ſich, wie dieſes Bedürfniß beftändiges 
Wiedererfages der Fähigkeiten am einfachften befriedigt werden 
fann. Ä 
Anſtatt entfernten Möglichfeiten nachzubängen, die zu leicht 
irgend ein überfehener Umftand zu Unmöglichfeiten machen Tönnte, 
wollen wir vielmehr ſogleich in dem unabläfjigen Stoffmechfel 
das einfachfte Princip dieſer Befriedigung nachmeifen, auf deflen 
wirflihe Benugung uns überdies Die Ausfage der Erfahrung hin- 
führt. Indem das Leben vergängliche Stoffe in feinen Dienft 
nahm und an immer wechſelnden Mafien feine Erſcheinungen 
verwirflichte, erleichterte c8 am beften die Aufrechthaltung eines 
normalen Zuftandes im Streit gegen unberechenbare Störungen. 
Sollten leife und feine Eindrüde der Außenwelt eine erregende 
Kraft für Die Organe des Körpers befigen, follten namentlich die 
zarten Unterſchiede der äußeren Reize durch merfliche Abweichun⸗ 
gen ihrer Einwirkungen für unfere Auffaflung auseinandertreten, 
oder Bewegungen in jeder möglichen Abftufung der Stärke, Dauer 
und Geſchwindigkeit ausführbar fein, fo mußten die dienftbaren 
Werkzeuge aller dieſer Verrichtungen eine leicht erregbare Verleg- 
Ichfeit ihrer inneren Zuſtände befigen. Dieſe nothwendige Eigen: 
haft war mit der Bergänglichkeit der hemifchen Zufammenfegung 
verbunden, und die lebendige Natur entzog fi dieſer Folge nicht 
jo, daß fie durch höhere Kräfte vieleicht die erſchütterten Stoffe 
der Zerfegung vorenthielt, der fie nah dem allgemeinen Recht 
der chemiſchen Vorgänge anheimfielen; fie ließ das Zerrüttete zu 
Grunde gehen, indem fie die nothmwendigen Grundlagen für den 
Wiedererſatz des Berbrauchten fefthielt. 

Aber nicht allein das, mas durch feine Leiftungen zerftört 
worden ift, jondern auch das, was thatlo8 iiber den Zeitraum 
hinausgekommen ift, während deſſen feine Zufammenfegung be= 
fteben konnte, wird feinem Schickſale überlaffen und geht, nur 
mit geringerer Geſchwindigkeit al8 jenes, der Zerſetzung entgegen. 


102 


Durch diefes Verhalten vermeidet die Natur die Nothwendigkeit, 
jeder einzelnen Störung eine ihrer Art und ihrer Größe ange- 
mefjene heilende Rückwirkung entgegenzufegen, und fie entgeht 
dadurch zahlreichen Nachtheilen, die von einem anderen Verfahren 
kaum abtrennbar fcheinen. Ste Eönnte ohnehin Rückwirkungen 
folder Art nur entfalten, wenn die Störung felber mit mechani- 
her Nothwendigkeit diefelben auslöſte und fo an einem Theile 
Ihrer eigenen Folgen, der ſich gegen fie wendete, ſich bräche. Aber 
eine ſolche Thätigkeit, die erft im Augenblide des Bedarfs hervor: 
bräche, würde in fo regellofer Wicderfehr eintreten, wie die Stö- 
rung, von der fie erregt wird; fie felbft würde daher eine neuc 
Erſchütterung fein, die nicht ohne beſonders günftige Verhältnifſe 
unfhädlih an dem Zufammenhange des Ganzen vorüberginge. 
Es würde der gleihe Fol fein, wenn die Beftandtheile des Kör- 
perd an ſich unveränderlich wären und nur dur die Eindrüde 
der äußern Reize und deren Nachwirkungen erfchlittert ſich zer- 
festen, dann plöglich einen Wiedererfag verlangend, während die 
Zwiſchenzeit ohne einen foldhen verlief. Iſt dagegen das Ganze 
der wirffamen Theile ein beftändig in Ab- und Zufluß bemegtes, 
fo nimmt diefer Strom ftetig die Nefte der Zerftörung mit fich 
hinweg und beftändig die Grundlagen des Weiterwirkens erneu- 
ernd bewahrt er das Ganze des Lebens vor ven plöglihen und 
ſtoßweis erfolgenden Erſchütterungen, die jede nur im Augenblid 
des Bedurfniſſes erwachende Abwehr mit fich führen würde. Und 
auch die Notbwendigfeit fällt hinweg, für jede Störung das ihrer 
Art und Größe entfprechende Heilmittel zu erzeugen; anftatt des 
offenen Kampfes gegen die vielfach verfchtedenen Folgen der Ein- 
drücke befolgt das Leben die Lift des beftändigen Ausweichens, 
indem c8, von Anfang an mit wechſelnden Mitteln wirkend, ver: 
Ioren gibt, was durch äußere Angriffe erfchüttert nur fchneller 
der Zerftörung entgegengebt, für die e8 ohnehin beftimmt war. 
Allerdings finden wir nun in dem Iebendigen Körper doch auch 
ausdrückliche Beranftaltungen, um auf gewiſſe Einbrüde Nüdwir- 
fungen in einzelnen Augenbliden folgen zu laffen, die fi auf 


103 


Dauer, Form und Größe jener Anreize berechnet zeigen; aber 
felbft Die Wirkſamkeit diefer Mittel, deren wir noch fpäter zu ges 
denken haben werben, findet fich doch zulegt nur durch dieſe be- 
ftändig fortgebende allgemeine Strömung des Stoffwechſels mög- 
ih gemacht. 

Jedoch diefe Strömung ganz allgemein zu nennen, haben 
wir bei genauerer Ucberlegung Fein erweisliches Recht, und man 
übertreibt die Vergänglichfeit des thierifhen Körpers, wenn man 
Perioden angeben zu können glaubt, binnen deren er feinen gan- 
zen Maſſenbeſtand durch Stoffwechſel umgetaufht habe. Nicht 
alle durch den organiſchen Chemismus erzeugten Stoffe find von 
fo leicht zu ftörender Zufammenfegung, wie wir, durch den auf: 
fallenden Anblid der Fäulniß einiger irregeleitet, häufig uns vor- 
ftellen; wir kennen die Dauerhaftigfeit des Holzes, der Knochen, 
der Sehnen und Häute und machen von ihr den mannigfachiten 
Gebrauch; wir Tennen im Gegenfag dazu die oft raſch fortjchret- 
tende Verwitterung der Steine, deren Dauerbarkfeit viel größer 
ſchien. Ob dieſe Beftandtheile von fefter Zufammenjegung wäh: 
rend des Lebens eine erhebliche Neubildung erfahren und bebür- 
fen, ift nicht völlig entjchieden, und zweifelhaft ſelbſt, ob manche 
andere, die wir nach dem Tode fchnell fi zerfegen ſehen, nicht 
während des Lebens dennoch durch günftigere Umftände, unter 
denen fie ſich hier befinden, länger erhalten werden. Unbekannt 
ift endlich für viele die Form ihrer Erneuerung, und wir miffen 
nicht, ob einzelne vollftändige Formelemente, wie die Faſern der 
Newen und Muskeln, als Ganzes erhalten und nur in ihren 
Heinften Theilen ftet8 neu nachgebilvet werden, oder ob unter 
Umftänden auch fie zerfallen und neue vollftändige Stellvertreter 
für fie entftchen. Am menigften endlich vermögen wir für Die 
einzelnen Gebilde die Größe und Geſchwindigkeit der Abnugung 
‚ und der Erneuerung zu beftimmen, die fie unter den gewöhnlichen 
Umftänden des gefunden Lebens erfahren. Ungeachtet dieſer Man- 
gelhaftigfeit unferer Kenntnifje können wir jedod das Bild des 
Stoffwechſels durch die gemiß richtige Annahme ergänzen, daß 





104 


der Zerfall und Umtaufch der Beftandtheile, falls er allgemein 
ftattfindet, jedenfalls mit fehr verfchtedener Gefchwindigfeit vor 
fi) geht, und daß in jedem Augenblide ein bedeutender Stamm 
von Beftandtbeilen ſich mit fefter oder nur langſam wechſelnder 
Maſſe in dauerhaften und feften Berbindungsformen erhält und 
beftändig einen gefeßgebenden Kern für die Neubildung der übri-. 
gen barbietet, die ihn mit größerer Zerfeglichkeit und in fchnelle- 
rem Wechfel beweglicher umkreiſen. 

Der Zukunft bleibt e8, zu entfcheiden, ob in diefem Strome 
ein völlig rubender Grund, und von welcher Ausdehnung, fi 
finden mag. Unfere gewöhnliche Vorftellung betrachtet allerdings 
die Theile des Körpers wie die Steine eines Baues, die durch 
ihre beftändigen Kräfte und ihre einmal gegebene Fügung ihre 
Leiftung ruhend vollziehen und der Bewegung nur bedürfen, um 
die Störungen, die dem Ganzen drohen, mit elaftifher Rückkehr 
in ihre früheren Verbältniffe zu überwinden. Aber es ift wohl 
möglich, daß der Stoffwechjel nicht nur als eine beftändige Her- 
ftellung des alten -Beftandes dem Leben dient, fo daß er felbft 
hinwegfallen könnte, wenn e8 ein Mittel gäbe, ohne ihn dic or= 
ganiſche Form zu erhalten; fo vielmehr, wie die verbrennende 
Kohle nicht durch das, was ſie war, no durch das, was fie 
wird, ſondern durch die Bewegung dieſes Werdens felbft, durch 
die Verbrennung, die Wärme erzeugt, welche den erften treiben- 
den Grund für die Wirkungen der Maſchine gibt, jo können die 
-Borgänge des beftändigen Bildens und NRüdbildens felbft jene 
bewegenden Anftöße erzeugen, deren das Leben zur Durdführung 
feiner Entwidlung bedarf. Aber wir find meit davon entfernt, 
biefem Gedanken eine weitere Folge geben zu können. So fehr 
find wir daran gewöhnt, bei den Vorgängen der Ernährung 
und Abfonderung nur an die Gewinnung oder Abſtoßung einer 
näglihen oder ſchädlichen Stoffmenge zu denken, daß die Frage 
wenig noch aufgeworfen worden ift, ob nicht hier der Vorgang 
felbft und die Aufregung der Kräfte, die durch ihn erzeugt wird, 
zuweilen von größerem Werthe ift, als jener Umſatz der Stoffe 


105 


felbft, die hie und da vielleicht nur das gleichgüiltigere Material 
bilden, in deſſen Berarbeitungen jene Erregungen entftehen und 
erhalten werben können. Nur in einem "alle bat auch unfere 
bisherige Wiffenfchaft dieſe Vorftellungsweife aufgenommen; fie 
hat die vorübergehende Aneignung einer großen Menge von Stof: 
fen durch den Organismus als Mittel zur Erzeugung der Wärme 
gedeutet, die in ihrer chemifchen Veränderung entftcht, und durch 
beren Mittheilung an die Gewebe des Körpers die weſentliche 
Aufgabe jener aufgenommenen Maffen erfüllt ift. 


Nachdem wir fo den Sinn zu deuten unternommen haben, 
den biefe beftändige Veränderlichkeit des Leibes für die allgemei— 
nen Zwecke des Lebens. hat, möchten wir gern dies Bild durch 
- eine Schilderung der beftunmten chemischen Vorgänge ergänzen, 
aus deren planmäßigem Ineinandergreifen ber georbnete Stoff- 
wechfel hervorgeht. Mit der fcharffinnigften Arbeitſamkeit bat 
der Unterfuhungsgeift der neueften Zeit fich diefen Fragen zu— 
gewendet ; aber die Verwicklung der Erfheinungen und die Schwic- 
rigfeit ihrer Unterſuchung ift fo groß, daß aus der Fülle werth- 
voller einzelner Entdeckungen, von denen unfere allgemeine Ueber- 
ficht jchmeigen muß, kaum nod einige wenige umfafjendere Er- 
gebnifje herworgetreten find, die nicht Die Befürchtung ihrer wieber- 
holten Umgeftaltung durch den weiteren Fortſchritt der Unter— 
fuhung ermwedten. 

Sp weit wir organifches Leben fennen, finden wir Die ge= 
ſtaltbildenden Maffen überall aus mannigfachen chemiſchen Ver— 
bindungen von Kohlenftoff, Waflerftoff, Sauerftoff und Stidftoff 
zufammengefegt. Keine diefer eigenthämlichen Verbindungen er— 
zeugt auf nachweisbare Weife fih von jelbft, ohne daß ein orga- 
nifcher Keim oder irgend ein Reft in Zerjegung begriffener orga= 
niſcher Subftanz den erften Kern darftellte, Durch deſſen aneignende 
Kraft jene überall in der Atmofphäre vorhandenen Stoffe zu einem 


106 


neu anwachſenden Gebilde verbichtet würden. Die Pflanze ver- 
mag es, mit den Mitteln, welche ihre Organifation ihr darbietet, 
Sauerftoff und Wafferftoff in dem Verhältniß ihrer Mengen, in 
welchen fie Waffer bilden, mit verfchtevenen Mengen des Kohlen- 
ftoffe8 zu verbinden und dadurch eine Neihe von Stoffen, die 
Kohlenhydrate, zu erzeugen, aus deren einem, der Cellulofe, fic 
die zarten Wandungen ihrer Zellen und das ganze Gerippe ihres 
Baues zufammenfegt, während andere, wie Zuder und Stärfe- 
mehl, aufgelöft oder abgelagert in ihr als Mittel der Weiter- 
bildung enthalten find. Die Ummandlungen diefer Stoffe und 
das Wahsthum, dem fie dienen, feheint jedoh nur unter der 
Mitwirkung einer anderen Gruppe von heimischen Verbindungen 
möglich zu fein, die zu den Beſtandtheilen jener noch Stickſtoff 
hinzufügen und wegen der Aehnlichfeit ihres Verhaltens mit dem 
thieriichen Eiweiß unter dem Namen der eimeißartigen Körper 
oder des Proteins zufammengefaßt werden. Sie, fo wie die fetten 
Stoffe der Dele, fommen weit verbreitet im Pflanzenreih vor, 
und durch die vegetabilifche Nahrung, auf welche mittelbar oder 
unmittelbar alle thierifhe Organifation beſchränkt ift, gehen fie 
in den Thierkörper über, deſſen lebendige Thätigfeiten unfähig 
find, die einfadhen Elemente, welche die äußere Natur darbietet, 
zu organisch benugbaren Verbindungen zu verbichten. So liber- 
Tiefert das Pflanzenreich, auch hierin eine worarbeitende Vorftufe 
der Thierwelt, der leßteren fhon im Weſentlichen gebildet Die 
Beftandtheile, deren feinere Ausarbeitung nad den Bedürfniſſen 
jeder Gattung den eigenthümlichen Thätigfeiten der legtern über: 
laſſen bleibt. 

Aus dem Eiweiß und den eimeißartigen und öligen Be— 
ftandtheilen des Dotterd. muß der ausfchlüpfende Vogel alle Ge- 
webe erzeugt haben, die fein Körper bis dahin enthält; aus der 
Milch, die neben eimeißartigen und fettigen Stoffen noch durch 
eine größere Menge von Zuder fih auszeichnet, muß das junge 
Säugethier, lange Zeit einzig auf dieſe Nahrungsquelle beichränft, 
die mannigfachen Gebilde heroorbringen können, melde der Plan 











107 


feiner Gattung verlangt; aus dem Blute endlih, in welchem 
diefelben Stoffe wiederfehren, muß der beftändige Wiedererfag aller 
durch den Verbrauch zerftörten Gewebtheile beftritten werben 
können. Unzweifelhaft müfjen deshalb die eiweißartigen Stoffe 
als die Grundlage aller jener ftidftoffhaltigen Maſſen angefehen 
werden, die wir, in den quantitativen Berhältnifien ihrer Zu- 
fammenfegung ziemlih einander ähnlich, in dem Fleiſche dem 
Zellgerwebe dem Knorpel den Haaren Federn und Hörnern 
wiederfinden, auf das Mannigfachſte nach Anjchen, Härte, Dich⸗ 
tigkeit und Dehnbarfeit von einander verfchieden. Aber vergeblid 
würde es fein, bei dem gegenwärtigen Stande der Unterſuchung 
die chemiſchen Vorgänge verfolgen zu wollen, durch welche jenes 
gemeinfame Bildungsmaterial in jede Diefer eigenthümlichen 
Umbildungen übergeht. Am meiften unverändert erhalten den 
urfprüngliden Charakter des Eiweißes die Theile, Die den 
Zwecken des Organismus am Iebhafteften durch eigene Thätigkeit 
dienen, das Mark der Nerven und die Subftanz des Gehirns; 
den Taferftoff der Muskeln finden wir der Zuſammenſetzung 
nach ähnlich, aber feine Beftimmung zu lebendiger Berkürzungs- 
fähigkeit Tcheint cine andere Anordnung der. Heinften Theilchen 
oder eine für und noch unangebbare Veränderung der Mifhung 
bedingt zu haben; eine weitere Umwandlung bieten die Gemebe, 
die durch anhaltendes Kochen in Leim übergehend, zur Herftellung 
der Tnorpeligen und häutigen Grundlagen, Zwiſchenwandungen 
und Bindemittel verwandt find, welche die lebendig wirffamen 
Theile fügen umfchliegen und verbinden; als die legten und 
entfernteften Glieder dieſer Stoffreihe erfheinen die fefteren trod- 
neren horn= und federartigen Gebilbe, die namentlich in den äußeren 
Bededungen in den mannigfaltigften Formoerſchiedenheiten fich 
entwideln. Keines der Kohlenhydrate, melde die vegetabilifche 
Nahrung dem Thierförper zuführt, wird in den höheren Gattungen 
des Thierreichs mit zur Bildung der Gewebe verwandt; ihre 
Aufgabe mag neben der Wärmeerzeugung, die fie durch ihre lang⸗ 
fame Verbrennung mit Hilfe des cingeathmeten Sauerftoffes be- 


108 


Dingen, in manchen beihelfenden Berrichtungen beftehen, mit denen 
fie in die hemifchen Ummandlungen ber übrigen Stoffe eingreifen. 
Größer ſcheint Die Bedeutung der Fette, die nicht nur durch ihre 
phyſiſchen Eigenfchaften, Wärme zufammenbaltend und Reibung 
vermindernd, niütlich, fondern als wefentlihe Glieder zu der 
hemifhen Verbindung einiger Gebilde und zur Wechſelwirkung 
anderer nöthig find. Mande andere unorganifhe Stoffe, Me- 
talle und Salze der Alfalien und Erden verwendet der Organis- 
mus in Gemeinſchaft mit den eimeißartigen Körpern zur Her— 
ftellung befonderer phyſiſcher Eigenfchaften feiner Gewebe; andere 
fcheinen ihn nur zu durchkreiſen, um auf den Berlauf des Stoff- 
wechfel® begünftigende Einflüffe verſchiedener Art auszuüben. 
So wenig wir die fortfhreitende Bildung der Körperbeftand- 
theile fennen, fo unflar ift die rückwärtsgehende Verwandlung, 
durch welche fie allmählich zur Ausſcheidung vorbereitet werben. 
Ein ſehr großer Theil erlangt frühzeitig ein ſehr feſtes Gleich— 
gewicht der innern Zufammenfegung, und dieſe Gebilde werben 
vertrodnend in größeren Maſſen und: ohne Zerjegung ihrer Form 
von dem Körper abgeftogen, die Haare Die Nägel die beftändig 
abfchilfernde Bedeckung der Oberhaut. Andere erleiden durch die 
Thätigkeit eigentbümlicher Organe eine noch wenig bekannte Um— 
wandlung, nach welcher fie als Körper von noch verwidelter Zu= 
fammenfegung, wie Schleim und Galle und die organischen Be— 
ftandtheile des Harnes, theils für fich theils aufgelöft in wäſſe— 
rigen Mitteln den Körper verlaffen; ein anderer ſehr beträcht- 
licher Reft diefer im Einzelnen unbelannten Zerſetzung ift bie 
Kohlenſäure, die gasförmig mit Wafferdampf verbunden, durch 
die Ausathmung entfernt wird. Unter. allen einzelnen Stoffen, 
die den Körper durchkreiſen, fällt vielleicht dem Sauerftoff am 
meiften die Aufgabe zu, den Verband der Elemente in den orga= 
nifhen Beftandtheilen dur feine überwiegende Verwandtſchaft 
allmählich zu lockern und die urfprünglich mannigfadhe Zufammen- 
fegung derfelben nach und nad auf einfachere dem Unorganifchen 
ähnlichere Formen zurüdzubringen, in welden die zerfallenden 


109 


Stoffe, Löslicher geworben, die Grenzen des Körpers zulegt ver- 
laſſen. Erſchien früheren Zeiten der Eauerftoff als der eigent- 
liche Erreger und Bringer des Lebens, fo werden wir jeßt, ohne 
zu Iengnen, daß fein mächtige Eingreifen auch als eine erzeugende 
Kraft Bedingungen der Lebensthätigfeiten berftellen Tann, wenig: 
ftend einen andern und ebenfo bebeutfamen Theil feiner Leiftungen 
in der langſam zerftörenden Macht finden, mit mweldher er bie 
Hindernifje des Lebens binwegräumt, indem er die unbenugbar 
gewordenen Maffen durch völligere Zerfegung aus der Mitte der 
noch thätigen entfernt. 

Eine eigenthiimliche Wichtigkeit befigt endlich fir die Ge⸗ 
ſammtheit der Xebensverrihtungen das Waſſer, das wir in außer⸗ 
ordentlihen Mengen durch die Pflanzen und den thieriſchen Körper 
bindurchkreifen fehen. Als Löſungsmittel bedingt e8 die größte 
Anzahl der chemiſchen Wechſelwirkungen; auf feiner Ylüffigfeit 
beruht alle Möglichkeit des Kreislaufes und der ununterbrochenen 
Bertheilung des Ernährungsmaterials, auf feiner Fähigkeit, Wärme 
aufzunehmen zu leiten und verbampfend zu binden, das Gleidy- 
gewicht der Temperatur, deſſen der lebendige Körper zu dem 
Fortgang feiner Verrichtungen bedarf. Und nicht minder wefent- 
lich geht c8 in die Miſchung der organifchen Beftandtheile ein; 
feine Gegenwart und die eigenthümliche Verwandtſchaft, Die es zu 
ihnen begt, gibt den thierifhen Geweben jenen Zuftand ber 
Feuchtigkeit, durch den fie ſich biegfam elaftifch und dehnbar von 
den unorganifchen Körpern und von der Brüdigkeit und Starr: 
beit unterjcheiden, der fie felber nach ihrer Austrodnung ver: 
fallen. In feinem unorganiſchen Stoffe ift das Verhalten des 
Waſſers zu der feften Subſtanz ganz von diefer eigenthlimlichen 
Art, der wir bier begegnen, und die und mohl von Säften des 
lebendigen Körpers aber nie von foldden des unlebendigen fprechen 
läßt. Das kryſtalliſirende Salz, nachdem es den größeren Theil 
feines Köfungsmitteld der Verdunſtung überlafien und einen klei— 
neren Mengentheil des Waſſers in feine hemifche Zufammenfegung 
aufgenommen bat, erſcheint nun troden und feine Theilden haben 


110 


eine fefte gegenfeitige Lagerung angenommen. Wohl kann es 
Dugroffopifch einen Theil der umgebenden Nuftfeuchtigfeit in ſich 
verdichten, aber fein Gefüge wird durch dieſe Wafferaufnahme 
nur zerftört, ohne daß die zerfallenden Theile vorher jenen Zu— 
ftand der zähen Weichheit und elaftiichen Dehnbarkeit durdhliefen, 
den alle zu dem eigentlihen Bau des tbierifhen Körpers ver- 
iwendeten Stoffe durch ihre eigenthümlihe Verwandtſchaft gegen 
das Waſſer erlangen. Hierauf beruhen ohne Zweifel die befon- 
dern Geftaltungstriebe des Organifhen, die fo von der Starr- 
heit der Kruftallifatton unterſchieden find, daß nur wenige orga- 
nische Stoffe überhaupt diefer Art der Formbildung fähig find, 
und Diejenigen, welde fie in der That anzunehmen vermögen, 
Doch gerade durch ihre Annahme für die Bildungsbebürfniffe des 
Icbendigen Körperd unbenugbar werben. 


Wir kennen keinen organifchen bildungsfähigen Saft, der 
eine durchaus gleichartige Flüffigkeit darftellte, und in welchem 
nicht als erſte Anfänge der Geftaltung ſich mifroffopifch kleine puntt- 
fürmige Körnchen zeigten, deren Bildung und Zufammenjegung 
fi nicht mehr weiter verfolgen läßt. Ste können nur burd 
Gerinnung des flüffigen Stoffes entftanden fein und vergrößern 
ſich durch fortgefetste Anlagerung entweder von gleihartigen nach— 
gerinnenden Maffen, oder dadurch, daß durch chemiſche Wahlver⸗ 
wandtihaft das früher ausgeſchiedene Körnchen nun andere von 
ihm verſchiedene Stoffe aus der Flüſſigkeit um ſich nicderichlägt. 
Das Wachsthum diefer entweder gleichartigen oder aus differenten 
hemifhen Verbindungen beftehenden Kerne geht nie über fehr 
Heine mifroffopifche Dimenfionen hinaus, fondern noch innerhalb 
diefer Grenzen tritt eine zweite Bildung auf, die der zarten, 
durchſichtigen, ftructurlofen Haut, welche fih um den Kern ber- 
um erzeugt und mit ihm num die gefchloffene Geftalt einer Zelle 
beroorbringt, deren Inneres um den Kern herum mit Slüffigfeit 





111 


gefüllt ift. Auf welche Weife jene zarte Membran durch bie 
Kräfte des Kernes felbft gebildet wird, ift unflar; die Zelle felbft 
aber, in den Pflanzen häufig der Schauplag Tebhafter Bewe— 
gungen, in welden ihr Körnigflüffiger Inhalt umbergeführt wird, 
bietet zwar in den Thieren nicht fo auffallende Erſcheinungen, 
bleibt aber ein Iebendiger Mittelpunkt chemiſcher Wechſelwirkungen 
mit der umgebenden Flüffigfeit, deren aufgelöfte Beftandtheile 
ihre Umgrenzungshaut durchdringen. Durch diefen Berfehr ändert 
ſich allmählich die Mifhung, die innere Anordnung und mit ihr 
die Geftalt der Zelle, und fie geht aus ihrer anfänglichen Rundung 
in mancherler länger geftredte, zipfelige, verzweigte Formen über, 
deren Entftehungsweife noch cben fo dunkel als der Werth ift, 
den fie für die Lebensverrichtungen befigen. Der Pflanzenkörper 
bewahrt die urſprüngliche Zellenform in größerer Ausbehnung als 
der thierifhe Organismus; in den Organen, die meift von drüſigem 
Baue der Ernährung und dem Stoffwechſel dienen, finden wir 
die Zellenform der Heinften Gewebtheilhen noch deutlich, und 
eine beftändig fortgehende Zerfallung und Neuerzeugung berfelben 
theils ficher, theils wahrſcheinlich; aber die eigenthünlichen Be— 
bürfniffe des Thierlebens führten cine neue Form mit ihren zahl- 
reihen Anwendungen herbei, die der Fafer, Die nicht überall erft 
fecundär aus einer Zellenreihe entfteht. Wir finden die Fafern 
theil8 unverzweigt neben einander geordnet, wie in dem Stamme 
der Nerven und in den Muskeln, und dann ihre Bündel dur 
Zwiſchengewebe und Hüllen verbunden, theils verwebt unter ein= 
ander zu feften und haltbaren Geflechten, unter denen die Form 
des Hohlgefäßes von kreisförmigem Durchſchnitt als befonders 
wichtig hervortritt. 

Aus Berknipfungen diefer verhältnigmäßig einfachen Geweb— 
formen geben endlich jene zufammengefegten Bildungen hervor, 
die wir unter dem Namen der Organe zu begreifen pflegen und 
welche die phyſikaliſchen und organifchen Leiftungen,der einzelnen 
Gewebe zu dem Ganzen einer beftimmten Function verknüpfen. 
In den meiften Organen finden wir neben mandherlei häutigen 


112 


Umgrenzungen und Bindemitteln, welche den Zufammenhang des 
Ganzen und die relative Lage der einzelnen Beftandtheile fichern, 
Gefäße und Nerven in freilich fehr verſchiedenen Mengenverhält- 
niffen eine aus Zellen gebildete Grundmaffe durchfegend. Der 
Name des Parenchyms, des Zwiſchengegoſſenen, den dieſe führt, 
muß und nicht darüber täufchen, daß ſie eigentlich das wirffame 
Element der ganzen Zufammenfegung tft, während alle Gefäßcanäle 
und Nerven ihr nur das zu bearbeitende Material und die An— 
triebe zur Arbeit zuführen oder das materielle Product ihrer 
Leiftungen und die aus ihrer Thätigkeit beroorgehenden nugbaren 
Erregungen nad dem übrigen Organismus hinwegleiten. 


Fünftes Kapitel. 
Der Bau des thieriſchen Körpers. 





Das Kuohengerüf. — Die Muskeln und bie motorifhen Nerven. — Das Gefäß: 
foftem und ber Kreislauf des Blutes. — Athmung und Ernährung. — Aus: 

Icheidungen. 

Während wir die allgemeinen Geſichtspunkte auseinander⸗ 
festen, welche wir für die Unterfuhung ber Lebenserjheinungen 
feftgehalten wünfchen, durften wir oorausfegen, daß die natürliche 
Bertrautheit mit diefen und mit dem Baue des lebendigen Kör- 
pers einftweilen den Mangel anihaulicher Beichreibungen erfegen 
werde. Aud gegenwärtig, indem wir verfuchen eine Schilderung 
der einzelnen Vorgänge und Leiftungen zu geben, mit denen die 
verichiedenen Werkzeuge des Lebens in einander greifen, ift es 
noch nicht unfere Abficht, alle die Gedankenreihen zu verfolgen, 
zu denen die Betrachtung des menfchlichen Körpers, des eigent- 
lichen Gegenftandes unferer Darftellung, Beranlafiung gibt. Weber 
in der Schönheit feiner Geftalt werben wir ihn beobadıten, noch 
in der eigenthümlichen Bedeutſamkeit feiner Formen, die einen 


113 


Durch die Hälfte der Thierreibe feftgehaltenen Typus der Bildung 
zu abſchließender Volltommenbeit fteigern. Späteren Oelegen- 
heiten dies Alles überlaffend, begnägen wir uns in dem Zu: - 
fammenbange unferer jegigen Ueberlegungen mit der einfettigen 
Hervorhebung deſſen, wodurch der menſchliche Körper, hierin den 
höheren Thiergattungen vollkommen ähnlich, den Kreislauf feiner 
Lebensverrihtungen zu Stande bringt. 

Ueberall unter bededenden Schichten von größerer oder ge— 
ringerer Mächtigfett verborgen, bildet das Knochengerüft die fefte 
Borzeihnung der körperlichen Geftalt. Aus einer Grundlage von 
durchſcheinendem elaftifhen Knorpel und der phosphorfauren 
Kalkerde, die in deſſen Gewebe auf eigenthümliche Weife einge- 
lagert ift, hat die Natur diefe haltenden Stützen gebildet, die in 
dem feuchten Zuftande, in welchem fie fi während des Pebens 
befinden, die Vortheile der Starrheit ohne zu große Sprödigkeit 
darbicten. Auf der äußern Oberfläche geglättet und Bart, im 
Innern bald dichter, bald von zarterem und ſchwammigerem Ge- 
füge, je nah dem Zwecke, der zu erreihen war, bildet dieſes 
Knochengewebe in den verſchiedenſten Formen bier ausgebehntere 
Hohlröhren, dort flache Platten, oder mannigfach gewölbte und 
verbogehe Blätter, alle fo paarweis vorhanden; daß eine Ebene, 
welche den Körper durch Die vordere und die Hintere Mittellinte 
feiner Geftalt von oben nach unten durchſchneidet, auch das Knochen- 
geräft in zwei völlig ſymmetriſche Hälften zerlegt. Mit ihren 
zadigen Rändern in eimander greifend, verbinden ſich mufchel- 
förmig gebogene Knochen zu dem feften Schäbelgewölbe, der ſicheren 
Umbällung des Gehirns, unter einander unbeweglich vereinigt, oder 
doch nur unmerflihe Ausweichungen geftattend, die höchſtens dic 
Gewalt heftiger Stöße einigermaßen zu mildern im Etande find 
An fie ſchließen fih nad vorn und unten- in fefter Verwachfung 
die Knochen des mittleren Geſichts, defien unterer Theil dur 
die bewegliche Kinnlade vervollſtändigt wird. Theile offen gelaffene 
Lücken zwiſchen den Verbindungsrändern mehrerer Knochen theils 
Kanäle von größerer oder geringerer Weite, das Geſuge der ein- 

Lotze J. 3. Aufl. 


114 


zelnen durchbohrend, führen aus dem Innern des Schäbelgewölbes 
auf feine äußere Oberfläche, Gefäßen und Nerven freien Durch— 
gang verftattend. Durch eine größere Oeffnung an ihrer untern 
Fläche, das große Hinterhauptsloch, hängt die Höhlung des Schädel 
mit denf langgeftredten breitern Kanale des Rückgrates zufammen, 
den der die Markftrang des Rückenmarkes als unmittelbare 
Vortfegung des Gehirns bis faft zu feinem untern Ende loſe 
ausfällt. Eine größere Anzahl einzelner Knochen, im Allgemein:n 
von der Form eines kurzen Eylinders, find Hier zu einer langen 
Säule übereinandergeftellt und durch flache elaftiiche Bandſcheiben, 
die zwifchen die Berührungsflächen je zweier eingeſchaltet find, ſehr 
feft und haltbar verbunden. Nur eine fchr geringe Bewegung 
ift deshalb zwiſchen zwei nächſtbenachbarten Gliedern dieſer Kette 
möglich, aber die beträchtliche Anzahl derſelben geſtattet doch dem 
Ganzen der Säule durch Summation dieſer kleinen Beugungen 
anfehnliche Kriimmungen in weiten und großen Bogen. So findet 
fi) dur diefen Aufbau des Ganzen aus einer Bielheit Hleinerer 
Theile Sicherheit des Zufammenhangs mit ausreichender Beweg⸗ 
lichfeit verbunden und zugleich der Nachtheil vermieden, den ſcharfe 
Einfnidungen diefes Knochengerüftes für Die zarten Gebilde haben 
würden, zu deren fchügender Aufnahme es beftimmt iſt. Aus 
jedem dieſer geſchilderten Knochenchlinder nämlich, oder aus jedem 
einzelnen Wirbelförper der Rüdgrates, gehen ſeitwärts zwei knöcherne 
Bogen aus, die nad) hinten fi ringartig vereinigen, einen offenen 
Raum von rundlih herzförmiger Geftalt zwiſchen ſich laſſend. 
Mit diefen Oeffnungen cben fo über einander geftellt, wie. Die 
Wirbelförper, von denen fie entfpringen, umgrenzen diefe einzelnen 
Ringe mithin einen langgevehnten hohlen Kanal, ohne ihn jedoch 
völlig einzufchließen. Denn von geringerer Höhe, als die Wirbel: 
förper, berühren fi) zwei nächſt auf einander folgende Ringe 
nicht überall, fondern laſſen Zwiſchenräume frei und ftchen nur 
an drei Punkten durch vorfpringende Gelenkflächen mit einander 
in beweglicher aber durch fefte Gelenfbänder nur auf geringe 
Bewegungen befchränfter Verbindung. So gewährt alfo die Wir- 


115 


belfänle das Bild eines langen Hohlraumes, deſſen vordere weit 
dickere Wand ungetheilt ift, während die dünneren Seiten= und 
Rückwände durch zahlreiche Deffnungen unterbrochen find. In 
dem Innern dieſes Raumes, den glatte Häute ausfleiden, ift das 
Ruckenmark auf eine Weiſe ſchwebend befeftigt, welche am meiften 
die Nachtheile der häufigen Beugungen und Verſchiebungen feiner 
Knohenwandungen verhütet. 

Nach vorn knüpft fi am die oberften Wirbel, die des Halfes, 
feine weitere Inöcherne Bildung an; die zwölf folgenden, die der 
ruft, tragen, den nad) hinten gerichteten Wirbelbogen entfprechend, 
nad vorn Die ungleich weiter geipannten Anochenbogen der Rip: 
pen, die mit ihrem Hintern Ende beweglich in einigem Grade an 
die Wirbelkörper befeftigt, fih nad vorn in dem platten Bruft- 
bein vereinigen. Cie begrenzen fo feitlih den Bruftkorb, deſſen 
obere Deffnung ungefchloffen nur durch die geringere Weite der 
erften Rippenbogen verengt und deſſen untere weitere Ausmün- 
dung gleichfalls nur Durch das musculöfe Zwerchfell und nicht 
duch Knochenbildung von der Höhle des Unterleibes getrennt 
wird. Die fünf nächſten Wirbel, die Lendenwirbel, tragen mic 
die des Halfes feine Rippen und beftimmen, von ftärkerem und 
mafienhafterem Bau als alle übrigen, nur von hinten bie Höhe 
der Unterleibshöhle, deren Seitenwandungen alle nur von Weich— 
teilen gebildet werden. Ihre untere Wand dagegen, beftimmt 
die Laft der Eingeweide zu ftügen, ift aus dem großen Knochen- 
ringe des Beckens gebaut, der, von den legten zu dem breiten 
Kreuzbein verwachſenen Wirbeln des Rüdens ausgehend, zu beiden 
Seiten breite Flügel ausfhidt, die von oben und außen nad 
unten und innen abgefhrägt, und vorn Durch niedrigere Knochen 
verbunden, einen ziemlich bedeutenden nur durch Weichtheile ver- 
ſchloſſenen Raum zwifehen fi laſſen. 

An dieſes Körpergerüft, deffen Form bei der geringen Ber- 
Ihiebbarkeit feiner Theile geringen Veränderungen unterworfen 
ft, ſchließen fich endlich die Knochenröhren der Gliedmaßen, denen 
die Art ihrer Einlenfung Lagen und Geftaltveränderungen im 

- " 8* 


116 


weiteften Spielraum verftattet. Das Schulterblatt, nur durch 
Weichtheile am Rüden feftgehalten, nad vorn durch das Schlüffel- 
bein mit dem Bruſtknochen in beweglicher Verbindung, trägt an 
feiner obern äußeren Spige an einer fladhen Gelentgrube den 
Kopf des DOberarmes, Die äußere Oberfläche des Beckens nach 
unten in tiefer runder Gelenkhöhle den Kopf des Oberſchenkels. 
Beiden Knochen erlaubt die Natur ihres Gelenkes Bewegungen 
nad jeder Richtung, deren Weite nur durch Anftoß an die Um- 
gebungen begrenzt wird; beide ftehen dagegen mit den Knochen 
des Unterarıne® und Unterfchenfeld in einer Verbindung, die den 
Vegteren in Bezug auf fie nur die Bewegung in ciner einzigen 
Ebene möglid macht. Aber dieſe Verhältniffe, fomohl wie den 
ferneren Bau der Hände und Füße, dur deren feine Organi- 
ſation die menfchliche Geftalt ſich von der ganzen Thierwelt unter- 
ſcheidet, verfparen wir einer fpätern Betrachtung. Fügen wir 
hinzu, daß zahlreiche fehnige Bänder alle beweglich an einander 
eingelentten Knochen feſt verbinden, daß befondere häutige Kapfeln 
ihre einander zugewendeten Gelenkköpfe zu umgeben und die Ge- 
lenfflächen durch eine ſchleimige Abfonderung ſchlüpfrig zu erhal⸗ 
ten pflegen, jo haben wir das Bild des ftarren Gerüſtes voll- 
endet, deſſen einzelne Theile nun durch die Lebensthätigkeit der 
Muskeln bewegt werben. 


Die zahlreihen Lüden und Zwiſchenräume, welche die cin- 
zelnen Knochen zwiſchen fih Tichen, werben durch das Fleiſch 
der Muskeln größtentbeil ausgefüllt oder verdedt, und das Skelet, 
mit feinen Muskelſchichten befleidet, füllt daher faft vollſtändig 
die äußeren erſcheinenden Umriffe der Körperform aus. Aeußerſt 
dünne und zarte Safern, nur dem bewaffneten Auge fihtbar, 
verbinden fih in gleichlaufender Richtung neben einander gereiht 
zu den feinften Fäden, die wieder in gleicher Weife zu dickeren 
Bündeln zufammengedrängt uns als die Beftandtbeile des Fleiſches 








117 


befannt find. Zuſammengehörige Maffen diefer Fleifchfafern, zu 
einer und derfelben Verrichtung zufammenwirkend, von zahlreichen 
haarfeinen Blutgefäßen durchzogen und von gleichartigen ober 
ungleihartigen Umgebungen burch deutlihere Hüllen aus zelligem 
Gewebe abgegrenzt, bilden die einzelnen Muskeln, die ohne 
näheren Zuſammenhang unter einander nur durch ihre auf ges 
meinfame Zwecke berechnete Lage fich zu größeren Gruppen und 
Syſtemen ordnen. 

Unter dem Einfluffe verfchiedener Reize find die Muskeln 
fähig, fi in der Längsrichtung ihrer Faſern zufammenzuzicehen. 
Indem jede der Ichtern dur eine noch wenig gelannte Ans 
näberung ihrer Heinften Theilchen fih um einen oft ſehr beträcht⸗ 
lihen Theil ihrer Ränge verfürzt, wird in entfprehendem Maße 
der Querfchnitt des Muskels unter gleichzeitiger geringer Zunahme 
feiner Dichtigkeit verbreitert. Denken wir und ein Faferbündel 
mit feinen beiden Endpunften an zwei bewegliche Theile befeftigt, 
fo wird es durch feine Lebendige Zuſammenziehung beide in ges 
rader Linie einander zu nähern fuchen, und es wird die Kraft, 
mit weldher e8 dieſe Peiftung ausführt, von der Zahl der wirk⸗ 
ſamen Fafern, alfo von der Die des Bündels oder des Mus- 
fel8, die Weite der Annäherung aber oder der Umfang der er- 
zeugten Bewegung von der Länge befielben abhängen. Wo 
daher die Glieder, ohne ſehr große Bogen zu beſchreiben, kraft⸗ 
volle Bewegungen ausführen oder Stellungen fefthalten follen, in 
denen ſie einer beträchtlichen Laft Widerftand zu leiften haben, 
finden wir am häufigften kurze, aber aus vielen Yafern beftehende 
Dide Muskeln angewandt; wo dagegen ohne Entwidelung be= 
deutender Kraft cine Bewegung durch größere Räume beabfichtigt 
ift, find um fo Tängere und dann häufig bünnere Muskeln 
zwifchen den beweglichen Punkten ausgefpannt. Doc leidet dieſe 
einfache VBerwendungsregel Ausnahmen. Denn nur wenige Mus- 
feln breiten ſich zwiſchen Punkten aus, denen eine gegenfeitige 
Annäherung in gerader Linie möglich ift; die meiften haften mit 
ihren beiden Enden an Knochen, die unter einander durch ein 


/ 


118 


Selen? verbunden find und nur durch Drehung um diefes fich 
auf einander zu bewegen können. Der Muskel, iiber dies Ge- 
lenk Hinlaufend und, fo wie es die Gefege des Hebels für die 
größte zu erzielende Wirkung verlangen, möglichft entfernt von 
dem Drehpunft angefegt, würde daher bei feiner Verkürzung zwar 
den Winkel, den beide Knochen am Gelenk zufammen bilden, be= 
trächtlich verkleinern, aber zugleich die Deffnung defjelben durch 
feine verdidte Maſſe ausfüllen. Die Geftalt der Glieder würde 
fo eine Veränderung erleiden, die fhon an dem Arme, der davon 
das einfachfte Beifpiel böte, aber weit mehr no in anderen 
Fällen dem Zwecke der eingetretenen Bewegung wenig förderlich 
wäre. Theils diefe Rückſicht auf die Vermeidung zwedwidriger 
Geftaltveränderungen, theil8 andere Umftände bringen in die Be— 
nugung der Musfelthätigfeit eine große Mannigfaltigfeit; aber 
die Verfolgung diefer Verhältniſſe wiirde, jelbft wenn fie hier mög: 
lid wäre, für unfere Betrachtung feinen Gewinn bringen, den 
wir nicht aus dem ſchon Erwähnten ziehen Könnten. 

Wir finden in dem eben befchriebenen Bau des beweglichen 
Körpergerüfted und in der Beranftaltung feiner Bewegungen nicht 
nur bier und da Analogien mit den Berfahrungsweifen, deren 
fich die Technif des Mafchinenbaues bedient; fondern das Ganze 
Diefer Xeiftungen ift durchaus und in der größten Mannigfaltig: 
feit und Feinheit der Ausführung auf diefelben Mittel und Ge- 
jege begründet, die wir in unfern täglichen Verſuchen, Werkzeuge 
zur Bewegung von Maffen zu erfinden, nur in unvolllommencerer 
Weife ausbeuten. Diefelben unbiegfamen Stangen, diefelbe Ber- 
bindung und Befeftigung durch mannigfache Bänder, diefelben 
Einlenkungen der beweglichen Theile vermittelft abgepaßter und 
genau die möglichen Drehungsrichtungen beftimmender Gelenkflächen, 
diefelben Zugfeile nebſt den Rollen und Haftbändern, welche die 
Richtung ihrer Wirkung nah Bequemlichkeit und Beduürfniß 
ändern: alle diefe Hülfsmittel finden wir gleihmäßig in den Ma- 
fhinen und in dem lebendigen Körper wieder: wir finden fie 
nirgends in der übrigen Natur. Raumdurchdringende Kräfte 


\ 


119 


führen an unfichtbaren Fäden die Geftirne in ihren Bahnen; ge: 
genfeitiger Drud der Theilden, Spannung fi verflüchtigender 
oder durch Auffaugung anfchwellender Maſſen, hemifche Anziehun- 
gen endlih und die unmittelbaren Gegenwirkungen der Stoffe in 
räumliher Berührung find die Kräfte, die in den meteorifchen 
Erſcheinungen und in denen des Pflanzenlebens thätig find; Dies 
‚gegliederte und zufammenftimmende Syſtem mechaniſcher Vorrid: 
tungen nad) den Gefegen des Hebels tritt erſt im thieriſchen Le- 
ben und gerade da auf, wo es fih um die Erfüllung feiner un- 
terfheidenden Aufgabe, der Veränderung der Geftalt und des Or- 
te8 handelt. So wenig ſcheut ſich alfo das Lebendige vor jenen 
Mitteln, die wir mit einer gewiffen Geringfhäßung als fünftliche 
mechaniſche Veranftaltungen zu bezeichnen pflegen, daß feine Glie— 
derung zur Bewegung vielmehr als das vollfommenfte von der 
Natur felbft gegebene und nur hier, in diefem ihren vollfommenften 
Erzeugniß gegebne Vorbild der Maſchine gelten darf. Nur darin 
freilich geht das Leben über Alles hinaus, was wir nahahmend 
zu Stande bringen, daß die Trieblraft diefer ganzen Zufammen- 
ftellung von Mitteln in der eignen innern PVerkürzungsfähigfeit 
der Muskeln Ticgt, während unfere Technik die Verfiirzung der 
Zugfeile nur durch Aufrollung derjelben um Walzen und Räder 
erreicht, und zur Bewegung dieſer wicder neue Hülfsmittel be- 
nugen muß. 

Den Anftoß zur Verfürzung empfangen die Muskeln von 
den Nerven, die zwifchen ihnen und dem Gehirn und NRüdenmarf 
ausgefpannt find. Die mikroſtopiſch feinen lang ausgefponnenen 
aus zarter durchſichtiger Scheide und zähflüffigem Mark beftehenden 
Nervenfafern finden fi auf diefem Wege von den Eentralorganen 
zu den beweglichen Gliedern in gemeinfamer Umhüllung zu größe: 
ren Bindeln zufammengefaßt, ohne während dieſes Verlaufs fi 
zu tbeilen oder zufammenzuflichen. Aus diefen dickeren Stämmen 
treten fo, wie e8 die Bequemlichkeit der Vertheilung verlangt, in 
der Nähe der Muskeln kleinere Bündel heraus, deren einzelne 
Fäden zulegt zwifchen die Fafern des Muskels fih einſenken und 


120 


nun erft in feine Zweige auflöfen. In frifch getödteten Thieren 
erregen Drud und Zerrung, hemifhe Einwirkung und der Einfluß 
elektriſcher Ströme, auf irgend einen Punkt um Verlauf des Nerven 
ausgeübt, Zudung in dem Musfel, zu dem er ſich verbreitet; ein 
Beweis dafür, daß das Gleichgewicht der Heinften Elemente der 
Nervenfubftanz verlegbar genug ift, um durch mancherlei Eingriffe 
geftört zu merben und feine Störungen von Punkt zu Punkt mit 
Leichtigkeit fortzupflanzen. eine Unterfuhungen der neuern Zeit 
haben glaublich gemacht, daß eine ſchnell obwohl nicht augenblidlich 
ben Nerven durchlaufende Veränderung feiner elektrifchen Zuftände 
der Vorgang ift, durch defien Einwirkung auf die Muskeln die 
Berfürzung der contractilen Safer angeregt wird. Wichtig für die 
befonderen Unterfuhungen der Phnfiologie, würde doch dic Entſchei— 
bung diefer Frage dem allgemeinen Bilde, welches wir hier ver: 
ſuchen, nichts Wefentliches hinzufügen; genug, daß irgend eine in 
dem Nerven von Punkt zu Punkt forticgreitende Aenderung feiner 
phyſiſchen Zuftände entweder vorübergehende Zudung oder dauernde 
Spannung der von ihm abhängigen Muskeln veranlagt. 


Die Neizbarkeit der Nerven und der Muskeln erhält fich 
dauernd nur, jo lange beide in ihren natürlichen Lagenverhältniffen 
die Einwirkung des umfpillenden Blutes erfahren. Um dieſen 
belebenden Reiz überallhin zu verbreiten, durchdringt alle Glieder . 
des Körpers das Gefäßſyſtem wie ein reich. verzweigtes Wurzel- 
geflecht. Seine ftarfen Hauptiproffen, in den größeren Hohlräumen 
des Leibes verlaufend, zergliedern ſich durch vielfach wiederholte 
Beräftelung in ein dichtverfchlungenes Netzwerk feinfter Röhrchen, 
das die Kleinften Elemente der Gewebe hier mehr dort weniger 
gedrängt umfpinnt und an allen in beftändigem Strome die er⸗ 
nährende Blutflüſſigkeit vorüberfuhrt. Auch Ddiefe Bewegung 
haben. ſchwärmeriſche Meinungen, in“ völligem Widerſpruch mit 
lit zu beobachtenden Thatfachen, einer eignen geheimnißvollen 


121 


Triebkraft des Flüſſigen zugefchrichen, das im Dienfte des Le— 
bens feine Wege ausmwählend ſuche; auch fic werden wir vicl- 
mehr, ganz ebenfo wie die Bewegung der Glieder, auf die feinfte 
Benugung von Mitteln gegründet finden, die jenen Anfichten nur 
als die gröbften und fümmerlichften Behelfe menſchlicher Künftelei 
zu erfcheinen pflegen. 

Wäre an einem vingförmig gefchloffenen mit Flüffigfeit cr- 
füllten Kanal von elaftifh ausdehnſamen Wänden eine einzelne 
Stelle mit zufammenzichungsfähigen Bafern umgeben, fo würde 
jede Contraction diefer Stelle, die wir fogleih mit dem Namen 
des Herzens bezeichnen wollen, die Flüfjigfeit nach beiden Seiten 
bindrängen, und zwei Wellen würden fih nad rechts und links 
durch die angenblidlich ausgedehnten und fi elaſtiſch wieder zu- 
ſammenziehenden Arme des NRinggefäßes verbreiten. Eine Klappe - 
in dem Innern des Gefäßes auf der einen Seite des Herzens 
angebradit, jo daß ein Strom von der einen Eecite fie ſchließen, 
von der andern Seite fie öffnen müßte, würde anftatt der bop- 
pelten Welle nur einen einfeitigen Fluß des Blutes durch die ganze 
Krümmung des Gefäßes geftatten, und zu dem Herzen von der 
andern Seite zurüdfehrend würde e8 die Klappe öffnen, um auf’8 
Neue dur eine zweite Zufammenzichung in derfelben Richtung 
wie vorher fortgedrängt zu werden. Nehmen wir an, daß das 
tingförmige einfache Gefäß fih in ciniger Entfernung vom Herzen 
in mehrere Aeſte fpaltet, Die durch neue Verzweigung fih in cine 
unabſehbare Vielheit feinſter Röhrchen theilen, daß ferner dieſe 
feinſten Kanäle ſich nun wieder zu größeren Stämmchen ſammeln, 
um zuletzt in zwei Hauptſtröme vereinigt wieder in das Herz ein⸗ 
zumänden, fo haben wir an jener einfachen Borftelung die Ver- 
änderungen angebracht, die nöthig find, um aus ihr ein Bild des 
ernäbrenden Gefäßiyftems zu machen. In der That bildet das Herz 
einen ftarfwandigen musculöfen Schlauch, deſſen kräftige Zuſam— 
menzichungen das in ihm enthaltene Blut in dic große Körper⸗ 
ſchlagader, Die Aorta, den einen noch ungetheilten Arın des großen 
Gefäßringes, prefien. Cine bäutige Klappe im Herzen, während 


122 


feiner Zufammenziehbung durch den Drud des auch gegen fie ge- 
drängten Blutes gefchloffen, verhindert den Austritt defjelben nad) 
der entgegengefegten Eeite der Bahn und zwingt es, einfeitig feinen 
Weg durch jenen ftarfen Stamm in die weiteren Berzweigungen 
des Arterienſyſtems zu nehmen. Immer findet dabei das Blut 
die Adern, in die es getrieben wird, bereits gefüllt; indem es eben 
vom Herzen kommend, fih in den Anfang der Aorta einpreßt, 
drängt e8 die Wand derfelben nad) Breite und Länge auseinander 
und findet in diefer größeren Weite des ausgedehnten Gefäßes für 
einen Augenblif Raum. Aber ‘die claftifche aus ſtarken und zähen 
Rings- und Lüngsfafern gebildete Wand des Gefäßes ftrebt mit 
großer Kraft fih auf ihr voriges Maß zurüdzuzichen und preft 
dadurch den Ueberſchuß des fie ausdehnenden Blutes auf demfelben 
Wege weiter fort, indem die nächſte Stelle des Gefäßes jetzt eine 
ähnliche Erweiterung erfährt, um fogleich gegen diefelbe ebenfalls 
elaſtiſch zurückzuwirken. Co entftcht, über die ganze Länge des 
Gefäßes bin ſchnell fortfchreitend, cine Welle der Erweiterung, die 
man leicht fich anfhaulich machen kann, wenn man den Darın eines 
Thieres bis zu genügender Epannung feiner Wände mit Wafler 
füllt, an beiden Enden verfhlicht und auf das eine derfelben einen 
plöglihen Drud ausübt. Wir kennen dieſe Wellenbewegung ber 
Schlagadern, die von ihr chen den Namen erhielten, unter dem 
Namen des Pulfes; fie wird meniger deutlih an den fleineren 
Aeſten und verſchwindet völlig in dem meit ausgedehnten Nee 
der Haargefäße. In ruhig gleihmäßigem Strome fließt durch 
diefe das Blut, um in den wiederzufammtretenden größeren 
Stämmen, den Venen, pul8lo8 zu dem Herzen zurüdzufehren. 
Da in der Aorta nad dem Herzftoß Flüſſiges auf Flüffiges trifft 
fo werden manderlet Vermifchungen eintreten, und ein Theil des 
neu eintretenden Blutes Tann auf größere oder geringere Länge 
durch Das ſchon vorhandene hindurchgepreßt werden, während ein 
anderer Theil des neuen einen Theil des alten vor ſich herdrängt. 
Die Bahn, welche ein einzelnes Bluttheilchen befehreibt, Tann da- 
ber ſehr verfchteven ausfallen; nur in dem mittleren Theile des 


123 


Gefäßverlaufs wird fie ftet8 eine gleichförmig fortfchreitende fein; 
om Anfang der Aorta können die angeführten Umftände fie fehr 
unregelmäßig machen, in den Haargefäßen viele Feine zufällige 
Drude der Umgebung und andere Umftände fie auf eine Zeit 
lang in ein ſchwankendes Bor- und Zurückgehen durch die vielfach, 
communicirenden Wege dieſes Neged verwandeln. Die Angaben, 
melde das Blut etwa in einer Minute, während das Herz 60—80 
Schläge macht, feinen Weg durdy das ganze Gefäßſyſtem vollenden 
laſſen, können deshalb nur den durchſchnittlichen Erfolg der gan- 
zen Circulation, aber nicht Die Bewegung jedes einzelnen Theilchens 
bezeichnen. 

Die größeren Gefäße, Arterien und Venen, durdy dide und 
undurchdringliche Häute von der Subftanz der Theile getrennt, 
durch welche fie verlaufen, find nur die Strombetten, in denen ber 
Zufluß und Abfluß des Blutes ftattfindet; die Haargefäße allein, 
mit ihren zarten und dünnen Wandungen und in überaus feiner 
und reicher Berzweigung die Heinen Elemente der Gemebe durd- 
fegend und umfpinnend, bilden den Schauplag des Stoffumfages. 
Aus ihnen treten beftändig durchſchwitzend die flüffigen Beſtand— 
theile des Blutes in die Zwiſchenräume der Gewebtbeile, und 
gegen Diefe ausgetaufcht dringen die aufgelöften Zerfegungsrefte der 
verbrauchten Körperfubftanz in fie cin, um mit dem Blutſtrome 
an die verfchtedenen Abfonderungsftellen fortgeführt zu werben. 
Wir kennen faft gar nicht die Art der chemiſchen Ummandlung, 
welche die Gewebe im Laufe der Zeit und durch ihre Leiftungen 
erfahren und eben fo wenig die Reihenfolge der Formen, in melde 
fie fi durch fortfchreitende Zerfegung verwandeln, bi8 fie voll- 
fommen löslich und in ihrer chemiſchen Zufammenfegung den ein- 
facheren unorganifchen Stoffen ähnlicher geworden zur Ausfcheidung 
aus dem Körper bereit find. Nur einen Erfolg diefer beftändig 
in allen Theilen des Leibes fortgehenden Thätigkeit beobachten 
wir beftimmter, die Bildung von Kohlenfäure, durch deren Ein- 
tritt in die Haargefäße das Blut auf feinem Rückwege durch die 
Benen jene dunkelrothe Färbung annimmt, die e8 nun von dem 


124 


hellroth aus dem Herzen ftrömenden Arterienblute unterfcheibet. 
Der reichere Gehalt an abjorbirtem Saucrftoff, durch den das 
letztere fich auszeichnet, verfhimindet in den Haargefäßen großen- 
theils und wird zur Herftellung jener im Venenblute ſich fam- 
melnden Koblenfäure verwendet. Auf welche Weife nun immer 
der hierzu nöthige Koblenftoff aus den Beftanbtheilen des Körpers 
ausſcheiden und durch welde Mittelgliever fih die Kohlenfäure 
ſchließlich bilden mag: jedenfall müfjen wir diefen langfamen 
 Berbrennungsproceß, der in allen Theilen fich beftändig vollzicht, 
für die Quelle der thierifchen Wärme halten. Cine gemifje Höhe 
der Temperatur ift für die Möglichkeit der Tebendigen Leitungen 
eine unentbehrlihe Bedingung. Aber nicht jedem Theil, der zu 
feiner Berrihtung ein beftimmtcs Wärnemaß bedarf, erlaubt die 
Natur derfelben Berrichtung, dieſes Bedürfniß felbft durch Tebhaften 
Stoffwechſel zu deden. Die Gefäße aber bilden die Kanäle, durch 
welche die anderswo erzeugte Wärme, an das Blut gebunden, 
gleichmäßig über den Körper verbreitet wird, und aus dieſer ihrer 
zweiten Beftimmung, ein Apparat der Wärmevertheilung zu fein, 
begreifen fih einzelne Feinheiten ihrer Anordnung leichter, als 
aus ber erften, zur Verbreitung des crnährenden Saftes zu dienen. 
So kommt der Ueberſchuß der Theile von regem Stoffwechfel auch 
denen zu Gute, die durch ihren geringeren Umfag oder um ihrer 
ungünftigeren Lage willen die erforderliche Höhe der Temperatur 
jelbft zu erzeugen und zu erhalten nicht fähig find; fo erlangt 
namentlich die äußere Oberfläche des Leibes Erſatz für die bedeu— 
tende Wärmeftrahlung, durd die fie in Beruhrung m mit der Luft 
beftändig erfaltet. 


Wir haben bisher das vom Blur erfüllte Gefäßſyſtem als 
die Vorrathskammer betrachtet, aus der ſowohl der ernährende 
Wiedererfag als die nothmendige Wärme den Körpergeweben zu— 
geführt werden. Bald jedoch würde diefer Vorrath erſchöpft fein, 








125 


wenn nit durch Atmung der Sauerftoff beftändig neu erſetzt, 
durch die VBerbanung der Beitand der bildungsfähigen Maſſen un: 
terbalten, durh Abfonderung die unbrauchbar gewordenen Ber: 
fegungsrefte aus dem Blute entfernt würden. Bon diefen Ver: 
richtungen bedingt zuerft die Athmung in den höheren Thieren 
die Ausbildung einer befondern Abtheilung des Gefäßſyſtems, dazu 
beftimmt, das vendfe durch Aufnahme unbenugbar gemworbener 
Stoffe veränderte Blut durch günftig eingeleitete Wechſelwirkung 
mit der äußern Luft von feiner Kohlenfäure zu befreien und mit 
Sauerſtoff neu zu füllen. Statt des einen Herzens, von dem wir 
früher den arteriöfen Etrom ausgehen und in welches wir den 
venöfen unmittelbar zurüdfchren Tießen, denken wir jegt zwei ähn- 
lich gebaute; von den Haargefäßen wiederkehrend wird der venöfe 
Strom zunächſt in das eine aufgenommen, von ihm aus durch 
einen weniger ausgedehnten Bogen des Gefäßringes getrieben, und 
erreicht erft aus diefem wieder zurückſtrömend das zweite Herz, um 
von diefem nun in die ſchon bekannte Bahn des großen Körper- 
freislaufs überzugeben. Jener kürzere Bogen zwifchen beiden Her- 
zen bildet die Bahn des kleinen Kreislaufs, in welcher das Blut 
der Einwirkung der Luft dargeboten wird; jenc® Herz, in das der 
vendfe Strom einmündet, ift das rechte, jenes andere, aus welchem 
das arteriell gewordene austritt, das linke Herz; beide Liegen, ob- 
wohl immer mit volllommen von einander abgetrennten Höhlen- 
räumen, im Körper dicht an einander, und das Blut, aus dem 
rechten durch die Gefäßverbreitung des Fleinen Kreislaufes nad 
dem Tinten ftrömend, gelangt am Ende diefer Bewegung faft auf 
den nämlichen Punkt des Raumes zurüd, nur durch Die muscu- 
löfe Schetvewand, Die beide mit einander verwachſene Herzen trennt, 
von dem Orte ſeines Ausgangs gefchieven. Die Gefäßbahnen, 
Die c8 zwiſchen beiden Punkten durchläuft, gleichen in ihrem Bau 
denen des großen Kreislaufes. Ein ftarkr Stamm, die Yungen- 
arterie, der Aorta vergleichbar, nimmt zuerft Das venöfe Blut auf, 
das der Schlag des rechten Herzens, zugleich mit dem bes linken 
erfolgend, austreibt; er fpaltet fih bald in zwei große Acfte, deren 


126 


jeder eine Hälfte der Brufthöhle durch eine baumförmige Verzwei— 
gung immer feinerer Kanäle ausfüllt. Auch diefe Hanrgefäße 
fammeln ſich wieder zu größeren Stämmen, den Lungenvenen, in 
denen das Blut, unterdeffen durch die Athmung hellgeröthet, in 
das linke Herz, zum Wiederanfange des großen Kreislaufes zuriid- 
fließt. Durch die Zwiſchenräume, welche das feine Neg jener 
Haargefäße übrig läßt, wächft überall eine zweite Verbreitung von 
Kanälen, aber Iuftführenden, hindurch. Als ein weites offenes, 
durch Inorpelige Ringe gegen Zufammendrüdung geſchütztes Gefäß 
beginnt in dem Hintergrunde der Mundhöhle, durch den Kchl- 
dedel nad) oben verſchließbar, die anfangs einfache uftröhre; un- 
ter der Haut des Halfes und dünner Mustelbededung herabftei= 
gend, theilt fie fi) unter dem Anfang des Bruſtbeins in zwei 
Hauptftämme, die nach rechts und links ſich in immer Kleinere dünn— 
häutige Zweige auflöfend, jene zwei großen Bäume bilden, deren 
Aeſtchen ſich zwifchen die feinen Nege der gleichfalls zu zwei vielfach 
verzweigten Geflechten entwidelten Blutgefäße einſenken. Eine all- 
gemeine häutige Umbillung, nur in wenige der größeren Abthei- 
lungen dieſes durcheinander verwachſenen Doppelgeflechtes eingehend, 
überzieht jede der beiden Verzweigungen, die beiden Lungen, deren 
größere rechte ihre Hälfte der Bruſthöhle ausfüllt, während die 
kleinere linke das in der Mitte und nach links gelegene Herz, 
dem ſie Raum läßt, von hinten, von oben und zum Theil mit 
herabgreifendem Rande von vorn her umgibt. Der mittlere Theil 
der Bruſthöhle, die Spalte, welche beide Lungen treunt, iſt der 
Raum, in welchen bogenförmig nach oben und dann nach hinten 
abſteigend ſich die Aorta ausdehnt, und von welchem aus die Blut— 
gefäße ſeitlich, die beiden Aeſte der Luftröhre von oben her in das 
Gewebe der Lungen eintreten. 

Die feinſten einander innig umſchlingenden Veräſtelungen der 
Luft- und Blutgefäße find auch bier der eigentliche Ort der Wirk— 
famfeit. Die legten Enden der zarten Luftröhren erweitern fih zu 
Heinen Bläschen, an deren Wandungen die Haargefäße verlaufen, 
nur dur eine äußerſt dünne Bedeckung von der Luft gefchieden, 


127 





welche das Innere diefer Heinen Rungenzellen füllt. Durch jo feine 
feuchte Membranen findet auch außerhalb des Iebendigen Körpers 
eine Austauſchung von Gasarten ftatt, nach Glefegen, Die noch nicht 
völlig in ihren Einzelheiten aufgellärt find. Die Koblenfäure des 
vendfen Blutes, das an diefen dünnen Scheivemwänden der Luft 
voräbergeführt wird, tritt ausgehaucht aus den Gefäßen in die 
Höhlung der Lungenzellen; der Sauerftoff der dort befindlichen 
atmofphärtfchen Luft dringt umgekehrt durch die Wände der Haar- 
gefäße ein und wird nun mit dem artericl gewordenen Blute, 
das ihn aufgefaugt hat, dem Linken Herzen und durch Diefes dem 
großen Kreislaufe zugeführt. Die beftändige Fortdauer dieſes Bor- 
gangs wird endlich durch Die Bewegungen der Bruft, die Abwechs⸗ 
lung der Ein- und Ausathmung gefihert. Zum Einathinen heben 
die Muskeln dic beweglichen Rippen in die Höhe und ftreben auf 
dieſe Weife die Brufthöhle zu erweitern; aber überall gefchloffen 
wie fie ift, kann fie diefem Beftreben nicht folgen, ohne daß die 
äußere Luft den leeren Raum, der dabei entjtchen müßte, durch 
Kehlkopf und Luftröhre eindringend bis in Die Lungenzellen erfüllte. 
Diefe thätigen Bewegungen der Bruſtmuskeln laſſen mit vollen- 
deter Einathmung nad), und die eigene Elafticität des Lungenge— 
webes, das durch die eingebrungene Luft ausgedehnt war, reicht 
bin, um durch ihr Zufammenzichungdbeftreben die Wiederaus- 
athmung derfelben, und damit die nun von felbft folgende Sen- 
fung der gehobenen Rippen zu vollbringen. Nur die Einathmung 
ift daher durch lebendige Thätigkeit der Muskeln nothwendig be= 
dingt; die Ausathmung erfolgt im gewöhnlichen Taufe der Refpi- 
ration ohne die Mitwirkung derfelben, obwohl fie zu möglichſt voll- 
fommeney Entleerung der Lungen von ciner folden unterftügt 

werden fann. j 


Durch Herz Lungen und die großen Gefäßftämme wird der 
Raum der Brufthöhle ausgefüllt. Site ift nad unten durch das 
Zwerchfell von der Bauchhöhle, dem Sige des Verdauungskanals 


128 


und feiner Anhänge gefhieden. lache Musfelplatten, deren Fa— 
fern ſich nach verſchiedener Richtung kreuzen, entfpringen vom Rüd- 
grat, von ber unterften Rippe und dem untern Ende des Bruft- 
beins, und bilden, ſich unter einander vereinigend, dieſe Scheibe: 
wand, die am Rüden tiefer hinabreihend als vorn, nad oben 
gewölbt, in die Bruftböhle emporragt. Auf ihr ruhen Herz und 
Lungen, und durch eine Spalte, die ihre Faſerbündel am Rück— 
grat zwifchen ſich laſſen, tritt die Aorta dicht an der Wirbelfäule 
in die Bauchhöhle, um bald fih in die beiden großen Gefäß— 
ftämme der Beine zu theilen. Die Zufammenzichung der Zwerd;- 
fellsmuskeln plattet Die nach oben gerichtete Wölbung deſſelben ab 
und unterſtützt dadurch Die Erweiterung der Brufthöhle zum Ein- 
athmen; die Zufammenzichung der musculöfen Wände der Un- 
terleibshöhle Dagegen, indem fie die in biefer enthaltenen Einge- 
weide nach oben preßt, vermehrt jene Wölbung und befördert durch 
Berengerung der Bruft die tiefe Ausathmung. 

Aus dem Hintergrunde der Mundhöhle beginnt der Mus— 
kelſchlauch der Speiferöhre, zuerft zwiſchen Wirbelfäule und Luft- 
vöhre, dann in der Bruft an die vorbere und linke Seite der 
Aorta tretend, in dic Bauchhöhle hinabzufteigen, in welche fie durch 
eine Deffnung des Zwerchfells eindringt. Zwiſchen die Wände 
diefes Kanals wird die durch Kauen zerfleinerte Nahrung fo wie 
das flüffige Getränf durch Musfeln der Mund- und Rachenhöhle 
hineingedrängt; indem Hinter ihm ſich Die musculöfe Wand zu- 
ſammenſchnürt, öffnet der Biffen Schritt für Schritt fi) den Weg 
durch diefe Röhre, deren Wandungen, nicht wie die der Luftwege 
durch elaftifche Knorpel auseinander gehalten, fi, im gewöhnlichen 
Zuftend ohne Zwiſchenraum aufeinander legen. So nach der Höhle 
bed Unterleibe8 beförvert, gelangt die Nahrung in Die Abtheilung . 
des Verdauungskanals, in welcher die chemiſche Thätigfeit der An: 
ähnlichung beginnt. Im vielfachen nur für einzelne Abfchnitte in 
ihrer Lage beftunmten Windungen zieht fih der Darmkanal durch 
die Unterletbshöhle, überall aus ciner äußern musculöfen Schicht 
und einer innern fammtartig glänzenden Schleimhaut zufammen- 








129 


gefegt, beide von zahlreihen Blutgefäßen durchfegt, und beide bei 
allgemeiner Gleichheit ihres Baues doch in verſchiedenen Abthet: 
lungen des Ganzen nad) den abweichenden Zwecken verſchieden ind 
. Beine organifirt. Unmittelbar nad) ihrem Eintritte in die Bauch: 
böhle erweitert fi die Speiferähre zu einem geräumigen beutel- 
förmigen Organ, deſſen meiterer abgerundeter Sad ſich blind nad 
Iint8 von ihrer Einmündung ausbehnt, während der andere längere 
Theil ſich in den ferneren Verlauf des Darmkanals fortfegt. Die 
Mustelhaut dieſes Organs, des Magens, aus verfhiedenen flachen 
Bündeln von Yafern verwebt, vermag durch ihre wellenförmig hin 
und bergebenden wenig kraftvollen Zufammenziehungen den ange: 
langten Speifebrei hin und berzuführen und ihn dadurch in man- 
nigfaltige Berührung mit der inneren Schleimhaut zu bringen. 
Reih an Blutgefäßen, zu denen während der Verdauung vermehrter 
Zufluß ftattfindet, fondert dieſe Haut aus eigenthümlichen mi- 
kroſtopiſchen Drüschen, welche in fie eingebettet fi in der größeren 
nad unten gerichteten Krihnmung des Magens hinziehen, ein mit 
dem Namen des Pepfind belegte in feiner BZufammenjegung 
wenig bekanntes Product aus, das in Verbindung mit dem falz- 
und mildhfäurehaltigen wäflerigen Magenfaft den erften kräftig 
auflöjenden. und chemiſch umgeftaltenden Einfluß auf die Nahrung 
ausübt. Schon hier verwandeln fi die ftärkmehlartigen Beftand- 
theile der Tegtern in Zuder; Eiweiß und Faferftoff der Fleiſch— 
nahrung verlieren zerfallend einen Theil ihrer Eigenſchaften; die 
Bette ſcheinen unverändert hindurchzugehen. Bon den Getränken 
und von den verflüfligten Theilen der Nahrung wird vieles ſchon 
bier durch die Blutgefäße des Magens aufgefaugt; die nicht voll- 
kommen löslich gewordenen Stoffe treten nach und nach zur weiterer 
Verarbeitung durch die Gegenöffnung des Magens in den nächſten 
Abſchnitt des Verdauungskanals, den Zwölffingerdarm. 

Sie unterliegen hier dem Einfluſſe zweier Organe, der Leber 
und des Pancreas, die wir beide als ausgeſtülpte Anhänge des 
Darmkanals am kürzeſten für unſern Zweck beſchreiben können. 


Wir denken uns eine nach außen gebildete hohle sol des Darm- 
Loge l. 3. Aufl. 


130 


rohrs almählih zu einem lang und dünn auögezogenen Kanal 
anmwachfen, deſſen fehr enge Höhlung in offener Verbindung mit 
ber viel geräumigeren des Darmes bleibt. Diejer Kanal, den 
wir den Gallengang nennen, theilt ſich dann in zwei Zweige, von 
denen der eine fehr bald mit einer blafenfürmigen Anſchwellung, 
der Gallenblafe, ſchließt, während der andere, der Luftröhre ähn— 
Th, fih in eine Baumkrone feiner Berzweigungen veräftelt. 
Zwiſchen dieſes Geflecht dringt ein doppeltes anderes in ähnlicher 
Weiſe wie in den Lungen ein. Nicht nur der große Kreislauf 
fendet aus der Aorta Arterien, die fi) hier in ein Haargefäßnetz 
ausbreiten, fondern auch das vendfe Blut, das aus den Einge- 
weiden des Unterleibes zurüdfehrt, fammelt fih in einen großen 
Stamm, die Vfortader, und diefe, fih von neuem ine in venöſes 
Haargefäßnetz auflöfend, begleitet ebenfalls mit ihrer feinen Ber- 
zweigung die Veräftelung der Gallenkanäle. So bildet Diefes 
dreifache Geflecht in Verbindung mit der zelligen Maffe Die Sub- 
ftanz der Leber; von einer Umhüllungshaut zu einem derben maf- 
fenhaften Organ abgefchloffen und von der rechten Seite des Un— 
terleibes bis über feine Mittellinie hinausreichend, hängt fic unter 
dem Zwerdhfell in einer Falte eines häutigen überall gefchloflenen 
Sades, des Bauchfelles, befeftigt, deffen vordere Fläche die innere 
Seite der musculöſen Unterleibswand überzieht, und deſſen hintere 
in mehrfachen in das Innere des Sades hincingefalteten Einftül- 
pungen bie wichtigften Abtheilungen des Verdauungskanals auf- 
nimmt und fefthält. Aus den Zellen des Leberparenchyms, an 
welchen die Fleinften Verzweigungen der Gallenkanäle endigen, 
wird in diefe die gelbe, bittere Galle ausgefondert. ‘Daß Diefe 
Flüſſigkeit einen weſentlichen Einfluß auf Die Verdauung ausübt, 
ſcheint die Beftändigfeit zu‘ beweifen, mit der in ben höheren 
Thierklaſſen die Lage der Leber überall fo angeordnet ift, daß 
aus ihr und aus der Oallenblafe, in der das ſtets bereitete Product 
ih anhäuft, die Galle durd die erwähnten Ausführungsgänge 
in dem Maße dem Darmlanal zugeführt wird, in welchem die 
Nahrung aus dem Magen in ihn’ eintritt. Aber ich vermeibe 





131 


es billig, auf die fpecielleren Anfichten einzugehen, welche über die 
Art diefes Nugens die Phnfiologie aufzuftellen verfucht. Ueberaus 
mühſame und verbienftlihe Unterfuhungen haben doch bisher 
unfere Kenntniß von dem Ineinandergreifen der vegetativen Ver— 
richtungen nur fehr wenig feftzuftellen vermocht, und unfere Auf- 
faffungen der chemiſchen Borgänge in der Verdauung und Anbil- 
dung find noch in beftändiger Aenderung begriffen. Anftatt diefer 
Einzelheiten führe ich einen Ganfen an, in melden hemifhe 3 
Forſcher ihre Anfiht von dem allgemeinen Sinn der bier vor- 
fommenden Wechſelwirkungen zufammendrängten. Der thierifche 
Körper nährt fich allerdings durch von außen zugeführte Stoffe, 
bie im Ganzen bereit$ die Zufammenfegung feiner eigenen Be- 
ftandtheile haben; die völlige Anähnlihung des aufgenommenen 
Materials ſcheint indeffen doch nur durch die Einwirkung von 
Stoffen möglich, Die dem Organismus bereitd angehörten und 
die von ihm nun als corrigirende Fermente hinzugebradht werben, 
um die hemifchen Bervegungen bes eingeführten fremden Materials 
in eine für die Zwecke der Anähnlihung günftige Richtung zu lenken. 
Eine große Menge folder Stoffe, Pepfin, Galle und die Säfte 
des Pancread und der zahlreichen verfchtedenen Drüfen de8 Darm⸗ 
kanals, wirft auf diefe Weife beftändig der Organismus zwiſchen 
die hemifchen Wechfelwirfungen hinein, denen die Elemente des 
Nahrungsmateriald durch ihre eigene Natur unterworfen fein 
würden; wir fennen die befondern Leiftungen nicht, die dieſen ein= 
zelnen Beiträgen obliegen, und felbft die Krankheitserfcheinungen, 
die aus der Störung des einen oder des andern hervorgehen, 
erlauben nicht durch Rückſchlüſſe die Functionen der verſchiedenen 
zu fondern; fo müffen wir ung mit dem Allgemeinen jenes Ge— 
dankens begnügen und der Zukunft feine Bewährung im Ein- 
zelnen itberlaflen. 


In die Aufgabe, den zubereiteten Speifefaft dem Blute 
und aus ihm den Beftandtheilen des Körpers zuzuführen, theilen 
9* 


132 


fih zwei Syſteme von Gefäßen. Die Blutgefäße, welche die 
ganze Ausdehnung de8 Darmrohrs mit feinen Negen durchziehen, 
[Heinen nur die aufgelöften unorganifhen Beitandtheile, wie die 
Salze, und von den organischen diejenigen aufzufaugen, die völlig 
verfläffigt nicht zur Bildung der Gewebe fondern zu anderen 
Dienften in den Körper übergehen follen. Diefe Auffaugung ift 
fo raſch, daß flüffige Gifte ſchon wenige Minuten nad ihrer 
Aufnahme fih im Blut und in den Abfonderungen durch ihre 
Reactionen, in dem übrigen Körper durch ihre Wirkungen be— 
merflih machen. Die Aufnahme der gewebbildenden Nahrungs- 
ftoffe, der eimeißartigen Körper und neben ihnen der Wette, fällt 
dem anderen Syſteme, dem der Chylusgefäße, zu. Das fammtartige 
Anfehen, welches die innere Oberfläche der Schleimhaut vom 
Magen an abwärts immer mehr annimmt, zeigt fi) bei mi- 
froffopifher Betrahtung als die Wirkung feiner in die Höhle 
des Darmes hineinragender Zostenbildungen. Im obern_ Theile 
des Darmkanals kegelförmige Erhöhungen mit breiter Baſis, 
gehen ſie im untern in zungenförmige Organe über, zu 40 bis 
90 auf eine Quadratlinie der Schleimhaut zuſammengedrängt. 
Die blaſſe unbeſtimmt faſerige Grundmaſſe ihres Gewebes um- 
gibt außen ein Ueberzug cylindriſcher Zellen, unter dem an zwei 
Seiten feine Blutgefäße durch Zwiſchennetze verbunden aufſteigen; 
ihre Mitte nimmt mit blindem kolbigem oder ſtumpfem Ende 
der Urſprung eines Chylusgefäßes ein. Mit dieſen unterein- 
ander nah und nad zu größeren Stämmen zufammenfließenden 
Chylusgefäßen vereinigt fi fpäter die Verzweigung der Lyınph- 
- gefäße, die aus den übrigen Theilen des Körpers die überſchüſſig 
ergoffene Yutfliffigkeit auffaugen, und beide in Bau und Ver- 
richtung fehr ähnlichen Kanalfyfteme führen zulegt durch einen 
gemeinfamen Ausmündungsgang ihren flüffigen Inhalt in einen 
der Hauptftämme bes venöfen Gefäßgebieted, die vom Kopf berab- 
fteigende Hohlvene über. | 

An den Chylusgefäßen fo wenig wie an den Blutgefäßen 
find offene Mündungen zur Aufnahme der von ihnen zu leiten- 


133 


den Stoffe zu bemerken; aud in ihnen gefchicht daher die Auf: 
faugung durd) Die gefchloffenen Wandungen und muß auf Fläffig- 
fetten oder auf fefte Theile von foldher Kleinheit beſchränkt fein, 
daß fie die unwahrnehmbaren Zwifchenräume, die wir zwiſchen 
den Heinften Theilen auch dieſer Wandungen annehmen dürfen, 
zu durchdringen im Stande find. Auch fo bietet jedoch der Me- 
chanismus diefer Auffaugung eigenthümliche Schwierigkeiten, die 
fih kaum ohne die Annahme einer chemifchen Anziehung des 
inneren Theiles der blinden Gefäßenden befeitigen laſſen, melche 
‚den Eintritt der Flüffigfeit bedingt und ihren Rüdtritt durch die 
Wandung verhindert. Unter diefer VBorausfegung würde die be- 
trächtliche Elafticität der Gefäßwände hinreihen, um die Fort— 
preffung ihre8 fie ausdehnenden Inhalts in der offenen Richtung 
nad dem Blutkreislauf zu erflären, und zahlreiche Klappen, bie 
der Strom in diefer Richtung öffnet, beim Rückfluß aber fchließen 
würde, unterftügen die Wirkung dieſer Triebkraft. 

Auf dem Wege, den fie bis zu ihrem Eintritt in das Blut 
zurüdlegen, unterliegen Chylus und Lymphe in vielen Drüfen, 
zu denen ihre Gefäße fich verfchlingen, dem umgeftaltenden Einfluß 
des Blutes felbft, deſſen Zufammenfegung ſich die ihrige immer 
mehr nähert. Eigenthümliche, körnige Körperchen treten in beiden 
auf, von mifroffopifcher Kleinheit, aus eiweißartigen Stoffen ge- 
bildet. Sie fcheinen die erften Anfänge einer Bildung zu fein, 
durch welche das Blut fid) von den übrigen Säften unterfcheibet, 
der rothen Blutkörperchen. Als fcheibenförmige glatte Zellen 
ſchwimmen diefe in größter Anzahl im Blut, gebildet aus einer 
zäben Karen Flüſſigkeit ohne feften Kern, und von einer fehr ela= 
ftifchen durchſichtigen Umhüllungshaut umkleidet, welche aus einem 
eiweißartigen Körper, dem Globulin, und einem rothen eifenführen- 
den Farbftoff, dem ebenfalls eimeißartigen Hämatin gemischt ift. 
Weber ihre Entftehungsmeife, noch die Art, wie fie alternd wieder 
zu Grunde gehen, noch die Dienfte, welche fie dem Leben leiften, 
und welche für fehr wichtig zu halten wir vielfache Beranlaffung 
haben, find bis jegt zweifellos befannt. Ihre Beftimmung wird 





+ 


134 


theil8 in einer Verwendung zur Ernährung und Gemebbilbung, 
theil8 darin gefucht, daß fie durch abmwechfelnde Abforption von 
Sauerftoff und Kohlenfäure, unter deren Einfluß fie die Farben— 
verjhiedenheiten des arteriellen und venöfen Blutes bedingen, für 
die Austaufchung der Stoffe ald Bewegungsmittel thätig find. 
Die Schwankungen ihrer Menge im Blut zeigen fih in Kranf- 
heiten mit beveutendem Einfluß eu b die GLebhaftigteit der Nerven⸗ 
verrichtungen verbunden. 

Chylus und Lymphe find die einzigen Quellen des Wieder- 
erfages für das Blut; meit mannigfaltiger find die Yormen, in 
denen e8 feine Beftandtheile ausgibt. Wahrſcheinlich wird nur 
ein verhältnigmäßig geringer Antheil dDiefer Ausgabe auf die be— 
ftändige Wiederernährung der durch ihre Leiftungen abgenugten 
Gewebe verwandt; ein beträchtlicherer geht vielleicht zur Erzeugung 
vielfacher Gebilde auf, die, mie Haare, Nägel, Oberhaut, in 
beftändigem Wachsthum begriffen find und in fefter Geftalt durch 
Abſtoßung und Abfchilferung ſich von dem Körper trennen; nod 
bedeutender fheint die Maſſe der aus dem Blute geſchehenden 
Abſonderungen, welche, wie die zahlreihen Säfte des Verdauungs- 
kanals und feiner ihm zugeordneten drüfigen Organe, vor ihrer 
Entfernung aus dem Körper noch einmal zu den Zwecken der 
Affimilation als beihelfende Mittel benugt werden. Die größte 
Gemwihtsmenge aller Abſcheidungen erfolgt jedoch durch die Aus— 
dünſtung aus Haut und Lungen und durch die Abfonderung des 
‚Barnes; beide Vorgänge nur zur Entfernung unbraudhbarer Maſſen 
beftimmt, obgleich der erſte vielleicht durdh die Nebenwirkungen, 


welche die Thätigfeit der Ausſcheidung begleiten oder ihr folgen, 


zur Ausgleihung mander Störungen des Körpers geſchickt. Die 
ſtickſtoffhaltigen Beſtandtheile des Harnd, in einer großen ver- 
äãnderlichen Waffermenge bald aufgelöft, bald aus ihr fih in fefter 
Geftalt niederfhlagend, laſſen keinen Zweifel daran, daß auf 
Diefem Wege am meiften die Reſte der in ihrer chemiſchen Zu— 
fammenfegung zerträmmerten eiweißartigen Stoffe entfernt werben. 
Man Hat einen von ihnen, den Harnftoff, bereit8 gebilvet im 





135 


Blute vorgefunden, und in Bezug auf ihn wentgftens werben die 
Nieren fih nicht als ein erzeugendes Organ, fondern nur als ein 
eigenthümlich gebilvetes Filtrum verhalten, defien Gewebe feine 
wäfjerige Auflöfung in den Höhlenraum der Ausführungsgänge 
bindurchtreten läßt, während e8 die übrigen aufgelöften und nod 
benugbaren Beftandtheile des Blutes in dieſem zurüdzubleiben 
nöthigt. 

Die Kohlenſäureaushauchung der Lungen ift begleitet von 
einer reihlihen Entwidlung von Wafferbampf, der in kühlerer 
Temperatur den Athem fihtbar macht und in welchem abjorbirt 
die Kohlenfäure in die Außenwelt übergeht. Auch aus der feuchten 
digen Schleimfchicht, weldhe unter der Oberhaut mit Gefäßen 
reichlich durchzogen Liegt, dringt Waſſer beftändig nach außen und 
entweidht dampfförmig durd die hornartige dünne Oberhautplatte, 
welche überall den Körper als letzte Grenze überzieht. Der größere 
Theil der gefammten Hautausdünſtung feheint auf diefem Wege 
zu erfolgen, nur ein Hleinerer das Erzeugniß eigenthiimlicher Heiner 
Drüschen zu fein, die in das Schleimneg der Unterhaut eingebettet 
einen fptralförmig gewundenen feinen Ausführungsgang nach außen 
fenden, aus deſſen offener Mündung Die ausgejonderte Flüffigkeit 
verdampft, und nur bei zu reichliher Erzeugung, oder wo die 
äußere Luft fie nicht binlänglih abforbirt, in der Form des 
Schweißes tropfbar hervortritt. Außer den gewöhnlichen Salzen 
des Blutes und fehr geringen Beimengungen organifcher Beſtand⸗ 
theile enthält der Schweiß nur Waffe, Mildhfäure, Ammoniak; 
feine Zufammenfegung ſchiene daher die Wichtigkeit nicht zu recht: 
fertigen, welche man der Hautthätigfeit zufchreibt, noch die zahl: 
reihen Nachtheile ihrer Unterbrüdung. Aber es tft wohl möglich, 
daß nicht die Entfernung diefer wenig erheblichen Stoffe, fondern 
bie Arbeit der Entfernung das Wichtigere ift, oder daß der beftän- 
dige Fortgang dieſes VBerbampfungsprocefies für die an der Ober- 
fläche des Körpers in der Haut felbft gelegenen Nervenendigungen 
günftige Zuftände herbeiführt, Die zur genügenden Fortfegung ihrer 
Berrihtungen unentbehrlich find. So wenig wir diefe Seite des 


136 


Nugens, den die Hantabfonderung gewährt, weiter verfolgen kön— 
nen, jo Far ift dagegen eine andere; fic dient als ein wirkſames 
Abfühlungsmittel für die durch vielfache Urſachen vermehrbare 
Wärme des Körpers und des Blutes insbefondere. In der reich— 
lihen Berdampfung, welche unfere Oberfläche beftändig fichtbar 
oder unfichtbar unterhält, wird eine große Wärmemenge gebunden 
und dem Körper entzogen und Gleiches. findet ununterbrochen durch 
die Aushauchung der Lungen ſtatt. 

Nicht alle Beſtandtheile des Körpers haben in dieſem Um— 
riſſe feines Baues und ſeiner Verrichtungen Erwähnung gefunden. 
Wir haben manche von größter Wichtigkeit einer ſpätern Erör— 
terung überlaſſen, da wir zunächſt nur die große Ausdehnung ver— 
anſchaulichen wollten, in welcher das Leben zur Erfüllung feiner 
Aufgaben diefelben Mittel benugt, mit denen die menſchliche Tech- 
nik ihre Werke zu Stande bringt. 


Sechſtes Kapitel. 


Die Erhaltung des Lebens. 





Phyfiſche, organifche, pſychiſche Ausgleichung ber Störungen. — Beifpiele der Herftellung 
bes Gleichgewichtes. — Das ſympathiſche Nervenſyſtem. — Beftändige Unruhe 
alle Organiſchen. — Allgemeine Bild des Lebens. 


Auf den unmittelbaren Wechſelwirkungen der Hleinften Theil- 
hen beruht die Erhaltung der Körpergeftalt und die Fähigkeit 
zu lebendigen Leiftungen. Bon ihnen allen verräth der Anblid 
des lebenden Leibes fo wie unfere innere Beobachtung Nichts; 
unbemerkt und im Stillen gefchehen alle die chemischen Umwand— 
lungen der Stoffe, alle Schritte ihrer Geftaltbildung, der regel- 
mäßige Anſatz einiger, die allmähliche Ablöſung der andern. 
Was unferer Beobachtung fi als Zeichen des Lebens aufprängt, 


137 


der beftändige Wechfel des Athmens, die Unruhe des Herzfchlages, 
die Wärme, die alle Theile des Körpers durchdringt, Das alles 
ift nur die Erſcheinung vermittelnder Thätigfeiten, durch welche 
der Organismus in jedem Augenblid die nöthigen Bedingungen 
für die Fortjegung jenes unfichtbaren Spieles berzuftellen fucht. 
Aber auch fo find diefe vorbereitenden Verrihtungen von großer 
Wichtigkeit; befteht doch eben darin die Eigenthümlichkeit des 
Lebens, daß es durch die beftimmten Verkntipfungsformen, in denen 
e8 die elementaren Stoffe zu gegenfeitiger Wechſelwirkung zuſam⸗ 
menführt, die eingebornen Kräfte Derfelben zu ungewohnten Erfolgen 
anleitet und nöthigt. Wohl ift es daher ber Mühe werth, der 
Schilderung des Ineinandergreifens diefer Thätigfeiten noch bie 
Frage nach den Kräften und den Gefegen nachfolgen zu laſſen, 
durch, welche den wechjelnden Bedürfniffen gemäß Größe und 
Kebhaftigfeit jeder einzelnen eben fo, wie die Art ihres nüglichen 
Zuſammenwirkens mit den übrigen in jedem Augenblide beftimmt 
wird. Ein weites noch offenes Feld für Unterfuchungen der Zu: 
funft, geftattet diefe Frage nah Plan und Orbnung des thie 
rifhen Haushaltes im Ganzen uns für unfere Zwede nur die 
Andeutung weniger Bunkte, um die allgemeine Anfiht, die uns 
bisher geleitet hat, noch einmal zum Abfchluffe unfers Bildes 
vom Leben zu benugen. 

Wie die Befeitigung jeder Störung nad) unfern frtheren Des 
merkungen nur dadurch gelingen Tann, daß dieſe ſelbſt in irgend 
einer Weife die heilenden Thätigkeiten Des Körpers zu ihrer eigenen 
Aufhebung in Bewegung fest, jo wird aud die Befriedigung jedes 
Bedürfniſſes davon abhängen müſſen, daß der änderungsbebürftige 
Zuftand felbft die zu feiner Umgeftaltung nöthigen Niüdwir- 
tungen anregt. Diefer allgemeinen Bedingung kann auf mehrfache 
Weife genügt werden. Der einmal angeordnete Bau Der einzelnen 
Theile felbft Tann, wie dies in jedem Beifpiel der Elafticität zu 
geſchehen pflegt, ein Beftreben zur Rückkehr in bie früheren Zu- 
ftände entwideln, das innerhalb gewiſſer Grenzen wenigſtens in 
demfelben Maße wächſt, wie Die gemaltfame Ablenkung von 


138 


ihnen. Hier wird die Störung auf das unmittelbarfte durch Die 
eigenen Kräfte der Theilhen, deren Verhältniſſe fie verfchoben 
hatte, befeitigt, fei es, daß mit der wachſenden Störung ftetig auh 
die heilende Rückwirkung zunahm, fei es, daß Die erfte nur nad 
der Erreihung einer beftimmten Höhe die inneren Verhältniſſe 
ber betroffenen Theile zu einer nun plötzlich beroortretenden Re- 
action nöthigte. Beftände der lebendige Körper aus Theilen, 
deren jeder nur für feine eigene Erhaltung zu forgen hätte, fo 
würden wir diefe einfachſte Form der Ausgleihung häufiger an- 
gewandt, oder vielmehr die Theile fo gebaut finden, daß ihre An- 
wendung itberall möglih wäre. Aber e8 Tiegt in den Sweden 
des Lebens, Störungen und Bedürfniſſe des cinen Theils als An- 
regungen zu Leiftungen anderer zu verwertben und die Erſchüt— 
terungen des einen nicht auf dem Firzeften, fondern auf dem Wege 
fih ausgleihen zu laſſen, auf welchem ihnen die nöthigen und 
nüglichen Nebenwirkungen für den Vortheil des Ganzen abge: 
wonnen werben fünnen. In großer Ausdehnung ſehen wir daber 
eine zweite Form der Ausgleihung in Anwendung gezogen; die 
Störung eines Theiles verbreitet ihre Folgen über einen größeren 
Abſchnitt des Organismus, und nicht zufrieden, die eigenen Wi- 
derfiandöfräfte der unmittelbar getroffenen Stelle zu weden, regt 
fic vielmehr weit entlegene Theile durch ihren fortgepflanzten An— 
ftoß zu einer größeren und mannigfaltigeren Rüdwirkung an. 
Ausgehend von Beftandtheilen, die diefen Anftoß im regelmäßiger 
gegenfe:tiger Verbindung und durch manderlei Beziehungen ver- 
knüpft empfingen, wird auch diefe Rückwirkung weit reicher und 
vielgeftaltiger fein fünnen, als die einfache Wiberftandsfraft Der 
urfprünglich geftörten Theile fie geleiftet hätte: fie wird nicht nur 
dieſe einzelne Erſchütterung befeitigen, fondern zugleih nad ver- 
ſchiedenen Richtungen hin aus ihr nügliche Antriebe für den wei— 
teren Berlauf der lebendigen Leiftungen entwideln. So wie das 
funftreiche Getriebe einer Mafchine den einfachen, faft formlofen 
Anftoß, den es erhielt, in mannigfacdhe fein aufeinander bezogene - 
Bewegungen verwandelt der Außenwelt wiedergibt, fo treten Die 





139 


nicht minder kunftreich geordneten Zufammenbänge lebendiger Theile 
zwifchen die einzelne Erfchütterung und das Ganze des Organis- 
mus und, befriedigen die beſchränkten Bedürfniffe mit zweckmäßiger 
Rückſicht auf das Wohl des legtern. In dem Nervenfyftem werden 
wir Diefe Veranftaltung erfennen, durd welche die Zuftände räum- 
lich getrennter Theilchen zu einer Wechfelwirkung verbunden werben, 
Die ihre Lage und ihr Bau ihnen an fih nicht möglich machen 
wiirde, und Durch welche zugleich die zerftreute und fragmentarifche 
Befriedigung der einzelnen Bebürfniffe in die zufammenhängende 
Führung eines allgemeinen Haushaltes verwandelt wird. Nennen 
wir diefe neue Form der Ausgleihung eine organifhe im Gegen: 
fat zu jener einfacheren phyſiſchen, fo meinen wir damit nicht 
eine Verſchiedenheit der wirkenden Kräfte, fondern jenen Unter- 
ſchied ihrer Verwendung zu bezeichnen, durch den unfere Auffaffung 
überall das planmäßig geordnete Leben von den vereinzelten ober 
zufällig zufammengeratbenen Stoffen der unorganifhen Welt unter: 
ſchied. Aber auch diefe Form der Ausgleihung und Erhaltung 
ift nicht die legte und höchſte; uber die Grenzen unferer gegen: 
wärtigen Betrachtung hinaus, aber doch einer Erwähnung bier 
bebürftig, erhebt fi die Mitwirkung der Seele. . Nicht immer ver: 
mag der geftörte Theil aus fich felbft die Heilung zu finden; er 
findet fie oft nicht einmal in den Hülfsmitteln des Nervenſyſtems, 
an das cr ſich fuchend wendet; aber feine Erſchütterung wandelt 
fih nun in Gefühl und Empfindung der Seele um, und Das un- 
zureichende Körperliche Gebiet verlafiend bemegt fidh die Erregung 
auf geiftigem Boden fort, um alle Hülfsquellen der Einfiht auf: 
zubieten, zulegt mit dem gewonnenen helfenden Entſchluſſe wieder 
auf Die Organe des Leibes zurückzuwirken und ihnen Wege der Be- 
friedigung zu zeigen, die fie felbft nicht würden aufgefunden haben. 

Späteren Gelegenheiten überlaffen wir diefe Ergänzungen des 
förperlichen Lebens durch bie Hülfe des giftigen; von jener ein- 
fachen phyſiſchen und der organtfch vorbereiteten Ausgleihung ver- 
ſuchen wir in wenigen Beispielen ein hinlängliches Bild zu geben. 


140 


So meit e8 möglich ift, hat die Natur unmittelbare Com- 
penfation der Etörungen und die Befriedigung der Bedürfniſſe 
durch die eigenen Kräfte der Theile dem Aufgebot eigener organi= 
ſcher Mittel vorgezogen; fie wendet auf dieſe Weife häufig Eigen- 
fhaften an, die den Geweben entweder für immer oder doch un 
geftört für längere Zeit zufommen, und fpart an jenen andern 
Thätigkeiten, deren Ausübung nicht ohne Verbrauch ihrer Träger 
möglich Scheint. Schon die Musfelbewegung jehen wir in vielen . 
Fällen durch phnfifche Elafticität der Gewebe erfegt. Das Herz 
volßzicht feine Verengerung allerdings durch Lebendige Verkürzung 
feiner Muskelfaſern, aber es erweitert ſich nicht durch eine ent- 
gegengefeßte Lebensthätigfeit, fondern theils durch die geringe 
Slafticität feines Gewebes, theils durch Nachgiebigkeit vor 
dem andringenden vendfen Blutftrom. Jeder Muskel überhaupt 
erreicht nad. dem Momente der Zufammenziehung feine vorige 
Länge von: felbft, ohne einer befonderen Ausdehnungskraft zu be- 
bürfen. Die Erweiterung ber Lungen wird dur Tebendige Thä- 
tigkeit der Athemmusfeln bewirkt, die Ausathmung durch die frei= 
willige elaftifhe Zufammenziehung des ausgedehnten Gewebes. 
Biele Arbeit ift duch günftige Verhältniffe des Baues den Glie- 
bern bet ihren gewöhnlichften Berrihtungen abgenommen. Cine 
Pendelſchwingung, ohne lebendige Kraftäußerung durch Die Schwere 
eingeleitet, führt das im Schritt zurüdftehende Bein an dem vor: 
gefegten vorüber bis zu dem Punkte des neuen Auftretens; der 
Körper felbft erlangt durch den Gang eine Geſchwindigkeit nad 
vorwärts, bie nur noch feine Stügung und die fefte Stredung des 
weiterfortichreitenden Beines der lebendigen Mustelanftrengung 
überläßt. Nicht durch befondere Thätigfeiten, fondern durch den 
Drud der Luft wird dabei der Kopf des Oberſchenkels beweglich 
in feiner tiefen Gelenkgrube feftgehalten, und ähnliche Beifpielc 
ber Vermeidung Ichendigen Kraftaufwandes würde eine genauere 
Betrachtung der Bewegungen in Menge darbieten. Auch der 
Kreislauf de8 Blutes erhält in weiten Grenzen feine Regelmä- 
Kigfeit felbft und beftimmt zugleich die Größe der Abfcheidungen, 





141 


die aus ihm. erfolgen follen. Fände das arterielle Gefäßſyſtem 
augenblidlih fih mit Blut überfüllt, fo würde die dadurch an- 
wachſende Spannung feiner Wände mit größerer Kraft und Ge- 
Ihmindigfeit dieſes Uebermaß zu befeitigen fuchen, und der geringere 
Zufluß, den bis dahin das verhältnigmäßig weniger gefüllte Ve- 
nengebiet dem Herzen zuführte, würde von felbft dieſem verbieten, 
jene Ueberfüllung der Arterien zu unterhalten. 

Die verhältnigmäßig große Beftändigfeit, mit welcher unter 
den verſchiedenſten Einflüffen der Nahrung und der Lebensweiſe 
das Blut feine Zufammenfegung erhält oder wiederherftellt, macht 
die Vermuthung wahrſcheinlich, daß feine einzelnen Beftandtheile 
in den Mengenverhältnifien, in welchen fie feine normale Mifchung 
bilden, ähnlich den Elementen einer feften chemifchen Verbindung, 
inniger an einander haften, als in andern gegenfeitigen Propor- 
tionen, die ein vorübergehender Zufall herbeigeführt hätte. Dies 
würde nicht hindern, daß nicht dennoch das Blut noch immer neue 
Stoffe durch Anziehung aus den Geweben auffaugte, fie in ſich 
auflöfte und an feinem Kreislauf Theil nehmen ließe; dennod 
würden diefe überfchiiffigen Beimengungen außerhalb feines gefeß- 
mäßigen Verbandes ftehen und den Kräften, welche Ummandlung 
und Ausſcheidung der Stoffe Teiten, raſch genug verfallen, un 
nad Ableiftung ihrer Dienfte das Blut bald wieder auf feine 
normale Zufammenfegung zurückkehren zu laffen. Das würde 
derfelbe Vorgang fein, der etwa eintritt, wenn aus einer wäſſe⸗ 
rigen Löfung ein maflerhaltiger Kruftall ſich abſcheidet; das Waf- 
fer, das zu feiner hemifhen Zuſammenſetzung gehört, widerſteht 
der Berbunftung, die Das übrige entfernt; dennoch bleibt der 
Kryſtall in Waſſer löslich; obgleich alſo feine chemiſche Formel 
nur eine beſtimmte Menge deſſelben einſchließt, iſt darum eine 
weitere Anziehung größerer Mengen ihm nicht unmöglich geworden, 
nur daß er dieſe nicht eben ſo kräftig wie jene gegen ungünſtige 
Umftände feſtzuhalten vermag. Unter einer ſolchen Vorausſetzung 
würde e8 begreiflich fein, mie da8 Blut Durch feinen eben vor- 
handenen Buftand die Größe der Auffaugung und der Abfon- 





142 


derung felbft zu leiten vermag. Kommt es in einem Grabe der 
Coneentration, in weldem e8 nur die nothwendigen Beftand- 
theile feiner normalen Zufammenfegung enthält, mit dem dünn— 
flüffigen verdauten Speifefaft oder der überall ergoffenen plaftifchen 
Lymphe in Berührung, fo wird es veichlihe Mengen von beiden 
in fich aufnehmen können; aber diefe Auffaugung wird fi min- 
dern, je mehr das Blut bereitS über jenen nothwendigen Bedarf 
an Stoffen in fih angezogen Hat. Die Ueberfüllung beffelben 
wird alſo durch eine erreichte Sättigung verhindert, welche dic 
auffaugenden oder anziehenden Kräfte erſchöpft und von felbft den 
Wiedererfag in ein gewiſſes Verhältniß zu dem vorhandenen Be— 
dürfniß bringt. 

Den Abfonderungdorganen wird nun das Blut nad) den 
Veränderungen, bie es während feines Laufes erlitten haben fann, 
ftet8 unter einem gemiffen Drude feiner Wandungen zugeführt. 
Kaum wird diefer Drud allein zur Hervorbringung irgend einer, 
gewiß nicht zu der einer jeden Abfonderung hinreichen; die Or— 


gane, denen diefe VBerrichtung übertragen ift, fünnen wir nicht als 


einfache Filtra anfehen, durch deren Poren der Drud des Blutes 
Slüffigfeiten nur hindurchpreßt; ihre Dienfte find, wie wir früher 
faben, oft mannigfaltiger und verwidelter. Indeſſen werden doch 
wenigftend das Waffer und die in ihm gelöften Sglze bei der 
Abfonderung feine weitere Verarbeitung erfahren; auf ihre Ab- 
ſcheidung Finnen wir unfere allgemeinen Betrachtungen anwenden. 
Findet das Blut fi fo verdünnt, daß fein Waffergehalt denjenigen 
überfteigt, den feine normale Formel einſchloß, fo werden die ab- 
jondernden Kräfte des Organs, worin fie nun auch beftchen mögen, 
dem Durchtritt dieſes Ueberſchuſſes unter dem Drude des Blu— 
tes günſtiger fein, als der ferneren Ausſcheidung auch jenes 
Waſſerantheils, den die Zuſammenſetzung des Blutes fordert. 
Denn der letztere wird nicht frei, ſondern gebunden an das Ei— 
weiß, das in ihm gelöſt iſt, gebunden auch an die übrigen Beftand- 
theile des Blutes den abfondernden Kräften dargeboten und kann 
auf dieſe zurüdhaltenden Beziehungen geftügt ihnen wiberftehen, 








143 


nicht minder die Sale, die in beftimmten Mengen der Zuſam- 
menfegung des Blutes gehören. 

Aber auch auf jene organifhen Beftandtheile, die in ber 
ernährenden fo wie in der ausführenden Abfonderung aus dem 
Blute austreten, zumeilen nicht ohne einen chemiſch umgeftaltenden 
Einfluß der abſcheidenden Drgane erfahren zu haben, können wir 
im Allgemeinen diefelben Gedanken anwenden. Ein völlig nor- 
mal gebilveter und chen deshalb eines Erfages ganz unbebürf- 
tiger Gewebtheil wird feine befondere Anziehung gegen das an 
ihm voritberkreifende Ernährungsmaterial ausüben; ein in feiner 
Zufammenfegung veränderter, eben dadurch diefem Material un— 
ähnlicher geworden, wird es lebhafter anziehen können und fo fir 
den Austritt defjelben aus den Gefäßen eine neue begünftigende 
Bedingung hinzufügen. Auch hier würde daher das Bedürfniß 
unmittelbar die zweckmäßige Größe des Erſatzes herbeiführen. 
Bietet ein ftoffreicheres Blut den Abfonderungsorganen größere 
Mengen deffen, was fie durch ihre irgendwie beſchaffene Thätig- 
feit zu verarbeiten pflegen, jo kann fchon die Gegenwart dieſes 
reichlicheren Material hinreichen, eine Steigerung diefer Thätig- 
feit zu veranlaffen, wenigſtens dba, wo dieſe Iegte nicht auf in- 
neren Veränderungen des Organs beruht, melche felbft einen nicht 
überjchreitbaren Höhepunkt der Intenfität und Geſchwindigkeit be- 
figen. Deutlicher ift, daß allemal die abjondernde Thätigfeit einen 
wachſenden Widerftand finden wird, wenn ihr Material ihr nur 
noch in der Menge zugeführt wird, die zu der feften Zufammen- 
fegung des Blutes gehört und von diefem zurüdgebalten wird. 
It ferner durch irgend eine Hemmung die abfondernde Thätig- 
feit des einen Organs gehindert, fo werden Die bier zurüdigehalte- 
nen Maffen an allen andern Orten den Ausgang fuchen, der 
unter diefen veränderten Zuſtänden für fie noch möglich oder unter 
den möglichen der Teichteft benutzbare ift. Die Unterbrüdung der 
Hautausbünftung wirft die Waffermaffe, die von der Oberfläde 
verbunften follte, in das Innere zuräd, und da fein Organ fir 
fie undurchgänglidy ift, fo fehen wir der Unthätigfeit der Haut 


144 


vermehrte wäflerige Abjcheivungen von allen andern Abjonderungs- 
flächen folgen, von der zunächſt und am meiften, die unter der 
Summe aller vorhandenen Umftände die geringften Austritts- 
widerftände darbietet. Es ift eben fo befannt, daß übermäßige 
Hautverbunftung die übrigen Seeretionen an Menge herabjegt 
und ihre Concentration fteigert, ein Erfolg, der ohne befondern 
Aufwand ausgleihender Thätigfeit aus dem Mangel begünftigender 
Löſungsmittel erflärbar if. Nicht für alle Ausfcheidungsftoffe 
findet jedoch eine ſolche Mehrheit der Austrittömege ftatt; Die 
Unterbrüdung einer beftimmten Abfonderung fann entweder die 
Bildung des zu entfernenden Stoffes ganz verhindern, indem 
diefe vielleicht nur durch die eigenthämliche Thätigkeit des jegt 
ruhenden Organs möglich war, oder fie kann, wo jener im Blute 
bereit fertig erzeugt vorkommt, feinen Austritt in der Geftalt 
verhindern, die er hier hat, und in welcher er nur durch daſſelbe 
jest gefchloffene Organ einen freien Durchtrittöweg gefunden hätte. 
In diefem Falle werben ftellvertretende Vorgänge ſich entwideln; 
entweder das Material, aus welchem der auszufcheidende Stoff 
gebildet werben follte, oder der fchon gebildete wird andere ober 
noch weitere Ummwandlungen und BZerfällungen erleiden müſſen, 
um zulest Formen anzunchmen, in denen feine Ausfonderung 
durch die übrigen noch offenen. Organe möglih wird. Da die. 
Stoffe, die in ihrer Rüdbildung begriffen find, im Blute der 
immer fortgefegten Einwirkung des Sauerftoffd unterliegen, bie 
ihren Zerfall in einfachere und löslichere Verbindungen zu begün- 
ftigen fcheint, fo tft e8 denkbar, daß auch diefe Veränderung in 
der Richtung der abſondernden Thätigkeit ſich von felbft ohne den 
Eingriff einer beſonderen regulivenden Kraft geftalte. Die üblen 
Folgen jedoch, welche die Zurüdhaltung mwichtigerer Abfonderungen 
für die Gefundheit des Ganzen zu haben pflegt, zeigt und wohl, 
daß dieſe Erfegung einer Thätigfeit durch die andere mit Schwie— 
rigfeiten verbunden ift und kaum im größerer Ausdehnung ſich 
als ein Ausgleihungsmittel der Störungen bewähren möchte. 








145 


An den angeführten Beiſpielen fuchten wir die Möglichkeit 
einer völlig phyſiſchen Compenfation der Störungen anſchaulich 
zu machen; aber wir können keineswegs verbürgen, daß nicht 
ihon in ihnen ein Anfang organischer Compenjation durch das 
Eingreifen eines ausdrüdlich zu dieſem Zweck beftimmten Syftemes 
von Organen ober Thätigfeiten enthalten ift. So Vieles ift uns 
in dem tieferen Zufammenhange der Lebenserſcheinungen noch un: 
klar, daß und oft eine Leiftung einfacher ſcheint als ſie in Wahr- 
beit ift, und daß wir häufig zu der Erflärung deſſen, was wir 
von ihr wifjen, mit wenigen Mitteln ausreichen können, während 
wir aus dem fichtbaren Aufwand größerer, melden wir von der 
Natur wirflih gemacht finden, auf uns unbelannte Schwierig: 
fetten der Sache zurüdichließen müflen. Ich habe oben den all- 
gemeinen Grund ausgedrüdt, welder die Unzulänglichfeit der 
blos phyſiſchen Compenfationen enthält. Sie alle würden zuleßt 
immer Herftellung de8 vorigen Gleichgewichts bezweden; aber es 
legt der Natur nicht immer an diefem Gleihgewicht; fie will es 
felbft zuweilen für die Zwecke der Entwidlung verändert haben- 
In dieſer Abficht muß fie auch foldhe Theile zu lebendiger Wech— 
jelwirfung verbinden, welche unmittelbar ihre Zuftände nicht auf 
einander würden übertragen fünnen. 

Das Nervenſyſtem ift zur Erfüllung diefer Aufgabe beftimint. 
Wir haben früher fchon der motorischen Nervenfäden gedacht, die 
von Gehirn und Rüdenmark entipringen, die dort aus dem gei= 
ftigen Leben entftandenen Bewegungsantriche den Muskeln bes 
Körpers zuführen und deren bald augenblidliche bald andauernde 
Zufammenziehungen veranlafjen. In ihrem äußern Anſehen dieſen 
Faſern völlig ähnlich und nur durd die Erfolge ihres Wirkens 
abweichend, verbinden eben fo die fenfiblen Fafern alle empfin- 
dungsfähigen Punkte des Körpers, von denen fie entjpringen, 
mit jenen Centralorganen, bis zu denen alle Eindrücke fort: 
geleitet fein mäffen, um für das Bewußtſein vorhanden zu fein. 
Auf dieſen beiden Faſergattungen und auf den Maſſen des Ge— 


hirns und Rückenmarks, in welchen ſie endigen oder entſpringen, 
Lotze J. 3. Aufl. 10 


146 


beruhen alle die Dienfte, welche das körperliche Leben den Zwecken 
des geiftigen zu leiften bat. Ihre genauere Darftellung dürfen 
wir einer fpäteren Gelegenheit aufiparen. Neben diefen Organen 
aber, Die wir unter dem Namen des Cerebroſpinalſyſtems begreifen, 
ift die Erhaltung der inneren Ordnung der leiblichen Berrihtungen 
zum größten Theile dem anderen Syſteme der ſympathiſchen Ner- 
ven Übertragen, das von den vielen knäuelförmigen oder geflecht- 
artigen Zufammenbäufungen, den Ganglien, in melde feine vicl 
feineren Fafern fi verfhlingen, den Namen des Ganglienfuftems 
erhalten hat. 

Je weniger ein Theil des Körpers zu willkührlicher Be- 
wegung beftimmt ift, je geringer feine Fähigfeit, dem Bewußtſein 
Eindrücke feiner Zuftände zuzuführen, je lebhafter fein Stoffwechfel 
oder die bildende Thätigfeit in ibm: um fo bäufiger finden fich 
in den Nervenbündeln, bie er erhält, die feinen Fafern des fym- 
pathiſchen Syſtems neben den bideren des cerebrofpinalen. Beob- 
achtungen und Verfuche vereinigen fih dahin, die Folgerung, 
bie fih aus diefem Verhalten von felbft ergibt, zu unterftügen, 
daß diefes zweite Nervenſyſtem die Gefammtheit der vegetativen 
Berrihtungen, die chemiſchen Umwandlungen der Stoffe, ihre 
Ernährung und Wiedererzeugung, die Geftaltbildung der Heinften 
Theile, endlich die zwedmäßige Uebereinſtimmung zwiſchen den 
Größen und Formen der einzelnen Wirkungen zu überwachen hat. 
Diefe gegenfeitige Anbequemung ber Leiftungen verſchiedener Theile 
jegt voraus, daß die Eindrücke, welche die einzelnen Faſern von den 
Zuftänden des Ortes aufnehmen, in dem fte verlaufen, in gegenfei= 
tige Beziehung und Bergleihung gebracht werben, und Daß es 
Mittelpuntte gibt, in welchen ihre verfchiedenen Erregungen zufam= 
menftoßen, um durch ihre Wechſelwirkung den Antrieb zu einer 
beftimmten der vorhandenen Lage angemefjenen Rückwirkung zu 
erzeugen. Es ift nicht zweifelhaft, daß die Ganglien, die in 
großer Anzahl in den verfchiedenen vegetativen Organen gefunden 
werden, die Vermittlungspunkte dieſes gegenfeitigen Einfluffes 
find; aber noch nicht hinlänglich aufgeflärt find wir über die Be⸗ 








147 


dingungen, unter denen hier eine fonft nicht vorkommende Ueber- 
tragung der Zuftände einer Faſer auf eine andere erfolgt. Denn 
ein unmittelbares Zufammenfließen mehrerer Faſern zu einem 
gemeinfamen Stamme tft auch bier nicht beobachtet; aber zwiſchen 
den Faſern finden ſich eigenthlimliche Elemente, rundliche kern— 
haltige Bläschen, die fogenannten Ganglienzellen, eingeftreut, von 
denen man nicht nur einzelne Faſern entfpringen fieht, fondern 
deren mehrere zumeilen durch faferförmige Fortfäge, die fie nach ver- 
ſchiedenen Seiten ausfchiden, unter einander in ununterbrochener 
Berbindung ftehen. Der Zufunft bleibt c8 vorbehalten, über die 
Bedeutung diefer Theile, denen ähnliche auch in Gehirn und 
Rückenmark zahlreih vorlommen, völlig zu entfheiden, und den 
Nugen zu beftimmen, den fie für die gegenfeitige Wechſelwirkung 
der einzelnen Fafern haben. Denken wir uns eine foldye auf 
irgend eine Weife bergeftellt, fo wird jedes Ganglion zuerft ein 
Bermittlungsglied fein, durch welches dem von einem Körpertheil 
herkommenden Eindrude überhaupt ein Einfluß auf Zuftände 
eines andern möglich gemacht wird, mit dem jener nicht in un- 
müittelbarer Berührung fteht; aber e8 wird fih zugleich auch als 
ein Sentralorgan verhalten, indem e8 diefem Eindrude nicht fofort 
die Größe nnd Form feines Weitenwirkens geftattet, die feiner 
Art und Stärfe an ſich entiprehen würden, fondern feinen 
Erfolg nad) den gleichzeitigen Bebürfnifien der übrigen Theile 
feftftellt, mit denen e8 ebenfalls verbunden iſt. Nichts hindert 
anzunchmen, daß die Heinen Ganglien, melde zunädft die inne= 
ven Berhältnifie eines befchräntten, zufammengehörigen Gebietes 
von Theilen beherrfchen, unter einander wiederum durch Verbin- 
Dungsfäben verknüpft, ober mit größeren Ganglien, ald Central 
organen höherer Ordnung, in Beziehung gefegt, die Thätigfeiten 
umfafjender Organe und Organfofteme in gegenfeitige Ueberein- 
flimmung bringen, bis endlich ihr zufammenhängendes Geflecht 
alle vegetativen Verrichtungen des Körpers zu der Einheit plan- 
mäßigen Ganges, alfeitiger Unterftügung und ausgleichender 


Wechſelwirkung verfettet. In der That finden diefe Verbindungen 
10* 


148 


der verfhiedenen Centralorgane ftatt, und vom Halfe dur 
Bruft: und Bauchhöhle Yäuft zu beiden Seiten des Rückgrates 
die Kette der Hauptganglien herab, die unter einander durch Ner: 
venfäden verbunden, andere Fäden zur Bildung der zahlreichen 
Geflechte ausfenden, welche den einzelnen Abtheilungen der Ein- 
geweide zugeorbnet find. 

Man hat in älterer Zeit die Mitleivenfchaft, in welche die 
Störungen des einen Organes fo häufig andere auch räumlich ent- 
fernte hineinzichen, von der Wirkfamfeit dieſes Syſtemes abhängig 
gemacht, und nicht mit Unrecht trägt e8 von dieſen Sympathien 
feinen Namen des ſympathiſchen Syftems, obgleid) viele von ihnen 
nad den Ergebniffen der neueren Unterfuhungen ohne feine Theil- 
nahme aus der Wechſelwirkung der cerebrofpinalen Nerven ent: 
fpringen. In welcher Form der Thätigfeit c8 nun feine Leiftungen 
ausführt, darüber find wir zum Theil durch Beobachtungen und 
Verſuche unterrichtet, ohne jedodh den Umfang feiner Wirkungen 
erfchöpfend beftimmen zu können. Sicher geftellt ift zunächſt fein 
Einfluß auf die Bewegungen der Eingemeide, deren musculöfe 
Häute fih nad Reizung der ihnen vorftehenden Ganglien zufam- 
menziehen. Nicht, wie die Muskeln der willführlichen Bewegung, 
plöglich, fondern einige Zeit nad der Anwendung des Reizes, ver- 
engert fi der Darmkanal durch die Berfürzung feiner ihn freis- 
fürmig umgebenden dünnen Musfelihicht, und diefe Zufammen- 
ſchnürung, länger dauernd, ald der angewandte Reiz, ſchreitet all- 
mählich wellenförmig fort, indem ohne neuen äußern Anlaß nach 
der Wiederermweiterung der einen Stelle die ihr zunächſt benachbarte 
fi verengt. Man beobachtet ähnliche Erſcheinungen einer lang- 
farm erfolgenden Zufammenziehung an den größeren Gefäßftän- 
men, in beren nicht blo8 aus elaftifhen, fondern auch aus lebendig 
eontractilen muskelartigen Faſern beftchenden Wandungen ſym—⸗ 
pathifche Fäden verlaufen. Die periopifchen Schläge des Herzens 
hängen von einem Syſtem mitroffopifch Kleiner Ganglien ab, das 
in der eigenen Musfelfubftanz deſſelben gelagert if. Die Bulfe- 
tionen des Herzens dauern bei Faltblütigen Thieren auch nach feiner 





149 


Ausfhneidung aus dem Körper längere Zeit regelmäßig fort; 
felbft die einzelnen Theile des zerftücten Organs ziehen ſich nod 
zufammen, Doch nur Die, welche noch jene Ganglien in fi enthalten. 
Diefe Thatfachen beweifen, daß ſowohl die Anregung zur Bewegung 
überhaupt, als der Grund für die rhythmiſche Abwechfelung von 
Anfpannung und Erfchlaffung in diefen neroöfen Eentralorganen 
liegt, aber wir wiffen weder, woraus fie felbft ihre anregende 
Kraft ziehen, noch in welcher beftimmten Weife die Periodicität 
ihrer Thätigkeit bewirkt wird. 

Zur Erregung von Empfindungen fheinen die ſympathi⸗ 
ihen Nerven nicht befähigt. Bon den Zuftänden der Theile, die 
von ihnen hauptfächlich beherrfcht werden, von dem Stande der 
Verdauung, der Affimilation, der Abfonderung, von der Spannung 
der Gefäße, haben wir im gewöhnlichen Lauf der Dinge feinen 
Eindruck; wir erfahren von ihnen erſt dann, wenn ihr Einfluß 
fi) weiter auf andere Theile erftredt, deren fenfible Nerven uns 
diefe mittelbaren Erregungen zuführen, oder dann, wenn fehr be- 
deutende Veränderungen und regelwidrige Zuftände eintreten. 
Es ift ungewiß, ob im legteren Falle die ſympathiſche Faſer felbft 
die Leitung der Eindrüde zum Bewußtſein übernimmt, zu welcher 
fie fonft unfähig ift, oder ob die cerebrofpinalen Fäden, die ob- 
gleich in geringer Anzahl doch nie ganz zu ihrer Begleitung fehlen, 
bier wie ſonſt diefe Feiftung vollziehen. Vielleicht auch mangelt 
überhaupt der ſympathiſchen Fafer die Fähigkeit zur Erzeugung 
von Empfindungen nit ganz, fondern nur den erzeugten die 
nöthige Feinheit und Schärfe, um aus dem Gemeingefühl unſeres 
Befindend fich einzeln deutlih auszufondern. Gewiß dagegen 
vollziehen dieſe Fafern den Ganglien gegenüber zum Theil dieſelbe 
Aufgabe, melde die jenfiblen Fäden des Cerebroſpinalſyſtems dem 
Gehirn gegenüber erfüllen; fie dienen als zuleitende Boten, welde 
die Zuftände der Theile, von denen fie kommen, dem Ganglion 
als ihrem entralorgan zur Beichlußfaffung über die nöthige 
Rückwirkung kundgeben. Ä 

Der bedeutende Einfluß, den das ſympathiſche Syſtem un- 


150 


ftreitig auf die Mifchungsveränderungen der Körperfäfte ausitbt, 
ift in der Art feines Zuſtandekommens am wenigften befannt, 
doch laſſen ſich Leicht verfchiedene Möglichkeiten denken, zwiſchen 
denen die Zukunft vielleicht entfcheiden wird. Die Zufammen- 
ziehbungen, welche die Thätigkeit der ſympathiſchen Faſern in ben 
Muskeln anregt, laſſen vermuthen, daß auch andere Gewebe un— 
ter derjelben Einwirkung Veränderungen in der Lage ihrer Hein- 
ften Theilchen erfahren fünnen. Da die hemifche Zufammenfcgung 
der Säfte ohne Zweifel in hohem Grade von der Natur ber 
Wandungen abhängt, durch welche hindurch fie aufeinander wir- 
fen, auötreten oder aufgefogen werben, jo würde eine Aende- 
rung in dem phyſiſchen Zuftande der Membranen leicht die viel- 
fachen Abweichungen der Abfonderungen erflären, die man unter 
dem Einfluß heftiger Nervenreizungen eintreten fieht, und Die 
weniger auffallend und mit minder fohroffen Abwechfelungen ge- 
wiß regelmäßig während des ganzen Lebens fortgehen. Eine 
Membran, durch melde hindurch zwei Flüſſigkeiten auf einander 
einzuwirfen ftreben, wird in verſchiedenen Graden ihrer Span= 
nung und bei verfchiedener Lagerung ihrer Hleinften Theile auch 
die wirfungsbegierigen Stoffe nicht immer in gleicher Weife zu 
einander gelangen laflen; fie wird jegt dem einen den Durch— 
gang verweigern und ihn für den andern erleichtern können. In— 
bem fie fo das Zuftandefommen eines einzigen fonft gewohnten 
chemiſchen Proceſſes hindert, kann fie leicht dem Gefammtergeb- 
niß ihrer Thätigfeit ganz neue und weit abmeihende Formen 
geben. Dod auch die andere Möglichkeit bleibt übrig, daß Die 
Nervenfafer im Augenblide ihrer Thätigkeit unmittelbar eine che- 
miſche Wechſelwirkung veranlaft, indem ſie glei dem eleftri= 
[hen Strome, der die fon vorhandenen aber noch zögernden 
Beftandtheile einer fünftigen Verbindung diefe plötzlich vollziehen 
heißt, oder andere Verknüpfungen eben fo plöglich trennt, irgend 
eine Bedingung in das Spiel der Stoffe einführt, die der che— 
miſchen Verwandtſchaft zwifchen ihnen neue Richtungen gibt. Am 
wenigften würde uns eine unmittelbare geftaltbildende Wirkung 





151 


ber Nerven klar fein, und wir bürfen annehmen, daß ihre Rei: 
ftung ſich in der Herftelung der chemiſchen Natur der Stoffe er: 
Ichöpfe, die dann durch ihre eigenen Kräfte und Durch den vereinigten 
Eindrud der ſchon organifirten Umgebung geleitet, die ihnen zu- 
gehörigen Formen annehmen. 

Durch Berengerung der Gefäße würde die Kraft der Ner— 
ven den Drud des Blutes auf feine Wände vermehren und da- 
durch allen Thätigkeiten der Auffaugung und Abfonderung ver: 
änderte Bedingungen gewähren; durch Zufammenziehung cinzel- 
ner Gewebtheile mwitrde fie Zufluß und Abfluß des Blutes für 
diefe Theile eigenthüimlich beftimmen und Anhäufungen wirkſamer 
Maffen mit geringerer Geſchwindigkeit ihres Vorüberfließens da 
bewirken können, wo lebhaftere Bildung und rafcherer Umfaß fie 
nöthig machen; durch Befchleunigung der Musfelbemegungen, 
melde im Großen die Ortsveränderung der Stoffe, die Ausfüh- 
rung der abgefonderten, die Aufnahme der neu gewonnenen eins 
leiten und durchführen, endlih durch die veränderte Spannung 
der Membranen witrde fie dic Größe des Stoffwechſels im Gan- 
zen und die Schwankungen feiner Lebhaftigfeit in einzelnen Thei— 
Ien beftunmen können. Und zu allen dieſen Aeußerungen feiner 
Thätigfeit würde das Nervenfyſtem theild durch den Eindrud der 
Störungen beftimmt, welche auszugleichen find, theils würden 
die normalen Vorgänge im Körper beftändig ihm Erregungen 
zuführen, die fih anſammelnd, in einzelnen Augenbliden, in 
denen fie eine beftimmte Stärke erreicht haben, eine zweckmäßige 
Wirkung auslöfen. So würden hier ungleihförmige Schwan- 
ungen, dort regelmäßig und rhythmiſch wiederkehrende Perioden 
der Thätigfeit und Ruhe eintreten. Es ift unnöthig, noch weiter 
diefe Ereigniffe zu jchildern, deren äußere Formen Jeder, deren 
beftimmte Bedingungen Niemand fennt; fügen wir ihrer Erwäh- 
nung vielmehr die Bemerkung Hinzu, dag mit diefem Neid: 
thume von PVerrihtungen dennoch das Syſtem der ſympathiſchen 
Nerven nit ganz abgefchloffen auf feinen eigenen Hilfsquellen 
ruht, fondern daß e8 mit dem Cerebrofpinaliyftem durch zahl- 





152 


reihe Fäden zufammenbängt. Lange Zeit haben diefe als die 
eigentlihen Wurzeln der Gangliennewen gegolten, deren Ge: 
ſammtheit man nicht als ein unabhängiges Syſtem, fondern 
als die unfelbftändige Ausbreitung und Verflechtung vieler Ge— 
hirn= und Rückenmarknerven betrachtete. Bielfahe Gründe haben 
gegenwärtig der Vorftellung eines felbftändigen Gangliennerven— 
ſyſtems das Uebergewicht gegeben; doch dürften jene zahlreichen 
Berbindungen beffelben mit Gehirn und Rüdenmark nicht allein 
den Zweck haben, auch in diefen Organen den Wiedererfag zu 
leiten, deffen fie durch ihre Verrichtungen abgenugt bedürfen 
fönnten; fie feinen wenigftend cben fo jehr umgefchrt dieſen 
Mittelpunften des eigentlichen thierifhen Lebens einen mitbeftim- 
menden Einfluß auf den Berlauf der bildenden und erhaltenden 
Berrihtungen möglih zu machen. Nur die Pflanze erhält ihr 
Leben, fo lange fie es erhält, völlig durch die zufammenftim- 
mende Wirkung ihrer materiellen Beftandtbeile; der thierifche 
Organismus, obwohl in feiner Gliederung unendlich reichhaltiger, 
“bildet dennoch in ſich felbft keinen abgejchloffenen Kreislauf der 
Berrihtungen. Irgendwo und in irgend weldier wenn auch 
nod fo untergeordneten Form ſehen wir immer Elemente des 
geiftigen Lebens zwifchen die Leiftungen der körperlichen Organe 
treten und Rüden ausfüllen, welche der Zufammenhang der 
Lebensvorgänge zwifchen feinen einzelnen Gliedern läßt. Die 
Pflanze, in ihre Lebenselemente, Luft und Waſſer, eingetaucht, 
findet fi ungefucht in beftändiger Wechfelwirkung mit dem Er- 
jage, defien fie bedarf; das Thier hat feine Nahrung aufzu- 
ſuchen, und es vollzieht diefen Theil feines Lebensfreislaufes 
niht ohne das Aufgebot mannigfaltiger Mittel der geiftigen 
Thätigkeit. ZTilgten wir alle diefe Inſtincte aus, durch welche 
das Thier für feine empfundenen Zuſtände Heilmittel ſucht, die 
der Naturlauf ihm nicht alle von felbft entgegenbringt, fo 
wirde jein Organismus nur zu geringer und kurzdauernder 
Selbfterhaltung fähig fein, und weit entfernt, jene fich felbft in 
Bewegung fegende Mafchine zu fein, für melde eine ungenaue 








‘153 


Analyſe der Thatfachen ihn fo häufig angefehen hat, ift er nichts 
als die eine Hälfte eines Ganzen, unfähig zu leben ohne die andere, 
die Außenwelt und die Seele. 


Wie fehr hat überhaupt der Verlauf unferer Betrachtung 
jene Vorurtheile umgeftaltet, die und der unmittelbare Anblid 
des Lebens erregt, jene Träume von Einheit, Abgefchloffenheit 
und Beftändigkeit der lebendigen Geftalt! Kaum wiſſen wir noch 
anzugeben, wo auch nur räumlich die Grenzen find, melde den 
Organismus abjcheiven von feiner Umgebung. Die Luft in un= 
jerer Zunge, wann fängt fie an zu uns zu gehören und wann 
hört fie auf, Beftandtheil des Körpers zu fein? Iſt fie vom 
Blut abforbirt num unfer geworden, und war es nicht, als fie 
noch in den Lungenzellen ſich befand? It diefer Speifejaft, nach— 
dem er in die Chylusgefäße eingedrungen, Thon Theil unfers 
Körpers, oder ift nicht ev und das Blut nur ein Stüd in den 
Umfang des Leibes hineingezogener Außenwelt, oberflächlich durch 
Die lebendigen Kräfte verändert, aber der Theilnahme am Leben 
doch nur noch entgegengehend? Und kreifen nicht viele Stoffe, 
wie die löslichen Salze der Erdrinde, dur unfern Körper, durch 
Blut und Organe hindurch, und bleiben ihm doch ſtets fremd? 
In feinem Augenblide enthält er nur das, was zu feinem eigent= 
Yihen Beftand gehört; ftetS treffen wir in ihm Stoffe an, bie 
erft fein werden follen, ftet8 andere, die fein geweſen find; Die 
Vorbereitung feiner Zukunft und die Trümmer der Bergangen- 
heit gejellen fi in ihm mit dem lebendigen Stamme der Ge- 
genwart und mit zufällig in ihn verfprengten Bruchſtücken der 
Außenwelt. 

Und eben fo wenig, wie im Raume, ſchließt fih im Laufe 
feiner zeitlihen Entwidlung der Körper zu ftrenger Einheit ab. 
Nicht aus eigenen Mitteln fih ergänzend wacfend und entfal- 
tend, ift.er vielmehr überall auf die mithelfende Begünſtigung 


154 


der äußern Welt angewiefen. Sein Leben gleiht einem Stru— 
del, den ein beſonders geftaltetes Hinderniß im Flußbett eines 
Stromes erzeugt. Der allgemeine Naturlauf ift diefer Strom, 
der organifche Körper das Hinderniß, an dem er ſich bricht, und 
deſſen eigenthümliche Geftalt den gleihförmigen und gerablinigen 
Andrang der Gemäffer in die wunderbaren Windungen und Kreu— 
zungen des Wirbels verwandelt. So lange die Form des Fluß— 
bettes Ddiefelbe fein und fo lange die Wellen zuftrömen werben, 
wird unaufhörlich fich dies Spiel der Bewegung erneuen, in - 
immer gleicher Geftalt, fheinbar unverändert, obwohl es doch 
von Augenblid zu Augenblid andere Fluten find, die kommend 
es erzeugen und gehend e8 verlaffen. Aber die Form des Yluß- 
bettes wird nicht bleiben; die Gewalt der Strömungen wird fie 
ftetig ändern, und was dieſe nicht vermag, Das wird Die eigene 
noch zerftörendere Kraft des angeregten Strudel felbft vollbrin- 
gen. Wie cin Meeresftrom durch feinen Wellenihlag, zu dem 
er durch Die eigenthüimliche Geftalt des Bodens genöthigt wird, 
dieſen felbft nivellirt und. fo die Urfache feiner befondern Bewe— 
gung ſich ſelbſt hinwegräumt, fo kehren fich auch die ausgeübten 
Thätigkeiten des Lebens, alle Aeußerungen und Leiftungen feiner 
Drganifation, mit langſamer aber ficherer Gewalt gegen Die 
Grundlage zerftörend zurüd, auf der fie beruhen. Der Strudel 
von heute ift nicht der von geftern; der beftändige Wiedererſatz 
bringt wohl ähnliche, doch nie völlig gleiche Zuſtände wieder. 
Wir verlaffen diefes Bild nicht, ohne ihm eine legte zu— 
ſammenfaſſende Anfchauung der Lebensoorgänge zu entlehnen. Die 
höchſten und edelſten Erſcheinungen der Natur wie des geiftigen 
Dafeind glaubt ein weitverbreiteter Wahn dur ftrenge Bebirf- 
nißlofigfeit ausgezeichnet, durch unüberwindliche Starrheit ihres 
Kernes fiegreih gegen alle Angriffe der äußern Welt, durch 
Einfachheit ihres inneren Gefüges in der Stetigkeit ihrer Ent- 
widlung gefihert. In Wahrheit aber hat alles Höhere mehr 
Borausjegungen als das minder Hocgeftellte, und die Kraft 
feiner Exiftenz beſteht nur in der geiftoollen Berehnung, mit 








155 


ber es Die gefteigerte Vielfältigkeit feiner Bedürfniſſe zu befrie- 
digen weiß. Nicht ein einfacher in ſich gefchloffener und durch 
feine Intenfität mächtiger Geftaltungstrieb befeelt die lebendigen 
Körper; nicht mit ungewöhnlihen unüberwindbaren Kräften 
Ihließen ihre Beftandtheile ſich zu einer dichteren Einheit zu— 
fammen, als fie dem Unbelchten möglih wäre; auf beftändigem 
Wechſel ihrer Maſſen berubend, find fie, verglihen mit Diefem, 
Iodere und gebrechliche Gebilde. Aber an den glüdlichen Ber- 
hüältniſſen, in denen fie ihre Theile untereinander verbunden 
dem Naturlauf entgegenftellen, bricht ſich dennoch der eindringende 
Strom unzäbliget phyſiſchen Ereignifje und geftaltet fi zu einem 
feftftehenden Bilde, das die Stoffe der Außenwelt in ſich hinein— 
zieht eine Zeit Tang fefthält und fie dann dem formloferen Trei- 
ben der unorganifhen Natur zurückgibt. Nicht an ein feſtes 
Subftrat iſt dieſes reiche Spiel der Ereigniffe gebunden, fondern 
ſchwebt, beweglich wie der farbige Glanz des Negenbogens, 
über einem raftlo8 veränberlihen Untergrunde. Ja jo wenig 
finden wir in den organischen Körpern jene einheimifche ſich felbft 
genügende Lebenskraft, daß wir. fie vielmehr nur wie jene Derter 
im Raume anfehen können, an denen die Stoffe, die Kräfte und 
die Bewegungen des allgemeinen Naturlaufes in fo glüdlichen 
Berhältnifjen fich Freuzen, daß veränderlihe Maſſen fi für eine 
Zeit lang zu einer doch immer bald vergebenden Geftalt verdid- 
ten und ihre Wechſelwirkungen eine melodifch abgefchloffene Reihe 
aufblühender und verwelfender Entwidlung durchlaufen können. 
Wie ſehr das ſtill aufwachſende Bild der Pflanze und die be- 
weglich fortfehreitende Geftalt des Thieres und verleiten mögen, 
fie al8 feſte Einheiten und auf ſich beruhende Ganze zu bewun— 
dern; wie dringend endlich ſittliche Motive uns auffordern mögen, 
uns als ſolche im Gegenſatze zu der übrigen Welt zu fühlen, 
welche das geſtaltbare Material unſerer Handlungen umſchließt: 
für die Wiſſenſchaft dennoch, welche die leibliche Begründung un— 
ſers Daſeins ſucht, liegt die übrige Natur nicht wie ein fremdes 
formloſes Chaos um das einzelne lebendige Geſchöpf ausgebreitet, 


156 


erft von feiner Lebenskraft Zufammenhang, Form und Entwid- 
lung erwartend. So wie der Brennpunkt einer Linfe die wär— 
mende Kraft des Lichtes verdichtet, oder das zierliche Bild einer 
Geſtalt entwirft, ohne fein eigenes Verbienft, fondern die zufam- 
menfchießenden Strahlen find es, die e8 ihm ſchenken, der Schau— 
plag fo ausgezeichneter Erfcheinungen zu fein: fo verdienftlos 
beinahe fammelt der Iebendige Körper die Stoffe und Bewegun- 
gen der Umgebung zu dem gefchloffenen Bilde feiner eigenen 
Geſtalt. Wohl ift er zum Theil felbft die Linfe, deren brechende 
Kraft die Strahlen vereinigt, aber auch diefe wirkffame Form 
verdankt er einer Meberlieferung, in welche die Kräfte der Au— 
ßenwelt mitthätig eingriffen. So ift er, was er ift, als Ergeb=- 
niß der Umftände, die ihn hervorbrachten; zu harmoniſcher Ent- 
widlung erwählt, wenn fie günftig zu feiner Erzeugung über- 
einftimmten, zu fiechem und fümmerlihem Dafein verurtheilt, 
wenn mißhellige Bedingungen fi in feiner erften Anlage burd= 
freuzten. Die unabläffige allgemeine Bewegung der Natur ift 
itberall die umfaffende Strömung, in deren bemwegteften Theile, 
nicht einmal wie fefte Infeln, fondern nur wie bewegliche Wir— 
bel die lebendigen Gefchöpfe auftauchen und verſchwinden, indem 
die vorüberfliegenden Maffen augenblidlih eine Zuſammenlenkung 
in eine eigenthümliche Bahn und eine Verdichtung zu beftimmter 
Geftaltung erfahren, um bald durch Diefelben Kräfte, von denen 
fie in dieſen Durchſchnittspunkt zufammengeführt wurden, in die 
geftaltiofe allgemeine Strömung wieder zerftreut zu merben. 











Bweites Bud. 


Die Seele. 


Erites Kapitel. 
Das Dafein der Seele. 


Die Gründe für die Annahme ber Seele. — zzreiheit des Willens, — Unvergleichbar⸗ 
keit ber phyſiſchen und der pfochifhen Vorgänge. — Nothwendigkeit zweier verfchies 
denen Erflärungsgründe. — Annahme ihrer Bereinigung in bemfelben Weſen. — 
Die Einheit des Bewußtfeins. — Was fie nicht iſt, und worin fie wirklich befteht. — 
Unmöglichkeit, fie auß ber Zufammenfeung vieler Wirkungen zu erflären. — Daß be: 
ziehende Wiffen im Gegenfag zu phyſiſcher Rejultantenbitsung. — Veberfinnlide 
Natur ber Seele. 


Un in diefer beftändigen Flucht der Elemente, die einan- 
ber fuchen und meiden, wo ift unfere eigene Stelle? Die Mans 
nigfaltigkeit unfers innern Lebens, das Spiel der Erfenntniß, 
Leid und Luft und die Regſamkeit wechfelnder Beftrcbungen, wen 
gehören fie an? Iſt dies Alles vielleicht nur eine feinere Form 
des Scheines, ein Wiederglanz der inneren Bewegungen jenes 
Wirbels, dem Farbenfpiele ähnlich, das der Leichtefte Staub des 
Waſſers über den fämwerfälligeren Kreuzungen der Fluten ent- 
widelt? Over gibt es in aller diefer Aeußerlichkeit des Durchein— 
andergehens noch einen ftilen Punkt wahrbafter Innerlichkeit, für 
den alle Eörperlide Bildung nur eine heimatlihe Umgebung, 
und alle Unruhe der Veränderung, welche durch die ſichtbare Ge- 
ftalt geht, nur eine wechſelnde Aufforderung ift, die Einheit 
feines eigenen Lebens in vielgeftaltiger Entwidlung zu bethätigen ? 

Entgegengefegt dem unmittelbaren Augenfchein der Erfahrung 
hat die natürliche Ueberlegung des menſchlichen Geſchlechts ſich 
ftet8 für dieſen Glauben entſchieden. Seine Beobachtung zeigt 
und geiftiged Leben anders, als in beftändiger Verknüpfung mit 





160 


der körperlichen Geftalt und ihrer Entwidlung; zufammen fchen 
wir beide ſich entfalten, und mit dem Zerfallen der körperlichen 
Bildung verſchwindet fpurlos für und auch die Fülle und Macht 
des Geiftes, der fie beſeelte. Mit jo deutlichen Hinweifungen 
ſucht und die Erfahrung Davon zu überreden, Daß alle innere 
Regſamkeit aus der Verbindung der Stoffe entfpringt und mit 
ihrer Auflöfung verſchwindet; dennoch bat die lebendige Bildung 
aller Völker, indem fie den Namen der Seele ſchuf, in ihm die 
Meberzeugung ausgedrückt, daß nicht nur cine Verfchiedenheit des 
Ausfchens die inneren Erfheinungen von dem Fürperlichen Leben 
ſcheidet, fondern daß ein Element von eigenthümlicher Natur, anders 
geartet al8 die geftaltbildenden Stoffe, der Welt der Empfindungen 
Gefühle und Strebungen zu Grunde liegt und durd feine eigene 
Einheit fie untereinander zu dem Ganzen einer in ſich geichlof- 
fenen Entwicklung zufammenhält. Ein fo allgemeines Vorurtheil 
wird nie entfichen ohne dringende Aufforderungen, welche in der 
Natur der Sache liegen; dennoch dürfen wir es zunächſt nur 
als ein Borurtheil betrachten, deſſen Prüfung Beftätigung oder 
Widerlegung einer ausdrücklichen Unterfuchung vorbehalten bleiben 
muß. Denn fo gewiß der allgemeine Inſtinet der menſchlichen 
Bildung nicht ohne tiefere Berechtigung unabweisbarer Bedürfniſſe 
zur Ausprägung folder Auffaffungsweifen fchreitet, fo wenig dür— 
fen wir als gewiß vorausfesen, daß er überall glüdlich in feinen 
Ergebniffen tft und nit auf unrichtigem Wege eine Befriedi- 
gung fucht, deren Trüglichkeit fich dem geſchärften Blide der Wiffen- 
haft zulett nicht entziehen fann. Und in der That, wenn wir 
die Gründe prüfen, welche der allgemeinen Meinung immer im 
Stillen in Gedanken Tiegen, wo fie das geiftige Leben dem Ge— 
biete der Natur zu entziehen fucht, jo werden wir finden, daß 
fie fih nicht ‚auf alle mit gleihem Rechte fügt, und daß nur 
in einem Tleinen Kreife von Erfcheinungen die entfcheivende Nö— 
thigung liegt, aus einem cigenthümlichen Wejen die Erflärung 
der innern Ereigniſſe berzuleiten. 





161 


Drei Züge find e8 vornehmlich, welche Das Seelenleben auf 
unwiderrufliche Weife von allem Naturlauf zu trennen fcheinen. 
Auf keinen von ihnen legt die gemöhnliche Anfiht mehr Gewicht, 
als auf den zweifelhafteften von allen, auf die Freiheit der inneren 
Selbftbeftimmung nämlich, die wir mit unmittelbarer Klarheit in 
ung jelbft zu erfahren glauben, im Gegenfaß zu der ununterbroche- 
nen Nothwendigfeit, mit welcher die Zuftände des Unbefeelten fich 
auseinander entwideln. Alles was unfer geiftige8 Dafein auszeich- 
net, alle Würde, die wir ihm retten zu müffen glauben, aller 
Werth unferer Perfönlichkeit und unferer Handlungen ſcheint uns 
an diefer Befreiung unſeres Weſens von dem Zwange der me 
chaniſchen Abfolge zu hängen, deren Gewalt nicht nur über das 
Unbelebte, fondern auch über die Entwicklung unfers leiblichen 
Lebens wir empfinden. Und doch genügt eine leichte Weberlegung 
zu der Einfiht, daß weder jene Freiheit als cine beobachtbare 
Thatſache unferd innern Lebens vorliegt, noch unfere eigene Mei- 
nung über den Werth, den wir ihr beilegen, überall mit fid 
felbft in Uebereinftimmung bleibt. Es ift wahr, daß unfere 
Selbftbeobadhtung uns fehr häufig feine bedingenden Beweggründe 
nachweiſt, aus denen mit fenntliher Abhängigfeit unfere Entſchlüſſe 
und andere Bewegungen unfers Innern bervorgingen; aber fo 
zerftreut und bruchftüchveis wendet ſich auch unfere Aufmerkfam- 
feit auf uns felbft zurüd, daß ihrer unvollfommenen Ueberficht 
leiht das als freie GSelbftbeftimmung erfheinen kann, deſſen 
zwingerfde Gründe fie vielleicht finden würde, wenn fic noch einen 
Schritt in der Zergliederung unferer inneren Zuftände zurüdginge. 
Es ift wahr, daß Eindrüde, die auf und gejchehen, Rüdwirkun- 
gen aus und hervorrufen, die weder in ihrer Form noch in ihrer 
Größe ihnen entſprechen, und daß in verfchiedenen Augenbliden 
dem gleichen Anftoß, den wir von außen erfahren, die verſchie⸗ 
denartigften Aeuferungen antworten. Aber mit all Diefem unbe: 
rehenbaren Benehmen wiederholt doch unfer geiftige8 Leben nur 
die allgemeine Erſcheinung der Reizbarkeit, dic dem leiblichen Da- 


fein eben fo wie felbft dem Unbelebten gemeinfam, nicht eine 
Loge I. 3. Aufl. 11 


162 


Befreiung von dem Zwange geſetzlicher Wirkſamkeit, ſondern viel- 
mehr der wahre Begriff diefer Wirkſamkeit felbft if. Denn nir- 
gends trägt ja eine thätige Urſache die Wirkung fertig über auf 
das Element, das von ihr leidet, fo daß fie von dieſem nur das 
gleichlautende Echo ihres eigenen Thuns zurüderbickte; überall 
vegt der gejchehene Eindrud nur die eigene Natur deflen zur 
Aeußerung an, dem er geſchah, und die Geftalt des kommenden 
Erfolges ift, nicht minder als durch ihn felbft, durch die eigen- 
thümlichen Thätigkeiten bedingt, die er eindringend in dem Lei— 
denden weckte. Zumeilen kennen wir das innere Geflige der 
Gegenftände, welche der Reiz trifft, und wir vermögen feinen Weg 
. und die Berkettung der Rücdwirkungen zu verfolgen, die er fort- 
ſchreitend anregt; noch öfter find uns die inneren Berhältniffe 
des Gereizten unflar, und unfere Beobadhtung umfaßt nur den 
erften äußeren Anftoß und die legte Form der endlichen Rück— 
wirkung; unbefannt in der Mitte Liegt die Menge der PVermitt- 
lungsglieder, welche das Ende mit dem Anfang nothwendig ver- 
knüpfen. In manderlei Abftufungen zeigt und daher die Reihe 
- der Erjheinungen bald Erfolge, deren ſämmtliche Borausfegungen 
beutlih in unfern Geſichtskreis fallen, und die und deshalb als 
völlig bedingte Folgen ihrer Vorangänge fich barftellen, bald 
Ergebniffe, deren Geftalt, durch die verborgen bleibende Natur 
verwidelter Mittelgliever auf das Wefentlichfte mit beftimmt, nun 
in feiner faßlihen Beziehung zu dem einfachen Reize mehr fteht, 
der fie zuerft veranlaßte. Immer Liegt in ſolchen Fällen die Neigung 
nabe, den nothmwendigen Zufammenhang abgebroden zu glauben; 
wir find ihr begegnet in der Deutung des Fürperlichen Lebens; 
wir treffen fie hier wieder an, wo die noch ungleich größere Ver— 
widlung der mitwirkenden und doch meift verborgen bleibenden 
Bedingungen die Rückwirkung der Anregung noch unähnlicher macht 
und und um fo lebhafter von der Freiheit urfachlofer Selbftbe- 
ftimmung überredet. Weberzeugen wir und nun von der Frrigfeit 
des Schluſſes, welcher die durchgehende Bedingtheit des geiftigen 
Lebens leugnet, weil fie nicht überall nachweisbar ſei, fo können wir 


163 


vielleicht verfuchen, die Freiheit al8 nothwendige Folge moralifcher 
Wahrheiten oder als unabweisbare Borbedingung für die Erfüllung 
fittlider Aufgaben feftzubalten. In der That würden wir einem 
folden Beweife, wenn er zweifellos gelänge, reichlich den gleichen 
Werth für die Begründung unferer Anfichten zugeftehen, den wir 
‚einer beobachteten Thatſache beilegen. Aber wir haben bereits 
. erinnert, daß hierüber das allgemeine Urtheil nicht mit fih in 
Uebereinftimmung ift; e8 wird uns häufig zweifelhaft, ob iiberhaupt, 
und in welcher beftimmteren Geftalt für die Befriedigung mora- 
liſcher Bedürfniſſe jene bedingungsloſe Freiheit förderlich oder noth- 
wendig fei; nicht Allen hat fie unentbehrlich gefchienen, und der 
Verſuch, fie beftimmter ins Auge zu faffen, führt zu Fragen, deren 
Beantwortung, wie fie ausfalle, jedenfalls weit von der Klarheit 
eines Gedankens entfernt ift, der fich zur entſcheidenden Grund— 
legung einer wichtigen Anfiht eignen fol. Endlich, müſſen wir 
hinzufügen, würde doch jede Meinung nicht von einer Freiheit 
des inneren Lebens überhaupt, fondern nur von einer Freiheit 
des Willens fprechen wollen und Einnen; in bem Verlaufe unferer 
Borftellungen, unferer Gefühle und Begehrungen treten fo deutlich 
und unverhällt bie Spuren einer allgemeinen Gefegmäßigfeit her- 
vor, daß nie eine Anficht gewagt bat, auch dieſe Ereigniffe dem 
Gebiete einer mechanifchen Nothwendigkeit zu entziehen. Eine 
weiter fortgefchrittene Unterfuhung würde vielleicht dieſes Ber 
denken befeitigen und und zeigen können, wie wenig wir Grund 
haben, dieſe Vereinigung von Freiheit und Mechanismus in dem 
Weſen der Seele zu fcheuen; aber gewiß kann am Anfange der 
Betrachtung die offenbare Geltung allgemeiner Geſetzlichkeit in 
dem größeren Theile unſers inneren Lebens dem Glauben an die 
unbeobachtbare Freiheit in einem Fleineren nur entgegen fein. 
Aber eben fo wenig überzeugt doch die Erfahrung uns von 
ihrem Nichtoorhandenfein, und die Meinungen, die mit zubring- 
licher Zuverſicht uns auf die beftändige Verknüpfung der geiftigen 
Ereigniffe mit körperlichen Veränderungen hinweiſen, deuten eine 
bekannte Thatfache mit irriger Willkühr, wenn fie in ihr den Be: 
11* 


164 


weis zu finden glauben, daß alle® Geiftige vollfommen aus den 
Eigenſchaften der Materie erflärbar fei, von der es getragen wird. 
Bon äußeren Eindrüden und ihren Wechfehvirkungen mit den 
materiellen Beftandtheilen unſeres Körpers zeigt und allerdings 
eine allgemeine und unabläffig wiederholte Erfahrung die Berän- 
derungen unſerer geiftigen Zuftände abhängig. Unſere Empfin— 
dungen wechjeln mit den wechſelnden Erregungen unferer Sinnes- 
organe; andere Gefühle und Strebungen entftehen ung, wenn 
äußere Einflüffe oder die eigenen ftetigen Ummandlungen der leben- 
digen Thätigfeiten unferem Körper veränderte Stimmungen gegeben 
haben; in der weiteften Ausdehnung finden wir die Lebhaftigkeit 
und Regfamkeit unfers. Gedantenlaufes an die Schwankungen der 
förperlihen Zuftände gefnüpft, bald durch fie begünſtigt, bald 
gefchmälert und gehemmt, und eine forgfältige Unterfuhung wird 
zugeftehen müſſen, daß felbft in den höchſten Erſcheinungen des 
geiftigen Lebens, wie fie der gefchichtliche Verlauf der menſchlichen 
Bildung hervorgebracht hat, noch immer ſich Nachklänge des Ein- 
flufjes finden, mit welchem Eörperlihe Stimmungen, nicht allen 
Zeitaltern gleich gegeben, auf die geiftige Entwidlung überwirfen. 
Aber alle diefe Thatfachen bemeifen doch nur, daß die Ver— 
änderungen körperlicher Elemente ein Reich von Bedingungen 
darftellen, an welchen Dafein und Form unferer inneren Zuftände 
mit Nothwendigkeit hängt, aber fie beweifen nicht, daß in jenen 
Beränderungen bie einzige und hinreichende Urſache Liegt, welche 
aus eigener Kraft und ohne die Mitwirfung eines ganz anderen 
Princips zu bedürfen, die Mannigfaltigleit des Seelenlebens aus 
fih allein erzeugt. 

Ein zweiter Blick auf die Natur diefes Zufammenhangs zeigt 
bie Kluft, die fi Hier zwifchen dem fheinbar genügenden Grunde 
und feiner angeblichen Folge befindet. Alles, was den materiellen 
Beftandtheilen der äußeren Natur oder denen unferes eigenen 
Körpers begegnet, Alles, was ihnen als einzelnen oder als man— 
nigfach verbundenen zuftoßen kann, die Geſammtheit aller jener 
Beſtimmungen der Ausdehnung Mifhung Dichtigkeit und Be- 











165 


wegung, dies Alles iſt völlig unvergleihbar mit der eigenthüm- 
lichen Natur der deiftigen Zuſtände, mit den Empfindungen, den 
Gefühlen, den Strebungen, die wir thatfächlich auf fie folgen 
ſehen und irrthümlich aus ihnen entftehen zu fehen glauben. 
Keine vergleichende Zergliederung würde in der chemiſchen Zufam- 
menfegung eines Nerven, in der Auffpannung, in der Lagerungs⸗ 
weife und der Beweglichkeit feiner kleinſten Theildhen den Grund 
entdeden, warum eine Schallwelle, die ihn mit ihren Nachwir— 
fungen erreichte, in ihm mehr als eine Aenderung feiner phyſiſchen 
Zuftände hervorrufen follte. Wie weit wir auch den einbringenden 
Sinnesreiz durch den Nerven verfolgen, wie vielfach wir ihn feine 
Form ändern und ſich in immer feinere und zartere Bewegungen 
umgeftalten laſſen, nie werben wir nachweiſen fünnen, daß es 
von felbft in der Natur irgend einer fo erzeugten Bewegung Tiege, 
als Bewegung aufzuhören und als Ieuchtender Glanz als Ton 
als Süßigleit des Gefchmades wichergeboren zu werden. Immer 
bleibt der Sprung zwilchen dem letzten Zuftande der materiellen 
Elemente, den wir erreichen innen, und zwiſchen dem erften 
Aufgehen der Empfindung glei groß, und kaum wird Jemand 
die eitle Hoffnung nähren, daß eine ausgebildetere Wiſſenſchaft 
einen geheimnißvollen Hebergang da finden werde, wo mit ber 
einfachften Klarheit die Unmöglichkeit jebes ftetigen Uebergehens 
fih) und aufvrängt. Auf der Anerkennung dieſer völligen Unver- 
gleihbarkeit aller phyſiſchen Vorgänge mit den Ereigniffen des 
Bewußtſeins hat von jeher die Heberzeugung von der Nothwen- 
digkeit gerubt, eine eigenthüimliche Grundlage für die Erflärung 
des Scelenlebens zu fuchen. 

In dem Intereſſe der Wiffenjchaft Tiegt e8 ohne Zweifel, 
eine Mannigfaltigkeit verſchiedener Erfcheinungen unter ein ein- 
ziges Princip zufammenzufaflen, aber das größere und mwefentlichere 
Interefje alles Willens iſt doch ſtets nur Dies, das Gefchehende 
auf diejenigen Bedingungen zurüdzuführen, von denen es in Wahr- 
heit abhängt, und die Sehnſucht nach Einheit muß fi da der 
Anerkennung einer Mehrheit verfhiedener Gründe unterorbnen, 


166 


wo die Thatfachen der Erfahrung uns fein Recht geben, Verſchie— 
denes aus gleichem Duell abzuleiten. Kein Bedenken allgemeiner 
Art darf und daher abhalten, für die beiden großen und geſchie— 
denen Gruppen des phnflfchen und des geiftigen Gefchehens eben 
fo gefchievene und auf einander nicht zurückführbare Erflärungs- 
gründe anzunehmen; ohnehin würde jener Trieb nach Einheit doc 
nur die Forderung einfließen, daß in dem einen Ganzen des 
Weltbaues überhaupt ſich das zulegt verbunden finde, was unferer 
unmittelbaren Beobachtung fich getrennt zeigt; wir würden verlan- 
gen können, daß aus einer Wurzel die verjchiedenen Zweige ftam- 
men, aber nicht zugleich, daß die Zweige felbft zufammenfallen, oder 
der eine ftetd nur aus dem andern, und nicht unabhängig neben 
ibm aus der gemeinfamen Wurzel entfpringe. Ueberlaffen wir 
deshalb fpäteren Betrachtungen die Wiederaufnahme dieſer Frage 
und begnügen wir und jegt mit dem Rechte, fiir Ereigniſſe, die 
unvergleichbar find, auch geſchiedene Erflärungsgründe zu verlangen. 

Und dieſes Recht nehmen wir hier nicht in anderer Weife 
in Anſpruch, als in der, in welcher e8 uns ſtets auch für bie 
Erjheinungen innerhalb des Gebietes der Natur felbft zugeftanden 
wirb. Ucherall, wo wir ein Element Erfolge hervorbringen fehen, 
bie wir weder aus feiner beftändigen Notur, noch aus der Be— 
wegung, in der es ſich augenblicklich befinvet, verftchen können, 
juchen wir den ergänzenden Grund diefer Wirkung in der anders 
gearteten Natur eines zweiten Elementes, die, von jener Bewegung 
getroffen und angeregt, aus fi den Theil oder die Form bes 
Erfolges erzeugt, die wir vergeblid aus dem erften abzuleiten 
verfuchen würden. Nicht der Feuerfunke ift e8, der die Exrplofions- 
kraft dem Pulver mittheilt, denn auf andere Gegenftände fallend, 
bringt er feine Wirkung ähnlicher Art hervor; weder in feiner 
Temperatur, noch in der Art feiner Bewegung, noch in irgend 
einer andern feiner Eigenfchaften würden wir den Grund finden, 
ber ihn befähigte, aus ſich allein heraus jene zerftörende Kraft 
zu entwideln; er findet fie vor in dem Pulver, auf welches er 
fällt, oder richtiger, ex findet fie auch Hier nicht fertig vor, aber 


167 


er trifft hier mehrere Stoffe in einer Verbindung an, die bei 
dem Zutritt der erhöhten Temperatur, die er binzubringt, fich mit 
plögliher Gewalt gasförmig ausdehnen muß. Für die Yorm der 
entftichenden Wirkung liegt aljo der Grund in der Mifhung bes 
Pulvers allein, für ihren wirklichen Eintritt bringt die Glühhige 
des Funkens Die legte nothwendige ergänzende Bedingung Hinzu. 
Zu denſelben Schlüffen beredtigt und die Unvergleichbarteit der 
materiellen Zuftände und ihrer geiftigen Folgen. Wie feft bie 
Iegteren an jene als ihre Bedingungen gebunden find, den Grund 
ihrer Form müffen fie Doch in einem andern Brincip haben, und 
Alles, was wir als Thätigkeit oder Wirkfamfeit der Materie 
denken können, bringt nicht aus fich felbft das geiftige Leben her⸗ 
vor, jondern veranlaßt nur fein Hervortreten durch Die Anregung 
zur Aeußerung, die e8 einem anders gearteten Elemente zuführt. 


Allein wir müffen nod genauer die Bolgerung beſchränken, 
die wir aus diefen Betrachtungen ziehen zu dürfen glauben. Wir 
waren beredhtigt, für die beiden abweichenden Gruppen von Er- 
[heinungen verfchiedene Erflärungsgründe zu fuchen, aber wir 
haben darum noch nicht das Recht, dieſe Gründe an verſchiedene 
Gattungen von Wefen zu vertheilen. Kann aus denjenigen Eigen= 
ſchaften, um berenmwillen wir die Materie Materie nennen, das 
Auftreten eines geiftigen Zuftandes nicht abgeleitet werden: was 
hindert uns, in den körperlichen Elementen noch neben jenen 
Eigenfchaften einen Schag inneren Lebens anzunehmen, der unferer 
Aufmerkfamteit fonft entgeht und chen nur in dem, was wir gei= 
ftige8 Leben nennen, Gelegenheit zur Aeußerung findet? Warum 
fol der Materie als einem beftänvig tobten Stoffe gegenüber 
alle geiftige Regſamkeit in das beſondere Weſen ciner Seele ver- 
dichtet werben, die ihrerfeit8 der Eigenfchaften entbehrte, mit benen 
die körperlichen Elemente ſich in der Natur Geltung verichaffen? 
Könnte nicht der fihtbare Stoff unmittelbar ein doppelte Leben 
führen, al8 Materie nad außen erfheinend und Feine Fähigkeit 


168 


verrathend, als die mechaniſchen Eigenfchaften, die wir fennen, 
innerlich dagegen geiftig bewegt, den Wechfel feiner Zuftände em— 
pfindend und mit Strebungen die Wirkſamkeit begleitend, deren 
allgemeine Gefeglichfeit er freilich nicht mit Treiheit zu ändern 
vermag? 

Nur allmählich werden wir im Verlauf diefer Betradgtungen 
die volle Antwort auf diefe Fragen geben können; e8 muß jett 
genligen, zu zeigen, wie wenig ihre Bejahung an dieſem Anfange 
der Unterfuhung den Stand der Sache ändern würde. Denn 
eben ein Doppeliwefen würde dieſer empfindende und ftrebende 
Stoff immer bleiben; fo ſehr aud die Einheit feines Wefens 
die Eigenfchaften der Materialität und die der Geiftigfeit zufam- 
menbielte, fo unvergleichbar würden fie doch immer bleiben, und 
nie würden wir aus einer Veränderung feiner materiellen Zuſtände 
die Nothwendigkeit ableiten können, daß feine geiftige Seite fol- 
gerecht eine entfprechende Veränderung erleiden müßte. Er würde 
zwei Entwidlungsreihen erfahren, aus deren feiner ein Uebergang 
in die andere benfbar wäre; äußerlich zufammengepaßt würden 
wohl thatfächlih die Glieder der einen Reihe denen der andern 
entfprechen, aber auch bier würde bie materiale Veränderung nur 
deshalb eine geiftige nach fich ziehen, meil fie auf der andern 
Seite dieſes Doppelmwejens Die geiftige Natur ſchon vorfände, welche 
fie meden kann. Hierin Liegt das Recht diefer Anficht und zu- 
gleich ihre Unfruchtbarkeit. Ihr Recht; denn darin allein befteht 
der ſchlimme und alle Weltauffaffung wahrhaft zerftörende Mate- 
rialismus, daß man aus den Wechſelwirkungen der Stoffe, fofern 
fie Stoffe find, aus Stoß und Drud, aus Spannung und Aus- 
dehnung, aus Mifchung und Zerfegung, die Fülle des Geiftigen 
al8 eine Leichte Zugabe von jelbft entftehen läßt; daß man glaubt, 
fo felbftverftändlih, wie ans zwei gleichen und entgegengefegten 
Bewegungen Ruhe, oder aus zwei verfchiedenen eine dritte in 
mittlerer Richtung entfteht, jo gehe aus der Durchkreuzung der 
phyſiſchen Vorgänge die Mannigfaltigfeit des innern Lebens hervor. 
Dies ift es, was jede ernfthafte Ueberlegung immer wird zuriid- 








169 


weifen müſſen, dieſe Nachläffigfeit des Gedanfens, die jene Formen 
des mechanischen Geſchehens, welchen überall in der Welt nur 
der Beruf mwechfelfeitiger Vermittlung zwifchen den Innern der 
einzelnen Wefen obliegt, als das Urſprüngliche auffaßt, woraus 
als beiläufiger Nebenerfolg alle Kraft und Regſamkeit diefes In- 
neren felbft entfpringe. 

Diefen Irrthum nun vermeidet die Auffaffung allerdings, 
welche der Materie ein verborgenes geiftiged Leben zufchreibt; 
denn nicht aus den phyſiſchen Eigenfchaften berfelben läßt fie das 
Geiftige entfpringen, fondern aus dem, was die Materie heimlich 
Beſſeres ift, als fic fcheint. Aber wir ſehen in ihr keinen Vortheil, 
den mir für die erfte Ausbildung unferer Anfichten benugen könnten. 
Sind in demfelden Stoffe zwar thatfähhlich, aber doch unableitbar 
auseinander, die Eigenſchaften der Materialität und der Geiftigkeit 
vereinigt, fo wird alle auf die einzelnen Erſcheinungen gerichtete 
Unterfuchung die Veränderungen der phyfiſchen Seite dieſes Dop- 
pelweſens doch nur als Beranlaffungen für das Hervortreten aud) 
der geiftigen Zuftände faffen Finnen. Ste witrbe nicht erklären kön⸗ 
nen, wie es zugebe, daß eine phufifche Veränderung nur darum 
eine ihr ungleichartige geiftige nach fich ziche, weil daſſelbe Subject 
ber Träger beider wäre, und fie witrde aus ber Einheit der auf 
fi wirkenden Subftanz die allgemeinen Geſetze, nach denen die 
Aenderungen der einen dieſer Auftandörcihen von den Wende: 
rungen der andern abhängen, um Nichts beſſer entwideln können, 
als es unter Vorausſetzung einer Wechſelwirkung zweier ver- 
ſchiedenen Subjecte möglicd wäre. Es kann fein, daß dennoch 
in diefer Vereinigung alles inneren und äußern Geſchehens auf 
daſſelbe Reale eine Wahrheit Liegt, die an anderer Stelle und 
in anderer Verwendung wichtig wird; bier erſcheint fie un— 
fruchtbar. Und nicht allein unfruchtbar; ſchon drängt fich viel- 
mehr eine dritte Betrachtung zu, welche uns verbieten wird, hier 
von ihr den Gebraud zu machen, der uns worgefchlagen wurde. 


170 


ALS die entfcheidende Thatſache der Erfahrung,, welde uns 
nöthigt, in der Erflärung des geiftigen Lebens an die Stelle der 
Stoffe ein überſinnliches Wefen als Träger der Erſcheinungen 
zu fegen, müſſen wir jene Einheit des Bewußtſeins bezeichnen, 
ohne welche die Gefammtheit unferer inneren Zuftände nicht ein= 
mal Gegenftand unferer Selbftbeobadhtung werben könnte. Manche 
Mifverftändniffe haben fih um den einfachen Namen gehäuft, 
unter dem wir diefe Thatſache erwähnten, und nöthigen ung, 
ausführlicher Das zu bezeichnen, was wir mit ihr meinen. 

So lange nicht befondere Veranlaffungen und zu anderen 
Annahmen nöthigen, find wir gewöhnt, in jeder abgefchloffenen 
lebendigen Geftalt eine Seele zu vermuthen, für deren inneres 
Leben fie die umgebende Hülle und eine Zufammenftellung wir- 
fungsfähiger Werkzeuge darbietet. Das gewöhnliche Leben gibt 
uns Feine Gelegenheit zu dem Gedanken, daß außer der Seele 
Die unfer eigenes Ich bildet, in unferm Körper ſich noch andere 
Weſen befinden, bie auf gleiche Weife ald Sammelpunkte aus- 
und eingehender Wirkungen die Erregungen, von denen fie erreicht 
werden, zu einer Welt bewußter Zuftände in fich verarbeiten. 
Die Beobachtung aller höheren Thiere erhält uns in dieſer Ge- 
wohnheit oder führt doch nur durch einzelne Erfcheinungen, die 
der Wiffenfhaft näher liegen als der unbefangenen Beobachtung 
des Lebens, zu Zweifeln an diefer Einheit des Bewußtſeins, welche 
nur eine Seele der Zahl nad in jedem lebendigen individuellen 
Gebilde vorausfegt. Die Aufmerkfamkeit auf nievere Thierflaffen 
erinnert und zuerft daran, daß wir zu ſehr geneigt find, dieſes 
thatfächliche Verhalten als cin allgemein nothwendiges zu betrachten. 
Die Theilftüce des zerſchnittenen Polypen ergänzen ſich nachwach⸗ 
jend zu vollftändigen Thieren, deren jedes völlig die Summe 
pſychiſcher Fähigkeiten entwidelt, Die Dem urfprünglichen unverlegten 
Geſchöpſe zukam. Doch nicht jeder Schnitt, den wir beliebig 
führten, würde dieſe Wirkung haben; Die Möglichkeit der Ver- 
volftändigung fcheint daran gebunden, daß in’ dem Theilſtück ein 
vielleicht unbedeutender, aber doch beftimmter Betrag innerer 


171 


Organiſation als entwidlungsfähiger Keim erhalten blieb. Nicht 
blo8 die künſtliche Theilung zeigt dieſe merkwürdigen Erfcheinungen ; 
in zahlreichen Thiergattungen erfolgt die Fortpflanzung durch frei⸗ 
willige Zerfälung des Körpers, deſſen Bruchſtücke zum Theil 
oh im Zuſammenhang mit ihm, zum Theil nach ihrer Ablöfung 
die vollftändige Geftalt und Organifation der Gattung ausbilden. 
Noch andere endlich fehen wir ſtets fo leben, daß an einem ge= 
meinſchaftlichen und ununterbrodenen Stamme, wie die Knospen 
des Baumes, ſich einzelne Individuen entwideln, unabhängig von 
einander in der Ausübung der fpärlihen Außerungen Ichendiger 
Regfamfeit, die ihnen möglid find, und doch durch ihre Verbin- 
dung unter einander gemeinfam manden äußern Einflüffen un- 
termorfen. Deutlih zeigen und diefe Thierfolonien, daß nicht 
überall das Förperlihe Maffengebiet, in welchem die Lebendigkeit 
der einzelnen Scele fi gelten machen kann, völlig abgegrenzt if 
zu einer umjchriebenen Geftalt; an einzelnen Punkten einer zu— 
fammenhängenden organiſchen Maſſe finden bier ſich mehrere 
jelbftändige Wefen, deren Wirkungen in dem gemeinfchaftlichen 
Stamme fi freuzgen mögen und nur in befchränfter Weife jedem 
einzelnen einen Spielraum feiner Willkühr geftatten. Was hier 
als beftändige Lebensform auftritt, mag in ben Thieren, die 
durch Theilung fi fortpflanzen, nur chen in dieſem Vorgange 
zu Tage fommen, während in jenen, die durch fünftliche Schnitte 
fih zu mehreren Individuen fpalten laſſen, vieleicht niemals bie 
Mehrheit der einzelnen. Tebensfähigen Wefen, die in den Grenzen 
einer und berfelben Körpergeftalt vereinigt find, Gelegenheit zu 
felbftändiger Entwidlung findet, wenn nicht der Zufall oder 
willführlicher Eingriff fie ihnen verfhafft. Nicht die Seele des 
Polypen würde der Schnitt getheilt haben, ſondern das fürperliche 
Band, das viele-vorbandene Seelen in einer Verknüpfung zufam- 
menhielt, welche die individuelle Ausbildung der einzelnen binderte. 
Irren wir und nit in dem Rechte, diefe Vorgänge fo anzufeben, 
fo können wir gewiß aud nicht im Voraus beftimmen, wie weit 
diefe Zerftreuung vieler Seelen in die gemeinfame Körpermaffe auch 


172 


in höheren Thiergattungen reichen möge. Ohne dieſe Frage ent- 
ſcheiden zu wollen, deren Beantwortung, fo weit fie möglich ift, 
einer fpäteren Stelle pafjender überlaſſen bleibt, müfjen wir deshalb 
hier erwähnen, daß die Einheit des Bewußtſeins nicht dieſen Sinn 
hat, die Zahl der Wefen zu befchränfen, die eine organiſche Geftalt 
beleben, und daß fie am wenigften durch Berufung auf die Erfchet= 
nungen, deren wir gedachten, in ihrer Geltung aufgehoben wird. 
Vielmehr von jevem einzelnen jener Theilſtücke des Polypen würden 
wir behaupten, daß, wenn überhaupt cine Seele fein bewegende 
Prineip ift, von diefer im derfelben Bedeutung die Einheit des 
Bemußtfeins gelten müſſe, in welder wir fie unferer eigenen 
Perſönlichkeit zufchreiben. 

Diefe Bedeutung felbft num fuden wir näher zu beftimmen. 
Verſtändlich wird uns allerdings der Zufammenhang unfers innern 
Lebens nur dadurch, daß wir alle feine Ereigniffe auf das cine 
Ich beziehen, das cbenfo ihrer gleichzeitigen Mannigfaltigfeit als 
ihrer zeitlichen Anfeinanderfolge unverändert zu Grunde liegt. 
Jeder Rückblick auf die Vergangenheit führt dieſes Bild des Ich 
als den zufammenbaltenden Mittelpunkt mit fi; nur als feine 
Zuftände oder Thätigfeiten, nicht als Ereigniffe, die frei für fich 
im Leeren ſchwebten, find alle unfere Vorftellungen, unfere Gefühle 
und Strebungen uns begreiflih. Aber unabläffig wird dennoch 
diefe Beziehung des innern Mannigfaltigen auf die Einheit des 
Ih nicht von und vollzogen. Sie findet fid mit Deutlichkeit 
doch eben nur in dem Rückblick, den wir auf unfer Leben mit 
gewiffer Sammlung der zufammenfafjenden Aufmerkſamkeit richten. 
Die einzelne Empfindung dagegen in dem Augenblid, in welchen 
der äußere Neiz fie erzeugt, das cinzelne Gefühl, indem es 
aus dem nüglichen oder ſchädlichen Eingriff der Außenwelt entfpringt, 
jelbft die Begierden und Strebungen, die eine vorübergehende 
Beranlaffung oft plöglich in uns erwedt, führen diefe Hindeutung 
auf die Einheit unſers Wefens, in der fie zufammengebören, mit 
merfbarer Stärke keineswegs allgemein mit ſich. Manche Ein- 
bräde bleiben unbewußt bet ihrer Entftehung und wir finden fie 


173 


zumeilen wie zufällig in uns auf, nachdem ihre bewirfenden 
Urfachen wieder verfhmwunden find; andere ruben durch lange 
Zeiträume vergeflen in uns, und felbft die beflifiene Aufmerkfamteit, - 
welche fie auffucht, vermag ihrer nicht babhaft zu werben; von 
dem mannigfadden Inhalt, der in gleicher Zeit unfer Bemwußtfein 
füllt, bleibt Vieles zuſammenhanglos neben einander und verfchmilzt 
weder zu dem Ganzen cincd und deſſelben Gedankenkreiſes, noch 
wird e8 in cine deutliche Beziehung zu der Untheilbarkeit unferer 
Perfönlichkeit geſetzt. Diefen Sinn kann mithin die Einheit des 
Bewußtſeins, von der wir fprechen, nicht haben, ein beftändiges 
Bemwußtfein der Einheit unfers Weſens zu fein, und die Schlüffe 
bleiben untriftig für uns, Die von einer folden Annahme auszu- 
geben verfuchten. 

Anderfeits Liegt jedoch in dem Thatbeftande, den wir zugaben, 
feine Schwierigkeit, welche die Folgerung aus der Natur unferes 
Bewußtſeins auf die Einheit des feiner bewußten Weſens unmög- 
lich machte. Denn nicht dies ift nothwendig und unerläßlich, daß 
in jevem Augenblide und in Bezug auf alle feine Zuftände ein 
Weſen die verceinigende Wirkfamfeit ausübe, deren Möglichkeit 
ihm die Einheit feiner Natur gewährt, der Erfolg jeder Kraft 
hängt an Bedingungen und kann dur) ungünftige gehindert werben, 
ohne daß darum die Kraft nichtig wird, durch die er unter gün— 
fligeren Bedingungen entftehben würde. Läßt Die Scele daher 
mande ihrer Zuftände unverbunden, und ohne fich ihrer als 
bloßer Zuftände ihrer eignen Subſtanz bewußt zu werben, fo 
ift aus diefem Thatbeftande Fein verneinender Schluß gegen die 
Einheit ihres Wefens zu ziehen. Iſt dagegen Die Seele auch 
nur felten, nur in befchränfter Ausdehnung, aber doch überhaupt 
einmal fähig, Mannigfaltiges in die Einheit eined Bewußtſeins 
zufammenzuziehen, fo reicht diefer geringe Thatbeftand bin, um 
den bejahenden Schluß auf die Untheilbarkeit des Weſens noth- 
wendig zu machen, dem dieſe Leiftung gelingen kann. Ich vertraue 
für den Augenblid auf bie eigene Ueberredungskraft dieſes einfachen 
Gedankens und behalte feine Erläuterung vor; aber ich füge bier 


174 


noch Hinzu, daß ja jelbft unfer Wiffen um den oben zugeftandenen 
Thatbeftand der Zufommenhanglofigfeit mander innern Zuftände 
nur unter Borausfegung der Einheit des wiſſenden Weſens 
begreiflih if. Es mag fein, daß im Augenblid der finnlichen 
Wahrnehmung das Verhältniß der entftehenden Empfindung zu 
ber Einheit des Ich ſich und nicht aufprängt, daß wir vielmehr 
felbftlo8 in ben empfundenen Inhalt uns verlieren; aber die 
Thatfache eben, daß diefes Verhalten ftattfand, würde fpäter fir 
und nie zum egenftand der Wahrnehmung und Bermunderung 
werben können, wenn nicht die Empfindung doch fhon im Augen- 
bli ihrer Entftehung der Einheit unfers Weſens angehört hätte 
und von ihr aufbewahrt wäre, um nun erft dic verjpätete Aner- 
fennung ihrer ftet8 beftandenen Zufammengehörigfeit mit unferem 
Ih zu erlangen. Mögen daher immerhin viele Einbrüde in dem 
‚ Moment ihrer Entftehung vereinzelt bleiben, und mag erft eine 
ſpätere Nahbefinnung das Urthetl über ihre Beziehung zu 
uns nachholen, fo liegt doch in jener anfänglichen Zerftreuung 
fein Grund gegen die Einheit unſeres geiftigen Weſens, in der 
Möglichkeit der fpätern Zufammenfaffung dagegen ein zwingender 
Grund für ihre Annahme. 

Ich entferne endlich ausdrücklich ein letztes Mißverſtändniß, 
dem der Gedankengang der vorigen Bemerkungen doch vielleicht 
noch ausgeſetzt fein Dürfte. Denn Dies iſt meine Meinung nicht, das 
Bewußtſein, welches wir von der Einheit unſers Wefens haben, 
verbürge an fih, durch das, was es felbft ausfagt, auch die 
Wirklichkeit diefer Weſenseinheit. Gewiß mit ſcheinbarem Rechte 
wenigſtens würde man dieſer Auffaſſung einwerfen, daß mit faſt 
unwiderſtehlicher Ueberredungskraft ſich im Laufe unſerer inneren 
Entwicklung gar viele Ueberzeugungen einſtellen, die trotz der 
ſiegreichen Klarheit, mit welcher ſie das unbefangene Gemüth 
iiberwältigen, doch dem ſchärferen Nachdenken ſich als Fehlſchlüfſe 
darſtellen, im Widerſpruch mit den Geſetzen des Denkens, welche 
allein als der uns unvermeidliche Maßſtab aller Wahrheit unſeren 
Zweifeln entzogen bleiben müffen. So ſei auch jene Einheit des 


175 


Ich doch nur die Geftalt, in welcher unfer eigenes Wefen fich 
felbft erjcheint, und fo wenig wir an der Art, in welcher andere 
Dinge und erfheinend fi) darftellen, unmittelbar einen Anblid 
ihrer wahren Natur befigen, fo wenig müſſe unfer eigenes Wefen 
eine untheilbare Einheit deshalb fein, weil wir felbft uns fo 
vorlommen. Ich will nicht unterfuchen, ob nicht diefer Gedanke zu 
jenen Uebergenauigfeiten des Nachgrübelns gehört, die im Stillen 
ſich ſelbſt um die Fehljchläffe drehen, welche fie vermeiden möchten; 
in der Form, in welcher er gemöhnlicdh geäußert wird, trifft er 
das nicht, was wir bier zu erweifen wünſchen. Denn nicht 
daranf berubt unfer Glaube an die Einheit der Seele, daß wir 
uns als ſolche Einheit erfcheinen, fondern darauf, daß wir uns 
überhaupt erſcheinen können. Wäre der Inhalt deffen, als 
was wir ung erfchienen, ein völlig anderer, kämen wir uns felbft 
vielmehr als eine zufammenhanglofe Vielheit vor, fo witrden wir 
auch daraus, aus ber bloßen Möglichkeit, daß wir überhaupt 
etwie und vorfommen, auf dic nothwendige Einheit unſeres Weſens 
zurädichlichen, diesmal in vollem Widerfpruch mit dem, was unfere 
Selbſtbeobachtung uns als unfer eigenes Bild vorhichte. Nicht 
darauf fommt e8 an, als was ein Wefen fich felbit erfcheint; 
kann es überhaupt fich felbft, oder kann Anderes ihm erfcheinen, 
jo muß es nothwendig in einer vollkommenen Untheilbarkeit feiner 
Ratur als Eines das Mannigfache des Scheined zuſammenfaſſen 
können. 

Was uns in dieſer Frage zu verwirren pflegt, das iſt das 
etwas leichtſinnige Spiel, das wir ſo oft uns mit dem Begriffe 
der Erſcheinung erlauben. Wir begnügen uns, ihm das Weſen 
entgegenzuſetzen, das den Schein wirft, und wir vergeſſen, daß 
zur Möglichkeit des Scheines ein anderes Weſen hinzugedacht 
werben muß, das ihn ſieht. Aus der verborgenen Tiefe des An— 
fihfeienden bricht, wie wir meinen, die Erſcheinung als ein Glanz 
hewor, der da ift, ehe ein Auge vorhanden ift, in welchem cr 
entftände, der ſich ausbreitet in die Wirflichkeit, gegenwärtig und 
faßbar für den, der ihn ergreifen will, aber aud dann nicht 


176 


minder fortdauernd, wenn Niemand von ihm wüßte. Wir über- 
fehen dabei, daß auch in dem Gebiete der finnlichen Empfindung, 
bein wir Diefes Bild entlehnen, der Glanz, weldher von den Ge— 
genftänden ausgeht, cben nur von ihnen auszugehen ſcheint, und 
daß er felbft nur Deswegen fheinen kann von ihnen zu kommen, 
weil unfere Augen dabei find, aufnchmende Werkgeuge einer 
wifjenden Seele, für welde überhaupt Erſcheinungen entſtehen 
innen. Nicht um uns herum breitet ſich des Lichtes Glanz aus, 
ſondern dieſe wie jede Erſcheinung bat Dafein nur in dem Be— 
wußtfein deſſen, für welchen fie if. Und von dieſem Bewußtſein, 
von diefer Fähigkeit überhaupt, irgend etwas fich erſcheinen zu laſſen, 
behaupten wir, daß fic nothwendig nur der untheilbaren Einheit 
eines Weſens zulomme, und daß jeder Verſuch, fie einer irgenbivie 
verbundenen Mannigfaltigfeit zuzufchreiben, durch fein Mißlingen 
unfere Ueberzeugung von der. überfinnlihen Einheit der Secle 
befräftigen wird. 


Kaum ſchiene mir diefer einfache Gedanke eines weiteren 
Beweiſes bebürftig, wenn nicht Doch der Verſuche, ihn zu umgehen, 
fo viele wären. Denn immer nod erneuert ſich zuweilen die 
zuverſichtliche Behauptung, die zuſammenfaſſende Einheit des 
Bewußtſeins Kaffe fih als der natürliche Erfolg der Wechſelwirkung 
vieler Elemente und ihrer Zuftände begreifen. Verſuchen mir 
Darum zu erörtern, wie weit die Möglichkeit dieſer Erzeugung des 
Einen aus der PVielheit reicht. 

Die Zufannnenfegung vieler räumlichen Bewegungen zu 
einer gemeinfamen NRefultante tft immer das Vorbild gemefen, 
auf welches dieſe Verſuche mehr oder minder unmittelbar die 
Hoffnung ihres Gelingens ftügten. So wie hier zwei Bewegungen 
von verjchiedener Richtung und Geſchwindigkeit fih zu einer 
britten wöllig einfachen vereinigen, in der Feine Erinnerung mehr 
an den Unterjhied ihrer beiden Urfprünge enthalten fei, ebenfo 











17T 


werde aus der Mannigfaltigfeit geiftiger Elementarbewegungen, 
bie in den verſchiedenen Beftandtheilen des Yebendigen Körpers 
vorgehn, die Einheit des Bewußtſeins als vefultirende Bewegung 
entfpringen. Aber Die Ueberredungskraft diefer Analogie beruht 
auf einer Ungenauigfeit ihres Ausdrucks und verſchwindet gänzlich, 
wenn dieſe befeitigt wird. Denn nicht von zwei Bewegungen 
ſchlechthin fpriht jener unzweifelhafte Lehrſatz der phyſiſchen Die: 
chanik, fondern nur von zwei Berwegungen, deren Ausführung von 
irgend welchen Kräften einem und demfelben untheilbaren Maf: 
ſenpunkte in einem und demſelben Augenblide zugemuthet wird. 
Die einfache Gültigkeit des Satzes hört fogleih auf und weicht 
einer vermwidelteren Berechnung des herauskommenden Erfolgs, 
jobald wir an die Stelle jenes untheilbaren Punktes cin wie 
au immer feft verbundenes Syſtem vieler Maſſen fegen, und die 
verfhiedenen Bewegungen auf verfhiedene Punkte diefer vereinigten 
Vielheit wirken laſſen. Und die einfache Refultante felbft, Die 
in dem erften günftigeren Balle entfteht, ift eben fo wenig cine 
Bewegung ſchlechthin, deren Richtung und Gefchmwindigfeit zwar 
gefeglih Heftimmt wäre, während die Maffe unbeftimmt bliebe, 
von der fie ausgeführt wird; fie ift natürlich nur ald eine Be- 
wegung deffelben untbeilbaren Punktes zu denken, auf welchen Die 
gleichzeitigen verſchiedenen Bemegungsantriebe einwirkten. Ergänzt 
man diefe wenigen Nebengedanten, die in der Grundlegung der 
Mechanif nie vergeffen und nur in den kurzen Berufungen auf 
dies Grundgefeg nicht mweitläuftig wiederholt werden, jo überficht 
man mit einem Blid die Hoffnungslofigfeit jedes Verſuchs, die 
Ableitung des einen Bewußtjeind aus der Wechſelwirkung vieler 
Theile durch die Glaubwürdigkeit des unbeftrittenen mechaniſchen 
Theorems zu empfehlen. Denn chen diefen wefentlihen Beſtand⸗ 
teil des Theorems pflegt jene Ableitung zu vernadläffigen; fie 
Ipriht gern von dem Zufammengehen der verfchiedenen Zuftände, 
die in verſchiedenen Elementen ftattfinden, aber fie macht jenes 
untheilbare Subject nicht nambaft, in weldes fie einmünden, 
durch deſſen Einheit fie Überhaupt zur Erzeugung einer Refultante 
Loge I. 3. Aufl 12 


178 


genöthigt werden und an welchem endlich, als fein Zuftand, Diefe 
Refultante eine begreifliche Wirklichkeit allein erft haben könnte. 
Wie ein neues aus Nichts entftandenes Weſen ſchwebt über den 
Wechſelwirkungen der vielen Elemente in haltlofer Selbſtändigkeit 
diefe8 Bewußtfein, ein Bewußtſein ohne Jemand, defien Bewußt- 
fein es wäre. 

Berfuhen wir nun, Diefen Mangel zu tilgen und die mög— 
lihen Ergebniffe feftzuhalten, zu denen dieſer Weg führen Tann. 
Nehmen wir zuerft an, jedes der vielen Elemente, deren Wechfel- 
wirkung wir vorausfegen, verſchmelze im fich felbft die Eindrüde, 
die ed von andern erfährt, zu der Einheit eines refultirenden 
Endzuftandes, fo wärde die Summe diefer Refultanten zwar in 
gewiffen Sinne fi als Gefammtzuftand der ganzen vereinigten 
Vielheit jener Elemente faſſen laſſen, aber doch nicht in einem 
Sinn, in welden diefer Gefammtzuftand der von uns gefuchten 
Einheit eines Bewußtſeins ähnlih wide. Denn im Grunde 
gilt von allen Zuſtänden der Thätigfeit oder des Leidens baffelbe, 
was wir von dem Bewußtſein behaupten: fie können alle in 
ftrenger Bedeutung nur von untheilbaren Einheiten ausgejagt 
werden. Stellen wir und eine Anzahl von Atomen auf irgend 
eine Weife zu einer unveränderlihen Verbindung vereinigt vor, 
jo daß fie jedem Berwegungsantrieb nur in Gemeinſchaft folgen 
fönnen: ſchreitet Diefer ganze Körper geradlinig vorwärts, fo wird 
feine Bewegung doch nur die Summe der völlig gleihen Be— 
wegungen fein, welde feine. einzelnen Theile für ſich ausführen. 
Ja jelbft dies ift zu wicl gefagt, daß wir von einer Summe von 
Bewegungen fpreden; in Wirflichfeit gefchieht bier nur derſelbe 
Borgang fo vielmal, als Atome vorhanden find, die ihn er: 
leiden können, und dieſe Vorgänge, an ſich von einander getrennt, 
bilden weder eine Summe nody ein Ganzes. Sie werden dazu 
erft unter einer von zwei Bedingungen. Laffen wir zuerft alle 
einzelnen Bewegungen jener Atome ſich auf ein und daſſelbe un— 
theilbare Element übertragen, fo werben fie fih in diefem aller- 
dings zu der Einheit eines Zuftandes fummiren, defien Subject 


⁊* 


179 


diefe8 Element ift; aber hiermit würde zugleih die Yorm bes 
Ereigniſſes verändert und an die Stelle einer Gefammtbemegung 
Pieler nur ein Effect derfelben, die Bewegung einer Einheit 
getreten fein. Ohne diefe Aenderung hat die Gefammtbewegung 
einer verbimdenen Vielheit nur unter der zweiten Bedingung 
Wirklichkeit, dann nämlich, wenn das eine Bewußtſein eines Beob— 
achters die Borftellungen der vielen Einzelbewegungen, ohne fie 
zu verfchmelzen, auf einander bezieht und ihre bleibende Vielheit 
doch unter den Gedanken der Einheit zufammenfaßt. Denken wir 
und ferner ein anderes Syſtem von Atomen, die unter einander 
Ioeerer verbunden und in Bewegungen von verſchiedenen Geſchwin⸗ 
bigfeiten und Richtungen begriffen find, fo würde von einer Ge— 
fammtbewegung dieſes Syſtems nur noch in diefer zweiten Weife 
zu reden fein. Wir könnten allerdings die Größe der verfügbaren 
Bewegung beftimmen, welche das ganze Syſtem nady Abzug der 
entgegengefegten Wirkungen, die ſich mechfelfeitig aufheben witrden, 
auf ein Element außer ihm zu üb:rtragen vermag. Aber nod 
deutlicher ift an dieſem Beifpiel als an dem vorigen, daß die 
Einheit dieſes erzeugbaren Effectes nicht gleichbedeutend mit der 
Gefammtbewegung des Syſtemes ſelbſt ift, denn zu dieſer gehörte 
ohne Zweifel auch die mannigfaltige Durcheinanderbewegung feiner 
Theile, die in der Einfachhett jenes Ergebniffes verſchwunden ift. 
Für das Ganze dieſer Mannigfaltigfeit gibt es in der That nur 
einen Ort, wo c8 als Einheit wirklich ift: die zuſammenfaſſende 
Borftellung jenes Beobachters. Im diefer allein hängt das Ver- 
gangne mit dem Gegenwärtigen und dem Zufünftigen zufammen, 
in der Wirklichkeit ift das eine, wenn das andere nicht ift; nur 
in diefer Vorſtellung Hat jede Formenſchönheit, jeder Reichthum 
und jede Bedeutung ber Entwidlung mwahrbaftes Dafein, denn 
nur in ihr beftchen eigentlich die Berhältniffe des einen zum 
andern, auf denen diefe Vorzüge alle beruhen; im Wirflichen 
arbeitet jeder einzelne Theil wie im Finſtern und fieht feine 
Stellung zu den übrigen nicht, obgleich er die Einflüffe, die er 
von ihnen leidet, vielleicht in Das Gefühl eines ihm widerfahrenden 
12 * 


180 


Zuftandes verdichten mag. So werden alfo alle Leiftungen einer 
verbundenen Mehrheit entweder ſtets nur eine Mehrheit gefonderter 
Leiſtungen bleiben oder in eine nur dann wahrhaft verſchmelzen, 
wenn fie auf die Einheit eines Weſens, als deifen Zuftände, 
übertragen werben. Bon dem Bemwußtfein aber können wir jagen, 
daß es als Thätigfeit eines untheilbaren Wefens wohl die Durdh- 
dringung des Mannigfachen zu einer Einheit möglich made, daß 
aber nie aus der Wechſelwirkung des Mannigfadhen allein die 
Einheit eines Bewußtſeins entfpringen könne. 
Bon diefen allgemeinen Erörterungen wenden wir und noch 
einmal zu unferem eigentlichen Gegenftande zurüd. In den mannig- 
fachen verbundenen Atomen des Körpers nehmen wir noch einmal 
jenes innerliche feelifhe Leben an, welches die Anficht, von der wir 
ausgingen, aller Materie zutrauen zu müſſen glaubte. Möge 
nun ein gemeinfamer Sinnesreiz, wie vorhin ein gemeinfamer 
Bewegungsanftoß, auf alle zugleich wirken, fo werden wir bie 
entftehende Empfindung doch nirgend anders als in dem Innern 
jedes einzelnen Atomes juchen können. Sie wird fo oft da fein, 
al8 es untheilbare Weſen in dieſer verbundenen Menge gibt, 
aber diefe vielen Empfindungen werben nirgend zu einer gemein: 
famen Gejammtempfindung zufammenftoßgen, es ſei denn, daß 
außer ihnen allen ein bevorzugtes Weſen binzugedadht wird, auf 
welches alle ihre innern Zuftände übertragen; dann wird Diefes 
die Scele eines ſolchen Körpers fein. Und laffen wir wieber, wie 
vorhin verſchiedene Beivegungen, jo jet verſchiedene Empfindungen 
in den einzelnen Elementen diefe8 Ganzen entjtehen, und nehmen 
wir an, daß jedem die Möglichkeit gegeben fei, feine eigene Er— 
regung irgendwie zur Anregung auch des anderen zu verwertben, 
jo wird aud Hier wohl jedes einzelne Wefen nad feiner eigen- 
thümlichen Stellung zu den übrigen auf feine befondere Weife von 
ihren Einflüffen leiven und die überall her empfangenen Eindrücke 
in ſich verfchmelgen oder verknüpfen. Aber Das neue Empfinden 
oder Willen, das aus dieſen Wechſelwirkungen entftebt, wirb doch 
ein Dafein immer wieder nur in den einzelnen Elementen haben, 





181 


deren jedes in feiner Einheit die mannigfaltigen Eindrücke zur 
Miſchung zufammendrängt. Es war vielfach das gleiche Wiffen 
vorhanden, wenn jedes Element die Einflüffe aller andern in 
gleicher Weife erlitt; es wird hier ein vielfach verfchiedenes Wiffen 
entftanden fein, wenn die nicht gleihartigen Berbältniffe, in 
welchen die einzelnen zu einander ftehen, jebem von ihnen eine 
befondere Mifhung der Eindrüde verurfadhen, die bis zu ihm 
. reihen können. Aber Feines von ihnen wird im letzteren Falle 
die Mannigfaltigfeit aller entftandenen Zuftände itberfehen: dieſer 
Sefammtbetrag der Empfindung oder des Wiſſens wird als folder 
nur für einen neuen Beobachter außerhalb vorhanden fein, der 
wiederum in der Einheit feines untheilbaren Wefens die zerftreuten 
Thatſachen zu einem nur ihm erfcheinenden Totalbilde fammelt. 
So wie der Zeitgeift, die äffentlihe Meinung, nicht neben und 
zwifchen den perfönlichen Wefen ſchwebt, ſondern ihr Dafein ftets 
nur in dem Bewußtſein der Einzelnen bat, unvollfommen und 
nur als Bruchſtück in denen, die ohne Meberblid in die Wechfel- 
wirkungen verflochten find, welde fih um ihre Stellung herum 
entfpinnen, vollfommener nur in der Anſchauung deflen, welcher 
die größte Menge fremder Stimmungen vergleichend beurtheilt, 
ſo werden bier die verfchtevenen geiftigen Elemente, welche dieſes 
Yebendige Syſtem zufammenfegen, verfchtevene Anfchauungen des 
Ganzen entwideln, in welchem fie befaßt find; die vollfommenfte 
aber wird in jenem Elemente entftehen, das durd einen urfprüng- 
lichen Vorzug feiner Natur oder dur die Gunft feiner Stellung 
zu den übrigen, als beherrfhende Monade, alle Wechſelwirkungen 
der Theile des Ganzen am lebbafteften in ſich jammelt und am 
lebhafteſten auf die fo ihm zu Theil gemorbenen Eindrlide zu⸗ 
rückzuwirken vermag. 

Auf diefe Vorſtellungsweiſe führt in Wahrheit der Verſuch 
zurüd, die Einheit des Bewußtſeins aus der Wechſelwirkung Vieler 
abzuleiten. Selbft unter der Vorausfegung jenes ſeeliſchen Lebens 
aller Materie gelangen wir auf diefem Wege zwar zu einer Aen- 
derung, aber nicht zu einer Aufhebung des Gegenfages zwifchen 


182 


Leib und Seele. Denn allerdings eine qualitative Verſchiedenheit 
ihre Naturen trennt beide unter dieſer Vorausſetzung nicht; aber 
in Eins verſchmelzen ſie noch weniger; immer bleibt die eine und 


individuelle herrſchende Seele in völliger Sonderung den gleidh- 


artigen aber dienenden Monaden gegenüberftehen, deren verbundene 
Menge den lebendigen Körper bildet. Es mag für den Augen- 
blick dahingeftellt bleiben, ob für die Erflärung der Erfcheinungen 
dieſe Auffaffung des Lebens, als einer Wechſelwirkung von Seelen 
und Seelen, größere Vortheile bietet, als der Gegenſatz des 
Geiftes zu dem körperlichen Stoff, den wir unfern Betrachtungen 
zu Grund legten. Iſt die herrſchende Monade diejenige Seele, 
welche unfer Ich bildet, und deren innere Regungen wir zu ver- 
ftehen ſuchen, fo bleibt wenigftend uns, den Unterfuchenven, das 
Innere jener andern Monaden völlig verfchloffen; wir fennen von 
ihnen nur die Wechſelwirkungen, durch die fie uns als Materic 
erfcheinen, und nur unter dieſem Titel und mit den Anfprücen, 
die durch ihn begründet find, werben fie von uns in der Unter- 
fuhung der einzelnen Vorgänge verwendet werden können. 


Nicht daraus fchloffen wir die Einheit der Seele, daß wir 
und als Einheit erfcheinen; fondern dies, daß ung iiberhaupt 
etwas erjeheinen kann, überzeugte und von der Ungetheiltheit unfers 
geiftigen Wefens. Ich werde vielleicht überzeugender fein, wenn 
ich die unterfcheidende Natur des Bewußtſeins ausdrücklich her- 
vorhebe, die ich bisher ſtillſchweigend vorausfegte. Die Borftellung 
von dem Verſchmelzen mehrerer Zuftände zu einem mittleren, 


‚von refultitenden Kräften oder Erfolgen, die aus der Kreuzung 


einzelner Wirkfamfeiten entiprängen, haben nachtheilig genug auf 
die Erflärung der inneren Erſcheinungen eingemwirkt; e8 tft der 
Mühe werth, zu zeigen, wie ganz anders geartet die Natur des 
Borftellens ift, und wie völlig uns auf dieſem Gebiete Die ge— 
wohnten Betrachtungsmeifen der Naturwiſſenſchaften verlaflen, 


183 


denen das Bisherige noch cine unmittelbare Anwendbarkeit zu- 
zugeſtehen ſchien. 

Sehen wir in der Natur aus zwei Bewegungen bald Ruhe, 
bald eine dritte mittlere entſtehen, in welcher fie unkenntlich un- 
tergegangen find, fo bietet fih und Aehnliches im Bewußtſein 
nirgends dar. Unfere Vorftellungen bewahren durch alle ver- 
ſchiedenen Schickſale hindurch, die fie erfahren, denfelben Inhalt, 
den fie früher befaßen, und nic fehen wir die Bilder zweier 
Farben in unferer Erinnerung zu dem Gefammtbild einer dritten 
ans ihnen gemifchten, nie die Empfindungen zweier Töne zu der 
eines einfachen zwifchen ihnen gelegenen, niemals die Vorftellungen 
von Luft und Leid zu der Ruhe eines gleichgültigen Zuftandes ſich 
mifhen und ausgleichen. Nur fo lange verjchtedene der Außenwelt 
entſpringende Reize noch innerhalb des körperlichen Nervengebictes, 
durch defjen Vermittlung fie auf die Scele wirken, nad phyſiſchen 
Geſetzen einen Mittelzuftand erzeugen, läßt uns diefer, al8 einfacher 
Anftoß nun dem Geiſte zugeführt, auch nur die einfache Mifch- 
empfindung entwickeln, ftatt der beiden, dic wir getrennt wahrgenom- 
men haben würden, wenn die Reize uns gefondert hätten zukommen 
können. So miſchen ſich für unfere Empfindung wohl die Farben 
an den Rändern, mit denen fie im Raum fich unmittelbar berühren; 
aber die Bilder der Farben, die in unferer Erinnerung raumlos 
und ohne Scheivewand zufammen find, rinnen nicht in das ein- 
fürmige Gran zufammen, das wir als Mittelergebniß erwarten 
müßten, wenn überhaupt das Verſchiedene in unferer Scele fi 
ausgleihend verſchmölze. Aber das Bewußtſein hält im Gegen- 
teil das BVerfchiedene auseinander in dem Augenblide ſelbſt, in 
welchem e8 feine Bereinigung verfucht; nicht in der Mifchung läßt 
es die mannigfachen Eindrüde unkenntlich zu Grunde geben, fon- 
dern indem es jedem feine urfprüngliche Färbung läßt, bewegt es 
fih vergleihend zwiſchen ihnen und wird fich dabei der Größe 
und der Art des Ueberganges bewußt, dur den ed von dem 
einen zum andern gelangte. In Diefer That des Beziehens und 
des Vergleichens, den erften Keimen alles Urtheilens, befteht das, 


\ 


184 


was auf geiftigem Gebiet, völlig anders geartet, der Refultanten- 
bildung phyſiſcher Ereigniffe entfpriht; Hierin liegt zugleich bie 
wahre Bedeutung jener Einheit des Bewußtſeins. 

Wenn zugleich ein ftärferer und ein ſchwächerer Ton gleicher 
Höhe und gleichen Klanges unfer Obr treffen, jo hören wir nur 
denfelben Ton ftärker, nicht beide getrennt; ihre Wirkungen fallen 
bereit8 in dem Gehörnewen zufammen und die Seele kann in 
dem einfachen Reize, der an fie gelangt, keinen Grund‘zu einer 
Spaltung in zwei Wahrnehmungen finden. Aber wenn beide 
Töne nad einander erflangen, fo daß das Sinnedorgan ihre Ein- 
drücke gefondert Ieiten konnte, fo entfteht aus ihren Vorftellungen, 
welche die Erinnerung aufbewahrt und zu dem Zwecke der Ver— 
gleihung in demfelben Augenblid beide wieder ind Bemußtfein 
führt, nicht mehr die Vorftelung eines dritten Tones von größe- 
ver Stärke, jondern beide, obwohl ohne Scheidemand in dem un— 
räumlichen Auffaffen gegenwärtig, bleiben als gefonderte einander 
gegenüber. Und entftände jener mitttlere Ton, fo wilrde er nicht 
eine Vergleichung beider, jondern nur ein Zuwachs des zu ver- 
gleihenden Materials fein für ein Bewußtfein, das zu vergleichen 
verftände. Die Bergleihung, welche wir wirflih vollziehen, 
beftebt in dem Bewußtwerden der eigenthümlihen Veränderung, 
die unfer Zuftand erfährt, indem wir von dem einen Tone vor= 
ftellend zum andern übergehen, und in ihr entfteht uns ftatt 
eines dritten gleihen Tones ein ungleich größerer Gewinn: die 
Borftellung eines intenfiven Mehr oder Minder. Roth und Gelb 
verjhmelzen, wenn fie, ſchon im Auge ſich mifchend, nur als ein= 
facher mittlerer Reiz unferer Seele fi nähern; in unferer Erin= 
nerung bleiben die getrennt empfunbenen getrennt und es entfteht 
nicht aus ihnen der Eindrud des Orange; entftände er, fo wäre 
auch durch ihn nur vergleichbares Material vermehrt, nicht die 
Bergleihung vollzogen. Sie wird vollzogen, indem wir ung der 
Torm des Wechfeld bewußt werben, den unfer Zuftand in dem 
Mebergang von Roth zu Gelb erfährt, und wir gewinnen durch 
fie die neue Vorſtellung qualitativer Aehnlichkeit und Unähnlichfeit. 





185 


Vergleichen wir endlich einen Eindrud mit fich ſelbſt, fo ift nicht 
das Ergebniß, daß der Doppelt gedachte zu einer Verdoppelung 
feiner einfachen Stärfe führte, fondern indem wir die Thätigfeit 
des Uebergebend wahrnehmen, ohne eine Aenderung in ihrem 
Ergebniffe zu bemerken, erlangen wir die Borftellung der Gleich: 
heit. Wir haben feinen Grund, diefe Beifpiele mehr zu häufen; 
befannt genug ift Jedem das innere Leben, um fon bier die . 
allgemeine Meberzeugung zu erweden, daß alle höheren Aufgaben 
unferer Erkenntniß und unferer ganzen geiftigen Bildung auf 
derfelben Schonung beruhen, mit melder das Bewußtſein das 
Mannigfaltige der Eindrücke in ſeiner Mannigfaltigkeit, in allen 
ünterſchieden ſeiner Färbung beſtehen läßt, und daß nichts ſo 
weit von den nothwendigen Gewohnheiten der Seele entfernt ſein 
kann, als jene Bildung reſultirender Miſchzuſtände, mit deren 
Hülfe man ſo oft und ſo unbedacht alle Weiterentwicklung, ja 
ſelbſt alle urſprüngliche Entftehung unſerer inneren Regungen er— 
Hören zu können glaubt. 

Diefe Thaten nun eined beziehenden und vergleichenden 
Wiffens wird faum Jemand geneigt fein, noch al8 Handlungen 
eines Aggregates Michrerer zu betrachten. Sp lange es fi nur 
darum handelte, daß alle Borftellungen in demjelben Bewußtfein 
verfammelt find, daß alle aufeinander Wechſelwirkungen ausüben 
und wechfelfeitig fich verdrängen oder beroorrufen, fo lange fonnte 
man ſich wenigftens leidlich darüber täuſchen, daß doch auch ſchon 
dieſe Erſcheinungen die Einheit ihres Trägers nothwendig machen. 
Man konnte das Bewußtſein als einen Raum anſehen, in welchem 
ſich dies mannigfaltige Spiel drängt, und dahin geſtellt laſſen, 
woher eigentlich die Beleuchtung des Gewußtwerdens ſtammt, in 
der es ſich bewegt. Das thätige Element dagegen, welches von 
einem zum 'andern übergehend, beides beſtehen läßt, aber ſich der 
Größe, Art und Richtung ſeines Uebergehens bewußt wird, dieſes 
eigenthümlichſte Band zwiſchen dem Vielfachen kann unmöglich ſelbſt 
ein Vielfaches ſein; wie alle Wirkungen überhaupt nur in der 
Einheit eines untheilbaren Weſens, in der fie ſich treffen, ver⸗ 


186 


bunden werben, jo erfordert noch mehr dieſe befondere Weife, 
Mannigfaches zu verknüpfen, die ftrenge Einheit des Verknüpfenden. 
Jeder Verſuch, an ihre Stelle eine irgendwie verbundene Mehr- 
beit zu fegen, würde auch bier nur zu den Folgen zurückführen, 
die wir bereits: erwähnten, und durch deren Wiederholung wir 
nicht ermüden wollen. 


Die Notwendigkeit, für zwei unvergleihbare Kreife von 
Erfheinungen zunächſt zwei gefonderte Erflärungsgründe zu ver- 
langen, verbot uns jeden Berfuh, aus Wirkungen materieller 
Stoffe, fo fern fie materiell find, das innere Leben als einen 
felbftverftändlichen Erfolg ableiten zu wollen. Die andere Noth- 
wendigfeit, die Thatfache der Einheit des Bewußtſeins anzuerkennen 
und die Einfiht in die Unmöglichkeit, dieſe Einheit aus ber 
Wechſelwirkung irgend welcher Vielheit zu erzeugen, ließ und auch 
von der Annahme eines verborgenen feelifhen Lebens in alle 
dem, was wir Materie nennen, feinen Bortheil für die Erflärung 
der einzelnen Erfcheinungen hoffen. Wir drüden daher am ein= 
fachſten das bisher erreichte Ergebniß in der Längft gewöhnlichen 
Form einer Trennung der überfinnlihen Seele von dem finnlichen 
Körper aus, gleichviel, worauf das Dafein oder die Erſcheinung 
des Icgteren jelbft beruhen möge. Unſer Weg wird noch lang fein, 
und mande feiner Wendungen wird uns vielleicht neue Anfichten 
auch über das eröffnen, was wir jegt nur in dieſer erwähnten 
Projection erbliden können. Für mißverftändlih aber würden 
wir eine Sehnfucht nah Einheit halten, vie ſchon hier dieſen 
Iharfen Gegenfag in irgend einem Höheren zu vermitteln eilte, und 
in Wirflichkeit nur feine nothiwendige und deutliche Auffafjung ver- 
dunfeln würde. Wir leugnen nicht, daß es einen jo hoben Stand⸗ 
punft der Betrachtung geben kann, für welchen der Unterſchied des 
GSeiftigen und Körperlichen in feinem Werthe verblaßt, oder als 
eine Zäufhung begriffen werben Tann. Aber das Gedeihen 





187 


unjerer Anfichten hängt weniger von der Erreichung dieſes Stand- 
punftes ab, als es durch feine verfrühte Vorausnahme geſchmälert 
wird. Auch die Kämpfe und Mühen des Lebens erſcheinen einem 
geſammelten Ueberblicke zuletzt als eine Uebung, deren Werth 
nicht eigentlich in der Erreichung eines Zieles liegt; die irdiſchen 
Zwecke mögen in nichtige Kleinheit zuſammenſchwinden im Ber: 
gleich mit der endlichen Beſtimmung, die wir ahnen; bittere 
Gegenſätze unſeres Daſeins verlieren ihre Schärfe und Bedeutung, 
an dem Ewigen und Unendlichen gemeſſen, auf welches unſere 
ſehnſüchtigen Blicke ſich richten. Und doch werden wir in jenen 
Uebungen fortfahren, dieſen beſchränkten Zielen alle Wärme unſeres 
Gemüthes widmen, dieſe Gegenſätze empfinden und den Kampf 
um ſie immer wieder erneuern müſſen; unſer Leben würde nicht 
edler werden durch die Geringſchätzung ſeiner Verhältniſſe und 
des Spielraums, den es unſerer ſtrebenden Kraft darbietet. So 
mag auch jener Gegenſatz zwiſchen körperlichem und geiſtigem 
Daſein kein letzter und unverſöhnlicher ſein, aber unſer gegen— 
wärtiges Leben fällt in cine Welt, in der er noch nicht gelöſt iſt, 
fondern als ungelöfter allen Beziehungen unferes Denkens und 
Handelns zu Grunde liegt. Und cbenfo wie er beftändig dem 
Leben unentbehrlich fein wird, ift er zunächſt wenigftens unent- 
behrlih für die Wiſſenſchaft. Was ung als unvereinbar fich gibt, 
haben wir zuerft jedes auf fein beſonderes Princip zu grünen. 
Kennen wir den natürlihen Wuchs und die Verzweigung jever 
einzelnen der Erfheinungsgruppen, die wir fo geſchieden haben, fo 
wird e8 fpäter möglich fein, von ihrer gemeinfamen Wurzel zu 
reden. Ste zu früh vereinigen wollen, würde nur beißen, ihre 
Meberficht trüben und den Werth verfälichen, den jeder Unterſchied 
auch dann bat, wenn cr nicht unaufheblich ift. 








188 


Zweites Kapitel. 


Natur und Bermögen der Seele 


Die Mehrheit ber Seelenvermögen. — Mängel ihrer Annahme. — Ihre Bereinbarfeit 
mit der Einheit der Seele. — Unmittelbare und erworbene Vermögen. Unmöglichkeit 
eined einzigen Urvermögend. — Borftellen, Fühlen und Wollen. — Beftändige 
Thätigleit des ganzen Wefens ber Seele. — Niebere und höhere Rückwirkungen. — 
Veränderlichfeit der Seele und ihre Grenzen. — Das bekannte und das unbefannte 
Weſen der Seele. 


Nur dazu haben uns die bisher betrachteten Erfcheinungen 
bereshtigt, in der Seele jenes unbekannte Wefen zu eben, deſſen 
ungetheilte Einheit die Mannigfaltigfeit des inneren Lebens zu— 
fammenbält: fie haben noch Feine Aufflärung über die wefentliche 
Natur gegeben, mit welcher die Seele dieſe leere Form der Einheit 
ausfüllt und die buntfarbige Vielheit ihrer Zuftände entwidelt. 
Eine vollftändigere Ueberſicht der inneren Erfahrung wird gleidh- 
wohl der einzige Weg zur Löfung auch diefer Trage fein; wir 
haben feine andere Einfiht in das Wefen der Seele außer der- 
jenigen, welche uns die Rückſchlüſſe von den beobachteten That- 
fachen unſeres Bewußtfeins gewähren. So müſſen wir ihre 
Natur denken, wie fie fein muß, wenn fie das fol leiden können, 
was wir als ihre Zuftände, und das leiften, was wir als ihre 
Thätigfeiten in und vorfinden. Bon einer Bergleihung der 
inneren Ereigniffe werden wir deshalb auögehen müſſen; Achn- 
liches zufammenftellend, . Unähnliches ſondernd, werden wir das 
Mannigfadhe in Gruppen fammeln, deren jede das in fidh ver- 
einigt, was dur die Gleichheit feines allgemeinen Gepräges 
zuſammengehört und von Anderögeartetem fich ſcheidet. Die 
inneren Erfheinungen find abweichend genug von einander, um 
es wahrfcheinlich zu machen, daß dieſe Vergleihung, fo Lange fie 
feine anderen Gefichtspunfte einmifcht, mit ver Auffindung 
mehrerer gefonderten Gruppen endigen wird, deren eigenthümliche 





189 


Unterjchtede auf einen gemeinfamen Ausdrud zurückzuführen nicht 
gelingt. Bon den veränderfihen äußeren Bedingungen, melde 
die Thätigfeit der Seele weden, werden wir wohl jene Heineren 
Unterſchiede abhängig denfen, welche innerhalb jedes einzelnen 
Kreifes die in ihm zufammengehörigen Aeußerungen trennen, 
ohne die allgemeinere Achnlichfeit ihres Charakters aufzuheben. 
Aber für das Ganze jedes Kreiſes von Erſcheinungen werden 
wir doch der Seele eine eigenthümliche Anlage zufchreiben müſſen, 
in der Weife thätig zu fein, die fih in allen feinen beſonderen 
Gliedern gleihmäßig als herrſchend ermeifl. Wie viele auf 
einander nicht zurüdführbare Gruppen der Ereignifie und mithin 
die Beobachtung übrig läßt, fo viele gefchievene Vermögen der 
Seele werben wir voraußfegen müfjen, aber wir werden über: 
zeugt- bleiben, daß fie dennoch nicht als eine zufammenhanglofe 
Mehrheit von Anlagen neben einander in ihre Natur eingeprägt 
find, fondern daß zwiſchen ihnen eine VBerwandtihaft ftattfindet, 
durch welche fie als verfchiedenartige Ausdrüde eines und defjelben 
Weſens zu dem Ganzen feiner vernünftigen Entwidlung zuſam— 
menftimmen. 

So erwuchs die befannte Lehre von den Seelenvermögen, 
mit ihren crften Keimen ſchon der gewöhnlichen Auffaffung des 
täglichen Kebens angehörend. Lange als Lieblingsgegenſtand der 
Wiſſenſchaft gepflegt: und mehrfach zu ausführlichen Lehrgebäuden 
entwidelt, iſt fie allmählich in Mißachtung gerathen und kaum 
würde man gegenwärtig mehr in ihr fehen wollen, als eine erfte 
und vorläufige Heberficht der Thatfachen zum Zwecke einer Unter- 
fuhung, Die nun erft auf fie folgen fol. Und in der That 
werden wir zugefteben müfjen, daß fie für die Aufflärung der 
Erfheinungen im Einzelnen allzumenig leiftet. Es würde eine’ 
Täufhung fein, wenn man in dem Begriffe der Seelenvermögen 
ein ebenſo wirkſames Mittel der Unterfuchung zu befigen glaubte, 
wie die Naturwiffenfchaft ein ſolches in dem Begriffe der wirkenden 
Kraft gewonnen hatte Was diefem feine Fruchtbarkeit gibt, 
fehlt jenem, der dagegen völlig die Fehler mwieberholt, um deren 








190 


willen der verwandte Begriff der Lebenskraft ſich in vergeblichen 
Verſuchen zur Erklärung der lebendigen Erſcheinungen erſchöpft. 
Wo die Phyſik Gebrauch von ihrem Begriffe der Kraft macht, 
begnügt fie ſich nicht, dieſe durch die Form und das Ausſehen 
ihres Erfolges zu charakteriſiren; ſie redet nicht von anziehenden 
oder abſtoßenden Kräften überhaupt, ſondern ſie fügt ein Geſetz 
hinzu, nach welchem die Größe ihrer Wirkſamkeit ſich ändert, 
wenn genau angebbare Bedingungen, an die ſie gebunden iſt, 
eine ebenſo beſtimmt zu meſſende Veränderung ihres Werthes 
erfahren. Nur dadurch iſt ſie in den Stand geſetzt, das beſtimmte 
Ergebniß zu berechnen, welches jede Kraft unter gegebenen Ver— 
hältniſſen liefern wird; nur dadurch gelingt es ihr überhaupt, an 
die beſtändig gleiche Wirkſamkeit derſelben Kraft die mannigfachſten 
Erfolge zu knüpfen, die zunächſt zwar nur ihrer Größe nach ſich 
unterfcheiden, aber in ihrem Zufammentreffen mit anderen in 
gleicher Weife beftimmten Wirkungen zu einer unüberfehbaren 
Bielheit auch der formwerfchiedenften Ereigniffe führen. Der 
Begriff der Seelenvermögen bietet dieſe Vortheile nicht. infeitig 
abgeleitet aus der allgemeinen Form, die einer Menge mannig= 
faltiger Vorgänge gemeinfam zufommt, beftimmt natürlich auch 
rückwärts jedes derjelben nur im Allgemeinen wicder die Form, 
pie feinen Aenßerungen zufommt. So wird ohne Zweifel das 
Borftellungsvermögen Borftellungen, das Gefühlsvermögen Ge— 
fühle erzeugen, aber es fehlt an Regeln der Beurtheilung, die 
über dieſe unnütze Gewißheit hinaus uns ſchließen lehrten, welche 
Vorſtellung unter welchen Umſtänden entſtehen oder was geſchehen 
wird, wenn mehrere Aeußerungen deſſelben Vermögens zufam- 
mentreffen. 

Meberall freilich Hat auch die Natuwwiſſenſchaft die Wirkungs- 
gefege ihrer Kräfte nicht beftimmen können; aber wo fie es nicht 
vermochte, gibt fie eben zu, für Die wirflihe Erklärung der Erfchei- 
nungen noch nicht hinlänglich vorbereitet zu fein. Selbft in ſolchen 
Fällen bietet ihr jedoch ihr Begriff der wirfenden Kraft noch Bor- 
theile, die dem der Seelenvermögen abgeben. Die Wirkungen der 


191 


natürlichen Kräftg find untereinander ftet8 vergleihbar; denn wie 
wunberfam verjchteden auch die inneren Zuftände der Elemente fein 
möchten: die äußeren Veränderungen, in denen fie fihtbar werben 
fönnen, werden ſich zulett immer auf Bewegungen im Raume zurid- 
führen laffen, Die nur nach Geſchwindigkeit und Richtung unterfchie- 
ben find. Deshalb ift die Phyſik im Stande, die allgemeinen Rech— 
nungsregeln der Mathematik auf fie anzumenden und mit Beftimmt- 
beit den Erfolg anzugeben, welden das Zufammentreffen mehrerer 
Kräfte an demjelben Elemente hervorbringt; aus zwei einfachen 
geradlinigen Bewegungen fehen wir bald das Gleichgewicht der Ruhe, 
bald eine gleihförmige Geſchwindigkeit in mittlerer Richtung, bald 
beftändige Kreisläufe in gefrümmten Bahnen entftchen. Und um 
diefer Vergleichbarkeit der Kräfte willen iſt es felbft dann, wenn 
ihre Gefege nicht genau befannt find, nod immer möglich, aus der 
Form ihrer Wirkſamkeit wenigftens einen wahrfcheinlichen Ueber: 
ſchlag des Erfolges zu entnehmen, den ihr Zuſammenwirken haben 
wird, und defjen muthmaßlichen Werth zwifchen beftimmte Grenzen 
einzufchliegen. Dem gegenüber erfcheinen Die Seclenvermögen als 
unvergleihbar unter einander; war doch jedes von ihnen eben nur 
aus dem eigenthümlichen Charakter feiner Aeußerungen abgeleitet, 
den man verzweifelte, mit dem unterfcheidenden Gepräge der anderen 
auf einen gemeinfamen Geſichtspunkt zurüdzubringen. Wie daher 
eine That des Vorftellungsvermögens auf dad Vermögen der Ge- 
fühle einwirken, wie dieſes ferner Strebungen veranlaffen oder hem⸗ 
men werde, das erratben wir zwar ohne die Wiſſenſchaft leidlich, 
indem wir dem Inſtincte unferer inneren Erfahrung folgen; aber 
in dem Begriffe diefer Vermögen Tiegt nichts, was uns befähigte, 
dieſen Tact des richtigen Urtheils zu einer Haren wifjenfchaftlichen 
Einficht in die gegenfeitige Abhängigkeit dieſer Vorgänge zu fteigern. 

Fügen wir endlich noch eines Hinzu. Die Phyſik gibt mit Be- 
ftimmtheit die Bedingungen an, unter denen überhaupt von einer 
Wirkfamkeit der angenommenen Kräfte die Rede fein Tann. Sie 
unterfcheidet jene Grundkräfte, Die als beftändig der Maſſe anhaf- 
tend gedacht werben können, meil ihre Bedingungen beftändig reali- 


192 


firt find, und bie Deshalb ftet8 vorhanden nur noch auf einen Gegen- 
ftand zu warten fheinen, an dem ihr Einfluß fihtbar werden kann; 
fie ftellt ihnen jene anderen Leiftungsfähigfeiten gegenüber, die ein 
Element nicht von Anfang an befigt, fondern unter Umftänden er⸗ 
wirbt, und die deshalb, jet auftretend, dann wieder verſchwindend, 
eine wifjenfchaftlich zu verfolgende Geſchichte ihres Entſtehens haben. 
Auch Hierin befindet fich die pfychologifche Lehre im Nachtheil. Ste 

Tonnte Feines ihrer Vermögen als eine beftänbig von der Seele aus: 
geübte Thätigkeit faffen; ein Vorftellen, das auf feinen Gegenſtand, 
ein Gefühl, das auf feine Färbung, ein Wille, der auf fein Ziel 
noch wartete, erſchienen zu auffällig als widerfinnige Annahmen; 
man fühlte, daß fie ſämmtlich nur Leiftungen find, zu deren Aus- 
führung die Seele erſt durch beftimmte Eindrüde angeregt und 
befähigt wird; eben deshalb fegte man fie unter dem Namen ber 
Bermögen den Kräften entgegen. Aber die Geſchichte ihres Zu- 
ftandefommens aus dem Zufammentreffen jener Eindrücke mit der 
Natur der Seele hat man zu wenig verfolgt, und der Mangel dieſes 
Nachweiſes ließ ſich nicht dadurch ausgleichen, daß man claffifictrend 
die verfchievenen Vermögen nad der größeren Allgemeinheit oder 
Befonderbeit ihrer Acußerungen einander über- und unteroronete. 
Denn immer erſchien fo Vieles glei urfprünglih und neben ein- 
ander, was in Wahrheit durch die fortfchreitende Bildung des Le— 
bens erft erworben und angeitbt, fehr verſchiedene Stellen nad) ein= 
ander in ber wirklichen Entwidlung des geiftigen Lebens einnimmt. 
Die unbeftimmten Vorftellungen enblih von einem Schlummer und 
dem nachfolgenden Erwachen einzelner Vermögen waren nicht geeig- 
net, für die im Allgemeinen fehlende Einfiht in das Zufammen- 
greifen und Die gegenfeitige Unterftägung ihrer Wirkungen zu ent- 
ſchädigen. 

So verlor man den eigentlichen Zweck der wiſſenſchaftlichen 
Unterſuchung aus den Augen, die Nachforſchung nach dem urſäch- 
lichen Zufammenhange, durch welchen Schritt fiir Schritt jedes ein- 
zelne Ereigniß des Seelenlebens aus feinen Borangängen entfpringt 
und feinerfeit8 auf die Geftaltung des nächſten Augenblides Ein- 














193 


flug übt. Darauf aber muß jede Wiffenfchaft, der ihre zukünftigen 
Anwendungen am Herzen Liegen, bedacht fein, daß es ihr möglich 
werde, aus Dem vorhandenen Zuftande Vergangenes und Kommen- 
des zu errathen. Und wo die uniberfehbare Verwidlung ber mit- 
wirkenden Bedingungen, wie in dem Falle des Seelenlebens, die 
erſchöpfende Löſung diefer Aufgabe ſtets unmöglich machen wird, 
möüffen wir doch wenigftens nach einer ſolchen Ueberficht des urfäch- 
lichen Zuſammenhangs ftreben, welche im Ganzen und Großen mit 
mehr Sicherheit, als die unbeftimmte Schägung eines natürlichen 
Inftinctes gewährt, bie Umriffe des Künftigen und die vergangenen 
Gründe der Gegenwart erkennen lehrt. Nur diefe Kenntniß würde 
ung befähigen, in der Erziehung die Gegenträfte in Bewegung zu 
feßen, Die geeignet find, unerwänfchte Ergebniffe zum Beſſeren zu 
wenden. Fur diefe Aufgabe bietet die Lehre von den Seelenver⸗ 
mögen feine Löſung; fie wiederholt uns eigentlich nur farblofer und 
von ferne den allgemeinen Umriß der Erfehernungen, Die wir in der 
vollen Mannigfaltigkeit ihrer lebendigen Localfarben unmittefbar in 
uns beobachten, aber fie ſchweigt Aber die unferer Beobachtung ent- 
zogenen Ereigniffe, die dieſes mannigfache Spiel eben fo ungefehen 
beroorbringen, wie die unwahrnehmbaren Schwingungen des Aethers 
die Welt des finnlichen Lichts und feiner wunderbaren Brechungen. 


Nun konnte man geneigt fern, Diefe Mangelbaftigfeit nicht 
dem Grundgedanken, fondern der noch unfertigen Ausführung ber 
Lehre zuzurechnen. Vielleicht, nachdem forgfältige Beobachtung von 
ben urfprünglichen Vermögen ber Seele diejenigen abgetrennt haben 
wird, die augenfcheinlih nur im Berlaufe der Bildung erworbene 
Fähigkeiten find, gelangt fie noch dazu, für jene Uranlagen die Gefege 
ihrer Wirkſamkeit und ihres wechfelfeitigen Einfluffes zu entdeden. 
Aber ehe wir diefer Hoffnung einen Schritt weiter nachgehen, müf⸗ 
fen wir eines Einwurfes gedenken, ber fie kurz abzuſchneiden droht. 

Jede Mehrheit urfprünglicher Vermögen widerſpreche der Ein- 
beit der Exele; fie zu Grunde zu legen, fei eben fo unvereinbar 

Lotze I. 3. Aufl. _ 13 


194 


mit der nöthigen Strenge des Gedankens, als unerſprießlich für 
die Abſicht der Erflärung, deren Befriedigung verkürzt werde, ſo— 
bald man eine Mannigfaltigfeit von Leiftungen, deren Herleitung 
aus einer einzigen Duelle eben das Geſchäft der Wiſſenſchaft fein 
müßte, als neben einander vorhandene und einer Erläuterung ihres 
Urfprungs unbebürftige binnehme. Man hat ſich fo ſehr gewöhnt, 
hierin das Entſcheidendſte zu erbliden, was gegen die Lehre von den 
Seelenvermögen eingeiwendet werben kann, daß wir faft zögern, eine 
entgegengefegte Anficht gelten zu machen. Geſprochen bat man 
von jenen Vermögen allerdings häufig fo, al8 wären fie fertige, 
zufammenhanglo® neben einander der Scele eingeprägte Anlagen; 
und mit Recht ftellt man diefer unvollkommenen Schilderung Die 
Forderung. entgegen, alle verjchiedenen Eigenfchaften eines Weſens 
nur als verſchiedene Ausdrücke feiner einen und ſtets ſich gleichen 
Natur anzufeben, erſt durch die Wechſelwirkung ihr abgenöthigt, 
in welche fie mit anderen Elementen geräth. Aber im Streit mit 
jener nadhläffigen Redeweiſe ſchätzt man vielleicht Neuheit und Werth 
dieſes Einmwurfes zu hoch. Daß die Körper nur farbig find im 
Licht, Hart nur, wenn eine eindringende Gewalt ihren Widerſtand 
weckt, flüffig in Diefer, feft in einer anderen Temperatur, das Alles 
find Ueberlegungen, welche die gemöhnlichfte Erfahrung anregt. Leicht 
mußte man von ihnen aus zu der Ueberzeugung gelangen, daß 
wenigftens bie finnlihen Eigenfchaften der Dinge nicht fefte, ihnen 
an ſich eingeprägte Beſtimmtheiten find, fondern werdende ent: 
ftehende und vergebende Scheine, die fr uns ihre Natur unter 
wechjelnden Bedingungen wechſelnd annimmt. Aber weit näher 
lag e8 noch, diefelbe Anficht auf die Vermögen der Seele anzumen- 
den, deren Name ſchon darauf deutete, daß fie nicht als fertige 
Wirflichfeiten, fondern eben nur als die verſchiedenen Möglichkeiten 
ber Aeußerung gelten follten, welche der einen Natur der Seele 
zu Gebote ftchen, wenn fie von verfchievenen Reizen, deren noth— 
wendige Mitwirkung man nicht vergaß, zur Thätigfeit veranlaßt 
wird. Vielleiht thun wir Deshalb wohl, wenn wir manches in 
diefer Frage begangene Ungefchid des Ausdrucks auf fih beruben 





195 


laſſen und e8 der hart angegriffenen Lehre zutrauen, daß fie na- 


türlich von derfelben Ueberzeugung ausging, welche ihr jener Vor— 
wurf gegenüberftellt. Den erften Theil deffelben wenigftens ver- 
dient fie nicht; auch fie jah alle Vermögen als Folgen der einen 
Natur der Seele an, nur daß fie nicht glaubte, fie auch unter 
einander in ſolche Abhängigfeit bringen zu müſſen, Daß aus einem 
einzigen alle übrigen hervorwüchſen. Ob fie nım darin Recht ge— 
habt, und ob fie nicht die Anſprüche der Wiſſenſchaft verkürzt hat, 
indem ſie fi zu früh mit der Annahme urfprünglicer Anlagen 
begnügte und ihre wirkliche Zurücdführung auf einen Duell ver- 
fäumte, dies ift ein anderer noch zu entfcheidender Zweifel. Aber 
auch über diefen zweiten Theil des erwähnten Vorwurfes können 
wir eine jegt weit verbreitete Meinung nicht völlig theilen. 
Gewiß Tann unfere Wiffenfchaft nicht weiter gehen, als die 
Mittel unferer Erkenntniß reihen, und fie muß das als eine Reihe 
gegebener Thatſachen hinnehmen, was fie in Wahrheit aus einem 
einzigen Grunde abzuleiten nicht vermag. Hierin um jeden Preis 
zu Ende fommen zu wollen, führt nur in die Verſuchung, von dem 
Gehalte des Thatjächlichen unbewußt etwas abzubrecdhen, um den 
bequemeren Keft leichter zu erflären. Auch in diefer pſychologiſchen 
Trage liegt eine ſolche Verſuchung nahe. Jene Forderung, melde 
alle Aeußerungen eines Weſens nur als verſchiedene Folgen ſeiner 
einen Natur anzuſehen befiehlt, erkennen wir als wohlberechtigt 
an, aber wir ſind nicht im Stande, ihr durch die wirkliche Aus— 
führung in der Wiſſenſchaft Genüge zu leiſten. Aus wenigen Orten, 
bie ein Komet zu verſchiedenen Zeiten am Himmel einnahm, ſchlie⸗ 
gen wir auf die Bahn, die er ferner verfolgen muß; die Geſetze 
ber himmlischen Bewegungen erlauben ihm nicht, dieſe Orte ein- 
zunehmen, ohne in nothwendiger Folge Davon fpäter auch Die anderen 
zu durchlaufen, die mit ihnen zu einer gefeglich beftimmten Krüm— 
mung zufammengebören. Eine gleiche Folgerichtigkeit fegen wir auch 
in dem Weſen der Seele voraus. Aeußert ihre Natur ſich gegen 
den einen Reiz auf eine beftimmte Weife, fo ift nun auch die andere 


Aeußerung, mit der fie einem zweiten antworten wird, nicht mehr 
13* 


196 


unbeftimmt ober ihrer Wahl überlaffen; der eine Schritt entfcheibet 
auch iiber alle übrigen, und welcherlei Eindrücke der verfchtebenften 
Art fie betreffen mögen, ihr Benehmen gegen jeden berfelben tft 
bedingt Durch das, welches fie gegen den einen beobachtete. So wer - 
den auch in ihr Die mannigfachen Rückwirkungen, welche ihr ver⸗ 
fchiedenartige Anregungen abgewinnen, nicht beziehungslos unter 
einander fein, fondern zu dem Ganzen ciner in folgeridhtiger Viel⸗ 
feitigkeit ſich ausdrückenden Natur zufammenftimmen. Aber diefe 
Annahme, die wir hier fo unvermetblidh finden, wie bort, ift bier 
nicht ebenfo fruchtbar, wie dort. Für ben Kometen kennen wir 
die Gefege der Anziehung und der Beharrung als das verknüpfende 
Band, welches alle Theile feiner Laufbahn unter einander in einen 
nachweisbaren Zuſammenhang fest; für die Scele würden wir ein 
ungleich tiefer Tiegendes Geſetz bedürfen, welches und verfchtedene, 
ihrer Form nach nicht vergleichbare Thätigfeiten dennoch als Glie⸗ 
der einer und berfelben Entwicklungsreihe begreifen lehrte. Wir 
müßten jagen Finnen, warum ein Wefen, das auf Bermlaffung 
der Aetherwellen Licht und Farben fieht, nothwendig Töne hören 
muſſe, wenn Luftſchwingungen auf feine Sinnesorgane wirken, oder 
warum feine Natur, wenn fie unter gewiffen Eindräden anſchauliche 
aber gleichgültige Wahrnehmungen erzeugt, folgerichtig in Gefühle 
der Luft und Unluft unter dem Einfluß anderer ausbrechen müfk. 
Kaum dürfen wir ausdrücklich erwähnen, Daß diefe außerordentliche 
Aufgabe nie gelöft worden ift, und daß wir nirgends eine Ausficht auf 
ihre mögliche Löſung ſehen; jeve Pfycholegie wird die Ueberzeugung 
theilen, daß dieſe ununterbrodene Folgerichtigfeit in der Natur der 
Seele ftattfindet, aber Feine wird ihr Gefeg auszuſprechen wifſen. 
Als leitender Gefihtspuntt, der die Verknüpfung und die Führung 
unferer Unterfuhungen im Allgemeinen beberricht, wird daher jene 
Forderung nad) ſolcher Einheit der Seele ftetS gelten Können, aber 
in der Ausführung unferer Erflärungen müſſen wir ums begnügen, 
verſchiedene Aeußerungsweifen der Seele ald gegebene Thatſachen 
hinzunehmen. 

In der That haben die Verſuche, die der Lehre von den Ber⸗ 





197 


mögen gegenübergeftellt worden find, mit ber Anerkennung einer 
ſolchen Mannigfaltigkeit geendigt. Aber fie Haben unterſchieden zwi⸗ 
[hen der Bielheit Diefer einfachen, gleich urſprünglichen Thätig- 
feiten, die nicht aus einander, fonbern nur gemeinfam aus ber 
Natur der Seele hervorgehen, und zwiſchen jenen höheren Wirt: 
famfeiten, die nicht gleich urſprüngliche Beſitzthümer derſelben bil- 
den, fondern eben aus den Berfettungen jener einfachen Zuftände 
entfpringen, und um deren Erklärung man die Wiſſenſchaft ver- 
karze, mern man fie unmittelbar auf eigene ihnen gewidmete Ver— 
mögen zurüdführe. Gegen diefen Bormurf fih in allen Fällen zu 
rechtfertigen, wird der Lehre von den Seelenvermögen nicht gelingen. 
Sehen wir zum Beifpiel unter diefen auch Urtheilskraft und Ein- 
bildungsfraft neben anderen aufgeführt, fo werben wir ohne Be- 
denfen zugeben, daß diefe beiden nicht zu dem angebornen Befik 
der Seele gehören, ſondern Vertigkeiten find, die fich durch die 
Bildung des Lebens, die eine langſam, die andere fchnell, ent- 
wideln. Wir werben zugleich zugeftehen, daß zur Erflärung ihrer 
Entftehung nichts als die Geſetze des Vorftellungslaufes nöthig 
find, nad denen jede erworbene Wahrnehmung im Gedächtniß 
beharren, und nachdem fie dem Bewußtſein verſchwunden ift, durch 
Erneuerung anderer, mit denen fie früher verbunden mar, der Er— 
innerung wiedergegeben werben kann. Im der Seele, bevor fie 
Erfahrungen gemacht bat, werden wir die Fähigkeit nicht fuchen, 
Aehnlichkeiten und Unterfchiede der anfommenden Eindräde mit 
Leichtigkeit und Schärfe aufzufaflen und jeden fofort unter Die al- 
gemeinen Gefichtspunkte unterzuoronen, die feinem Inhalte entipre= 
hen. Aber jede im Gedächtniß feftgehaltene Wahrnehmung, durch 
eine neue Ähnliche wieberermedt, führt auch Die anderen mit ihr ver- 
bundenen in das Bemußtfein zurlid, die dem neuen Eindrud fremd 
find, und fo fordert fle auf zu fondernden und verbindenden Berglei= 
Hungen. Jede Wiederholung diefer einfachen Vorfälle vermehrt die 
Anzahl der Geſichtspunkte, deren Erinnerung fpäter neuen Beobadh= 
tungen entgegenfommt und ihre Ginorbnung in den Kreis ver⸗ 

wandten Inhaltes begänftigt. So entwidelt fih allmählich und 


198 


wachſend die Sicherheit des Urtheils, indem Schritt für Schritt 
jede neu erworbene Erfenntniß zu dem Stamme von Einficht ge= 
ſchlagen wird, durch deſſen zunchmende Verzweigung die anfangs 
ſchwierige und oft fruchtlofe Arbeit zulegt mit der Leichtigkeit eines 
fcheinbar angeborenen Bermögens erfolgt. Noch weniger möchten 
wir von einer urſprünglich fertigen Fähigkeit die Leiftungen ber 
Einbildungskraft abhängig machen, Leiftungen von fo buntfarbig 
verichiedenem Anſehen, daß zu ihrer Ausführung weit weniger die 
Folgerichtigkeit einer einzigen an ein beftändiges Wirkungsgefeg ge= 
bundenen Kraft, als vielmehr eine allgemeine Ungebundenheit der 
Kräfte förderlich ſcheinen Könnte. In der That freilich Tiegt der 
Grund diefer Fähigkeit nicht in einer ſolchen Geſetzloſigkeit, aber 
doch darin, daß nicht eine beſondere Kraft ihre Erfolge vermittelt. 
Eine glüdlihe Mannigfaltigfeit der gemachten Erfahrungen bat 
dem Borftellungslauf einen hinlänglichen Reichthum von Eindrüf- 
fen zugeführt, mit denen er fchalten kann; günftige andere Umftände, 
der Eörperlichen Bildung und dem geiftigen Naturell angehörig, 
vereinigen fich zugleich, um feinem Spiele alle jene Beweglichkeit 
zu laſſen, mit welcher er von ſelbſt die mannigfachſten Verbin- 
dungen der VBorftellungen erzeugt, Verwandte einander anklingen 
Yäßt, Entgegengefetes contraftirt und angefangene Gedanfenreihen 
fortfegt. So haben dieſe beiden Vermögen ihre Geſchichte; mir 
können ihre Ausbildung durd die machfende Erfahrung, ihre Ver— 
fümmerung durch ärmlichen Inhalt der Eindrüde, ihre Mißleitung 
durch einfeitige Führung des Lebens und krankhafte Hemmungen 
verfolgen, und zur Erflärung diefer Ereigniffe bedürfen wir nicht 
der Annahme befonderer Anlagen, die diefen Leiftungen gewidmet 
- wären. Beide jegen zur Durchführung ihrer Verrichtungen die 
Thätigfeit anderer Vermögen voraus; aber ihre eigenen Arbeiten 
laſſen fih aus dieſen auch vollftändig begreifen. 


Laßt fih nun diefelbe Betrachtung weiter fortfegen, fo daß zus 
legt nur eine einzige urfprängliche Aeußerungsweiſe der Seele zu⸗ 











199 


rüdbliebe, aus deren gemeinfamer Wurzel die übrigen fheinbaren 
Bermögen hervorwüchſen? Sind diefe vielleicht den Blättern, Ylü- 
then und Früchten ähnlich, die, ſämmtlich Erzeugniffe derjelben Trieb— 
kraft, ihre abweichenden Formen theils der Berfchiedenheit der äuße⸗ 
ren Reize verdanken, theils der Gunft der Umftände, die dem höheren 
Erzeugniß geftattet, die Vollendung des nächſtniedrigeren zu feinem 
Ausgangspunkt zu nehmen? Dieſe Frage bat die frühere Pfycho- 
logie verneint; fie bat vor Allem geglaubt, daß Gefühl und Wille 
eigenthümliche Elemente enthalten, welche weder aus der Natur des 
Borftellens fließen, noch aus dem allgemeinen Charakter des Be- 
wußtſeins, an dem beide mit diefem zugleich Theil haben; dem Ber- 
mögen de8 Vorſtellens wurden fte deshalb als zwei chenfo urſprüng⸗ 
liche Fähigkeiten zugefellt, und neuere Auffafjungen fcheinen nicht 
glüclich in der Widerlegung der Gründe, die zu Diefer Dreiheit 
der Urvermögen veranlaßten. Zwar nicht das können wir behaup- 
ten wollen, daß Vorftellen, Gefühl und Wille als drei unabhängige 
Entwicklungsreihen mit geſchiedenen Wurzeln entfpringend ſich in 
den Boden der Secle theilen, und, jede für fi fortwachiend, nur ° 
mit ihren Testen VBerzweigungen fih zu mannigfaden Wechſel⸗ 
wirkungen berühren. Zu deutlich zeigt Die Beobachtung, daß mei- 
ſtens Ereigniffe des Vorftellungslaufes die Anknüpfungspunfte ber 
Gefühle find und daß ans diefen, aus Luft und Unluft, fich 
begehrende und abftoßende Strebungen entwideln. Aber diefe offen 
" vorliegende Abhängigkeit entfcheidet doch nicht darüber, ob hier das 
porangehende Ereigniß in der That als die volle und hinreichende 
bewirkende Urſache aus eigener Kraft das nachfolgende erzeugt, 
ober ob ed nur als veranlaffende Gelegenheit dieſes nach fich zieht, 
indem c8 zum Theil mit dev fremden Kraft einer unferer Beobach⸗ 
tung entgehenden, im Stillen mithelfenden Bedingung wirkfam 
ift. Die genauere Zergliederung des gegebenen Thatbeftandes 

muß diefen Zweifel befeitigen. Wo es uns gelingt, in dem Ges 
gebenen Punkt für Punkt alle Keime und Beftanbtheile des Künf- 
tigen zu finden und diefe Keime zugleich in ihm in einer Bewe— 
gung anzutreffen, aus deren Fortfegung von felbft Die neue Geftalt 


a 


des fpäteren Erfolges ſich herausbilden muß, da werden wir Das 
Frühere als die genügende Urſache deſſelben betrachten Dürfen. 
Wo der Erfolg dagegen einen Reſt zeigt, der nicht aus den bedingen- 
den Umftänben fich erzeuigen läßt, fondern fremd zu ihnen Hinzutritt, 
da merben wir fohließen, Daß jene Umftände allein nicht den vollſtän⸗ 
bigen Grund der fpäteren Erſcheinung enthielten, fondern daß un⸗ 
beobachtet von und eine außer ihnen liegende Bedingung, die wir 
nun aufſuchen müfjen, zu ihrer Ergänzung hinzugetreten war. - 

Die Vergleihung jener geiftigen Erſcheinungen nöthigt ung, 
wenn wir nicht irren, zu dieſer Iegteren Annahme. Betrachten wir 
die Seele nur als vorftellendes Weſen, jo werben mir in feiner 
noch fo eigenthümlichen Lage, in welche fie dur die Ausübung 
dieſer Thätigfeit gertethe, einen hinlänglichen Grund entdeden, der 
fie‘ nöthigte, nun aus diefer Weife ihres Aeußerns hinauszugehen 
und Gefühle der Luft und Unluft in fich zu entwideln. Allerdings 
Tann e8 fcheinen, als verftände im Gegentheil nichts fo jehr fich 
von felbft, als daß unverfühnte Gegenfäge zwiſchen mannigfadhen 


-Borftelungen, deren Widerftreit der Seele Gewalt anthut, ihr 


Unluft erregen und Daß aus diefer ein Streben nad heilender 
Berbeflerung entfpringen mäffe. Aber nur uns feheint dies fo, 
Die wir chen mehr als vorftellende Wefen find; nicht von jelbft 
verfteht fi) die Nothwendigkeit jener Aufeinanberfolge, fon= 
bern fie verfteht fih aus dem allgemeinen Herfommen unfjerer 
inneren Erfahrung, die und längſt an ihre thatſächliche Unver- 
meiblichfeit gewöhnt hat. Diefe allein läßt ung darüber hinwegſehen, 
daß in Wahrheit bier zwiſchen jedem vorangehenden und dem folgen- 
den Gliede der Reihe eine Lücke ift, die mir nur durch Hinzunahme 
einer noch unbeobachteten Bedingung ausfüllen Binnen. Schen wir 
ab. von diefer Erfahrung, fo würde die blos vorftellende Seele 
feinen Grund in fi finden, eine innere Veränderung, wäre fie 
ſelbſt gefahrdrohend für die Fortdauer ihres Dafeins, anders als 
mit der gleichgültigen Schärfe der Beobachtung aufzufafien, mit 
ber fie jeden anderen Wiberftreit von Kräften betrachten würde; 
entftände ferner aus anderen Quellen doch neben der Wahrneb: 





201 


mung noch ein Gefühl, fo wiirde wieber die blos fühlende Seele 
jelöft in dem höchſten Schmerze weder Grund noch Befähigung in fich 
finden, zu einem Streben nad) Veränderung überzugeben; fie würde 
leiden, ohne zum Wollen aufgeregt zu werden. Da dies nun nicht fo 
it, und damit es anders fein könne, muß die Fähigkeit, Luft und 
Unluft zu fühlen, urſprünglich in der Seele liegen, unb bie 
Ereigniſſe des BVorftellungslaufes, zurückwirkend auf die Natur 
der Seele, weden fie zur Aeußerung, ohne fie erft aus fi 
zu erzeugen; welche Gefühle ferner das Gemüth beherrſchen 
mögen, fie bringen nicht ein Streben hervor, fondern fie 
werden nur zu Beweggründen für ein vorhandenes Vermögen 
des Wollen, das fie in der Seele vorfinden, ohne «8 ihr jemals 
geben zu können, wenn es ihr fehlte. Diefe Heberzeugung wilrben 
wir keineswegs fiir erfegt halten durch ein Zugeftänpnif, mit 
dem man und entgegentommen könnte: daß ja allerdings irgend 
eine thatſächliche Lage des Vorftellungsverlanfes noch nicht felber 
das Gefühl der Luft oder Unluſt oder das Streben fei, das aus 
ihr heworgehe, daß aber doch eben Gefühl und Streben nichts 
Anderes ſeien, als die Formen, unter welchen jener Thatbeftand von 
dem Bemußtfein aufgefapt werde. Wir würden vielmehr hin- 
zufigen müfjen, daß gerade biefe Formen der Auffaffung nicht 
unbedeutende Beiwerke find, deren man gelegentlich gedenken 
könnte, als fpielten fie nur neben jenem Thatbeftand des Vorſtel⸗ 
Inngslaufes, in dem allein das Wefen der Sache läge, nebenher; 
das Wefentliche Liegt hier vielmehr eben in dieſer Art des Er- 
ſcheinens. Als Gefühle und Strebungen find die Gefühle und 
Strebungen von Werth fir das geiftige Leben, deſſen Bedeutung 
nicht darin befteht, daß allerhand Verwicklungen der Borftelungen 
eintreten, die beiläufig unter jenen Formen zum Bewußtfein kom⸗ 
men, fonbern darin, daß die Natur der Seele im Stande ift, ſich 
irgend etwas als Gefühl und Streben erfheinen zu lafſen. 

So wärben nun diefe drei Urvermögen ſich als ftufenweis 
höhere Anlagen barftellen, und die Aeußerung ber einen die Thä- 
tigkeit der folgenden auslöfen. Aber dies wird doch nur dann 


202 


die Vorſtellung fein, die wir von ihnen erwecken wollen, wenn wir feft- 
halten, daß uns in dem Wefen der Secle dennoch für Eines gilt, 
was für unfere Erkenntniß in diefe Dreibeit auseinderfällt. Nicht 
fo ſtückweis tritt fie felbft in ihre Aeußerungen ein, daß einer ihrer 
Theile erwachte und die anderen fortſchlummerten; in jeber Form 
ihres Wirken ift vielmehr die ganze Seele thätig; fie läßt ſchon 
im Vorſtellen nicht nur eine Seite ihres Wefens wirken, fondern 
gibt dem ganzen einen einfeitigen Ausdruck, weil fie einer beftimm- 
ten Anregung nicht mit allen, fondern nur mit einer beftimmten 
Möglichfeit der Heußerung antworten Tann. Bergleichen wir die 
Bier mit der Fünf, fo zeigt fie ſich um eine Einheit Feiner, aber 
unaufgefordert fegt fie nicht Hinzu, daß fic auch die Hälfte der 
Acht und das Doppelte der Zwei fei; es bedarf neuer Vergleich- 
ungen, damit fie auch an diefe Berhältniffe erinnere; aber in jedem 
berfelben drückt fich doch die ganze Natur der Bier aus, nur einfeitig 
nach der Richtung allein, in welcher ihr Beranlaffung gegeben war. 
Oder kehren wir noch einmal zu einem früher gebrauchten Ver: 
gleiche zurüd. Faſſen wir einen bewegten Körper in einem einzigen 
Punkte feiner Bahn ins Auge, fo kann Niemand fagen, mit welcher 
Richtung und Geſchwindigkeit er durch ihn hindurch geht, und den⸗ 
noh wirkt in ihm aud in diefem Augenblide vollftändig die 
Bewegung, welche über die Fortfegung feiner Bahn im nächſten 
entſcheidet. Beobachten wir die Scele nur in ihrem BVorftellen, 
jo liegt in Diefem einen Element ihres Lebens filr und nicht ihre 
ganze Natur ausgefprochen, aus der im nächſten Augenblide ver 
Uebergang in Gefühl und Streben erfolgen kann; dennoch tft auch 
in dieſem Bruchſtück ihres Entwidlungsganges diefe volle Natur 
wirffam vorhanden. ine göttliche Einficht würde nicht erſt aus 
einem ausgebehnten Theile feiner Bahn die Bewegung eines Kör- 
pers erkennen, fondern fie unmittelbar in jedem untheilbaren Punkte 
anſchauen; fie würde chen fo im jeder einzelnen Aeußerung ber 
Seele ihre ganze Natur gegenwärtig fehen und die Nothiwendig- 
feit in ihr wahrnehmen, welche unter anderen Bedingungen zu 
anderen Formen der Wirkſamkeit führen muß. Unferer menſch⸗ 





203 


lichen Erfenntniß bleibt nichts übrig, als dieſe Fälle nah und 
nad zu erihöpfen und eingebent zu fein, daß, wo wir eine Mehr: 


heit der Anlagen fehen, dennoch in der Natur der Seele nur die 


Einheit eines Wefend zu Grunde liegt. Indeſſen haben wir 
doch nicht Urfache, dieſe Annahme verſchiedener Vermögen lediglich 
als einen Behelf für die Schwäche der menfchlihen Erkenntniß 
anzufehen; fie entfpricht vielmehr in gewiſſem Sinne dem Weſen 
der Sache. Auch eine göttliche Einſicht fände vielleicht in dem 
Begriffe des Vorſtellens allein keine Nothwendigkeit, um deren 
willen das Gefühl aus ihm folgen müßte; fie würde nur in dem 
ganzen vernünftigen Sinne des Seelenlebens klarer als wir den 
Grund jehen, der beiven Erfcheinungen zufammenzufein und auf 
einander zu folgen gebictet, gleich der belebenden Idee eines Ge- 
dichtes, die feft und mit zwingender Gewalt mannigfache Beftand- 
theile an einander feffelt, deren feiner aus eigener Macht den 
anderen aus fich entmidelt hätte. 


Bielleicht zu lange ſchon haben wir diefen Ucherlegungen nad: 
gehangen, aber fie treffen fo jehr Die wefentlichften Vorftelungen, 
bie unferen Gedanken über das Leben der Seele zu Grunde 
liegen, daß wir noch einen Augenblid bei der allgemeinen Anſicht 
ber inneren Ereigniffe verweilen müffen, die als nächte Folge aus 
ihnen hervorgeht. Wir haben erwähnt, daß jede Auffaffung zulegt 
mit ber Anerkennung einer Bielbeit auf einander nicht zurüdführ- 
barer Aeußerungsweiſen der Seele ſchließt. Eine Lehre, welcher 
die Piychologie große Fortſchritte verdankt, beſchränkt jedoch dieſe 
Anerkennung auf jene Rückwirkungen, gjucldhe die Seele in un- 
mittelbarer Wechſelwirkung mit äußeren Reizen entiwidelt, auf die 
einfachen Empfindungen. Diefe urjprünglichften Aeußerungen, 
mit denen das. Reben der Seele anhebt, betrachtet auch fie ale 
nit zurüdführbear anf einander, und fie meint nicht, jagen zu 
Tünnen, warum das Wefen, dem Licht und Farben ericheinen, 


u / 


204 


andere Eindrüde als Töne auffaflen mäüfje. Alle anderen höheren 
Tätigkeiten dagegen, die in der Verarbeitung und der gegenfeitigen 
Wechſelwirkung diefer inneren Zuftände entftchen, follen zugleich 
auch ‚völlig and ihnen entftehen; nachdem die Seelc einmal jenes 
urfprünglide Material, die Welt der Empfindungen, aus ihrer 
Ratur erzeugt, zieht ſich ihre wirkende Thätigfeit zurück; fie über: 
läßt dieſe Erzeugnifle ihres Thuns fich felbft und den allgemeinen 
Geſetzen ihrer Wechfelwirtung, ohne wieder mit ihrer vollen Natur 
ſelbſt handelnd einzugreifen und den berbeigeführten Verhältnifſen 
neue Wendungen zu geben, bie nicht von felbft aus ihnen nad 
der Folgerichtigkeit ihres mechaniſchen Verlaufes hervorgingen. 
So tft die Scele nur noch der Schauplag fr das, was zwifchen 
ben Empfindungen und Vorſtellungen geſchieht, allerdings ein 
folder, der alles auf ihm Geſchehende mit Bewußtſein begleitet, 
aber ohne viel anderen Einfluß darauf auszuüben, als den des Um- 
fafiend und Zufammenhaltens, womit jeder Rahmen bem um⸗ 
hloffenen Gemälde dient. Dies ift der Punkt, dem unfere Be— 
tradgtungsweife entgegen treten möchte. Nicht nur einmal, nicht 
nur in der Entwidlung der einfachen Empfindungen ift Die Seele 
in dieſer ſchöpferiſchen Weiſe thätig; mögen dieſe erften Exrzeugniffe 
immerhin einem gefeglihen Mechanismus anheimfallen, und der 
Lauf der Borftellungen feine Verknüpfungen und Trennungen, 
fein Bergefien und Wiedererinnern von felbft und ohne einen 
neuen Eingriff der Seele zu Stande bringen, fo ift doch damit 
das geiftige Leben nicht abgefchloffen, und die höheren Thätigfeiten, 
auf denen fein Werth beruht, gehen aus dieſem mechaniſchen 
Treiben nicht von ſelbſt hervor. Der ganze nothmendige Ab- 
lauf dieſer inneren Ereigniffe erzeugt nur Veranlaffungen, bie 
dadurch allein, daß fie auf Das ſtets gegenwärtige ganze Weſen 
der Seele zurückwirken, aus Diefem neue Formen der Wirkung 
hervorlocken, die fie für fih allein nicht erzeugt hätten. Gegen 
jeden einzelnen ihrer inneren Zuftände befindet ſich die Seele ın 
derfelben Tage, in welcher fie fich gegenüber den äußeren Empfin— 
dungsreizen befand; auf jeden kann fie mit einer Geftalt der 























205 


Thätigfeit antworten, die wir nicht aus jenen Zuftänden ableiten 
fönnen, weil fie in der That nicht im ihmen allein liegt, die wir 
vielmehr an diefe Zuftände nur anfnüpfen können, nachdem une 
die Erfahrung gelehrt Hat, daß eben biefe neue Form des Wir- 
tens e8 ift, bie von ihnen als Reizen einer höheren Ordnung in dem 
Weſen der Seele gewedt wird. 

Bir wollen nicht vermeiden, denſelben Gedanken noch ein- 
mal fo zu wiederholen, wie ihn eine naheliegende und doch gefähr- 
liche Vergleichung des geiftigen Lebens mit der Entwidlung eines 
organischen Gefchöpfes anregt. Die Seele bildet ſich nicht fo aus, 
wie bie Pflanze. Die Geftalt der Iegteren gebt aus einer An- 
zahl wefentlich geſchiedener felbftändiger Theile hervor, die äußer- 
lich in beftimmter Form verbunden, nad den allgemeinen Geſetzen 
bes Raturlaufes die fortjchreitende Geftaltung heroorbringen; 
und auch das Leben der vollendeten Pflanze ift eine Summe von 
Wirkungen, die zwifchen verſchiedenen, felbftänpig bleibenden 
Theilen gejchehen und, wie das Leben einer Geſellſchaft, beftimmte 
Formen des Verlaufs durch die Stellung und die Thätigfeit ihrer 
zuſammenwirkenden Glieder annehmen. Solchen Theilen fünnen 
wir die einzelnen Elemente des Seelenlebend nur mit vorfichtiger 
Beſchränkung vergleihen; denn dieſe Elemente find nicht jelbflän- 
dige Atome, jondern ftetd doch nur Zuftände des einen Weſens, 
aus dem fie nicht heraustreten können. Für fie gibt es Daher 
nicht einen gleichgüiltigen Schauplag, auf deſſen theilnahmlojem 
Grund und Boden fie ungeftört fi ihren Wechſelwirkungen über: 
laſſen Könnten, einzig den Geboten eines allgemeinen Mecdanis- 
mus unterworfen. Für ihr fpätered Verhalten ift vielmehr auch 
der Boden reizbar, auf dem fie fich bewegen; nicht nur einmal 
bat die Natur der Seele fie hervorgebracht und entläßt fie dann, 
jo wie man ſich oorftellt, daß Die Erde die Thiere erzeuge, um 
ihren „freien ‚Bewegungen Fünftig nur als gebuldiger Schauplag 
zu dienen; fie fühlt vielmehr jeden Schritt, den der Verlauf ber 
Borftellungen in ihr thut, und durch ihn gereizt, tritt ſie hier 
und da wieber ſelbſthandelnd hervor und führt in das fcheinbar 


206 


fich felbft überlafiene Getriebe derfelben neue Elemente ein, deren 
Grund wir vergeblih in diefem allein ſuchen würden. Dies ift 
feine Gefetzlofigfeit, fondern jene ©cjeglichkeit von mehr verwickelter 
Form, die wir früher fhon als einen allgemeinen möglichen Fall 
bezeichneten, und von welcher nur die Erfahrung uns verfidhern 
fonnte, daß fie in der körperlichen Welt nicht in diefer Weife 
ftattfinde. In der Entwidlung des Organismus ift daher der 
Erfolg, den die Wechſelwirkung zweier Elemente haben wird, 
völlig beftimmt durch Die allgemeinen Gefege des Naturlaufes 
und die gegebenen Umftänbe des Augenblids; in dem geiftigen 
Leben dagegen ift zu jeden zwei Zuftänden und zu den Gefegen, 
die über ihre Werhfelwirkung gelten, die Natur der Seele ein 
beftändig vorhandenes viertes Glement, das den kommenden Er- 
folg jo mitbedingt und umgeftaltet, wie etwa die Berüdfihtigung 
eines wiberftehenden Mittel8 die Berechnung einer Bewegung 
umändern kann, die für einen lecren Raum gemacht worden war. 
Es wird allerdings Reiben von Ereigniffen in unferem Innern 
geben können, in deren Verlauf biefed vierte Element nicht um— 
geftaltend eingreift, und diefe werden in einem fortlaufenden 
Mechanismus fih völlig auseinander zu entwideln fcheinen; aber 
nur eine genaue innere Beobadhtung kann uns über die Aus- 
behnungsgrenzen dieſes Verhaltens aufklären, deſſen Vorkommen 
allgemein anzunchmen wir nicht berechtigt find. 


Wir verlaffen diefe Betrachtungen, aus denen einige Fol- 
gerungen zu ziehen fpäteren Gclegenheiten aufgehoben bleibt, und 
wenden uns einem längft zu erwartenden Zweifel zu, der an eine 
ftillichweigend von uns benutzte Vorausjegung anknüpfen wird. 
Offenbar ift fiir uns die Seele unter den Begriff eines teizbaren 
Weſens gefallen. Nicht von felbft und ohne fremde Anregung 
ftrebt ihre Natur zur Thätigkeit oder vermag fie, fih Ziel und 
Richtung ihres Thuns vorzuzeichnen, fondern Eindrüde, die von 











207 


außen an fie gelangen, rufen fie zu Rückwirkungen auf, aus deren 
weiteren Wechfelmirfungen die Mannigfaltigfeit des inneren Lebens 
entipringt. Der eigenen Natur der Seele gehört dabei die eigen- 
thümliche Form der Aeußerung an, fie bleibt die Quelle bes 
Empfindens, der Gefühle, des Strebend; in den Reizen Tiegen 
nur die Beweggründe, welche die beftimmte Reihenfolge ihrer 
Aeußerungen bedingen und ihren an ſich unentfchiedenen Fähig— 
feiten ihre Richtung geben. Aber wir können diefe Vorftellungen 
nicht hegen, ohne, wie es fcheint, dem Wefen der Scele eine 
Beränderlichfeit zugufchreiben, die uns in Widerfprucd mit jener 
ftrengen Einheit zu bringen droht, in welde für Veränderung 
fein Plag zu fein ſcheint. Wir können diefe Folgerung nicht 
ablehnen; gewiß wird nur dann ein äußerer Reiz ein] zwingender 
Beweggrund für die Entfaltung einer Rückwirkung fein, wenn er 
im Stande gewefen ift, einen wirklichen Eindrud auf die Seele 
hervorzubringen, von dem ihr Wefen etwas leidet. Nicht Die 
bloße Drohung der Störung kann die Seele zur abwehrenden 
Thätigfeit aufregen; denn jede Drohung, jo lange fie von dem 
Bedrohten nicht empfunden wird, tft nicht für ihn vorhanden; 
fobald fie ihm merklich wird, ift fie bereit8 zu einer Veränderung 
feines Wefend geworden. Widerſpricht e8 den Gefegen unſeres 
Denkens, aus der ſich gleichbleibenden Einheit eines Weſens von 
ſelbſt Antriebe zu vielfältigen Handlungen hervorgehen zu laſſen, 
fo ift e8 nöthig zuzugeben, daß die Seele, indem fie handelt, eine 
andere ift, als zuvor, da fie rubte; denn nur weil fie verändert 
ift, Kann fie der binlänglihe Grund für ein verändertes Ber: 
halten fein. | 

Es wird nicht möglich fein, Ddiefer Forderung zu entgehen 
und von der Seele die Beränberlichkeit durch denſelben Runft- 
griff abzuhalten, durch welchen Die Naturwiſſenſchaft die materiellen 
Atome als völlig ſtarre und unwandelbare Träger der verjchieden- 
artigften Erſcheinungen auffaffen Tann. So wie für unfer Auge 
entfernte Gegenftände, im Raum zufammenrüdend, zu einem 
Eindrude verfchmelzen, näher fommend fich wieder in die Vielheit 





208 


einzelner Theile auflöfen, fo mag überhaupt der Naturlauf fir 
uns, die Beobadter, cine Menge ſcheinbarer Veränderungen ber- 
beiführen, in denen doch in Wirklichkeit die äußeren Gegenftände 
geblieben find, was fie waren. Indem dic Atome, innerlid 
vollfommen unmandelbar, in wechlelnde und mannigfaltige äußere 
Beziehungen zu einander gerathen, ihre Lage, Entfernung, Be: 
wegung beftändig ändern, bringen fie auf uns Eindrücke ebenfo 
wechfelnder Art hervor, und in der That flarr und undburd- 
dringlich, feheinen fie für unfere zufammenfaflende Beobachtung 
dald zu verſchmelzen, bald ſich zu trennen, bald in ihren Eigen- 
haften völlig andere zu werden. Allein wenn wir auf dieſe 
Weife die Veränderungen in der äußern Welt auf einen nur in 
und erzeugten Schein zurüdführen, während die Wirflichfeit nur 
unwefentlihe Beziehungen der unmandelbaren Elemente wechſele, 
fo Können wir doch nicht wieder auch die Entſtehung dieſes Scheines 
in und nur für einen Schein erflären, der einem zweiten Beobachter 
wohl eine Aenderung unferes Weſens einzuſchließen ſcheine, ohne 
daß fie wirflih in ung ftattfinde. Das beobachtende Weſen er- 
fährt vielmehr wirflic eine Veränderung, nicht feiner äußeren 
Lage, fondern feines inneren Zuftandes, wenn es vorftellend den 
Wechjel des Aeußeren auffaßt und von einer Vorftellung zur 
audern übergeht. Könnte es daher gelingen, die Beränderlichfeit 
aus der ganzen Äußeren Welt zu entfernen, fo würde fle um fo 
unvermeiblider an dem Wefen der Scele haften. Geben wir 
deshalb dieſe Veränderlichleit zu und machen wir nicht den hoff- 
nungslofen Berfuh, einen Kunftgriff zu entdeden, durch welchen 
die Eigenſchaft einer unftörbaren Unveränderlichfeit verträglich 
würde mit der Beflimmung cines Wefens, das zu einer inneren 
Entwidlung berufen if. Wir glauben nicht durch dieſes Zuge⸗ 
ſtaͤndniß etwas einzubüßen, was wir im Intereſſe der Unterfuchung 
beibehalten müßten. Suchen wir zu einem reife von Er— 
fheinungen ein Weſen, das ihr Träger fei, fo müffen wir es 
wohl feft und felbftändig genug denfen, damit es den mannigfal- 
tigen Ereigniffen an fih einen haltbaren Stägpunft biete, aber 














209 


ihm jene unerfhätterliche Starrheit völliger Unbeweglichkeit beizu= 
legen, haben wir feinen Grund; wir würden dadurch feinen Be- 
griff vielmehr unbrauchbar machen. Indem wir einfeitig für feine 
deftigfeit forgten, hätten wir c8 untauglich gemacht, Die viel 
weientlichere Beſtimmung zu erfüllen, ein Mittelpunft der aus: 
und eingehenden Wirkungen zu fein, aus denen der zu erflärende 
Kreis von Ereigniffen befteht. Nur Weniges werben wir hinzu: 
fügen müffen, um die Beforgniffe zu zeritreuen, die ſich an dieſe 
Borftellung einer veränderlihen Seele knüpfen möchten. 

Sie ſchließt vor Allem nicht Die Gefahr eines planloſen An- 
derswerdens, einer beftändigen Aufeinanderfolge immer neuer Zu- 
ftände ein, in deren Flucht alle Einheit des urfprünglichen Weſens 
zu Örunde ginge. Kein Ding in der Welt ift ein gleichgültiger 
kraftlofer Stoff, To daß nur äußere Eindrücke ihın feine Beichaffen- 
beit gäben und er felbft nur als das Mittel diente, durch die 
Härte feiner Realität diefen wechfelnden Inhalt in der Wirklichkeit 
zu befeftigen, dem Hafen gleich, deſſen Haltbarkeit theilnahmlos 
die verfchiedenften Gewänder tragen Tann. Kein Ding läßt ſich 
durch die Reihenfolge äußerer Einwirkungen fo aus einer Geftalt 
in die andere treiben, daß am Ende einer Anzahl von Mietamor- 
phofen in dem völlig neu gewordenen Feine Erinnerung mehr an 
feine frühere Natur zu finden wäre. Das, was ein Weſen zu: 
nähft nur von außen zu leiden ſcheint, ift in Wirklichkeit doch 
allemal eine Aeußerung feiner eigenen thätigen Natur, nur an- 
geregt, aber nicht gemacht durch den fremden Anſtoß. In jedem 
Augenblide feines Veränderungslaufes ift Daher der gegenwärtige 
Zuftand eines Weſens zugleich eine mitwirffame und vieleicht die 
mächtigſte Bedingung, welche den Erfolg des nächſtkommenden Ein- 
druckes mitbeftimmt. Nichts hindert und num, Die urſprüngliche 
Natur eines Weſens mächtig genug zu denfen, damit duch alle 
Ölieder einer ausgedehnten VBeränderungsreihe ihr Einfluß als der 
kräftigfte fortwirtt, und fie alle dadurch in einen folgerihtigen Zu— 
ſammenhang treten, dem innere Einheit fo wenig fehlt, als ber 
Melodie, die fih in einer Vielheit fi folgender Bartationen ent- 

Loge l. 3. Aufl. 14 


210 


widelt. Ich weiß nicht, was und antreiben könnte, von einer Sub⸗ 
ftanz, die wechſelnden Erſcheinungen zu Grunde liegt, mehr ale 
diefe Art der Einheit mit fich felbft zu fordern; die Seele aber 
leiftet dennoch mehr. Sie iſt nicht allein der Träger ihrer Yu- 
ftände, fondern fie weiß ſich auch als folden; und indem fic 
im Gedächtniß das früher Exlebte neben den Eindrüden ber 
Gegenwart aufbewahrt, bietet fie nicht allein für einen Beobachter 
außer ihr das Schaufpiel einer folgerichtigen Veränderungsreihe, 
fondern faßt in fich felbft die verfchiedenen Entwicklungen ihres 
veränderlichen Weſens in eine Einheit von höherer Bedeutung zu: 
fammen, als fie je der unergiebigen Starrheit einer unftörbaren 
Subftanz zukommen würde. 

Wir haben hiermit nur die allgemeine Form der Vorſtellung 
angedeutet, in welcher wir dieſe Frage faſſen würden. Eine genaue 
Ueberſicht der wirklichen Erſcheinungen des Seelenlebens würde uns 
zeigen, daß es noch lange nicht jenen großen Spielraum der Ber- 
änderlichkeit befigt, den wir durch dieſe Vorſtellungsweiſe verhtfer- 
tigen könnten. In der Natur, wie wir früher ſahen, findet feine 
bleibende Veränderung der Atome ftatt, feine folde wenigſtens, 
die fih dur neue Formen der Wirfung nad außen verriethe; 
mit dem Aufhören der ändernden Bedingungen fehren die alten 
Eigenſchaften wieder. Dies ift gewiß nicht überall fo im Seelen- 
leben, deſſen Entwidlungsfähigfert vielmehr auf der Beroollfomm- 
nung der Rückwirkungen durch die gewöhnende Uebung beruht. 
Aber ein großes Gebiet finden wir doch fogleidh, in welchem die 
Stetigfeit des Verhaltens ſich der Weife der phyſiſchen Wirkungen 
nähert. Alle Sinneseindrüde, fo oft fie auch bereit8 wahrgenom- 
men fein mögen, erweden Doch immer wieder diefelben Empfin- 
dungen; immer bleibt das Roth roth, immer find Druck und Hitze 
ſchmerzlich und diefelben förperlihen Bedürfniſſe ermeden ſtets wie- 
der Diefelben Strebungen. Dies Alles jcheint fih fo von felbft 
zu verftehen, daß es befremden mag, c8 erwähnt zu fehen. Im 
der That aber ift doch jede einzelne Empfindung eine Veränderung 

in dem Wefen ber Seele; daß ihre Natur nun die Fähigkeit be— 











211 


fist, alle die Erſchütterungen, welche zahllofe Eindrüde ihr beftän- 
dig zuführen, fo auszugleichen, daß fie jedem fpäteren mit derſelben 
Unbefangenheit entgegenkommen kann, diefe Thatfache verftehen wir 
zwar leicht in ihrer Zweckmäßigkeit für die Aufgaben der geiftigen 
Bildung, aber ihr mechanifches Zuftandelommen, wenn wir jo fagen 
dürfen, begreift fich nicht von felbftl. Wir können diefelbe Stetig- 
feit in den Gefegen bemerken, nad denen Gedächtniß und Er- 
innerung die Vorftellungen fefthalten, verknüpfen und wieberbringen; 
unverändert bleiben ferner die Berfahrungsweifen des Berftandes 
in der Verknüpfung und Beurtbeilung der gegebenen Eindräde ; 
überall fehen wir, daß die unzähligen Einflüffe, welche die Seele 
nicht ohne innere Veränderung aufnehmen Tann, doch die Beftän- 
digkeit und Tolgerichtigfeit der Kräfte nicht ftören, mit denen jie 
ſich bearbeitend auf diefe Eindrücke zurückwendet; nur eine größere 
Gewandtheit fcheint allen diefen Kräften mit Der wachfenden Uebung 
zu Theil zu werben, durch melde fie mit den Berwidlungen der 
Gegenftände ihres Angriffs vertraut geworden find. So wenig 
fehen wir alfo die Veränderung der Seele fafjungslos ins Unbe— 
ſtimmte gehen, fo ſehr drängt fich vielmehr Die beftändige formgebende 
Nachwirkung ihrer urfprünglichen Natur hewor, daß wir von 
ihrer Veränderung überhaupt faft nur um des logiſchen Interefjes 
willen ſprechen konnten, das uns ihre Entwidlung nit an den ihr 
widerfprechenden Begriff innerlicher Unbewegtheit knüpfen ließ. In 
Wahrheit aber, ihrer Bedeutung und ihrem Werthe nady ift Die 
Solgerichtigfeit der inneren Entwidlung fo groß, daß fie ſtets uns 
mehr das Bild beftändiger Gleichheit mit fi jelbft, als das 
einer fortfhreitenden Umwandlung gewährt. 


Worin aber befteht nun endlich das, was in diefer Entwid- 
lung ſich gleich bleibt, worin jenes urfprüngliche Weſen und jenes 
Was der Seele, deſſen nähere Darftellung der Anfang dieſes Ab- 


ſchnittes zu verfprechen ſchien? Wir würden antworten: wie jedes 
14* 


212 


Weſen fih nur nad den Folgen erfennen läßt, mit denen es in 
unfere Beobachtung fällt, jo können wir aud von der Seele nur 
fagen, daß fie das fe, mas die Fähigfett zu diefer Entwidlung ın 
fi) trage. Diefe Antwort wird Niemand befriedigen. Alle Bor- 
ftellungen, alle Gedanken, Gefühle und Strebungen, würde man 
und einmwenden, find nur Handlungen der Secle, durch irgend welche 
Bedingungen ihr abgenöthigt; wir aber wollen wiſſen, nicht wie Die 
Seele handle, fondern was fic an ſich fein möge, um fo handeln zu 
können, und welches ihre urfprüngliche Natur fein müffe, um biefe Fä- 
higfeiten in fich begen zu können. Auf diefe verfhärfte Frage könn— 
ten wir am einfachften zugefteben, daß dieſes Was der Secle ung 
ftet8 unbelannt bleiben werde; allein wir würden durch Diefes Zu— 
geftändnig den Schein erweden, als ginge durch diefe Unfenntnif 
und Bieles verloren, worauf unjere Unterfuhung Werth Iegen 
müßte, und als wäre uns in Bezug auf die Seele eine Schivierig- 
feit unlösbar, die ın Betreff aller anderen Dinge fi) mit Leichtig- 
feit hinwegräumen ließe. 

Wie wenig zunächſt das Letztere der Fall iſt, kann eine flüch— 
tige Ueberlegung der Kenntniſſe lehren, die wir über das Weſen 
natürlicher Dinge zu haben glauben. Wenn wir klagen, daß wir 
die Natur der Seele nie ſo zu Geſicht bekommen, wie ſie an ſich 
und abgeſehen von jeder einzelnen Bedingung iſt, welche ihr eine 
beſtimmte Aeußerung entlockt, jo müſſen wir dieſelbe Klage viel- 
mehr auf unſere Vorſtellungen aller Dinge ausdehnen. Wir denken 
zu wiſſen, was das Waſſer iſt und was das Queckſilber, und doch 
können wir keines von beiden durch beſtändige Eigenſchaften kenn⸗ 
zeichnen, die ihm abgeſehen von allen äußeren Bedingungen zu— 
kommen. Beide ſind bei gewöhnlicher Temperatur flüſſig, beide bei 
erhöhter gasförmig, beide bei erniedrigter feſt; aber was ſind ſie 
abgeſehen von aller Temperatur? Wir wiſſen es nicht, wir fühlen 
ſelbſt das Bedürfniß nicht, es zu wiſſen, da wir einſehen, daß nie 
in der Welt einer von beiden Stoffen ſich dem Einfluſſe 
dieſer Bedingungen ganz entziehen kann; wir begnügen uns 
daher, das Waſſer als den Körper anzuſehen, der bei dieſer 











213 


beftimmten Temperatur feft wird, bei jener andern kocht, und 
der außerdem feine Gleichheit mit fich felbft durch die beftändi- 
gen Rückwirkungen bemweift, die er unter gleichen Bedingungen 
immer gleich ausübt. Und baffelbe gilt von Allem, was wir finn- 
lich beobachten. Alles nehmen wir anfänglich in einem feiner ein- 
zelnen möglichen Zuftände wahr, den wir fo lange für feine volle 
beftändige Natur halten, bis die Erfahrung uns lehrt, daß andere 
Bedingungen andere Zuftände herbeiführen. Dann verknüpfen wir 
die verſchiedenen Erfcheinungen unter einander als die wanbdel- 
baren mehreren Formen eines und beffelben Wefens, welches wir 
fortfahren mit demfelben Namen zu nennen, obgleid wir es nicht 
mehr durch eine einzige beftimmte Eigenſchaft bezeichnen, ſondern 
nur noch al8 das Unbelannte auffaflen innen, das fähig ift, in 
diefem Kreife von Formen ſich bin und her zu verwandeln, ohne 
jemals Doch aus ihm herauszutreten und in Anderes überzugehen. 
Nichts fo Feſtes und Unmwandelbares gibt e8, das dieſem Schid- 
ſal fich entziehen könnte; alle unfere Definitionen wirklicher Gegen 
ftände find hypothetiſche, und fie bezeichnen unvermeidlich das Ber: 
langte al8 dasjenige, was unter der einen Bedingung fo, unter 
einer andern fich anders darftellen wird. Geben wir deshalb zu, 
daß das Wefen der Seele unbekannt fei, fo thun wir es nur in 
dieſem Sinne, welcher zugleich die Unmöglichkeit einfchließt, zu jagen, 
wie das Weſen irgend eines Dinges fein werde, wenn man jebe 
Bedingung entfernt denkt, welche ihm Gelegenheit zu irgend einer 
Aeußerung gäbe. Sp unfagbar e8 ift, wie die Dinge im Finftern 
ausfehen, fo widerfprechend die Forderung zu wiffen, mie Die Seele 
ift, bevor fie in irgend eine der Tagen eintritt, innerhalb deren 
allein ihr Xeben ſich entfaltet. 


Doc nichts fcheint hierdurch gewonnen, als daß wir für die 
Piychologie den Vorwurf der Unwiſſenheit mildern, indem wir ihn 
über die ganze menſchliche Exrfenntniß ausdehnen. Aber wenn es 
wahr ift, daß das Wefen der Dinge in diefem Sinne und unbe= 


214 


Fannt ift, ift e8 dann gleich wahr, daß wir durch dieſe Unkenntniß 
viel verlieren, und müffen wir in dieſem Wefen, Das und entgeht, 
eben das Wefentliche fuchen, welches wir nit vermiffen möchten ? 
Ich glaube nicht, daß wir Diefe Frage bejaben dürfen, und in ver 
That denken wir über fie im Leben anders, als wir in der Wiſſen⸗ 
haft zumeilen denten zu ımüffen glauben. In der Summe ber 
Kenntniffe, in der Stimmung des Gemüthes, den Gefinnungen bed 
Charakters und in der eigenthümlichen Wechſelwirkung diefer Ele⸗ 
mente unter einander glauben wir die volle Perfünlichkeit eines An- 
beren gegenwärtig; hat unfere Menſchenkenntniß dieſen Beftand 
durchdrungen, jo meinen wir nicht, daß unfere Einficht in das in- 
nerſte Wefen des Menfchen noch gewinnen würde Durch Den Nadı- 
weis defjen, was er urfprünglich war, che ex im Lauf der Bildung 
dieſe Fülle feines inneren Dafeind gewann, oder was er jetzt noch 
“im Grunde ift und als was er ſich jet noch zeigen wine, wenn 
man alle diefe Ergebniffe des früheren Lebens zugleich mit allen 
Bedingungen, die nun noch auf ihn wirken könnten, von ihm bin- 
wegnähme. Wohl geben wir zu, daß dieſes geiftige Leben fich nicht 
hätte entrwideln können, ohne daß cine uranfängliche noch äuße⸗ 
rungslofe Scele vorangegangen wäre, um fih dem Einfluffe der er- 
wedenden Lebensbedingungen darzubieten; aber fie, die uns fonft 
als das eigentlichſte und tieffte Weſen der Sache erſcheint, kommt 
uns bier nur noch wie cine unentbehrliche, aber an ſich felbft würbe- 
loſe Berbedingung, als ein vorauszuſetzendes Mittel zu dieſer Ent: 
wicklung vor, in welcher felbft erft aller Werth und alle weſentliche 
Bedeutung liegt. Darin ſcheint uns jest das wahre Wefen zu lie- 
gen, wozu das fi Entwidelnde geworben if, und fo wenig wir 
glauben, an der entfalteten und blühenden Pflanze ein Geringeres 
zu befigen, als an dem einförmigen und geftaltlofen Keime, dem fie 
entiprang, jo wenig find wir bier geneigt, die Vorftellungen, die wir 
mitdenken, die Gefühle und Strebungen, die wir mit aller Wärme 
unferer Theilnahme begleiten und mit empfinden, als einen färg- 
lichen Exfag für die Anſchauung des unentfalteten urfprünglichen 
Was der Seele zu bedauern. 





215 


Faͤllt e8 und num dennoch fo ſchwer, da8 Suden nach diefem 
Unauffindbaken ganz aufzugeben, fo rührt Dies von einem andern 
Berlangen ber, das fih in der Frage nad dem Wefen eines Din- 
ge8 verbirgt. Nicht blos der Keim foll es fein, aus dem die fpätere 
Erſcheinung ſich entfaltet, fo dag wir in ihrem Inhalt auch den fet- 
nigen hätten; fondern das Weſen muß zugleich das fein, was jenen 
Inhalt in der Wirklichkeit befeftigt, ihm, dein an ſich nur denkbaren, 
jene harte und ſtarke Realität gibt, durch Die er als Wirkenves und . 
Leivendes in der Welt der Dinge Plag nimmt. Das Wefen tft 
zugleich das Band, das mit feiner unveränderliden Natur die ein- 
zelnen Erſcheinungen an ſich verjammelt, es möglich macht, daß 
unfere Vorftellungen und alle unfere inneren Zuftände ſich erhal: 
ten, dauern und zu fruchtbarer Wechſelwirkung zufammenftoßen kön⸗ 
nen. So zeigt fih, daß wir in dem Wefen der Seele nicht allein 
ben Grund für die Form und den Inhalt der inneren Entwid- 
lung ſuchen, fondern noch mehr vielleicht die Urfache, die beiden 
. Wirklichkeit gibt. Das iſt es, was wir wiffen wollen, wie es zu= 
gehe, daß Dies innere Leben fein fann, durch welchen Zauber es 
dem fchaffenden Weltgeift gelinge, in der Mitte dieſer wandelbaren 
Ereigniffe etwas Unauflösliches Teftes zu geftalten, das fie alle in 
fich heat, an fich trägt und ihmen den Halt des Dafeins gibt, dem 
Gerippe ähnlich, an deſſen Starrheit die blühende Fülle der Ge: 
ftalt befeftigt ift. Diefe Frage natürlich ift jevem Nachdenken un⸗ 
löslich; nie werben wir entdeden, wie Sein und Dafein gemacht 
wird, oder was das ift, woraus die Dinge beftehen. Aber dieſe 
Frage wäre auch nur dann wichtig für und, wenn unfere Erfennt- 
niß die Aufgabe hätte, die Welt zu fehaffen. Ihre Beftimmung 
ift es jedoch nur, das Vorhandene aufzufaffen, umd gern geftebt 
fie fih, daß alles Sein ein Wunder ift, das als Thatſache von 
ihr anerkannt, aber nie in der Weife ſeines Hergangs enträtbfelt 
werben kann. Im diefem Sinne ift das Defein aller Dinge fr 
uns unergründlidh; aber Diefer Reft, ven unfer Wiffen läßt, befteht 
nicht in dem Kerne der Dinge, fondern eher in einer Schale, nicht 
m dem Inhalte ihres Wefens, fondern tn der Art der Setzung, 


216 


durch welche c& beftcht. Was die Dinge find, ift und deshalb 
nicht unverſtändlich; denn Diefen Inhalt entfalten fie in ihrem Er- 
ſcheinen; wie fie überhaupt fein und erfcheinen Können, ift das 
allen gemeinſchaftliche Raͤthſel. 


Drittes Kapitel. 


Von dem Verlaufe der Vorſtellungen. 





Das Beharren der Vorſtellungen und ihr Vergeſſenwerden. — Ihr gegenſeitiger Drud 
und die Enge des Bewußtſeins. — Die verſchiedene Stärke der Empfindungen. — 
Klarheitsgrade der Erinnerungsbilder. — Der Gegenſatz der Vorſtellungen. — Der 
innere Sinn. — Leitung des Vorftellungslaufes durch bie Geſetze der Aſſociation und 
Reproduction. 


So wie im leiblichen Leben cine Zeit unbeobachteter Wirk— 
ſamkeit vorangeht, in der überraſchende Neubildungen und Um— 
geſtaltungen ſich drängten, während nach der Geburt kaum mehr 
als ein gleichförmiges ſtilles Fortwachſen längſt feftgeftellter Formen 
übrig bleibt, ſo finden wir auch in unſerer Seele die bleibenden 
Gewohnheiten ihres Wirkens ſchon als gegebene Thatſache vor, 
ſobald wir zuerft mit abſichtlicher Aufmerkſamkeit ihre Entwicklung 
zum Gegenſtand unſeres Nachdenkens machen. Was noch vor 
unſeren Augen geſchieht, das ſcheint uns Nichts zu ſein, als eine 
beftändige Uebung von Kräften, die längſt gebe find, ein 
immer zunehmender Anfag von Erkenntniffen, in Formen gegoffen, 
die aus früherer, unbewußt gebliebener Arbeit des Geiftes nun 
ſchon fertig ihnen entgegenfommen, cine Ausbreitung endlich 
unferer Gefühle und Begehrungen über den wachſenden Kreis 
von Beziebungspunften, den die Erfahrung, von Tag zu Tag 
fih mehrend, uns für fie darbietet. In allen diefen Vorgängen 
liegen ohne Zweifel noch ſehr entſcheidende Gründe, welche die 
eigenthümliche Geftalt und den Werth der höheren menfchlichen 
Ausbildung bedingen; aber da, mo es fi noch nicht um die 
Entjtehung der Humanität handelt, fondern um Natur und Ent- 
widlung der allgemeinen Seelenfähigleiten, aus deren befonberer 




















217 


Anwendung dieſe hervorgeht, da ſcheint die innere Beobachtung 
und wenig Aufihluß zu verjprechen. Das Meifte von dem, was 
wir wiffen möchten, Tiegt gleich den erften großen Bilbungsepochen 
unfere® Erdkörpers vor aller Erfahrung, und nur dur Ber: 
muthungen können wir von den verhältnigmäßig doch immer ein= 
förmigen und beſchränkten Borgängen, die unfer Inneres noch jegt 
bewegen, auf die Ereigniffe zurückſchließen, durch welche Die Urzeit 
unferer Eeele für die fernere Entwidlungden feften Boden bereitet hat. 

Und noch weit mehr, als die Geologie, werben wir von 
diefen Schwierigkeiten gedrückt; denn Dunkel find ſelbſt die Geſetze, 
nad) denen das noch Geſchehende fi in und ereignet, und mit 
deren Hillfe allein wir den früheren Thatbeftand errathen müßten. 
Unzählige Eindrüde haben ſchon früher von uns Befig genommen 
und ihre nachwirkende Kraft Abt in jedem Augenblide auf das 
Schickſal jedes fpäteren einen mitbeftimmenden Einfluß, den wir 
faum völlig von dem trennen können, was die ftet8 gleichen all⸗ 
gemeinen Geſetze des inneren Lebens für ſich allein gebieten 
wirben. Und c8 ift uns nicht möglich, gleich der Naturwifien- 
haft im Experiment kunſtlich Die verſchiedenen Kräfte zu fondern, 
um den Beitrag zu beftimmen, den jede einzelne zu Diefem zu⸗ 
fammengefegten Erfolge Tiefer. Defin außer Stande, unfer 
vergangened Leben ungefchehen zu machen, können wir un® nie 
von dem dunflen, feiner Zergliederung fähigen Drude befreien, 
durch den e8 alle fpätere Gefchichte des Bewußtſeins mitbedingt; 
und nie tritt für und eine Gelegenheit cin, jene einfachen und 
elementaren Wirkungen zu beobachten, aus denen der unendlich ver⸗ 
wickelte Zuftand, in dem wir und befinden, beroorgegangen fein 
muß. So bleibt und faum etwas Anderes übrig, als zunädft un 
an die großen und nicht leicht zu mißdentenden Umriſſe deſſen 
zu balten, was unfere innere Erfahrung noch darbietet. Indem 
wir dann die allgemeinen Vermuthungen, die ſich aus diefer Ueber- 
ficht entwideln, verfuchsweife ſchärfer ausprägen und die größere ober 
geringere Uebereinftimmung ihrer Folgen mit dem Thatbeftande der 
Beobachtung prüfen, können wir fo vielleicht auf weitem Umwege 


218 


zu einer beftimmteren Einficht in bie Gefege des getftigen Lebens 
gelangen. 

So unendlich verſchieden nun dieſes Leben für jeden Einzelnen 
verläuft, fo Hat doc der übereinſtimmende Eindruck aller Selbſt⸗ 
beobachtung zeitig und allgemein die Vorftellung von einem Me- 
chanismus hervorgebracht, dem der Lauf ber inneren Exeiguiffe 
vielleicht überall und ficher in großer Ausdehnung unterworfen 
fet, in anderen Formen zwar und nad anderen befonderen Gefegen, 
als fie der äußere Naturlauf darbietet, aber mit gleicher Durd- 
gängiger Ahhängigfeit jedes einzelnen Ereigniſſes von feinen voran- 
gehenden Bedingungen. So deutlich indeſſen dieſer pfychifche 
Mechanismus fi in den Erſcheinungen des Gedächtniſſes und 
ber Wiedererinnerung, in der Abhängigkeit unferer Gefuhle und 
Strebumgen von gewiffen Einprüden zeigt, durch welche fie regel 
mäßig heroorgerufen werben; fo fider und mat richtigem Tact 
wir ſelbſt im alltäglichen Leben auf feine unbeirrte Wirkfamkeit 
rechnen, fo wenig find wir doch im Stande, die Regeln, benen er 
folgt, mit der Schärfe von Noaturgefegen anzugeben. Denn bie 
Schwierigkeiten der inneren Beobachtung, deren wir fhon gedachten, 
werden dadurch vermehrt, daß Feine allgemeine, für fich felbft 
gewiſſe Lehre über die nothwendigen Wechfelwirkungen, in denen 
die Zuftände jedes Weſens unter fich fliehen müßten, uns bier 
aushelfend entgegenfommt. Die meiften der Grundzüge, Die wir 
in dem Verhalten des geiftigen Lebens bemerken, können wir 
nur als. thatfächliche Einrichtungen anfehen, deren Werth fir bie 
höhere Ausbildung wir zwar häufig volflommen begreifen, aber 
wir Können nicht nachmweifen, daß gerade diefe Formen des Be- 
nehmen für jedes überfinnliche Wefen, das eincr unbeftimmten 
Vielheit äußerer Eindrücke offen ftebt, die nothwendigen Yolgen 
Diefer ferner Natur fern müßten. Man flebt Teicht, wie nach⸗ 
thetlig diefe Lage der Sachen für die Bedirfniffe der Erflärung 
ift. Sind wir nur auf eine Sammlung erfahrungsmäßtger That⸗ 
ſachen angewieſen, fo dürfen wir nicht über Das hinausgehen, was 
die Erfahrung felbft und fagt; vermöcten wir dieſelben That⸗ 











219 


ſachen in ihrem nothwendigen Hervorgehen aus der Natur ber 
Seele zu verfolgen, fo würden wir ihnen leicht einen firengeren 
umd tieferen Ausdrud geben können, der und den Zugang zu 
einer Menge jet verfagter Folgerungen eröffnete. Diefe Schwie— 
rigfeiten iſt man fehr geneigt geringer zu ſchätzen, als fie find; 
durch die Erfolge der Raturwiſſenſchaft verwöhnt, pflegt man zu 
oft Säge, die für die Erklärung phyſiſcher Vorgänge eine unbe— 
 ftrittene Geltung befigen, für allgemeine und nothwendige Wahr- 
heiten anzufehen, und vergißt Darüber, daß alle unbefangene Beob- 
achtung des inneren Lebens und durhaus andere, mit den Natur- 
erfheinungen faum noch vergleihbare Formen des Gefchehens und 
Wirkens darbietet. Ueber die Bewegung des Stoffes befisen wir 
eine Summe wiffenfchaftlich genauer Gefege, Über die Aeußerungen 
der Seele eine Anzahl empirifcher Anfchauungen, aber noch fchlt 
und das Dritte und Höhere, deffen wir bedürften: eine allgemeine 
Xehre, die uns Die Geſetze aufwieſe, nad) denen die Zuſtände der 
Weſen überhaupt fich richten, und aus welcher als zwei verſchie⸗ 
bene Anwendungen die Wiſſenſchaft vom Naturlauf und die von 
dem geiftigen Leben heroorgehen könnten. 


Zu den einfachſten Thatfachen, in denen der pfychiſche Me- 
chanismus fi zeigt, gehört die befannte Wahrnehmung, daß von 
den unzähligen Vorftellungen, die wir äußeren Eindrüden ver- 
danken, in jedem Augenblide nur wenige uns gegenwärtig find; 
die meiften find dem Bemwußtfein verfchwunden, ohne deshalb zu- 
gleich Der Seele iiberhaupt verloren zu fein; denn ohne Erneuerung 
des äußeren Eindrudes kehren die vergeffenen der Erinnerung 
wieder. Man hat dieſe Thatfachen jo gedeutet, daß man die 
ewige Fortdauer jeder einmal erregten Vorftellung als das natür- 
licherweiſe zu erwartende Verhalten anfah; nur für das Vergeffen- 
werden fuchte man cine Erflärung und glaubte fie leicht in dem 
wechſelſeitigen Drude zu finden, durch welchen die mannigfaltigen 
einander begegnenden Borftellungen fih aus dem Bewußtſein zu 


220 


verbrängen ftreben. Aber vergeblih würden wir verfuchen, jene 
Unvergänglichfeit der Vorftellungen als die felbftverftändliche Folge 
eines allgemeinen Geſetzes der Beharrung darzuftellen, nad 
welchem jeder einmal erregte Zuftand eines Weſens, ſich felbft 
überlafien, fo lange fortdauern müßte, bis cine neue dazwiſchen 
fommende Wirkung ihn änderte oder aufhöbe. Die Analogie der 
Naturwiſſenſchaft, die ſich dieſes Geſetzes als eines der vorzlg- 
Yichften Hülfsmittel in der Lehre von den Bewegungen der Körper 
bedient, reicht um eines nahe liegenden Unterſchiedes in der 
Natur Beiver Fälle willen niht aus, feine Anwendbarkeit auf die 
Borgänge des Seclenlebens zu fihern. Denn der. Körper leidet 
nichts von feiner Bewegung, die für ihn nur ein äußerlicher 
Wechſel der Orte ift, von denen Teiner fiir ihn mehr Werth hat 
al8 der andere; dieſem Wechfel zu widerſtehen wird mithin feine 
eigene Natur weder Grund noch Fähigkeit befigen. Das Bor: 
ftellen dagegen ift als inneres Ereigniß nothwendig zugleich für 
das Weſen, in dem es gefchieht, eine Störung feines urſprüng⸗ 
lichen Zuſtandes; mit dem gleihen Rechte nun, mie c8 fcheint, 
mit welchem wir ein ewiges Beharren der einmal erregten Vor: 
ftellung erwarten, fünnten wir dafjelbe Gefeß auf die Natur der 
Seele anwenden; wir könnten in ihr cin Beftreben zur Feſt— 
haltung ihres früheren Zuftandes vermuthen, durch welches fie 
jeden ihr aufgedrängten einzelnen Eindrud nad dem Aufhören 
ber äußeren Gemalt, die ihn erzwang, wieder zu befeitigen fuchte. 
Ohne in das unentfchiedene Für und Wider einzugeben, in welches 
der Streit diefer Anfihten auslaufen würde, wollen wir ung ein- 
facher mit dem Belenntnig begnügen, daß die Thatfachen des 
Bewußtſeins die Annahme jener Fortdauer der Eindrücke nöthig 
machen, und der Zukunft möge der Verſuch überlaffen bleiben, 
diejes thatſächliche Verhalten als die unvermeidliche Folge des 
Weſens der Seele zu begreifen. Fremdartig und als eine ſonder⸗ 
bare Einzelheit tritt es auch für uns nicht auf; beruht doch auf 
diefer Fefthaltung der Eindrücke die Erfüllung des Berufes, der 
dem geiftigen Leben gefallen ift: zu vereinigen, was in Raum und 








221 


Zeit beziehungslos auseinanderfällt, und dem Vergangenen einen 
mitwirkenden Einfluß auf die Gegenwart durch fein zurüdgeblic- 
benes Bild zu fichern, lange nachdem es felbft aus der Wirklid- 
feit des Naturlaufes ausgefchieden ift. 

So wenig wir nun die Beharrung der Borftellungen Teugnen, 
fo wenig fünnen wir auch zögern, in dem Einfluffe, welchen fie auf 
einander äußern, den Grund ihrer Berbrängung aus dem Bemwußt- 
fein anzuerkennen. Aber während die Erfahrung überall zur An- 
nahme dieſes Einfluffes drängt, find wir fehr wenig im Stande, 
einen Grund für die Nothmwendigfeit feines Vorkommens nachzuwei⸗ 
fen. &8 reiht nicht hin, fih auf Die Wefenseinheit der Seele zu 
berufen, welche ihren verſchiedenen Zuftänden nicht geftatte, unver- 
bunden und wirkungslos neben einander zu verlaufen. Denn diefe 
Einheit ließe und zunächſt nichts Anderes als das Beftreben erwar⸗ 
ten, alle Unähnlichkeit der inneren Zuftände in einen gleichförmigen 
Sefammtzuftand zu verſchmelzen. Aber wir wiffen, daß eine foldhe 
Neigung weder in dem bewußten Borftellungslauf vorhanden ift, 
denn alle Mannigfaltigfeit der Eindrüde bleibt in ihn erhalten, noch 
daß jie in jenen unbewußten Zuftänden vorkommen kann, in welde 
die verſchwindenden Vorftellungen ſich verwandeln, denn fie kehren 
aus dieſer Vergeffenheit mit ungetrübter Schärfe der Gegenfähe 
wieder, die fie im Bewußtſein befaßen. Völlig würden wir ung 
alfo in jener Erwartung getäufcht haben, die wir auf die Einheit 
der Seele gründen zu können glaubten, und dies Mißlingen madıt 
und darauf aufmerkfam, daß überhaupt wohl die Einheit eines We- 
ſens im Allgemeinen zu einer Wechfelwirkung feiner verſchiedenen 
Zuftände drängen möge, daß aber die beftimmte Form ober ber 
Sinn, in welchem diefe Wirkung gefchteht, von der befonderen Na— 
tur jedes einzelnen Weſens abhänge. Daß die Vorftellungen fid 
nicht zu einem Mittleren miſchen, fondern nur die Beleuchtung 
durch das Bewußtſein einander ftreitig machen, davon müſſen wir 
ben Grund in dem fuchen, was die Seele zur Seele macht, oder in 
bem, wodurch das Bewußtſein fih von anderen Neuerungen ihrer 
Thätigfeit unterfcheidet. 


222 


Ueber die Schwierigkeiten nun, welche die Natur des Bewußt⸗ 
ſeins darbietet, tröften wir und im täglichen Leben mit fo unvoll- 
fommenen Vorftellungen, daß wir baum Beranlafjung hätten, auf 
diefe gewöhnlichen Auffafjungen zurüdzufommen, wenn nicht die 
Auffäligkeit ihrer Mängel uns die Räthfel verbeutlichte, welche fie 
ungelöft laſſen. Wir betrachten wohl das Bewußtſein als einen 
Kaum von begrenzter Weite, in welchem die Eindrüde fi ihre 
Pläge ftreitig machen; wir kümmern uns wenig dabei um den 
Grund, welder der Ausdehnung dieſes Raumes Schranken zieht, 
und cbenfo wenig um Die Urfache, welde die Eindrüde veranlagt, 
in ihn einzubringen; indem wir endlich an dem Bilde körperlicher 
Seftalten hängen, deren jede freilich durch ihre Undurchbringlichkeit 
der andern den Pla entzieht, den fie felbft einnimmt, finden 
wir es felbftverftändlic, daß in dem begrenzten Raume des Be- 
wußtfeins auch nur eine endlihe Menge der Vorftellungen neben- 
einander fein könne. So haben wir Iediglic unter dem Schuße 
eines ganz unberechtigten Bildes den Gedanken an eine Unver: 
träglichfeit der Borftelungen untereinander und an die Nothwen- 
digkeit eines Drudes, den fie gegenfeitig ausüben, nebenher er- 
lichen. Oder wir fprechen von dem Bemwußtjein wie von einem 
Lichte von vielleicht veränderlicder, aber doch immer nur endlicher 
Stärke der Helligkeit, und finden es dann natürlihd, daß fein 
Borrath von Erleuchtungsfraft fi über die vorhandene Menge 
der Eindrücke vertheile, duch Zerſtreuung auf eine größere Viel— 
heit ſich abſchwächend, durch Einſchränkung auf Weniges fi deut- 
licher fammelnd. Und bei diefer Vergleihung verläßt und fogar 
das Bild, dem wir folgen wollten. Denn jedes Licht, rundum 
fi) verbreitend, erleuchtet das Biele nicht ſchwächer als das 
Wenige, und man fieht nicht feine. Strahlen von dem Puntte, 
wo fie nichts zu beleuchten fanden, in frummlinigen Bahnen um- 
ſchwenken, um ſich geſammelter auf die geringere Anzahl vorban- 
dener Gegenftände zu werfen. Nur dann merden die vielen 
ſchwächer beleuchtet, wenn fie einander deckend ſich das Licht ent- 
ziehen, und gerade dies war es, was zu erklären war, wie e8 




















223 


geſchehen könne, daß zwiſchen den Borftellungen Verhältniſſe ein- 

treten, in denen bie eine der andern die Möglichkeit des Gewußt⸗ 
werdens entziche. Und nur wenig wilrden wir gewinnen, wenn 
wir, dieſe räumlichen &leichnifle verlafiend, das Bewußtſein über⸗ 
haupt als eine erichöpfbare Kraft bezeichneten, die nur einen be— 
grenzten Aufwand von Thätigfett machen könne. Denn immer 
würde der Grund dafür mangeln, daß einzelne Borftellungen 
allein won ihr lebendig erfaßt, andere ganz fallen gelaffen werben; 
wir würden nicht wiflen, warum flatt einer Dämmerung, die 
mit immer abnehmender Helligkeit ſich über eine ſtets anwachſende 
Zahl der Einprüde verbreitete, Diefer Wechfel voller Beleuchtung 
und völligen Dunkels eintreten mäßte, in welchem die Borftellun- 
gen auftauchen und wieder verſchwinden. 

Doch auch für diefe Frage hat unfere gewöhnliche Meinung 
eine Antwort, die etwas tiefer eingehend aud und zu weiterem 
Eingehen nöthigt. Bon allen jenen Reigen, welde der Seele 
von außen zulommen, läßt man in ihr zunächft Eindrücke ent- 
ftehen,, die als ſolche noch nicht Empfindungen, neh nicht Vor- 
ftellungen find, ſondern als eine angehäufte Summe innerer 
Buftände eines Bewußtſeins noch warten, das fie wahrnehmen 
und durch fein Wahrnehmen fie erft zu Empfindungen verklären 
wird. Bon der Eigenthümlichkeit diefer Eindrücke können wir und 
natürlich nie eine Anſchauung bilden, weil fie als Das, was fie 
find, ftet8 dem Bewußtſein entzogen bleiben, und aufhören zu 
fein, was fie waren, ſobald fie von ihm ergriffen werden; ihre 
unendliche Anzahl aber erfcheint uns als eine verkleinerte und 
angenäherte Wiederholung der äußeren Welt, zwar in Das 
Innere der Seele verfegt, dem Bemußtfein jedoch nod eben jo 
fremd, wie Alles, was noch ohne eine Wechſelwirkung mit uns 
in äußerer Ferne ruht. Bon diefen Eindrücken gelte das Geſetz 
beftändiger Beharrung; einmal entftanden, vergehen fie nicht 
wieder; aber veränderlich fer ihr Verhalten zu der willenden 
Thätigfeit unferes Geiftes, die wie ein wandelndes Licht bald 
dem einen, bald dem andern fi) zuwendend, fie bald wahr- 


224 


nehme, bald in das bemußtlofe Dafein verborgener Eindrüde 
zurückfallen Taffe. 

Es ift nicht ohne Intereſſe, den verſchwiegenen Vorausſetzun⸗ 
gen nachzugehen, auf denen dieſe Auffaſſung beruht. Wo wir 
durch einen äußeren Reiz irgend ein Element zu einer Berän- 
derung bewogen fehen, deren beftimmte Geftalt dieſes nur aus 
feiner eigenen Natur, nicht aus der bed Neizes entlehnt, da 
werden wir das Ganze deſſen, was in dem Elemente geſchieht, 
in Gedanken ſtets als eine Aufeinanderfolge zweier Ereigniffe, 
eines Eindrudes und einer lebendigen Rückwirkung gegen ihn, 
betrachten können. Unfere Beobachtungen im Leben pflegen fi 
nun auf zufammengefegte Gebilde zu beziehen, und hier bebarf 
es einiges Zeitverlaufes, ehe die Erſchütterung des einen Theiles, 
den der Eindrud zunädft getroffen hat, fi über das Ganze 
verbreitet und durch Anregfing der übrigen einen Rückſchlag 
gegen die urfprünglige Störung hervorruft. So gewöhnen wir 
uns an die Borftellung einer Kluft zwifchen dem Leiden und ber 
Thätigfeit, die ihm antwortet. Wenden wir nun unjere Gedanken 
auf die einfache Natur der Seele, fo erſcheint dieſelbe Vorftelung 
nicht mehr gleich zwingend. Gewiß wird jeder äußere Reiz fie 
nur dadurch zum Handeln bringen, daß fie von ihm leibet, denn 
er wäre nicht für fie vorbanden, litte fie nicht; gewiß werden 
auch ihre inneren Veränderungen, ihr Leiden fowohl als ihre 
thätige Rüdwirkung fih nur in einem Zeitverlauf entwideln ; 
aber nothwendig wentgftens iſt es nicht, daß diefe beiden fiir 
unfere denkende Auffaſſung unterſcheidbaren Theile des ganzen 
Vorganges in verſchiedenen Zeitabſchnitten auf einander folgen, 
oder daß zu dem Eindrucke der äußeren Reize erſt noch irgend 
eine andere ergänzende Bedingung hinzutreten müſſe, um ihm, 
dem an ſich unbewußten, die Aufmerkſamkeit des Bewußtſeins 
zuzuwenden. In jedem untheilbaren Augenblicke vielmehr können 
wir beide als gleichzeitig, als ſo in einander verſchmolzen betrachten, 
daß die verſchiedenen Namen, die wir ihnen geben, nicht mehr 
zwei Vorgänge bezeichnen, ſondern den einen und ungetheilten 

















225 . 


unter verfchiebenen Geſichtspunkten auffaffen. Denn aud das, mas 
wir Leiden nennen, iſt ja nicht eine fertig in das Leidende ge- 
brachte Veränderung, von der es nur einen Drud überhaupt em- 
pfände, ohne fi in einer beftimmten Form und Weife bebrüdt 
zu fühlen. Unter demſelben Eindrud leiden verſchiedene verſchie— 
den; fo nun zu leiden und nicht anders, ift felbft ſchon eine Rüd- 
wirkung, in der fi) die innerfte Natur eines jeden lebendig gel- 
“ten mad. 

Wenden wir uns num zu ber unmittelbaren Empfindung, 
welche uns ein äußerer Sinnesreiz veranlaßt, fo müffen wir ge- 
ftehen, daß das ganze Ausfehen dieſer einfachen Vorgänge wenig 
für jene trennende, weit mehr für Diefe vereinigende Auffaſſung 
ſpricht. Wir wiffen nit, warum die Lichtwelle, die unfer Auge 
trifft, Durch ihre Nachwirkung auf die Seele zuerft einen unfagba- 
ren unbewußten Eindruck heroorbringen müßte, dem nun erft als 
eine Rüdwirkung die Empfindung folgte, für die er als Blau oder 
Roth erſchiene. Das Schen diefer beftimmten Farbe, dad Hören 
dieſes beftimmten Tones läßt fi unftreitig unmittelbar als ber 
eine ungetheilte Zuftand fafjen, in den die Seele geräth, und wir 
nennen ihn Eindrud, wenn wir an feine Verurſachung durch einen 
äußeren Reiz denken, lebendige Rückwirkung aber, fobald wir ung 
erinnern, daß derfelbe Reiz in anderen Naturen andere Zuftände 
rege gemacht haben wilde, die Form des hier vorhandenen mithin 
von dem Wejen diefer Seele abhängt. Nicht anders fcheinen wir 
dieſe Vorgänge auffaflen zu müffen, als fo, wie wir aud die Mit- 
theilung der Bewegung zwiſchen unelaftiichen materiellen Punkten 
beurtheilen. Wir meinen nicht, daß der geftoßene Körper zuerft 
nur empfangend die Geſchwindigkeit und Richtung aufnehme, die 
ihm der Stoß zu geben ftrebt, und daß er dann erft vermöge der 
Bewegung, in welcher er fich bereits befand, auf dieſen Eindruck 
zurückwirkend, jene mittlere refultivende Bahn beftimme, die er 
wirklich durchlaufen wird. Vom erften Augenblide des Stoßes 
an kommt vielmehr nichts in ihm zur Wirklichkeit, als dieſe eine 
und ungetheilte Bewegung, in welcher der mitgetbeite Eindrud 

Lotze I. 3 Aufl. 


226 


and die Wirkſamkeit des urfprünglichen Zuftandes ununterfcheib- 
bar verſchmolzen find. Bon folchen Ueberlegungen geleitet, würden 
wir e8 ablehnen können, unbewußte Erregungen in der Seele der 
bewußten Empfindung voranzudenten; nicht nur müßig, fondern 
vieleicht widerfinnig erjchiene es, in bem Geifte, der lauter Be- 
wußtfein und Licht fei, einen dunflen Grund der Racht zu fuchen, 
aus dem als eine ſpätergeborne Erſcheinung ſich Die Helle der Ge— 
banken entwidle. Und in ber That hat hieraus fich eine pfycho— 
logiſche Anficht gebildet, welche die bemußten Empfindungen als 
die Urvorgänge des Seelenlebens betrachtet und alle übrigen Ereig- 
niffe aus ihren Wechſelwirkungen ableitet. 

Die nöthige Rüdfiht auf die vergeffenen Vorftellungen än— 
dert einigermaßen diefen Stand der Sache. Gewiß dürfen wir 
e8 dent Sprachgebrauche nicht verargen, wenn er das, was einft 
Borftellung war, auch dann noch fo zu nennen- fortfährt, wenn 
e8 längſt das wejentlihe Merkmal eingebüßt hat, um deswillen 
ihm, diefer Name zukam. ber die erflärende Unterfuhung muß 
ſich Doch der Ungenauigfeit diefer Ausdrucksweiſe erinnern; fie muß 
zugeben, daß die Namen der vergefjenen oder unbewußten Vor— 
ftellungen etwas bezeichnen, was in feiner Weife mehr Borftellung 
ift, und daß dieſe in fich widerſprechenden Benenmungen nur als 
Erinnerungen an den Urfprung, aber nicht al8 Behauptungen über 
die gegenwärtige Natur der durch fie angebeuteten Zuftände zu 
dulden find. Wie fehr man dann auch fortführe, alles unbewußte 
Gefchehen in uns nur aus der Hemmung der Vorftellungen ab- 
zuleiten, immer würbe aud fo diefe Auffaflung das Geſtändniß 
einfchließen, daß es doch eben außer dem Bewußtſein noch andere 
Zuftände der Seele gebe, in melde das Bemwußtjein ſich verwan⸗ 
deln könne. Müſſen wir aber dies einmal zugeben, fo wird es 
ſchwer fein, die Grenzen der Folgerungen zu beftimmen, bie ſich 
baraus ziehen Yaffen. Eine beftändige Wechfelwirfung zwiſchen 
dem hellen Leben des Bewußtſeins und dem dunklen Grunde des 
Unbemwußten haben wir damit einmal zugeftanden, und nun ge= 
winnt aud) die andere früher erwähnte Anficht wieder Boden, wenn 











227 


fie das Vorſtellen überhaupt als eine wandelbare Thätigkeit be— 
trachtet, die zu dem aufbewahrten Reichthume unbewußter Ein- 
drücke bald hinzutritt, bald ſich von ihnen abwendet. 


In dem Gegenſatz dieſer beiden Meinungen liegt wohl einer 
der hauptſächlichſten von jenen Gründen, welche die pſychologiſchen 
Anfichten auch der Gegenwart nad) verſchiedenen Wegen ausein- 
ander geben laſſen. Für beide muß e8 die wefentlichfte Aufgabe 
fein, Erklärungen der beftimmten Reihenfolge und der Ordnung 
überhaupt zu finden, die fi) in dem Wechſel unferer Borftellungen 
zeigt. Die eine wird die Frage ſich fo ftellen, daß fie nad) den 
Kegeln: des Mechanismus ſucht, durch welchen die bewußten Zu- 
ftände einander verdrängen; die andere wird nach den Gründen 
forfchen müffen, durch welche die einzelnen unbewußten Eindrüde 
die Aufmerkſamkeit des Vorftellens auf fih ziehen und von anderen 
ablenten. Beide werden in ihren Ergebniffen mehrfach zufammen= 
treffen, wie fie denn beideivon der Betrachtung eined und defjelben 
Thatbeftandes ſich müſſen leiten Yaffen; dennoch bleibt die Ver— 
ſchiedenheit in der Art ihres Borgehens beträchtlich genug, um 
noch einige Augenblide unfere Erwartung zu fpannen. 

In der größeren oder geringeren Stärfe der PVorftellungen 
wird natürlich die erfte Anfiht den Grund für das Maß des 
drängenden Einfluffes finden, welchen fie auf einander üben. Doch 
find die Vorftellungen nicht urfprüngli mit abſtoßenden Kräften 
begabt; eine Nothmwendigfeit ihrer Wechfelwirfung überhaupt tritt 
erft dadurch ein, daß die Einheit der Seele fie zu verbinden ftrebt, 
ihre Gegenfäge unter einander aber dieſer Vereinigung wiberftehen. 
Deshalb wird die Weite des Gegenfages, der zwei Vorftellungen 
trennt, im Allgemeinen die Lebhaftigfeit ihrer Wirkung auf einan= 
der, ihre Stärke dagegen das Maß des Leidens beftimmen, welches 
in dieſer Wechſelwirkung jede einzelne der andern zuflgt oder 
von ihr erfährt. Daß nun diefer Kampf, obwohl angeregt durch 

15* 


228 


die Gegenfäge der Borftellungen, doch nicht mit einer Ausgleihung 
berfelben endet, fondern daß nur die Stärke der ftreitenden Vor- 
ftellungen ohne Nenderung ihres entgegengejegten Inhalts ver- 
mindert wird, diefen Umftand wird die erwähnte Anficht am bep- 
ten thun, für eine ebenfo unerwartete als unerflärliche Thatfache 
auszugeben, zu deren Annahme die Beobachtung zwingt. Erft 
nah dem Zugeſtändniß dieſes Punktes beginnt die Möglichkeit, 
die vermwidelteren Erfcheinungen auf ihn zurüdzuführen; die innere 
Nothwendigkeit feines eigenen Vorkommens entgeht uns völlig und 
wir gewinnen nichts durch das Bemühen, dieſe Lücke durch täu— 
ſchende Reben zu füllen. 

Aber auch jene Begriffe der Stärke und des Gegenfages, an 
die wir in der Berechnung phyſiſcher Ereigniffe gewöhnt find, 
bieten bei ihrem beabfichtigten Gebraudye zur Erflärung des Vor- 
ſtellungslaufes mehrfache Schwierigkeit. Den Empfindungen, d. h. 
jenen Borftellungen, welche durch die gegenwärtige Einwirkung 
eined äußeren Reizes in und erregt werben, kommt ohne Zweifel 
eine gradweis verjchiedene Stärke zu, denn feine von ihnen ift 
eine reine und gleichgültige Darftellung ihres Inhaltes; jede wird 
vielmehr zugleich als eine größere oder geringere Erſchütterung, 
al8 ein mehr oder minder eingreifender Zuftand unferes eigenen 
Weſens von und gefühlt. Nicht nur an fi ift das blendende 
Licht ein Stärkeres, als der fanfte Schunmer, fondern auch und 
begegnet mehr, wenn wir jenes, als wenn wir dieſen jehen; nicht 
blos an fi iſt der Tautere Klang ein größerer Stoff für unfere 
Wahrnehmung, fondern auch feine Wahrnehmung ift ein ftärkerer 
Eindrud in uns, als die des Teiferen Toned. Und nicht nur Die 
Empfindungen deſſelben Sinnes find in dieſer Weife vergleichbar; 
auch die Erregungen des einen können als größere ober geringere 
Erſchütterungen unjeres Innern mit denen eines andern zufammen- 
geftellt werden. Denken wir uns deshalb cine Seele, deren Be- 
wußtfein noch von Feiner Erinnerung früherer Erfahrungen be— 
herrſcht wird, einer Mannigfaltigfeit äußerer Reize zum erften 
Mal ausgefegt, fo werben wir es wahrſcheinlich finden, daß die 


229 


Empfindung des ftärkeren Inhaltes die des ſchwächeren verbrängen 
wird. In der ausgebildeten und durch Erfahrung erzogenen Seele 
finden wir die Ereigniffe nicht mehr fo einfach; wir ‚wiffen, daß 
ein leiſes Geräufch unfere Aufmerkſamkeit von lautem Lärmen ab- 
zichen kann, und daß überhaupt die Macht, welche Die Vorftellun- 
gen über die Richtung unſeres Gedantenlaufes ausüben, nicht 
mehr im Verhältniß zu der Stärke bes finnlichen Inhaltes fteht, 
den fie wahrnehmen. Im Bortichritt des Lebens hat fich vielmehr 
an die Eindrüde ein überwiegendes Intereffe gefnüpft, das nur 
noch an den Werth gebunden ift, welchen fie als vorbedeutende, 
begleitende oder nachbildende Zeichen anterer Ereigniffe befigen. 
Sp beftimmt fir die Zuhunft die Erfahrung, die für jeden eine 
andere ift, auch für jeden die Werthe der einzelnen Borftellungen 
anders und beftimmt fie felbft für den Einzelnen nicht unveränder- 
lich. Nur die beharrliche Natur des Geifte8 und die nicht min- 
der beftändigen Grundzüge ter körperlichen Organifation forgen 
Dafür, daß diefe Verſchiedenheit nicht ind Ungemeffene gebt, indem 
die überwältigende Kraft, mit melcher einzelne ſinnliche und in- 
tellectuelle Eindrüde in Alle gleihmäßig eingreifen, überall die 
Merthbeftimmungen des Vorgeftellten auf ein gewiſſes Maß der 
Vergleichbarkeit und Berechenbarkeit zurüdbringt. 

So Scheint es, als wenn wir dreifach unterjcheiden müßten, 
zuerft das Mehr oder Minder des vorgeftellten Inhalts, dann 
die Stärfe der Erregung, die er uns zufügt, endlich die Macht, 
welche fein Eindruck über unfern Vorftelungslauf ausübt; und 
nur in der Empfindung der noch crfahrungslojen Seele würden 
dieſe verfchiedenen Beftimmungen vollftändig zufammenfallen. Aber 
in unferer Erinnerung verſchwindet daß zweite diefer Glieder. In— 
dem fie den Inhalt früherer Empfindungen getren nad Art und 
Stärke wiederholt, wiederholt ſie nicht gleichzeitig Die Erſchütterung, 
die wir von ihnen erfuhren, ober mo fie Dies zu thun jcheint, fügt 
fie doch in Wahrheit vielmehr das bloße Bild des früheren Er- 
griffenfeins als eine zweite Vorftellung zu der wiebererzeugten An- 
ſchauung des früheren Inhaltes hinzu. Tas Rollen des Tonners 


230 


ift in unferer Erinnerung, fo deutlich fie auch feine Eigenthüm⸗ 
Yichfett und feine Stärke wiedergibt, doch Feine gewaltigere Erre- 
gung als die gleich deutliche Borftelung des leifeften Tones; wir 
gedenken vielleicht wohl der ftärferen Erſchütterung mit, Die der 
heftigere Klang uns zufügte, aber auch dieſe Vorftellung der Icb- 
hafteren Erregung ift nicht jegt wieder eine größere Bewegung in 
und, als die gleich deutliche des geringeren Ergriffenfeind. Wir 
unterſcheiden in der Erinnerung die verfchiedenen Gewichte zweier 
Gegenftände, aber die genaue Wiedernorftelung des ſtärkern 
Drudes, den und der eine verurfachte, ift nicht auch jegt wieder 
ein ſtärkeres Ergriffenfein für uns, als das nicht minder genaue 
Nachgefühl der geringeren Laſt. Die PVorftellung des Schmerzes 
ift nicht Schmerz, die der Luft nicht Luft felber; leidlos und 
freudlos erzeugt das Bemußtfein wie aus einer ficheren Höhe 
herab den Inhalt vergangener Eindrüde mit aller Mannigfal- 
tigkeit feiner inneren Berhältniffe, felbft mit den Bildern der 
Gefühle, die fih an ihn knüpften, aber nie trübt e8 die Auf- 
löſung feiner Aufgabe dadurch, daß es an der Stelle der Bilder 
den Eindrud felbft wieverfehren liche. Ausdrücklich als abweſend 
ſtellt es das DBorgeftellte vor, und ohne von dem Größeren 
mehr als von dem Slleineren ergriffen zu werden, wiederholt 
es mit gleicher Leichtigkeit beide, gleich zmeien Schatten, von 
denen Feiner ſchwerer ift als der andere, wie verfchteven auch 
die Gewichte der Körper fein mögen, denen fie entſprechen. 

So würde mithin der Gedanfenlauf der Erinnerung zwar 
großen und Heinen, ſtarken und ſchwachen Inhalt dem Bemußt- 
fein wiederbringen, aber die worftellende Thätigleit, die er Dazu 
verwendet, würde gradlos überall diefelbe fein. Und doch würde 
nur von Unterfchieven dieſer Iegteren die Wechſelwirkung der Vor— 
ftellungen, da ihre Inhalte ſich nicht mifchen, abhängig fein kön— 
nen, denn nur in der unmittelbaren Empfindung würde Die Größe 
des Vorgeftellten, da fie zufammenfällt mit der Stärke der Erre= 
gung, den Sieg de einen Eindrudes über den anderen entkheiden. 
Denn wir deshalb von einer Stärke der Vorftellungen fo ſprechen, 


231 


daß wir von ihr das Schidfal der Borftellungen im Streite gegen 
einander beſtimmt denken, fo kann es nur nod in jener dritten 
Bedeutung geſchehen, im melcher fie die Macht iſt, welche jede ein- 
zelne Vorftellung auf die Richtung des Gedankenlaufes ausübt. 
Aber diefe Macht ift nicht mehr eine vorher Mare Eigenfchaft, 
durch welche wir den ferneren Erfolg erläutern Könnten, fondern 
fie iſt die Fähigkeit felbft, deren Gründe wir fuchen. Bon einer 
Stärke in diefem Sinne die Leiftungen der Borftellungen herzu: 
leiten, wärbe nicht mehr Aufflärung gewähren, als die Behaup- 
tung, daß im Kampfe derjenige zu flegen pflege, der aus unbekannt 
bleibenden Gründen die Oberhand erhalte. Aber ehe wir Diefe noch 
unbefannten Gründe anderswo fuchen, müſſen wir noch einige Ver⸗ 
hältniffe erwähnen, die dem Gedanken einer verinderlichen oder 
verfchiedenen Stärke der Vorftellungen doch einige Unterftägung 
zu gewähren jcheinen. 

Man ift völlig an die Meinung gewöhnt, daß jeder Inhalt, 
ohne daß er felbft verändert würde, in unzählig verichiedenen Gra— 
ben der Klarheit oder Stärke gedacht werden fünne, und chen, in- 
dem fie abwärts die Stufenreihe diefer Grade durchlaufen, follen 
die Vorftellungen allmählich und ftetig ſich verdunkelnd aus dem 
Bewußtfein verſchwinden. Aber dies ift die Befchreibung eines 
Creigniffes, das Niemand beobachtet haben kann, da die beobach⸗ 
tende Aufmerkſamkeit eben die Möglichkeit feines Eintreten auf: 
heben wilde. Exft fpäter, wenn wir inne werden, daß eine Bor: 
ftellung eine Zeit hindurch in unferem Bewußtſein gefehlt hat, 
beantworten wir und die Frage nad) der Art ihres Verſchwindens 
durch Diefe Vermuthung eines allmählichen Erlöſchens, für deren 
Richtigkeit Die wirkliche Beobachtung, fo weit fie. der Sache ſich 
nähern kann, durchaus Fein Zeugniß ablegt. Erinnern wir uns 
des inneren Zuſtandes, in dem wir uns befanden, wenn eine 
ftark angeregte Vorftellung längere Zeit in uns lebendig war und 
nad und nad) zu verfchwinden jchien, jo werben wir ftet8 finden, 
daß fie nicht ftetig verdunfelt wurde, fondern mit vielen und fcharfen 
Unterbrechungen bald im Bewußtfein war, bald nicht. Jeder nene. 


⸗ 





232 


Eindruck, deffen Inhalt in irgend einer Beziehung zu jener Bor: 
ftellung ftand, führte fie augenblidlich wieder in bie Erinnerung 
zurüd, durch jeden fremden, in feiner Neuheit auffallenden warb 
fie augenblidlich wieder verdrängt; fo glich fie einem fchwinmen- 
ben Körper, der durch wechſelnde Wellen bald plöglich verjchlungen, 
bald ebenfo geſchwind gehoben, in dem einen Augenblid ganz ficht- 
bar ift und im anderen gänzlich unfihtbar. Was wir hier als all- 
mähliche Berbunfelung deuten, find zum Theil die wachſenden 
Pauſen, welche die Wiebererfcheinungen der Borftellung unter- 
brechen, theils eine andere Eigenthiimlichkeit, deren wir ſpäter ge— 
denfen werben. 

Theilen wir nun die vielgeftaltige Menge der x Borftellungen 
in die einfacher Eindrüde der finnlichen Empfindung und in bie 
- zufammengefegten Bilder, die aus dieſen durch mannigfache Ver— 
knüpfung entfteben, jo würden wir nicht angeben fünnen, worin 
für die erfteren Die Verſchiedenheit ihrer Stärke beftehen follte, 
wenn wir nicht den vorgeftellten Inhalt unvermerft verändern. 
Denfelben Ton von derfelben Höhe und Stärke, von gleichem 
Rlange des Inftrumentes, können wir nicht mehr oder weniger 

deutlich vorftellen ; wir haben entweder feine Borftellung, oder wir 
haben fie nicht, oder endlich wir fehlen gegen unfere eigene Voraus⸗ 
jegung, indem wir die Borftellung eines ftärferen oder ſchwächeren, 
alfo eines anderen Tones an die Stelle einer ftärkeren oder ſchwä⸗ 
cheren Borftellung deſſelben Tones jegen. Und ebenfo diefelbe Schat- 
tirung derjelben Farbe können wir nicht in derſelben Helligkeit 
ihrer Beleuchtung nun noch mehr oder minder deutlich vorftellen; 
wohl aber, wenn fie und dur einen Namen oder eine Bejchrei- 
bung angedeutet war, können wir in dem Verfuche, und ihrer zu 
erinnern, ungewiß ſchwanken zwifchen mehreren verwandten Far- 
benbilvern, die fi anbieten und von denen wir nicht wiſſen, wel- 
ches das verlangte if. Dann deuten wir fälfchlih unferen in- 
neren Zuftand fo, al8 hätten wir die Vorftellung wirklich, nur in 
geringer Klarheit, während wir fe in der That nicht haben, fon- 
dern fie herausſuchen aus einer Menge, mit deren Anzahl unfere 








233 


Ungewißheit, alſo die fcheinbare Unklarheit der Vorſtellung 
wächft. 

Noch weniger gehen unfere zufammengefegten Anfchanungen 
durch ftetige Verdunkelung zu Grunde, dur welche ihr ganzes 
Bild allmählich ſchwächer beleuchtet verblaßte; fondern fie werden 
unflar, indem fie mie verweſend fich auflöfen. Bon einem gejehe- 
nen- Gegenftande fallen in unjerer Erinnerung einzelne minder 
beachtete Theile aus und die beftimmte Verbindungsweiſe, in der 
fie mit anderen zufammengebörten, wird völlig vergeffen; bei dem 
Verſuche, im Gedächtniß Das Bild nachzuzeichnen, irren wir rath— 
[08 zwifchen den manderlei Möglichkeiten, die entftandenen Lücken 
auszufüllen oder die Einzelheiten zu verknüpfen, die uns noch in 
voller Klarheit vorjchweben. So entfteht auch bier eine ſcheinbare 
Unflarheit der Borftellung, die in geradem Verhältniffe mit der 
Weite des Spielraumes wächft, der unferer ergänzenden Phantafie 
gelafjen iſt. Vollkommen Mar ift dagegen jede Vorftellung, deren 
Theile volftändig und zugleich mit zweifellofer Beftimmtheit ihrer 
gegenfeitigen Beziehungen gedacht werden, und diefe arbeit ift 
an fich weder einer Steigerung noch einer Minderung fähig. Den— 
noch ſcheint e8 uns häufig jo, als ob jelbft ein längſt vollftän- 
dig vorgeftellter Inhalt noch an Stärke feines Vorgeſtelltwerdens 
zunehmen könne; in der That aber wird er in foldhen Fällen um 
einen neuen Gehalt vermehrt. So wie er unflar wirb durch ent- 
ftehenve Rüden, die feinen Beftand verkleinern, fo ſcheint er an Klar⸗ 
heit noch zuzunehmen, fobald fiber feinen eigenen Beftand hinaus 
noch die mannigfachen Beziehungen in Das Bewußtſein treten, die 
ihn nad allen Seiten bin mit anderem Inhalte verfnüpfen. Es 
ft nicht möglich, den Kreis oder das Dreied mehr oder weniger 
oorzuftellen; man hat entweder ihr richtiges Bild oder hat es nicht; 
aber gleichwohl ſcheint Die Anſchauung beider an Klarheit zu wach⸗ 
fen, wenn unfere geometrifhe Bildung die zahlreichen wichtigen Be- 
ziehungen, durch die beide Figuren ſich auszeichnen, ſogleich mit 
erinnert. Dies ift eine Rlarbeit in dem Sinne, in welchem wir 


‚fie als gradweis verſchieden zugaben; eine Macht nämlich, die ber 


234 


Borftellung nicht aus einer eigenen Stärke, fondern aus ihren 
Connerionen erwächſt. Unflarer fheint uns deshalb in unferem 
Bewußtfein eine früher lebhafte VBorftellung dann zu werden, wenn 
fie aus irgend einer Urſache allmählich abläßt, alle die anderen 
in die Erinnerung mitzubringen, bie fih im erften Augenblide 
ihrer größten Xebhaftigfeit an fie Mnüpften, ober auf deren Mit- 
gegenwart eben dieſe Lebhaftigkeit ſelbſt beruhte. So verflingt, 
wie wir oben erwähnten, eine angeregte Vorſtellung in uns, indem 
ſie bald auftauchend, bald verſchwindend, bei jeder ſpäteren Rückkehr 
einen kleineren Theil der Nebengedanken mit ſich führt, von denen 
fte anfangs begleitet war. Deshalb ſcheint und auch nachher, wenn 
wir auf einen vergangenen Borftellungslauf zurückblicken, ein einzel- 
ner Eindrud nur mit geringer Klarheit oder nur in niebrigerer Höhe 
durch das Bewußtſein gezogen zu fein, wenn er in der That zwar mit 
derfelben grablofen Deutlichfeit, wie jeder andere, auftrat, aber zu me- 
nige Nebenvorftellungen anregte, durch die er längere Zeit ſich hätte 
halten und auf die Richtung unferer Gedanfen Einfluß üben können. 

So fommen wir endlich zu der Behauptung zurück, daß die 
Macht, mit welcher die mannigfachen Borftellungen einander be- 
kämpfen, nicht abhängig tft von einem beftimmten Grade der Stärke, 
den jede einzelne entweber urjprünglich gehabt hätte, oder bald 
größer bald Kleiner in jedem Augenblid aus irgend welchen Grün- 
den erlangte. Was wir als die Stärke der Vorftellungen bisher 
fennen lernten, befteht nicht in einer grabweis beftimmbaren In- 
tenfität des Wiffend um fie, fondern in einer, extenfiv meßbaren 
Vollſtändigkeit ihres nothiwendigen Inhaltes und in dem veränder- 
lihen Reichthum überzähliger Elemente, welche fih an ven In- 
haltöbeftand jeder einzelnen anknüpfen. Doch findet vielleicht eine 
genauere Nachforihung noch Etwas, was wir bisher in den That- 
ſachen überjehen haben; aber ehe wir uns dazu wenden, bebarf 
das andere Element, auf das man ſich in der Betrachtung des 
Borftelungslaufes zu ſtützen pflegt, der Gegenfat der einzelnen 
Eindrüde unter einander, eine kurze Berkdfichtigung. 

In der Empfindung, fo lange wir alfo gegenwärtige äußere 


235 - 


Eindrücke wahrnehmen, fehen wir unfer Bemußtfein der größten 
Mannigfaltigkeit zugänglid. Unzählige Farbenpunkte unterjcheidet 
unfer Auge mit einem einzigen Blid, und wo dieſe verfchievenen 
Eindrüde einander zu trüben feinen, haben wir Grund, diefen 
Erfolg nicht von einer Wechſelwirkung der ſchon gebildeten Farben⸗ 
vorftellungen, fondern von Störungen abzuleiten, welche Die körper⸗ 
lichen Erregungen in den Elementen des Sinnedorganes durch ein- 
ander erfahren, noch che ihre legte Endwirfung für die Seele zur 
Beranlaffung der Empfindung wird. Am wenigften dürften wir 
annehmen, daß in irgend einem früheren Alter die Zarbenpunfte 
fiir das Auge, die Töne für das Ohr nur ein unterſchiedloſes Ge- 
miſch darböten, aus welchem erft Die wachſende Aufmerkfamfeit die 
einzelnen Elemente ſchiede. Denn meber einen Beweggrund würde 
Diefe, nah eine Regel des Scheidens haben, wenn nicht der Ein- 
druck verſchiedenartige Beftandtheile fhon erkennbar darböte, zwi: 
ſchen denen ſie die Theilſtriche wohl vertiefen und zuſchärfen, aber da 
nicht ziehen kann, wo ſie durch keine Andeutung vorgezeichnet ſind. 
Ohne Zweifel iſt daher das Bewußtſein weder zu eng für eine 
Vielheit von Empfindungen, noch iſt in ihm irgend eine Neigung, 
die einmal gebildeten verſchiedenartigen Vorſtellungen zu irgend 
einem Mittleren zu verſchmelzen. Dieſe mehrfach erwähnte Eigen: 
thitmlichfeit nun macht uns zwar mißtrauifch gegen die Annahme, 
daß der Gegenjag der Borftellungsinhalte gleichwohl maßgebend 
fein folle für die Lebhaftigkeit, mit welcher fie fi) aus dem Be— 
wußtſein zu verbrängen ſuchen; aber fie macht doch diefen Einfluß 
nicht fo unmöglich, daß wir nicht zuvor Die Entſcheidung der Er- 
fahrung einholen müßten. Sehr deutlich nun find unfere Selbft- 
beobachtungen in diefem Punkte überhaupt nicht; dennoch fcheinen 
fie jene Annahme in feiner Weife zu beftätigen. Es bat immer 
große Schwierigkeiten, zwei Vorftellungen unverbunden neben ein- 
ander zu fallen; jo weit es indeſſen gelingt, finden wir Die gleich— 
zeitige Vorſtellung von Weiß und Schwarz nicht ſchwerer als die 
von Roth und Orange, den Verſuch, Süß und Sauer zugleich zu 
benfen, nicht mißlicher, als den, zwei ähnliche Süßigkeiten zu 





236 


vereinigen. Es ſcheint ung im Gegentheil, als wenn bie äufßer- 
ften Gegenfäge, die wir in dem Inhalte der Vorftellungen errei⸗ 
chen können, mit größerer Leichtigkeit neben einander gedacht wür⸗ 
den, als Berfchievenheiten, deren Weite ein beſtimmtes Maß bat. 
Die Borftellungen des Lichtes und der Finfterniß, des Großen und 
bes einen, des Pofttiven und des Negativen, und unzählige äbn- 
Yiche finden wir fo im Bewußtſein verbunden, daß das eine Glied 
nicht ohne das andere gedacht wird, und wenn cd uns unmöglich) 
ift, dieſe entgegengefetten als gleichzeitige Merkmale Eines und 
Deffelben zu faffen, fo hat es dagegen feine Schwierigfeit, fie auf 
Verſchiedenes zu vertheilen, und dies veiht hier völlig bin, wo 
es ſich nicht um die Verträglichkeit der Eigenfchaften an den Din- 
gen, ſondern um die Vereinbarkeit ihrer Vorftellungen in unferem 
Bewußtſein handelt. Störten in der That die VBorftellungen ein= 
ander nad Maßgabe der Gegenſätze in ihrem Inhalte fo, daß 
bie unähnlicheren fich mehr von ihrer Klarheit raubten, als die 
ähnlicheren, fo würde daraus die fonderbare Folge entipringen, 
daß nun ‚auch unfere vergleichende Beobachtung die Fleinen Unter- 
ſchiede Elarer faflen müßte als die großen. Aber alle Ausbildung 
unferer Gedanken beruht vielmehr darauf, Daß das Bewußtſein voll- 
fommen unbefangen durch den Inhalt bleibt, und daß es, um bie 
Berhältniffe zwifchen dem gegebenen Mannigfaltigen unparteitfch 
aufzufaffen, eben durch dieſe VBerhältniffe in feinen Verrichtungen 
nicht gehemmt oder gefördert wird. Zugeben dürfen. wir wohl, 
daß durch die verfhiedenen Beziehungen zwifchen den Vorftellungs- 
inhalten Gefühle in uns erregt werben, welde das Maß der 
Aufmerkſamkeit beftimmen, die wir dem einen von ihnen mehr 
als dem anderen zumenden; allein abgefehen von diefen Wirkungen, 
Die einem anderen Zwecke des geiftigen Lebens dienen, glauben wir 
die Behauptung ausſprechen zu dirfen, daß für die gegenfeitige 
Berdunfelung oder Verdrängung der Borftelungen durd einander 
ber Gegenfaggrad ihrer Inhalte ohne alle Bedeutung if. Man 
ann an diefem Ergebniß Anftoß nehmen, weil man e8 in Wider- 
ftreit glaubt mit dem allgemein nothiwendigen Sage, nad welchem 





” 237 

entgegengefegte Zuftände eines und defjelben Weſens einander auf: 
beben müfjen. Aber wie e8 fih auch um die Gültigkeit Diefes 
Sates verhalten möge, jene Erfahrungen lehren uns eben, daß 
die Thätigkeiten, durch welche wir entgegengefegte Inhalte vor- 
fielen, entweder nicht entgegengefet find, oder nicht in einem 
ſolchen Sinne, in welchem ihr vielleicht vorhandener Gegenſatz zum 
Grunde einer Gegenwirtung werben müßte. Aud bier Ternen 
wir nur, wie durchaus anders ſich das Geſchehen im Geifte ver: 
hält, als die Ereigniffe in der Natur, und wie fehr und bie vor- 
eilige Anwendung von Erkenntniffen irre führen muß, die in der 
Naturwiffenichaft unbeftritten gelten, weil man die Punkte genau 
fennt, auf die fie anzumenden find, während auf dem Gebiete des 
geiftigen Lebens ihre vielleicht auch hier allgemeine Gültigkeit vor- 
läufig nuglos für uns wird, da wir nicht die Urvorgänge, auf 
die fte fich beziehen müßten, ſondern vielfach vermittelte Folgen 
derjelben vor uns haben. Ä 


Keine unferer Fragen ift bisher beantwortet. Für bie 
Nothwendigkeit, daß überhaupt das Bewußtſein nur eine begrenzte 
Menge von Borftellungen fafle, haben wir feinen zwingenden 
Grund gefunden. Und fetten wir fie als cine Thatfache voraus, 
fo ſchien weder in dem Begriffe ciner verfchtedenen Stärke ber 
Borftellungen, noch in dem ihrer Inhaltögegenfäge ein Erflärungs- 
mittel für die Größe der Macht gegeben, mit welcher jede der: 
felben fich gelten macht und zu ihrem Theile die Richtung des 
Gedantenlaufes bedingt. Noch einmal müffen wir verjuchen, in 
dem jest verfleinerten Kreife möglicher Annahmen eine taugliche 
zu finden. 

- Gene Enge des Bewußtfeind nun, die den erften Gegen- 
ftand -unferer Fragen ausmachte, findet im Grunde nicht ftatt 
für die wirffihe Empfindung äußerer Eindrüde. Alle unfere 
Sinne können zugleich thätig fein und eine unermeßlihe Mannig- 


238 


faltigfeit einzelner Reize aufnehmen, deren jeder, jo lange nicht 
förperliche Zwiſchenwirkungen feine Fortleitung zu der Seele 
hemmen, dur eine bewußte Borftellung wahrgenommen wird. 
Man mag immerhin behaupten, daß von fo vielen Einbriden doch 
Die meiften nur dunkel und unklar aufgefaßt werben; die Mög- 
Yichkeit, fih ihrer und felbft ihrer Unklarheit fpäter zu erinnern, 
beweift und doch, daß fie wirklich im Bewußtſein geweſen find, 
nur daß fie weder durch eine überwiegende finnlihe Erregung 
noch durch einen größeren Werth ihrer Bedeutung die anderen 
verdrängen und fich als richtungbeftimmende Mächte im Gedan⸗ 
kenlauf heroorthun konnten. Es fheint völlig anders, wenn wir, 
ohne von gegenwärtigen Sinnesreizen genöthigt zu fein, in ber 
Erinnerung das abwefende oder vergangene Mannigfaltige zu 
wiederholen ſuchen. Faſt nur nad einander kehren hier die 
Theile des Gefebenen und Gehörten zuriid, die in der wirklichen 
Empfindung gleichzeitig erfchtenen; und die Gedanken, welche 
weniger unmittelbar ein Nachbild ſinnlicher Eindrüde find, bilden 
in unjerem Inneren ftet8 einen ſchmalen und binnen Strom, 
ber wohl häufig und in fharfen Sprüngen fi von einer Vor— 
ftellung zur andern wendet und in furzen Abwechſelungen Biel- 
faches durchläuft, aber faft ganz die Fähigfeit verloren zu haben 
ſcheint, gleich dem Blicke des Auges eine unzählbare Vielheit zu— 
gleich zu umfaſſen. So ift es, als weite nur der Zwang, den 
die andringenden Reize der Außenmelt und antbun, das Bewußt⸗ 
fein aus, während es in der Erinnerung ſich felbft überlaſſen 
fih zu einer Enge zufammenzieht, die faum Mehreres neben ein= 
ander, fondern nur Mannigfadhes nach einander faßt. Dennoch 
witrden wir zu wiel behaupten, wenn wir dies Letztere in voller 
Strenge ausfprechen wollten. Denn obgleich es fehr ſchwierig 
fein würde, durch unmittelbare Beobachtung zu enticheiden, ob 
mehrere Vorftellungen zugleich im Bewußtſein vorkommen können, 
und ob nicht vielmehr überall uns nur die Nafchheit der Wb- 
wechfelung mit diefem Scheine täufcht, fo nöthigt uns doch bie 
Thatfache, daß wir überhaupt Vergleiche anftellen können, zu ber 











239 


- Annahme einer möglichen Sleichzeitigkeit. Denn mer vergleicht, 
geht nicht blo8 von dem Vorftellen des einen der verglichenen 
Glieder zu dem Borftellen des andern über; um den Vergleich 
zu vollziehen, muß er nothwendig in einem untheilbaren Bemwußt- 
fein beide und zugleih Die Form feines Ueberganges zwiſchen 
beiden zufammenfaffen. Wenn wir eine Vergleihung mittheilen 
wollen, find wir durch Die Natur der Sprache genöthigt, Die 
Namen beider verglichenen Glieder und die Bezeihnung ber Be— 
ziebung zwiſchen ihnen zeitlich auf einander folgen zu laffen und 
dies verurfacht und wohl die Täufhung, als fände in der Bor- 
ftellung, Die wir mittheilen wollen, das gleiche Nacheinander 
ftatt; aber zugleich rechnen wir doch Darauf, daß in dem Bewußt⸗ 
fein des Anderen unfere Ausfage nicht drei getrennte Vorftellungen, 
jondern die eine Borftellung einer Beziehung zwifchen zwei andern 

veranlaſſen wird, Obgleich wir endlich, gewöhnt an den Gebraud 
der Sprache, auch unferen verſchwiegenen Gebanfengang in bie 
Form eimer innerliden Rede bringen, fo ift doch offenbar aud 
bier die Keihenfolge, in welcher zeitlih die Worte fur unfere 
Borftellungen ſich verknüpfen, nur eine Nachzeihnung der Be 
ziehungen, bie wir zwifchen ihren Inhalten früher vorftellten, und 
diefe Gewohnheit bes innerlichen Sprechend verzögert eigentlich) 
den Gedanfenlauf, indem fie das urſprünglich Gleichzeitige in 
eine Reihe auflöft. 

Bürgen und nun diefe Thaten des beziehenden Wiſſens für 
die Gleichzeitigkeit einer Mehrheit von Vorſtellungen, fo ſcheinen 
fie zugleich die Bedingungen des Stattfindens derfelben zu Iehren. 
Nur für unverbundened Viele hat das Bewußtſein feinen Raum; 
es ift nicht zu eng für eine Mannigfaltigkeit, deren Glieder wir 
duch Beziehungen getheilt geordnet und verbunden denken. Zwei 
Eindrücke zugleich, aber ohne irgend ein gegenfeitiges Verhältniß 
vorzuftellen gelingt uns nicht; das Bewußtſein bedarf einer Un- 
ſchauung des Weges, den e8 felbft von einem zum andern zurück— 
zulegen hätte; mit diefer umfpannt e8 die größere Vielheit leichter 
als die Fleinere ohne fie. Seine Faſſungskraft ift deshalb ftei- 


240 


gender Ausbildung fähig. Zufammengefegte finnliche Bilder wie- 
derholt die Erinnerung leichter, je geübter wir waren, fchon 
in der Wahrnehmung uns nicht nur leidend ihrem Eindrud bin- 
zugeben, ſondern die BVerhältniffe ihrer Theile nachzuzeichnen. 
Die gleichzeitigen Töne einer Muſik werden von Jedem als ſolche 
empfunden, aber ſchwer von dem erinnert, für den fie nur eine 
zufammenbanglofe Vielheit waren; das muſikaliſch gebildete Ohr 
faßt fie von_ Anfang an als ein beziehungsreiches Ganze auf, 
deffen innere Organifation durch den vorhergehenden Verlauf der 
Melodie vorbereitet war. Jedes räumliche Bild haftet fefter in 
unferm Gedächtniß, wenn wir im Stande find, feinen anſchau— 
lichen Eindrud in eine Beſchreibung aufzuldfen. Wenn wir von 
dem einen Theile eines Gebäudes jagen, daß er auf dem andern 
ruhe, einen dritten ftüge, gegen einen vierten fich unter beſtimmtem 
Winkel neige, vermehren wir zunädft die Menge der feftzubalten- - 
den Borftellungen; aber in dieſem ſprachlichen Ausdruck durch 
Säge verwandelt fi das ruhende Nebeneinander der Theile 
in eine Reihe von Wechſelwirkungen, die zwiſchen ihnen ftattzu- 
finden fcheinen und fie deutlicher gegenfeitig verbinden, als Die 
unzergliederte Anſchauung. Je reicher die Bildung des Geiftes 


. wird, je feiner fie die vercinigenden Beziehungen entlegener 


Gedanken zu finden weiß, um fo mehr wächſt die Weite des Be- 
wußtfeins auch für VBorftellungen, deren Inhalt nicht mehr durch 
räumliche und zeitliche Formen, fondern durch Zuſammenhänge 
innerer Abbängigfeit verbunden: ift. 


Erſchien und nun in der Empfindung das Bewußtſein dur 
die Gewalt der äußeren Reize, die gebieterifch ihre Berückſichtigung 
verlangen, einer unbegrenzten Vielheit leiventliher Zuſtände zu= 
gänglih, To ftellt ſich dieſes Wiffen der Erinnerung mehr als 
eine von dem Geifte ausgeübte beziehende Thätigfeit dar. So 
lange wir das Bewußtſein als einen Raum behandelten, in 


241 


welchem die Borftellungen aus eigener Kraft auf und ab fteigen, 
fehlte e8 und an einem Grunde für die enge Begrenztheit feiner 
Ausdehnung und die Vielbeit gleichzeitiger Zuſtände Eonnte uns 
nicht unmöglich feinen ; natlirliher glauben wir dagegen voraus: 
fegen zu müffen, daß die Einheit der Seele cine gleichzeitige 
Menge unverbundener Handlungen ausfchließt, und daß fie nur 
das umfaßt, was fie in der Einheit einer einzigen Handlung zu⸗ 
fammenbalten Tann. So fihiene die Anficht, melde das Vor⸗ 
ftellen als einen beweglichen inneren Sinn die Eindrüde hervor⸗ 
heben Läßt, Leichter zu der Enge des Bewußtſeins zu führen, nad 
deren Gründen wir fragten. Doch enthält fie nod feinen Rad: 
weiß Der Gefege, nad denen dies wandelnde Licht Der beziehenden 
Aufmerkſamkeit die Richtung feines Weges wählt. Nicht unbe- 
ftimmt in da8 Leere hinaus wird es fuchend gehen können, fondern 
wenn es thätig feine Gegenftände zu erfaffen feheint, wird feine 
Thätigkeit doch nur in der Wahl beftchen, mit der es von den 
vielen Einbrüden, die fich ihm entgegenfommend aufprängen, die 
einen aufnimmt und die andern fallen läßt. 

Es find befannte Thatfachen, auf die wir hiermit hindeuten. 
Daß ein neu erzeugter Eindrud die vergeffene Vorftellung eines 
früheren gleichen wiederbelebt oder fie in das Bewußtſein repro⸗ 
ducirt, iſt das einfachfte der allgemeinen Gefege, welche den Lauf 
ber Erinnerung beberrfchen. Aber diefe Wicdererwedung tft doch 
nur infofern von Werth für unfer inneres Leben, als fie nicht 
nur das Bergefjene wieverbringt, fondern zugleich das Bewußtſein 
feiner Gleichheit mit dem neuen Eindrud vermittelt. Neues und 
Altes darf deshalb nicht völlig zufammenfallen, ſondern beide 
müffen als zwei geſchiedene Fälle der gleichen Borftellung aner- 
kannt werden, und dies iſt nur möglich, ſobald beide durch Neben- 
züge, die fih an fie knüpfen, unterfcheibbar find. Der Gewinn 
jener unmittelbaren Reproduction beruht daher auf der Möglich⸗ 
feit, daß ber wiebererwedte Inhalt auch die andern mit ſich ind 
Bewußtſein zuräüdführt, mit denen er früher verbunden mar, be⸗ 
fländen dieſe auch in Nichts weiter, als in dem dunklen Gefühl 

Loge J. 3. Aufl. 16 








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_—- 


der allgemeinen Gemüthslage, in welche feine frühere Wahrnehmung 
fiel, und die verſchieden wäre von der Stimmung, welche feinen - 
neuen Eindrud begleitet. Mit dem Namen der Affociationen 
pflegt man dies gegenfeitige Haften der Einbrüde an einander zu 
bezeichnen, das wir aud in ihrem unbewußten Zuftande als 
fortbeftehend betrachten müffen, um ihr gemeinfchaftliches Hervor⸗ 
treten im Augenblide der Wiederbelebung zu begreifen. Vergeb- 
ih würde jede Bemühung fein, von der Art und Weife dieſes 
Haftens irgend eine anfchauliche Borftellung zu gewinnen; nur 
in feinem Erfolge bemerkbar, ift e8 an fi aller Beobachtung 
entzogen und hat nirgends eine Analogie in dem Gebiete der 
Naturerſcheinungen. Ohne deshalb zu fragen, durch welches 
Bindemittel die Haltbarkeit dieſer Borftellungsverfnüpfungen be- 
wirkt werde, können wir nur die Bedingungen zu bezeichnen ſuchen, 
unter denen fie auf Übrigens unbegreiflihe Weife ftattfinden. 
Alle Affociationen der Vorſtellungen laſſen fih nun auf den 
gemeinfamen Gefihtspunft zurüdführen, daß die Seele die Summe 
aller ihrer gleichzeitigen Zuftände nicht chemiſch zu einem einförmi- 
gen Mittelzuftand, wohl aber mechaniſch als Theile zu einem zufam- 
menhängenden Ganzen verbindet, und daß fic ebenfo die zeitlich ab= 
laufende Reihe ihrer Veränderungen zu einer Melodie verknüpft, 
in welcher die Glieder am fefteften zufammenhängen, die ohne Da— 
zwifchentreten anderer fih unmittelbar berühren. Jede Reproduc- 
tion beruht dem entfprechend darauf, daß das Wiederbelebte nicht 
allein auftauchen kann, fondern das Ganze mit ſich zu bringen 
ftrebt, deffen Theil e8 früher bilvete, und aus dem Ganzen zunädft 
den andern einzelnen Theil, mit dem e8 am engften verbunden mar. 
Auf diefen gemeinfamen Ausdruck laſſen ſich die einzelnen Fälle 
zurädführen, die man zu unterfcheiden pflegt. Er umfaßt vor 
Allem nicht allein die Affociationen der Vorftellungen, auf Die unfer 
Zufammenbang uns hier zunächſt führte, fondern ſchließt die zahl- 
reihen Berfnüpfungen mit ein, die in ganz ähnlicher Weife zwiſchen 
Gefühlen, zwiſchen Strebungen unter einander oder zwiſchen Vor⸗ 
ftellungen und Gefühlen, Gefühlen und Strebungen ftattfinden, 








243 


und deren mitbeftimmender Einfluß in einem vollftändigen Gemälbe 
auch des Borftelungslaufes für ſich nie überſehen werden darf. 
Wir finden ferner in ihn eingefchloffen die Afjociatton, durch welche 
die Bilder einzelner räumlicher Geftalttheile einander und das 
Ganze zurückrufen. Denn jeve Raumgeftalt läßt uns ihre Theile 
entweder gleichzeitig überfehen, oder wir werben uns ihrer in einer 
Reihenfolge nachbildender Bewegungen unferes Blickes bewußt. 
Jede andere innerlichere Beziehung ferner, durch die wir früher 
einmal Mannigfaches zu dem Ganzen eines Gedankens verfnüpft 
hätten, würde ebenfo nur in einem gleichzeitigen Vorftellen oder 
in dem ununterbrochenen Zuge eines zeitlich verlaufenden für uns 
faßbar gewefen fein. Erinnert uns endlich oft ein Einvrud an 
einen andern ähnlichen, mit dem er doch früher nie in gleichzeitiger 
Wahrnehmung gegeben war, fo erfordert doch auch dieſer fchr häufige 
Borgang keine bejondere Erflärung. Er beruht zum Theil auf der 
unmittelbaren Wiederbelebung des Gleichen durch das Gleiche; Die 
frühere Vorftellung deffen, was beiden Eindrüden gemeinfchaftlich 
ift, ſtrebt zurückzukehren und führt nun durch mittelbare Reproduc- 
tion auch die befonderen Züge mit ſich, um deren willen das Alte 
dem Neuen nur noch ähnlich, nicht gleich ift. Einfache Vorftellun- 
gen, deren Achnlichleit in einer ebenfo einfachen unſagbaren Ver- 
wanbtichaft ihres Inhaltes befteht, rufen einander mit geringer Xeb- 
haftigfeit hervor; cine Farbe erinnert nur wenig an andere Farben; 
ein Ton faum an die Mannigfaltigfeit der Skala; viel fraftooller re- 
produciren beide das Ganze, als deſſen Theil fie früher auftraten, 
die Farbe die Geftalt der Blume, an der fie erfchten, die Töne die 
Melodie, die mit ihnen begann. Das Wort, als eine Reihe von 
Zönen, erinnert wohl am gleichgebaute, und wir verwechfeln es; 
aber doch lebhafter an das Bild der Sache, mit dem es zu einem 
affociirten Ganzen verbunden war. In zufammengefegten Vor— 
ftellungen pflegt überall die Verbindungsform des Mannigfachen in 
unferer Erinnerung über den Eindrud zu überwiegen, den die un- 
mittelbare befondere Eigenſchaft der Theile giebt; dieſelbe Form der 


Buchſtaben erkennt fhon das kindliche Auge wieder, ohne durch Die 
16* 


244 


Verſchiedenheit ihrer Färbung fi aufhalten zu laſſen. Auf das 
Lebhaftefte erinnern Daher Bilder an einander, deren vielleicht Kußerft 
verſchiedene Beftandtheile doch in gleicher Art der PVerzeichnung, 
nach einem gleichen Schema des Zuſammenhangs, ſich gruppirten. 
Die Richtung, weldhe der Verlauf der geiftigen Ausbildung nimmt, 
bevorzugt allmählich die eine diefer Neproductionsmeifen vor den 
andern; je häufiger unfere Aufmerkſamkeit auf die gleiden und 
ähnlichen Berfnüpfungsformen des Mannigfachen gerichtet gewefen 
ift, um fo leichter itberficht fie das Verſchiedene, das felbft in 
diefen vorfommt, und hält die allgemeineren Aehnlichkeiten feft; 
fie gemöhnt fih, aud die innerlihen und unanſchaulichen Zuſam⸗ 
menbänge aufzufaflen, und für ihre Erinnerung wird das, was 
unter allgemeinen Gefſichtspunkten begrifflih zufammengehört, 
näher verwandt, als dasjenige, was feinem Wefen nad einander 
fremd nur durch gleichzeitige Wahrnehmung fih im Bemußtfein 
zufammenfand. Dann pflegt nicht felten Die Schärfe des Gedächt— 
niffes für die Reihenfolge der Vorfälle des Lebens abzunehmen, 
während feine Treue für die allgemeinen Bezichungen zwifchen 
den Naturen der Dinge wächſt. Aber es muß hinreichen, an 
diefe Verhältniffe erinnert zu haben, deren reihe Mannigfaltigteit 
bier zu erfhöpfen völlig unmöglich fein würde. 

Sp ift durd den Mechanismus der Affociationen dem Ge— 
danfenlauf eine Vielheit möglicher Wege eröffnet, die er cinjchla- 
gen kann und zwifchen denen er wählen muß. Indem nun jede 
der eben vorhandenen Vorftellungen alle jene andern wiebergu- 
bringen ftrebt, mit denen fie im Laufe des Lebens nah und 
nach verknüpft worden tft, wird die Enticheidung darüber, was 
von al diefer Fülle in jebem Augenblide zuerft in das Bewußt⸗ 
fein zurüdfehren fol, von einem Zufammenfluß verfchievener Be- 
dingungen abhängen. Ye größer die Anzahl der ähnlichen Züge 
ift, welche irgend eine vergeffene Vorftellung mit der eben herr: 

 Ihenden theilt, um fo Teichter wird fie durch biefe wieder erweckt 
werden, denn um fo zahlreiher find die einzelnen Fäden des 
Bandes, welches beide vereinigt. Aber die mwirffame Vermandt- 





245 


ſchaft zwifchen ihnen wird doch nicht allein in ver Aehnlichkeit 
ihrer Inhalte beftehen; auch ohne diefe Uebereinftimmung Tann 
in fehr mannigfaltiger mittelbarer Weife eine Vorſtellung mehr 
oder weniger eng mit dem Sinne einer eben ablaufenden Gedan- 
fenreihe zufammenhängen, mit welcher fie frühere Ueberlegungen 
als wefentlihen Beziehungspuntt, als Beftandtbeil, als Beifpiel, 
als begleitendes Phänomen, verbunden haben. Selbft eine form- 
Iofe Stimmung des Gemüthes wird zwei BVorftellungsgruppen, 
welche fie mit gleicher Färbung begleitete, trog der Verſchiedenheit 
ihrer Inhalte einander verwandter erfcheinen laſſen, als andere 
von ähnlicherem Gepräge. An die Stelle eines feften Gegen— 
ſatzes zwifchen den Vorſtellungen, welcher maßgebend für die Leb— 
baftigfeit ihrer gegenfeittgen Verdrängung oder Wiederbelebung 
wäre, haben wir daher eine für jeden Yugenblid neu beftimmte 
Größe ihrer Verwandtſchaft zu fegen, Die fich ändert, wie der 
Contraſt zweier Farben mit dem Hintergrunde werhfelt, auf den 
fie aufgetragen find. Und ebenfo wandelbar ift die andere Be— 
dingung für die Richtung des Gedanfenlaufes, die Größe des In— 
tereffes, die jeder Vorftellung zufommt, und welche die Stärfe 
ausmacht, mit der fie im Bewußtſein fich gelten zu machen ſucht. 
Kein fpäterer Augenblid bringt dieſelbe Gefammtjumme von Vor- 
ftellungen, Gefühlen und Strebungen und dieſelbe körperliche 
Stimmung wieder, im Zufammenhang mit denen früher dem 
Eindrud die Höhe feines Intereſſes zugemeffen war. Nicht mit 
dDiefem alten Werthe wirft er daher für Die Beftimmung des 
weiteren Gedanfenlaufes mit, jondern mit dem neubeftimmten 
Grade defjelben, den er zu gewinnen vermochte, indem er mit 
jenem, welchen er früher befaß, in diefen neuen Streit mit neuen 
Berhältnifen eintrat. 

Die Entwidlung eines Vorſtellungszuges geftaltet fih unter 
Diefen Bedingungen zu dem wandelbaren und veränberlichen Schau- 
ipiel, das wir alle in uns kennen, und deſſen ſcheinbar vegellofer 
Wechſel uns häufig in Verwunderung ſetzt, weil wir feine leiten= 
den Gründe nie zu überfehen im Stande find. Denn ber voll- 





246 


ftändige Grund für die Geftalt jedes nächften Augenblides Tiegt 
nur in dem vollftändigen Gefammtzuftande unferer Secle während 
des gegenwärtigen; aber von ihm zeigt uns unfere Selbftbeob- 
achtung immer nur wenige Bruchſtücke; wir werden uns wohl 
ber Reihenfolge unferer vorangegangenen Borftellungen bewußt, 
aber nie find wir in der Lage, zugleich die Eigenthlimlichkeiten 
unferer Eörperlihen Stimmung, unferer Gemüthslage, unferer 
Strebungen, endlich die befonderen Wechfelbeziehungen zu zerglie- 
dern, in melde alle dieſe Elemente zu einander verflochten waren. 
‚Und doch hängt nur von der Summe aller diefer Bedingungen 
zufammengenommen aud der Fleinfte und unbebeutendfte Zug 
unferes Borftellungslaufes ab; denn nicht in einem fonft leeren 
Bemußtfein ereignet er fih ja überhaupt, fondern nur in der 
ganzen vollftändigen lebendigen Seele, die immer zugleih in 
jenen andern Richtungen thätig ift und im dieſen wieder nicht 
thätig fein kann, ohne vermöge der Einheit ihres Weſens deſſen 
auch in ihrem Borftellen eingedenk zu fein. 


Bierted Kapitel. 
Die Formen des beziehbenden Wifjen®. 


Die VBerhältnifje zwifchen den einzeluen Borftellungen als Gegenftände neuer Borftel- 
lungen. — Wechſel des Wiſſens und Wilfen vom Wechſel. — Angeborene Ideen. — 
Die räumlich zeitliche Weltauffafjung ber Sinnlichkeit. — Die denkende Weltauffaf- 
fung des Verſtandes. — Der Begriff, das Urtheil, ber Schluß. — Das zufammens 
faffende Beftreben der Vernunft. 


Jede Rede verftehen wir nur, wenn unfere Erinnerung die 
früheren Worte aufbewahrt, während wir die fpäteren hören. Und 
nicht dies allein; auch die Reihenfolge, in melcher die einzelnen 
uns zugezählt werden, muß bis zum Schluffe der Rede irgendwie 
in unferem Bewußtſein wirffam erhalten bleiben; denn nicht ohne 
dieſe zeitliche Abfolge fonnte der Sprechende vollftändig die innere 
Berfnüpfung des Borftellungsganzen bezeichnen, das er und mit- 


247 


zutheilen wünſcht, und der Hörende dürfte Die zeitliche Ordnung 
der Worte erft dann vergefen, wenn er den Sinn dieſes Ganzen 
in. fih aufgenommen bat. | 

Zwei verfchiedene Leiftungen finden wir hierin eingefchloffen. 
Ih erwähne diejenige zuerft, die in etwas reicherer Ausführung 
zu den befannteften Erfheinungen gehört: die Fähigfeit, auch in 
fpäterer Nacherinnerung eine Reihe von Eindrüden, eine Gejchichte, 
Melodie oder Rede, in derfelben Aufeinanderfolge ihrer Beftand- 
theile zurüdgurufen, in welcher eine frühere Wahrnehmung fie 
darbot. Unmöglich wäre offenbar dieſe georbnete Wiederholung, 
ebenfo unmöglich auch ſchon jene erfte verftehende Zuſammen⸗ 
foffung des Mannigfadhen in der Wahrnehmung, wenn die zu= 
rüdbleibenden Erinnerungsbilver aller früheren Eindrücke mit denen 
der jpäteren nur überhaupt in einen Knäuel verſchmölzen; irgend 
eine beſtimmte Gliederung muß ſogleich zwiſchen ihnen geftiftet 
worden fein und fie mit Auswahl und Abftufung gefondert und 
verbunden haben. Nur unter diefer Bedingung kann e8 gefchehen, 
daß der Hörende mit der Vielheit der nach und nach vernommenen 
Worte einen Sinn verbinde, und daß dem Erinnernden jeßt diefe _ 
vielen nicht in einem formlofen Schwalle zurüdfehren, ſondern 
in derfelben Reihenfolge, die fie in der urfprünglihen Wahr: 
nebmung hatten, vor feinem Bewußtſein fich wieder entwideln, 

Man hat weitere Rechenschaft von der Art diefer Glieverung 
zu geben verfuht. Wenn eine Neibe finnlicher Reize nah und 
nach auf uns einmwirkt, jo begegne fchon der erfte einer hemmen- 
den Rückwirkung von Seiten des übrigen Inhalts, den er ſtets 
im Bewußtfein bereitS vorfinde; unvermeidlich werde Deshalb bie 
Stärfe des von ihm erzeugten Eindruds ſchon eine Verminderung 
bis zu dem Augenblide erlitten haben, in welchem ber zweite Reiz 
ber Reihe zu unferer Wahrnehmung fommt. Nicht mit dem 
ursprünglichen Eindrud des erften Reihengliedes, fondern nur mit 
dem noch vorhandenen abgeſchwächten Klarheitsreſte deffelben, ver- 
bindet fih nun der Eindrud des zweiten Gliedes, denn biefen 
Reſt allein trifft e8 im Bewußtſein noch wirklich an. . Auch diefe 


248 


Berbindung gber unterliegt demſelben hemmenden Einfluß, und 
beide Beftandtheile derjelben werben eine neue Berminderung 
ihrer Stärke bi8 zu dem Zeitpunkte erlitten haben, in weldem 
der dritte Reiz unfere Wahrnehmung erwedt. Auch diefer dritte 
verfuäpft ſich daher weder mit dem erften felbft, noch mit dem 
zweiten felbft, am menigften gleich innig mit beiden; er kann fich 
nur zu dem gefellen, was er jegt noch im Bewußtſein vorfinbet, 
zu jener Combination nämlich, in welcher ein zweiter Klarheits⸗ 
veft des erften Eindrudd mit einem erften Klarheitsreſt des zmei- 
ten verbunden ift. Die Fortfegung diefer Betrachtung würde mit- 
hin zeigen, daß jeder fpätere Eindrud ſich mit einer Gruppe ver- 
nüpft, die fiir feinen andern bie gleiche ift, und in welcher jedes 
frühere Glied der Reihe durch einen um fo ſchwächeren Klarheits⸗ 
veft vertreten iſt, je länger die Reihe geworben und je näher es 
jelbft an deren Anfange Liegt. Die Wiedererinnerung der Reihe 
folgt dann denfelben Abftufungen. Das Anfangsglied, wenn feine 
Borftellung im Bemwußtfein auf irgend eine Art erneuert worden 
ift, hebt nicht auf einmal und wit gleicher Kraft alle übrigen 
Slieder empor; erft wenn es felbft bis zu jenem erften Klarheits- 
vefte gehemmt tft, mit dem in der urfprünglihen Wahrnehmung 
fih das zweite Glied verbunden hatte, zieht e8 nun auch Dies 
zweite in das Bewußtfein zurüd; erft dann taucht das britte 
Glied auf, wenn gegen ben Widerftanb, den die übrige Anfüllung 
des Bewußtfeins auch diefem Vorgang leiftet, die Wiederbelebung 
des zweiten gelungen und die Combination ber erften beiden bis 
zu dem Klarheitsreſte gehemmt ift, mit dem allein Died dritte 
Glied fich früher verfnüpfen konnte. 

Wenn e8 nur um einen Grund für Die Ordnung zu thun 
wäre, im welcher Die Erinnerung die Glieder der mahrgenommenen 
Reihe wiederholt, fo reichten einfachere Betrachtungen aus. Wenn 
einmal eine Mehrheit von Eindräden der Seele in zeitlicher 
Volge zukommt, fo werden diejenigen am innigften over ausſchließ⸗ 
lich fich verfnüpfen, die unmittelbar, ohne ein anderes Glied zwi⸗ 
ſchen ihnen, auf einander folgen. Denn worin auch immer Grund 


249 


und Weſen der Borftellungsverbindung, für die wir den Namen 
der Afjoctation braucden, und worin aud immer die Abftufung 
in der Innigkeit diefer Verbindung beftehen mag: unter allen 
Umftänden wird doch ein mittlere® Glied zwiſchen zweien Das 
befiere Recht der engen Verknüpfung mit jedem von beiden haben 
and durch fein Dazwifchentreten beide von einander trennen. Wie- 
berholt daher die Seele im zeitlicher Folge die einft ihr ebenfo 
zugefommenen Wahrnchmungen, fo kann der Weg dieſes Erinnerns 
von dem erften Gliede zu dem dritten nur durch das zweite gehen, 
und nicht Die Innehaltung diefer Richtung, fondern nur die Ab— 
weichungen von ihr würden beſonderer Exrflärung bedürfen. Allein 
daß überhaupt die Erinnerung in zeitlicher Wbfolge die Eindrücke 
wiederholt, welche die erfte Wahrnehmung zeitlich nad) einander 
aufnahm, ift nicht ebenfo felbftverftändlih. Dies Nacheinander 
- der Wahrnehmung war das Mittel und der Grund, die einzelnen 
Eindrücke in Beziehungen von abgeftufter Innigfeit zu verbinden; 
wenn aber zwiſchen dem Augenblid der vollendeten Wahrnehmung 
und dem der Erinnerung Die ganze Reihe vergeffen ruht, fo ift 
fie mit der ganzen jo erworbenen Gliederung aller ihrer Beitand- 
theile gleichzeitig und auf einmal vorhanden. Warum ermedt nun 
die Erinnerung nit das Ganze auf einmal, als eine gleichzeitige 
Mannigfaltigfeit, deren Theile unter einander nur mit jenen Ab⸗ 
finfungen der Engigkeit verbunden find? Auf diefe Trage fuchte 
die Anfiht zu antworten, deren wir gebachten. In den Hem— 
mungen der Borftellungen durch einander und in der Anftrengung, 
durch welche gegen jolche Hemmung eine vergeflene Borftellung 
wieder in das Bewußtſein zurädgebradt wird, ſah fie Vorgänge, 
die an ſich des Zeitverlaufs zur Erreichung ihres Zieles bedürfen; 
nur nach und nad, indem tm beftiunmten Zeitpunkten beftimmte 
Llarbeitögrößen der Borftelungen wiebererrungen worden find, 
treten daher die wirkſamen Beranlaffungen wirflidh ein, welche der 
Heike nad) die mit jenen Klarheitsreſten verbundenen Glieder der 


uriprünglihen Wahrnehmungskette zuräidführen. 
Aber wichtiger ift und die andere zweite Leitung, Die wir 





250 


oben ſowohl in dem erften verftehenden Anhören einer Rede als 
in ber Nacerinnerung ihres Ablaufs nachzuweiſen verfprachen. 
Zum Berftändniß reichte e8 nicht bin, daß die gehörten Worte 
nad einander folgen; die früheren mußten aufbewahrt bleiben 
neben den fpäteren; auch Die Erinnerung einer Reihe bringt nicht 
in jedem Augenblid nur cin Glied wieder, ſodaß vor und hinter 
ihm Nichts im Bewußtfein wäre; vor dieſem Gliede fenfen fich 
noch die ſchwindenden Bilder der früheren, hinter ihm beben fich 
bereits die auffteigenden der fpäteren Eindrüde. Aber das Ver— 
ftänbniß erfordert mehr; e8 veicht nicht Hin, daß diefe georbneten 
und abgeftuften Beziehungen zwifchen den einzelnen Borftellungen 
befteben, over daß in regelmäßiger Abfolge die Erinnerungs- 
bilder derjelben im Bewußtfein vorüberzichen. Käme Nichts an- 
deres Hinzu, jo wäre die Seele nur ein .Schauplat, auf welchem 
thatjächlic ein Zuſammenhang des Borftellend oder ein Wechſel 
. des Wiffens ftattfände; ein Vorftellen dieſes Zuſammenhangs aber 
oder ein Wiffen von diefem Wechfel würde erft in einem Beob- 
achter entſtehen Fünnen, der mehr verftände, als Zuftände in ſich 
auf einander folgen zu laſſen; der e8 verftände, in einem zweiten 
und höheren Bewußtfein jene Thatſachen, die ftattfindenden Be- 
ziehungen zwifchen jenen gleichzeitigen oder abmechfelnden Borftel- 
lungen, zufommenzufaffen und zu beurtheilen. 

In der That nun bedürfen wir freilich Diefes andern Zu— 
ſchauers nicht; denn dadurch ift Die Eecle ja Seele, daß ſie An- 
deres und fich felbft zu beobachten vermag. Aber dazu glauben 
wir dennod Grund zu haben, diefe ihre eigenthümliche Fähigkeit 
ausdrücklich im egenfage zu dem Mechanismus der Wechſel⸗ 
wirfungen zwiſchen ihren unmittelbaren Vorftellungen hervorzu- 
heben. Man täufcht fi gewiß, und nicht ohne nachtheilige Fol- 
gen des Irrthums, wenn man dies Wiffen vom Wechſel des 
Wiſſens blos aus dem Begriffe der Seele als eines vorftellenden 
Weſens und aus der Einheit ihrer Subftanz als eine felbftver- 
ftänblige der Erwähnung kaum bebürftige Folge zu begreifen 
glaubt. ‚Denn zuerft der leere Begriff diefer Einheit kann uns 


251 


wohl zu der unbeftimmten Forderung irgend einer durchdringen⸗ 
den Berfnüpfung zwiſchen allen Zuftänden veranlaffen, die Diefem 
einen Wefen begegnen könnten; in welcher Form aber dieſe Ber- 
knüpfung ftattfinden müßte, wirden wir nicht errathen; einer 
fo menig charafterifirten Berpflihtung würde Die Seele in der 
That Schon durch jene Verkettungen der Afjociation und Repro— 
duction zu entfprechen ſcheinen können, die ja wirflic ihre Vor— 
ftelungen in gegenfeitigen Zuſammenhang bringen. Auch dies 
aber würde nicht ausreichen, die Nothwendigfeit des zufammen- 
faflenden Wiffens vom Wechfel des Wiffens Durch den Zuſatz be- 
gründen zu wollen, daß das einheitliche Wefen der Seele zugleich 
ein vorftellendes Wefen ſei. Wahrſcheinlichkeit, obwohl nicht Ge- 
wißheit, hat allerdings der Gedanke, daß die Seele die Fähigkeit 
des Borftellens, in welcher ihre unterfheidende Eigenthümlichfeit 
befteht, in der That auch auf jede Veranlaffung ausübt, welche 
geeignet ift, zu ihrer Ausübung aufzufordern; wahrſcheinlich ift 
es alfo an ſich ſchon, daß auch Die Verhältniſſe, welche zwiſchen 
ihren einzelnen Vorſtellungen eingetreten find, zu neuen Reizen 
für fie werden, auf welche fie wieder mit einer Handlung des 
Borftelend antwortet. Und da die Erfahrung und nun lehrt, 
daß wirklich gefhicht, was wir bier erwarten zu können glaubten, 
fo entfteht allerdings der Schein, als ginge alles Wiffen um die 
Zufammenhänge der Borftelungen und um ihren Wedel als 
ſelbſtverſtändliche Zugabe aus der Thatſache Diefer Zufammenhänge 
und dieſes Wechſels felbft hervor. 

Wenn wir im Gegenfag zu dieſem Schein für nothwendig 
halten, dies zufammenfaflende und beziehende Bewußtſein als cine 
neue Thätigfeitsäußerung der Secle abzutrennen und auszuzeidh- 
nen, jo winfchen wir durch diefe Sonderung eine Folgerung ab- 
zufchneiden, die uns irrig ſcheint. Aus der Zergliederung eines 
äußern Sinnedreized, und obne die Erfahrung zu befragen, Fön- 
nen wir nicht vorher beftimmen, ob er als Ton oder als Farbe 
werde empfunden werben. Vergleichen wir aber zwei ähnliche 
Reize, von denen wir aus Erfahrung wiffen, daß fie um ihrer 


252 


Form willen beide als Töne gehört werden, und Dürfen wir vor: 
außjegen, daß bie Thätigkeit des Hörens unter-dem gleichzeitigen 
Eindrude zweier Reize das Berfahren nicht ändert, mit dem fie 
einen einzelnen für fih aufnehmen würde, jo innen wir daran 
denken, das Ergebniß des Zuſammenwirkens beider Töne als Er: 
folg ihrer Wechſelwirkung zu berechnen. Diefer Verſuch würde 
dagegen fruchtlos werben, wenn die Thätigfeit des Hörens durch 
jeden Wechfel in der Zahl und dem Verhältniß von Tönen, die 
gleichzeitig an fie Anſpruch maden, zu einer Abänderung der Ge— 
jege beftimmt wiirde, nach denen fie auf jeden einzelnen zurüd- 
wirt. Was fie dann in jedem diefer Fälle wirklich hörte, würde 
fih nicht aus der bloßen Berechnung der Eindrüde, welche die 
Töne einzeln gemacht Haben würden, und ber zwifchen diefen 
Eindrüden entfichenben Wechſelwirkungen errathen: man mußte 
noch einmal fragen, wie dieſe ganze Summe“ von Thatfachen auf 
die hörende Thätigkeit einwirkt, und welche neuen und eigenthilm:- 
lichen Rückwirkungen fie in ihr veranlaft. 

Ich habe an einer früheren Stelle (©. 204) diefe allgemeine 
Betrachtung ausgeführt, nach welcher wir von den einfachen Vor- 
ftellungen, die und für erfte Rückwirkungen der Seele auf uns 
mittelbare Reize der Außenwelt galten, geiſtige Thätigfeiten 
höherer Ordnung unterfchieden, als Rücwirkungen zweiten Gra⸗ 
des, angeregt durch die Berhältniffe, welche zwiſchen jenen ein⸗ 
facheren einzelnen Acten der Seele entftanden find. Immer von 
neuem als Reize höherer Ordnung ſchienen und diefe Berhältniffe 
auf das ganze Wefen der Seele einzuwirken und Fäbigleiten def- 
felben zur Aeußerung zu Ioden, zu deren Ausübung jene ein- 
facheren Reize erfter Ordnung feine Anregung gaben; nicht felbft- 
verſtändlich aus der Betrachtung dieſer veranlafienden Urfachen 
fchienen uns dieſe neuen Rückwirkungen ableitbar; fie fonnten in 
Formen gefcheben, die aus der Beichaffenheit der Bedingungen, 
die fie beroorriefen, unerllärbar wären, erklärbar nur aus ber 
eigenthlimlichen Erregbarfeit der Seele, Die miterzeugend in ihnen 
ih Außert. Diefe Betrachtungen nun wenden wir auf den ver- 


253 


Tiegenden Fall an. Käme es nur darauf an, das Wiſſen vom 
Wechſel des Wiſſens als cin bloßes Gewahrwerden der Berbält- 
niffe zwiſchen den Vorftellungen zu begreifen, ohne daß im Ge⸗ 
wahrwerden Neues zu ihnen binzufäme, fo wäre die Umftänblich- 
feit unferer Ueberlegung überflüffig. Aber dies zufammenfaffende 
Wiſſen geſchieht in Formen, die uns nicht in den zufammenzu- 
fafienden Thatſachen bereit8 gegeben feinen, in Formen, melde 
nicht fo einfache Erzeugniffe gewiſſer Borgänge im Borftellungs- 
verlauf find, daß fie mit begreiflicher Nothwendigkeit überall ent- 
ftehen müßten, wo dieſe Vorgänge fih ereignen; wir balten fie 
für abhängig von einer neuen Seite in der Natur der Seele, 
die bisher noch nicht zur Aeußerung kam, und die auch dann eine 
befonbere Beachtung erfordert, wenn fie thatfächlih eine Aberall 
vorhandene, nur in unferer Definition noch nicht berüdfichtigte 
Eigenſchaft jeder Seele ift. 


Frühere Zeiten haben von angeborenen Ideen geſprochen, 
die, dem menschlichen Geifte vor aller irdiſchen Erfahrung ange- 
Börend, einen unverlierbaren Theil feines Weſens bildeten. Ohne 
immer genau zu prüfen, welde Merkmale es fein müßten, dur 
Die cin Gedanke dieſen vorzeitlichen Urfprung bemeifen könnte, 
bat man die Grenzen dieſes urſprünglichen Beſitzes von Erfennt- 
niß weit genug gezogen und Alles, was dem gebildeten Menfchen 
am höchſten gilt, ven Glauben an Gott, an die Unfterblichkeit 
der Seele, an die Freiheit des Willens ſicherer zu fielen geſucht 
durch Einreihung in den Schatz der Wahrheiten, meldhe nit Die 
trägliche und unvollftändige Erfahrung, ſondern die ewig gleiche 
Natur unferes geiftigen Weſens uns darbiete. Die Willkührlich⸗ 
feit folder Anfichten Hat der erfte Aufſchwung unferer nationalen 
Philoſophie Durch die Annahme begrenzt, daß allerdings wohl dem 
menſchlichen Geifte eine Mehrheit angeborner Ideen zufomme, 
aber nicht folder Ideen, weldye irgend eine Thatſache oder einen 


Y 


254 


einzelnen Zug des Weltbaues enthüllen, fondern nur folder, 
welche Die allgemeinen Beurtheilungsgründe ausprliden, nach denen 
unfer Denfen jeben noch zu erwartenden möglichen Gehalt der 
Wahrnehmung auffaffen und verarbeiten muß. Aller Inhalt 
unferer Gedanken komme uns mittelbar oder unmittelbar von ber 
Erfahrung, aber nicht ebenfo die Regeln, nach denen wir bezie- 
hend vergleichend, urtbeilend und folgernd diefen Inhalt verbin- 
den und trennen, von einem zu dem andern übergehen. Ihre 
Duelle fei nicht außer und zu ſuchen; das Gefühl ber nothiwen- 
digen und unausweichlichen Gültigkeit, mit dem fie unferem Be- 
wußtfein fich aufbrängen, bürge uns vielmehr dafür, daß fie von 
dem abftammen, von dem wir uns nie trennen können, von der 
eigenen Natur nämlich unſeres geiftigen Weſens. Ausgerüftet mit 
diefen Weifen der Auffaffung ftehen wir der Mannigfaltigkeit der 
Eindrüde gegenüber, welche die Außenwelt in uns veranlaßt hat; 
durch ihre Anwendung erft wird die thatfächlich vorhandene Summe 
der innern Zuftände für und zur Erkenntniß. So bringen wir, 
und eingeboren, die anſchaulichen Formen des Raumes und der 
Zeit jenen Einvrüden entgegen, deren gegenfeitige Verhältniffe 
fih nun für uns in das Nach- und Nebeneinander der finnlichen 
Erſcheinungswelt verwandeln; fo treten wir mit der unabweisbaren 
Borausfesung, daß alle Wirklichfeit auf der Grundlage bebarr- 
licher Subftanzen beruhen müſſe, an welche fih abhängig und 
unfelbftändig die wandelbaren Eigenfchaften knüpfen, mit der Ge- 
wißheit ferner, daß jedes Ereigniß durch einen urſächlichen Zu- 
fammenhang als Wirkung an feine VBorangänge gebunden fei: 
mit diefer und eingeborenen Zuverficht treten wir zur Beobad- 
tung des gegebenen Inhaltes hinzu und verwandeln feine Wahr- 
nehmung, indem wir biefe Grundſätze unferer Beurtheilung auf 
ihn anwenden, in die Erfenntniß eines durch innerlihen Zufam- 
menhang in ſich abgejchloffenen Weltganzen. 

Manches an dieſen Anſichten, die den Gedankengang unſerer 
Wiſſenſchaft noch immer in weiter Ausdehnung beherrſchen, wird 
innerhalb der Wiſſenſchaft ſelbſt anders gefaßt werden müſſen. 





255 


Der ungeeignete Name 'angeborener Ideen wird uns nicht ver- 
leiten dürfen, jene Grundfäge unſeres Erfennens, oder die Be— 
griffe, mit denen man fie kurz zu bezeichnen pflegt, die Vorftel- 
lung des Raumes der Zeit des Dinges der Urſache und die 
andern, die vielleicht von gleichem Werthe fi anfchließen, als 
einen urſprünglich bewußten Befl des Geiſtes zu betrachten. So 
wenig in dem Steine der Funke als Funke ſchon vorher ruht, 
ehe der Stahl ihn heroorlodt, fo wenig werben vor allen Ein: 
drüden der Erfahrung jene Begriffe vor dem Bewußtfein fertig 
ſchweben und ihm in feiner Einfamkeit die Unterhaltung gewäh- 
ren, die und etma die Betrachtung eined Werkeuges vor dem 
Zeitpunkt feines möglihen Gebrauches verfchaffen fünnte. Selbft 
in unferm fpäteren durch Erfahrungen ausgebildeten Reben treten 
fie felten in diefer Geftalt vor unfere Aufmerffamteit; in uns 
vorhanden ift nur die unbemußte Gewohnheit, nach ihnen zu han- 
dein und in der Erfenntniß der Dinge zu verfahren; einer ab: 
fihtlichen Weberlegung bedarf es, um fie, die Tange unbemerft bie 
leitenden ZTriebfedern unferer Beurtheilungen geweſen find, ſelbſt 
zu Oegenftänden unferes Vorftellend zu machen. In feinem an- 
deren Sinne find fie mitbin angeboren, als in dem, daß in der 
urjprünglihen Natur des Geiſtes ein Zug liegt, der ihn nöthigt, 
unter den Anregungen der Erfahrung unvermeidlih diefe Auf- 
fafjungsweifen des Erkennens auszubilden, und daß andererfeits 
nicht der Inhalt der Erfahrung allein fie ihm ſchon fertig zur 
bloßen Aufnahme überliefert, ſondern daß e8 chen diefer Natur 
des Geiftes bedurfte, um durch die Eindrüde der Erfahrung zu 
ihrer Bildung getrieben zu werben. 

Und in folder Faſſung wird die allgemeine Richtigkeit die— 
fer Anfiht kaum für widerlegt zu halten fein durch die mannig- 
fahen Berfuche, die Entftchung aller jener Grundzüge des Den- 
kens aus dem Mechanismus des unmittelbaren Vorſtellens allein 
nachzuweiſen. Die Sprache, indem fie von einer Urfache von 
einem Urfprung von Abhängigkeit und dem Hervorgehen der Folge 
aus dem Grunde fpriht, erinnert und allerdings durch dieſe 


256 


Namen an die einzelnen Thatfachen und Formen der Erfahrung, 
auf deren Veranlaffung wir und am leichteften des inneren Zu— 
fammenhanges bewußt wurden, den jene urfpränglide Natur 
unferer Bernunft zwiihen dem Mannigfachen vorausfegt. Aber 
eine genauere. Ueberlegung wird ung doch ftet3 zu dem Glauben 
zurüdführen, daß durch alle jene Beobachtungen dem Geifte mır 
Gelegenheit gegeben murbe, ſich einer ihm eingebornen Wahrheit 
zu erinnem, und daß fie felbft fir fih allein uns die allgemeinen 
Grundfäge der Beurtbeilung aller Dinge nicht überliefern konn— 
ten. In welchen fein abgemefienen Beziehungen auch immer 
unſere Borftellungen fi befinden mögen, al ihre innere Orb- 
nung würde nicht von felbft den Gedanken einer nothwendigen 
Verbindung zwifchen ihnen erzeugen, wenn nicht die Natur des 
Geiſtes ihrerſeits die Forde ung einer folden erhöbe, Niemals 
wird die genauefte Kenntniß der mechaniſchen Wechſelwirkungen 
zwifchen den einzelnen Vorftellungen zu einer Erflärung der Art 
führen, wie jene allgemeinften Borausfegungen über den Zufam- 
menbang aller Dinge in unfern Geift fommen, wenn wir nicht 
in ihm einen Drang zu ihrer Erzeugung anerkennen, den wir in 
unfern Begriff von feiner urfprüänglihen Natur mit aufnehnten 
müffen. Darin befteht die wahre Einheit des Geiftes, die ihn 
als Geift von der Einheit jedes andern Weſens unterjcheidet, daß 
er nicht nur feine verjchtedenen Juftände zu einem Mechanismus 
der Wechſelwirkung unter einander zufammendrängt, ſondern über- 
dies durch die beziehende Thätigfeit, Die er in jenen Verfahrungs⸗ 
weifen des Erkennens ausübt, dieſes Mannigfaltige der Eindrücke in 
dem Sinne eines zufammenhängenden Ganzen zu deuten und 
es in das Bild einer Welt zu verwandeln ftrebt, in deren 
innerliher Verknüpfung er den Widerfhein feiner eigenen Ein- 
heit findet. 


257 


Berfuhen wir die einzelnen Leiftungen zu überbliden, in 
welchen die Aufgabe dieſes vereinigenden und bezichenden Wifjens 
nad) und nach gelöft wird, fo gedenken wir zuerft jener Einheit 
der Seele noch einmal, die noch nichts Anderes bedeutet, als Die 
Identität des wahrnehmenden Subjects, in welchem die Eindrücke 
aus verſchiedenen Theilen der Außenwelt und aus verſchiedenen 
Zeiten ſich ſammeln. Sie bildet die erſte nothwendige Bedingung 
für jede That des Beziehens, die ſpäter möglich werden ſoll, aber 
ſie iſt nicht die zureichende Bedingung für die Entſtehung ſolcher 
Thaten. Nun blieb allerdings unſere Ueberlegung nicht bei die— 
ſem leeren Gedanken einer ſubſtantiellen Einheit der Seele über: 
haupt ſtehen; die Erfahrung lehrte uns Geſetze des Wirkens ken⸗— 
nen, durch welche die innern Zuſtände dieſes geiſtigen Weſens und 
ihre wechſelſeitigen Einflüſſe ſich auszeichnen; wir ſahen, wie der 
Mechanismus der Aſſociation und Reproduction einzelne Eindrücke 
enger verband als andere, und wie in die bunte Menge der auf: 
bewahrten Eindrüde eine Gliederung kam, die Aehnliches zufam- 
menbrachte, Unähnliches von einander ſchied. Doch auch dieſe 
zweite Leiſtung, alle dieſe Geſetze des Vorſtellungsverlaufs ſchufen 
an ſich nur Beziehungen zwiſchen den einzelnen Acten der vor- 
ftellenden ZThätigfeit, georbnete Gegenftände einer fpäteren mög- 
Yihen Anſchauung; fie ließen den beobachtenden Blick vermifien, 
der diefe Orbnung wahrnimmt und fie deutet. Diefer Bli des 
geiftigen Auges begegnet und zuerft in einer dritten Leiftung, in 
den Anſchauungen des Raumes und der Zeit, in welde Das 
vereinigende und beziehende Thun des Geiſtes die gegenfeitigen 
Berhältniffe der Eindrüde wie in eine eigne neue Sprache 
überfegt. 

Wohl mag e8 feinen, als wenn jede zeitlich ablaufende 
Reihe von Einprüden eben dadurch, daß fie abläuft, von felbft 
und als ein zeitliche Nacheinander auch erſcheinen müſſe; und 
ebenfo mirde die räumliche Ordnung des Mannigfaltigen nur 
bes Gewahrwerdens überhaupt bedürfen, aber feiner befonbern 


Thätigfeit des Geiftes, welche dies Gegebene anderte, oder die 
Lotze J. 3. Aufl. 


258 


Formen erft aus ſich felbft erzeugte, in denen es ihm erfcheinen 
wird. Aber vielmehr, eben fofern eine Reihe von Eindrüden zeit- 
ih in uns abläuft, ift fie niemals in unferem Bewußtſein als 
ein Ganzes, fie ift auch nicht in ihm als cin zeitlich geordnetes 
Mannigfache vorhanden; ihres Vorübergehens und ihrer inneren 
Gliederung im Vorübergehen werben wir doch nur inne, wenn 
wir in einer ungetheilten That des Wiffens ſchon vergangene und 
noch gegenwärtige Glieder der Kette zufammenfaffen und ihre 
gegenfeitigen Berhältniffe auf einmal überfeben. Berlaufen daher 
unfere inneren Zuftände wirklich in zeitlicher Ordnung, gegen 
welche natürliche Annahme wir fchwer zu behandelnde Einwürfe 
nicht "hier bereit8 vorbringen wollen, jo find doch diefe wirklichen 
Zeitverhältniffe unferer Eindrücke nur Bedingungen, welche unfere 
Seele nöthigen, durch eine neue und eigenthümliche Rückwirkung 
nun aus ſich felbft au die Anſchauung der Zeit herborzu- 
bringen, und welche fie zugleich befähigen, in dieſer angefchauten 
Zeit jedem einzelnen Eindrude die ihm zufommende Stellung an- 
zuweiſen. 

Was uns ſchwieriger hier ſcheint, iſt uns deutlicher an dem. 
andern Beiſpiele, dem Raume. Denn eine räumliche Ausdehnung, 
Größe und Lage werden wir den Eindrücken der Dinge in uns 
nicht beizulegen meinen; wie groß der vorgeſtellte Inhalt ſein 
mag, unſere Vorſtellung von ihm breitet ſich doch nicht in unſerer 
Seele zu gleicher räumlicher Ausdehnung aus. Mögen wir da— 
her unentſchieden laffen, ob die Welt außer uns dieſe räumliche 
Wirklichkeit, in der wir fie zu ſehen glauben, an ſich felbft be- 
fit oder nicht befigt: die Eindrücke, die fie und mittheilt, find in 
unferem Geiſte in beiden Fällen raumlos neben einander mie die 
gleichzeitigen Töne einer Mufif, und alle mechjeljeitigen Beziehun- 
gen zwiſchen ihnen find nicht Verhältniſſe der Lage, der Richtung 
und der Ausdehnung, fondern den abgeftuften Verwandtichaften 
zu vergleihen, die auch die Töne durch unräumliche Intervalle 
von einander ſcheiden und auf einander beziehen. Aus dieſer 
Welt der raumloſen Eindrüde bildet Die Seele die Anſchauung 








259 


der räumlichen Welt, nicht weil das Aeußere räumlich war, fon- 
dern weil der Raum ein Wort ihrer eigenen Sprache ift, .ın 
welche fie die unräumlihen Erregungen überfegt, die fie von jenem 
empfing. Und ebenfo wie wir, an die Ausbrudsmeife der finn- 
lihen Anfhauung gewöhnt, und die harmoniſchen Bezichungen 
der Töne in die räumlichen Symbole der Höhe und Tiefe, des 
Auf- und Abfteigens durch Intervalle zurücküberſetzen, fo ließ Die 
Seele dur die urfprünglichen überfinnlichen Beziehungen der 
Eindrüde fi darin leiten, jedem einzelnen zu jedem anbern feine 
Stellung in der von ihr gefhaffenen Raumwelt des Vorſtellens 
anzumeifen. Beide mithin, Zeit und Raum, zeitliche uud räume 
liche Berhältniffe der Einbrüde find nicht etwas Fertiges, das 
unfere wifjfende Thätigfeit auf ihrem Wege fände und aufläfe; 
Beides erzeugt fie ſelbſt. Ob wir Recht hatten, zu jagen, daß 
fie die Beziehungen der Eindrüde und der äußeren Gegenftände 
in eine neue, nur. ihr felbft eigene Sprache überfeße, mag dahin 
geftellt bleiben. Vielleicht ift die Außenmelt an fich jelbft eine 
räumliche; vielleicht verlaufen Ereignifje wirklich in einer Zeit; 
dann bat unfer Bemwußtfein, indem e8 feine eigene Sprache redete, 
zugleich die getroffen, welche die Sprache der Dinge ift; aber 
feine Thätigfeit war darum meder eine andere nod) eine weniger 
eigenthümliche. Denn aud wir, die wir unter einander diefelbe - 
Sprache und daſſelbe Denken haben, flößen nicht dem Andern 
unmittelbar den fertigen Sinn unferer Gedanken ein; aud er 
. bernimmt zunächſt nur den an fid) beveutungslojen Schall des 
Worte und muß durch eigene Thätigfeit aus ihm fich biefelbe 
Borftellung bald eines finnlihen Gegenſtandes, bald einer über- 
finnlihen Beziehung, bald eines Ereigniffes wieder erzeugen, die 
wir ihm mitzutheilen ftrebten. 

Es ift eine unbewußte Wirffamfeit unſeres Geiſtes, durch 
welche auf Diefe Weife das räumliche Bild einer umgebenden Welt 
und die Anſchauung eines zeitlichen Fluſſes der Ereigniffe um 
und und in und entſteht; niemal® werden jene urfprünglichen 


Berhältniffe der Eindrüde, deren Abftufungen wir in diefen For- 
17* 








260 


men beuten, in ihrer eigenen wahren Geftalt Gegenftände unſeres 
Bewußtfeind; niemals fehen wir unferer eigenen Thätigkeit zu, 
wie fie diefe räumlich zeitlihe Welt aufbaut, die vielmehr ſtets 
fertig und unmittelbar gegeben fheint und uns einen müheloſen 
Einblid in ihre Mannigfaltigfeit geftattet. Aber in anderer 
Weiſe verräth dieſe finnlihe Weltauffaffung doch überall die 
Spuren eines beziehenden Wiſſens, das iiber ihre einzelnen Theile 
fih verbreitet hat. Denn niemals beichränft fie ſich in der That 
auf die Darftellung eines räumlichen Nebeneinander und einer 
zeitlichen Folge; felbft dies finnlihe Bild der Welt ift übergll 
von Gedanken einer ſtufenweis geglieverten inneren Abhängig- 
feit durchzogen, ohne welche feine anfchauliche Ordnung für uns 
unverftändlich fein würde. Nicht nur wie ein Spiegel gibt das 
Bewußtſein die Geftalt de8 Aeußeren; indem e8 einzelne Theile 
berfelben zu kleineren Ganzen zufammenfaßt und fie gegen ihre 
Umgebungen abgrenzt, bringt e8 Theilſtriche an, die jo nicht in 
dem unmittelbar gegebenen Bilde Tiegen, fondern von der Voraus: 
fegung einer ungleihen inneren Zufammengehörigfeit ausgeben, 
die zuweilen wohl das Entferntere ftärker verknüpft, als das Be- 
nachbarte. Zu dieſer neuen Ordnung des Sinnes und der Be- 
deutung, in welche wir das finnlih Wahrgenommene bringen, 
führt uns zum Theil der natürliche Mechanismus unferer Bor: 
ftellungsaffociationen, ohne doch allen dieſes Werk zu vollenden. 
Indem er die früheren Wahrnehmungen fefthält und fie wieber 
auftauchen Täßt, wenn der veränderte neue Eindrud doch durch 
einzelne beibehaltene Züge an fie erinnert, bringt er nach und 
nad das Material zu einer zufammenhängenden Erfahrung her: 
bei, deren wirfliche® Zuftandefommen doch nur durch bie eingrei⸗ 
fende Thätigkeit des Denkens erfolgt. 








261 


Gar Vieles führt die äußere Wahrnehmung räumlich und 
zeitlich verbunden unferm Bewußtſein zu, was durch Teine Ge- 
meinfchaft des Sinnes verknüpft, ſondern frembartig unter ein- 
ander, nur einem befonderen Zufalle fein augenblidliches Bei- 
fammenfein verdankt. Die Erinnerung wiederholt treu und un- 
befangen, ma8 ihr die Wahrnehmung bot; fie bringt das Zu— 
fammenhanglofe mit gleicher Genauigfeit wieder, wie das innerlich 
Berwandte, und wirft unfern Borftellungslauf durch ungeeignete 
Affociationen, die fih an einzelne Eindrüde gefnüpft haben, aus 
der.ftetigen Richtung heraus, die er durch die Reihenfolge ein— 
ander begründender Gedanken nehmen könnte. Aber der Geift 
begnügt ſich nicht damit, fih von dem Mechanismus der Wahr- 
nehmung und Erinnerung Verbindungen der Borftellungen auf: 
drängen zu laſſen; als eine beftändige kritiſche Thätigkeit fucht 
das Denken jede berfelben auf die Rechtsgründe zurüdzuführen, 
welche die Berbindung des Berbundenen bedingen und das Zu— 
jammenfeiende als ein Zufammengeböriged erweifen. So trennt 
es von einander die Eindride, die ohne inneren Zufammenhang 
fid in der Secle zufammenfanden, und erneuert beftätigend die 
Berfnüpfung derer, denen die innere Berbindung ihres Inhaltes 
ein Recht auf beftändige Gefellung gewährt. In allem diefen 
Thun wird c8 geleitet und unterftügt durch denfelben mechanischen 
Borftellungsverlauf, den es berichtigt; denn er felbft, indem er 
durch neue Wahrnehmungen den früheren widerſpricht oder fie 
beftätigt, führt feine eigene Verbefferung durch die allmähliche 
Sonderung herbei, die auf dieſem Wege unvermeidlich das Freimd⸗ 
artige jcheidet und das Verwandte zufammenbringt. Dennoch ift 
er allein nicht da8 Denken und vollzieht nicht felbft die Auf- 
gaben, die wir diefem ftellen. 

Dft wiederholte ähnliche Vorftellungen werden nicht allein 
in ihrer ganzen Eigenthümlichkeit aufbewahrt, fondern neben ihnen 
bilden fi zugleich allgemeinere und unbeftimmtere Bilder, welche 
das Gleichartige der einzelnen auffammeln und ihre Unterſchiede 
verwifhen. Aber die bloße Gegenwart diefer Bilder, welche Der 


262 


mechaniſche Vorſtellungslauf fir ſich erzeugt, ift noch nicht gleich- 
zufegen dem Begriffe, in deſſen Form das Denken diefelbe Man- 
nigfaltigfeit auf ihr gleichartige Allgemeine zurüdführt. Denn 
in diefem ift überall der Nebengedanke einer gejeggebenven Regel 
mitvorhanden, durch welche die einzelnen Züge des Allgemeinen 
nicht nur als eine thatfächliche Verknüpfung, die in vielen Ein- 
zelnen fich wiederholt, fondern als ein zufammengehöriges Ganze 
erſcheinen, in ihrer Verbindung durch den untheilbaren Sinn des 
Weſens verbürgt, deffen Bild fie find. Es kommt wenig darauf an, 
wie ausgebildet unfer Wiffen um den Grund und die Bebeutung 
dieſer Zufammengehörigfeit ft; daß fie überhaupt von uns gefühlt 
wird, und daß wir die bloße Summe vercinigter Merkmale, welche 
uns der Borftellungslauf an ſich bietet, in den Gedanken eines 
Ganzen verwandeln, fcheivet binlänglich unfere Auffaffung von 
dem bloßen Bilde felbft. Diefe Verwandlung aber vollzieht be- 
ftändig auch das ungeübtefte Denfen, wenn e8 einen Namen 
der Sprache ausfpriht; no mehr, wenn es dem Namen den 
Artikel voranfhidt und das Wahrgenommene als irgend ein Das 
bezeichnet, bat es ſchon Fräftig genug und unverkennbar diefe Ver- 
einigung der zufammengefellten Züge des Bildes in den Gedan- 
fen eines innerlich untheilbaren Ganzen vorgenommen. 

Der Lauf der Wahrnehmungen zeigt uns oft zwei Eindrüde 
verbunden, die eine bald kommende neue Empfindung uns getrennt 
darftellt, während eine britte ihre frühere Verknüpfung wieder 
beftätigt. Kein Grund konnte und veranlaflen, in jener erften 
Wahrnehmung das Verbundene zu trennen, wir nahmen ed un- 
befangen als an einander hängend bin; der legten erneuerten 
Wahrnehmung diefer Verbindung ftellt ſich Dagegen die Erinne— 
rung an die inzwiſchen gemachte Beobachtung ihrer Auflöfung 
entgegen; beide Eindrüde werden nun nicht mehr in jener arg- 
Iofen Weife, wie fie uns die erfte Anfchauung darbot, an einander 
baften, fondern durch den Nebengevanfen ihrer möglichen Tren- 
nung aus einander gehalten werden. Der Baum, zuerft blübend 
oder belaubt geſehen, wird uns ein einziges Bild gewähren, deſſen 


263 


Pd 

Theile alle mit gleicher Innigfeit zufanmmenbängen; die folgende 
Wahrnehmung des entlaubten ftört dieſes Bild, und auch mo es 
neu durch wirkliche Anfchauung gegeben wird, tft es nun für 
und in die Borftellung der feftftehenden Form des Stammes 
übergegangen, an den als veränderliche, vergängliche Theile die 
Blätter fih knüpfen. Sole Trennungen und Verbindungen der 
Borftellungen find das, was wir denkend in der Form des Ur- 
theil8 ausdrücken; aber wir jagen im Urtheil mehr, als fie felbft 
enthielten. Indem wir vom Baume jagen, er fei grün, faflen 
wir ihn unter der Form eines felbftändigen Dinges, an dem bie 
Farbe in jener Weife veränderlih und abhängig bafte, in welcher 
überhaupt Eigenſchaften ihren Trägern zulommen. Dieſes mitge- 
dachte Verhältniß zwiſchen Ding und Eigenfchaft ift der Grund, 
auf welchen wir jene eigenthümliche Verknüpfung unferer Vorftel- 
lungen zurüdführen, die ebenfo fehr da8 Verbundene auseinander- 
hält, wie fic es vereinigt; in der Natur jener inneren Beziehung, 
welche die Subftanz mit ihren Attributen zufammenfaßt, Tiegt die 
Nothwendigkeit, welche auch hier den Inhalt der Borftellungen in 
diefer bejondern Form zufammenfpannt. Nicht anders, wenn in 
unferer Wahrnehmung auf die Anſchauung der Bewegung, mit 
der ein Körper fih und nähert, der Schmerz des Stoßes folgt. 
In unferer Erinnerung werden beide Eindrüde ſich aſſociiren, 
aber das Urtheil, daß der Körper uns ftoße, enthält mehr als 
die bloße Wiederholung der Thatſache, daß beide Eindrücke ſich 
in uns zu folgen pflegten. Indem es den Körper als die thätige 
Urfache, den Stoß als die Wirkung bezeichnet, führt es das Zu— 
fammenfein auch diefer Verbindung der Borftellungen auf einen 
inneren Grund ihrer Zufammengehörigfeit vechtfertigend zuräd, 
auf jenen Cauſalzuſammenhang, defjen allgemeine Herrichaft über 
alle Ereignifie eine der urfprünglichen Borausfegungen unferes 
Geiftes über die Verknüpfung der Welt ift. 

Aus der öfteren Wiederholung einer Wahrnehmung endlich, 
in welcher eine Begebenheit auf die andere folgte, wird ſich Die 
Gewohnheit der Erinnerung ausbilden, bei dem Wiedereintritt 


264 


der einen von ihnen auch die Wiederkehr der andern zu erwarten. 
Solche Erwartungen Hoffnungen oder Befürchtungen über die 
Zukunft, einfache Erzengniffe des mechaniſchen Borftellungsverlau- 
fes, beherrſchen uns im täglichen Leben überall, und ein großer 
Theil unferer Handlungen wird ohne Zweifel durch dieſe unmit- 
telbaren Borftellungsverbindungen ohne weitere Ueberlegung ihres 
Urſprungs ebenfo geleitet, wie wir es von der Seele des Thieres 
poraudzufegen pflegen, der wir mit Recht oder Unrecht jenen Me- 
chanismus allein, nicht aber die höhere Thätigkeit des Denkens 
zugeftehen. Und in der That werben jene Erwartungen dem 
Thiere fir die praktiſchen Zwecke feines Lebens ziemlich diefelben 
Dienfte leiften, die e8 von einer denfenden Wiederholung defiel- 
ben Inhaltes in der Form eines Schluffes hoffen Fünnte. Aber 
dennoch liegt in dem Schluſſe eine ganz andere geiftige Arbeit, 
al8 in jener inftinctiven Erwartung. Indem wir die erneuerte 
Wahrnehmung zum Ausgangspunft einer Vorausſicht benugen, 
rechtfertigen wir im Scluffe das Zufammenfein des Ermwarteten 
mit dem Wahrgenommenen durch den Gedanken eines allgemeinen 
Geſetzes, durch deſſen Gebot beide zuſammengehören. So bringen 
wir auch bier die Thatſache der Berfnüpfung entweder auf den 
Grund zuräd, der in der eigenen Natur der Sache Yiegend fie 
nothmendig macht, oder wir überzeugen und, daß feine mefentliche 
innere Beziehung beide Glieder mit einander zuſammenſchließt und 
daß jene Erwartung eine der vielen Täufchungen tft, welche der 
Mechanismus des Borftellungslaufes uns zuführt, indem er bie 
mannigfachen Eindrüde nicht nach der Verwandtſchaft ihres In- 
haltes, fondern nad) dem Zufall ihres gleichzeitigen Eintretens in 
unfer Bemußtfein aneinanderfügt. 

Bon den Ergebniffen diefer fichtenden, kritiſchen Thätigfeit 
des Geiftes ift nun unfere finnlihe Weltauffaffung überall be: 
reit8 durchdrungen; fie ift nirgends eine rein finnliche, fondern 
zugleich eine verftändige. Nirgends ſchweben uns die Erſcheinun— 
gen als bloße Bilder vor, wir glauben die Dinge mit zu fehen, 
deren Einheit und Selbftändigfeit fie zu einem zuſammengehörigen 


265 


Ganzen als Eigenfchaften verbindet; mie tritt in der Beobachtung 
eines Ereignifies der nächte Zuſtand für uns nur an die Stelle 
des früheren, höchftens in umjerem Bewußtfein durd die Erinne- 
rung an dieſen begleitet, fondern wir glauben den urſächlichen 
Bufammenhang mit zu beobachten, der beide durch die Stetigfeit 
einer inneren Verknüpfung verbindet; wo endlich größere Gruppen 
der Begebenheiten einander folgen, ſcheint uns in ihrer Ordnung 
unmittelbar der Zwang einer durchdringenden Geſetzlichkeit offen- 
bar, der jevem Grunde feine Yolge, jeder Urſache Größe und Art 
ihrer Wirkung zumißt. Doc dieſes allgemeine Beftreben des 
Berftandes, Die finnliche Wahrnehmungswelt als ein innerlich 
zufammenbängendes Ganze aufzufaflen, erreicht felbft feine Be— 
friedigung nur dur die Beihülfe der Erfahrung. Indem wir 
den Erfcheinungen Wefen, den Ereigniffen Urfachen, ihrem Zu- 
fammenbange Gefege unterlegen, greifen wir doch häufig fehl in 
der Bezeihnung defien, was das eigenthümliche Wefen der ein- 
zelnen Erſcheinung, die befondere Urfache des beſtimmten Ereig- 
nifjes, das inhaltoolle Geſetz eines begrenzten Zuſammenhanges 
iſt. Nur indem eine glückliche Mannigfaltigkeit der Beobachtun⸗ 
gen und eine ſtetige Aufmerkſamkeit auf ihre Unterſchiede und 
Aehnlichkeiten uns von den zufälligen Vorſtellungsverknüpfungen 
befreit, welche die einzelnen Wahrnehmungen in uns bewirken, 
lernen wir allmählich die allgemeineren und weſentlichen Zuſam⸗ 
menhänge erkennen, und unſere Weltauffaſſung thut in wachſen⸗ 
der Annäherung dem Verlangen des Verſtandes Genüge, die Vor— 
ausſetzungen, die er mit Nothwendigkeit über allen Zuſammen⸗ 
hang der Dinge madt, an der Mannigfaltigfeit des Wirflichen 
in der That zur Geltung gebracht zu ſehen. Aber die Gefchichte 
diefer allmählichen Entwidelung gehört nicht zu den Gegenftän- 
den, die diefer erfte Ueberblick unferes geiftigen Lebens umfaffen 
fol. Nur der Betrachtung der Hilfsmittel gewidmet, aus deren 
Gebrauch die mewfchlihe Bildung entftchen kann, muß er fich 
begnügen gezeigt zu haben, wie wenig diefe Bildung fertig in 
uns Tiegt, und wie felbft das, was als angeborne Anlage uns 


266 


zufommt, nur dadurch feine Aufgabe erfüllt; daß feine Kraft im 
Gebrauche wähft, indem jede gewonnene Erkenntniß das Ber: 
mögen des Geiſtes zu ihrer Erweiterung vermehrt. 


Ueber die wahrnehmende Sinnlichkeit und den beziehenben 
Berftand hinaus hat eine weit verbreitete Anficht noch ein höheres 
Streben der Erfenntnig in dem menfchlichen Geifte zu finden 
geglaubt, die Thätigfeit der Vernunft, die, auf Einheit unferer 
Weltauffaſſung gerichtet, die Erfahrung zum Abſchluß zu bringen 
ſuche. Welche Zweifel es auch erweden möchte, fie als neues 
und höheres Vermögen dem Berftande überzuordnen, mit defien 
Gewohnheiten ihre eigenen Zorderungen jogar in Streit zu ge— 
rathen fcheinen, jo drückt doch Ddiefer neue Name in der That 
eine neue und eigenthlimliche Form des beziehenden Denkens aus, 
die in dem wirklichen Leben des Geiſtes zu bebeutfam bervortritt, 
um nicht bier hervorgehoben zu werden, noch ehe wir ihrem Ur- 
fprunge meiter nachforſchen können. 

In jedem einzelnen Falle, den uns die Erfahrung darbietet, 
ift der Berftand befchäftigt, nach jenen Gefegen des Zufammen- 
hanges, bie er als allgemein geltende Nothiwendigfeiten voraud- 
fegt, nach dem nächſten ergänzenden Gliede zu forichen, auf wel- 
ches die Wahrnehmung Hinmeift und welches fie fordert. Zu 
jedem einzelnen Schein der Eigenfchaften fucht er ein Wejen, das 
ihn wirft, zu jedem einzelnen Ereigniß die Urfache, Die es her— 
vorbrachte, und die Wirkungen, die es felbft begründen wird, zu 
jeder Gruppe von Thatſachen das Geſetz, welches fie beherrſcht. 
So von Punkt zu Punkt fortichreitend, wie weit ihn die Beran- 
loffungen der Wahrnehmung treiben, verknüpft ev auch nur im 
Einzelnen Punkt mit Punkt; aber er. legt fih nicht die Frage 
vor, welches endliche Geſammtbild der Welt und ihres Zufamnen- 
hanges nun zulegt entftehen werde, wenn biefelben Regeln ber 
Beurtheilung auf alle wirflihen und denkbaren Fälle der Wahr- 
nehmung und auf jeden einzelnen fo oft wiederholt angemanbt 








267 


würden, als jeder nad feiner Natur zur Erneuerung diefer An- 
wendung veranlaffen könnte. Es befümmert den Verftand nicht, 
wie die Reihe der Urfachen, welche auffteigend jede Urfache eines 
einzelnen Ereigniffed von Neuem verlangt, irgendwo abfchliegen 
werde, in melden Zuſammenhang die unzähligen Fäden gefeß- 
licher Berfnüpfung, die er neben einander fharffinnig verfolgt, 
zulett in einander verflochten fein mögen, an welchem Dafein von 
unbedingter Natur endlich die vielfachen bedingten Wirflichfeiten 
bangen, deren Wechfelverhältniffe unter einander, nachdem fie vor: 
banden find, fi feinen Gefegen unterworfen zeigen. 

Es kann eine fpielende DVertheilung der Arbeiten fcheinen, 
wenn wir von dem Berftande behaupten, daß er diefe Fragen 
fih nicht ftelle, und wenn wir nun hinzufügen, daß aus ihrer 
Beantwortung die Bernunft ihre Aufgabe macht. Und gewiß 
find beide darin verwandt, daß fie eine Zufammenfaffung des 
Mannigfachen verfuchen, aber der leitende Gedanke, den die Ber: 
nunft hierbei befolgt, die Gewißbeit, daß die Summe der Wirk- 
lichkeit nur als vollendete Einheit und Ganzheit Beſtehen haben 
fönne, ift doch nicht derfelbe Grundfag, nach welchem der Ber: 
ftand nur die Form der Verknüpfung zwifchen je zwei Gliedern 
unterſucht, ohne über die Geſtalt, welche aus der Vereinigung 
aller hervorgehen wird, einen Ausfpruch zu thun. So wie ber 
architektonische Stil, den wir bauend wählen, die Verfettungsart 
jedes Baugliedes mit jedem andern beftimmt, aber völlig unbe- 
ftimmt die endlihe Form des Gebäudes läßt, deſſen Plan viel- 
mehr nur der Zweck vorzeichnet, dem wir cd widmen: fo zeigen 
und die Grundſätze des Verſtandes wohl den Stil des Welt- 
baues, aber nicht die Geftalt der Umriffe, die fein vollenvetes 
Ganze befigt. Daß die Vernunft diefes Räthſel löſe, werben wir 
ebenjo wenig behaupten, als wir dem Berftande jemals das voll- 
ftändige Gelingen feiner geringeren Aufgabe nachrühmen dürfen. 
Schon über den Sinn der allgemeinen Gefege, die er dem Zu— 
fanımenhange der ‘Dinge vorjchreiben zu können glaubt, täufchen 
ihn oft die Gewohnheiten einer beſchränkten Erfahrung; an den 


268 


Beifpielen der Ereigniffe haftend, welche uns ber für jeden end- 
lichen Geift nur bejchränfte Kreis der Beobachtung vorführt, 
nehmen wir zu oft die beftimmte Form, unter der ſich in befon- 
deren Fällen der gefeglihe Zufammenhang der Dinge äußert, für 
die reine und allgemeine Nothwendigkeit an, die wir überall wie- 
berfinden müßten; fo gerathen wir in manderlei Unklarheiten 
über den wahren Sinn und die GültigfeitSgrenzen der Grundfäge, 
die wir auf einen gewohnten Erfahrungsfreis lange mit dem voll- 
ften Gefühle ihrer Nothmendigfeit und unmittelbaren Klarheit 
anmendeten. Um fo weniger, je mehr ſchon dieſe Schwierigkeiten 
und drüden, vermag die Vernunft das Bild eines Weltganzen zu 
begrenzen, deſſen Einzelnbeiten ihr nur unvollftändig überliefert 
werden; fie fann nur allgemeinfte Forderungen ausfprechen, denen 
Genuge zur leiften fie von jedem Verſuche dieſes Wagniſſes verlangt, 
und auch fie wird, bebrängt von dem mannigfad, widerftreitenden 
Interefje, mit dem unfere Wünſche und Bebitrfniffe in den That— 
beftand der Wirflichlett verwidelt find, den Sinn deſſen häufig 
mißverſtehen, was fie verlangen muß. Noch mehr wie die ver: 
ftandesmäßige Betrachtung der Welt werden diefe Beftrebungen 
der Vernunft, wie fie im unmittelbaren Leben des Geifted vor- 
fommen, eine geordnete Aufflärung über ſich felbft durch die Hülfe 
der Wiffenfhaft bebürfen, und noch weniger als jene find fie, 
ohne die Zucht einer abfichtlich geleiteten Bildung, nur als na- 
türliche Anlage des Geifted zur Erreichung ihres Zieles fähig. 
Aber in dem Anlauf, den fie nehmen, verratben fie doch ein 
eigenthiimliche8 der Beachtung witrdiges Thun des Geiftes, deſſen 
Duelle wir nicht mehr allein in der vorftellenden oder beziehenden 
Natur der Seele, fondern in einem andern Zuge ihres Wefeng, 
dem wir uns nun zuwenden, glauben fuchen zu müſſen. i 








269 


Fünftes Kapitel. 


Bon den Gefühlen, dem Selbftbewußtfein und dem 
Willen. 





Entftehung und Formen der Gefühle — Ihr Zufammenhang mit der Erkenntniß. — 
Die Weribbeftimmungen ber Bernunfi. — Selbftbemußtfein ; empirifches und reines 
Ih. — Triebe und Strebungen. — Der Wille und feine freiheit. — Schlußbe⸗ 
merfung. 


Sp wie die Farbe eines Gemäldes den Eindrud feiner Zeich- 
nung belebt und fteigert, fo durchdringen Gefühle der verfchieden- 
ften Arten alle die mannigfadhen Ereigniffe des Vorſtellungslebens, 
die wir bisher ſchilderten. Wie wenig wir ihren Urfprung unmittel- 
bar aus den Berwidlungen der Borftellungen ableiten können, die 
zu ihrem Hervortreten Veranlaffung geben, baben wir uns früher 
überzeugt. War e8 eine urfprüngliche Eigenthümlichkeit des Get- 
ſtes, Veränderungen nicht nur zu erfahren, fondern fie worftellend 
wahrzunehmen, fo ift c8 ein ebenfo urfprünglicher Zug defielben, 
fie nit nur worzuftellen, fondern in Luft und Unluft auch des 
Werthes inne zu werden, den fie für ihn haben, indem fie bald 
in dem Sinne feiner eigenen Natur ihn anregen, bald ihm For⸗ 
men und Berfnüpfungen der Zuftände zumuthen, die dem natür— 
lichen Ablauf feiner Thätigfeiten zumiber find. Denn darauf wird 
Doch zuletzt alle Luft beruhen, daß dem Geifte, defjen Beſtimmung 
nicht die Ruhe, fondern die Entwidlung ıft, Erregungen zugeführt 
werben, die, mit der Richtung den Bedingungen oder der Form 
feiner Icbendigen Entfaltung itbereinftimmend, ihm nicht nur die 
Sicherheit des Unangefochtenſeins fondern eine Förderung feines 
eigenen Thuns verfchaffen. Und ebenjo, wie die Secle als ver: 
änderliches und thätige8 Weſen im Gefühle der Luſt ſich Diefer 
Uebung ihrer Kräfte als einer Steigerung in dem Werthe ihres 
Daſeins bewußt wird, ebenfo befigt fie die Fähigkeit, die Stö— 
rungen, die von ihrem eigenen Wege fie nblenfen möchten, weder 
blos zu leiden noch an ihnen zu Grunde zu gehen, fondern fie 


270 


im Gefühle der Unluft als das was fie find, als Störungen ihres 
beftändigen Sinnes, zu empfinden und von der natürlichen Ent- 
wicklung ihres Weſens abzutrennen. 

Wir find es freilich zunächſt, die Unterfuchenden, melde Die 
Entftehung der Gefühle found deuten; wir vollziehen jene Berglei- 
hung des Eindrudes mit den Bedingungen, die dem Leben der 
Seele aus ihrer eigenen Natur vorgefchrieben find; wir glauben 
in dem Unangenchmen den Wiberftreit der gefchehenen Erregung 
mit dem, was diefe Bedingungen fordern, in der Luſt die Meber- 
einftimmung beider zu finden. Die fühlende Seele felbft macht 
weder überall, noch unmittelbar im Augenblide des Gefühle dieſe 
Bergleihung. Sp wenig fie fih der vermittelnden Creigniffe in 
ihrem Körper bewußt wird, aus denen die finnliche Empfindung 
entfteht, jo wenig ficht fie vor dem beginnenden Gefühle dem 
Streite oder der Mebereinftimmung der Eindrüde mit den Be 
dingungen ihres Xebens zu, um nun erft nad) dem Ergebnif Die- 
fer Vergleichung Luft oder Unluſt an fie zu Inüpfen. Unbelannt 
mit jenen Bedingungen, wie fie unbekannt ift mit den Ereigniffen 
in den Sinnedorganen, würde fie felbft diefe Vergleihung nicht 
ausführen können; und wie von allen Vorgängen, melde die Em: 
pfindung begründen, nur das legte Ergebniß, die Empfindung 
jerbft, in dem Bewußtſein auftaucht, ebenfo fteigen die Gefühle 
in und auf, ohne die innere Bewegung der Seele zu verrathen, 
aus der fie entfpringen. Aber einmal vorhanden, werben fie doch 
immer von uns fo gedeutet werden, wie wir e8 gethan haben, 
und nie wird ed dem natürlichen Bewußtfein zweifelhaft fein, daß 
in irgend einer unbefannten Förderung, die unfer Leben erfahren 
hat, die Luft, in irgend einer Störung die Unluft wurzele. Und 
ebenfo endlich, wie Die wachfende Erfahrung unfere Borftellungsver- 
knüpfung berichtigt, wird auch diefer Rückſchluß durch fie näher be— 
ftimmt. Die augenblidliche Förderung, die ung ein Eindrud bereitete, 
bürgt nicht für die Heilfamfeit auch der fpäteren Nachwirkungen, mit 
welchen er in das Ganze unſeres Lebens eingreift, und der einzelne 
Bortheil, den und die eine’Eigenfchaft eines Reizes bereitete, hin- 











271 


dert nicht die Gefährlichkeit der Einflüffe, die von den übrigen 
ausgehen können. Das Gefühl wird Recht behalten, wenn es 
die Süßigfeit eines Giftes Tiebte und die gerechte Strafe Bitter 
fand, denn immer Yag in jenem Geſchmacke eine augenblidliche 
Mebereinftimmung des Eindrudes mit der Thätigfeit des Nerven, 
und in dem Schmerz der Strafe eine feindliche Störung unferer 
Stimmung. Die Erfahrung nimmt diefe Urtheile nicht zurück; 
fie warnt nur, fih auf fie allein zu verlaffen, und lehrt uns 
über den Geſammtwerth eines Eindrudes erft Dann zu urtheilen, 
wenn wir au die Gefammtfumme feiner Folgen und der Stö- 
rungen oder Förderungen, die fih an fie knüpfen, gezogen haben. 


Die Formen find verjhieden, unter denen die Gefühle im 
finnlihen wie in dem geiftigen Theile unſeres Dafeins ſich dar- 
bieten. Bald treten fic hervor, an einen beftimmten Eindrud ge- 
knüpft, deſſen Inhalt und Form noch außerdem durch eine beut- 
liche Borftellung wahrgenommen wird, bald breiten fie ſich ohne 
Hare Erinnerung an ihren Urſprung als allgemeine Stimmungen 
über das Gemüth aus, den Beleuchtungen ähnlich, die von einem 
verborgen bleibenden Lichtquell durch unzählige Zurückwerfungen 
der Strahlen entftehen. Berknüpft mit manderlei förperlihen Zu— 
ftänden, von denen fie entweder veranlaßt werden, oder beren Ver: 
anlaffungen fie jelbft find, begleitet bald von einem ärmeren Er- 
innerungöfreife, defjen jeder einzelne Theil das eigenthümliche In— 
tevefje wiederzuerwecken fucht, weldes feinem Inhalt anhaftete, 
durchzogen endlih von mancherlei ihres Zieles entweder gemiffen 
oder unbeftimmt fuchenden Strebungen, nehmen die Stimmun- 
gen de8 Gemüthes eine Mannigfaltigfeit fein fchattirter Formen an, 
bie weit entfernt find von der trodenen Vergleichbarkeit eines blo- 
ken Mehr und Minder allgemeiner Luft oder Unluft. Der Ber- 
lauf ver Bildung, wie er die Weite des Bewußſeins für die Zu- 
fammenfaffung mannigfadher Vorſtellungen vergrößert, ftcigert aud) 
die Seinheit dieſer Durchkreuzungen ber Gefühle und bringt jene 


272 


unermeßliche Bieljeitigfeit der Gemüthsregungen hervor, deren 
- Darftellung faum der Kunft und nie den unvollfommneren Mitteln 
der wiſſenſchaftlichen Zergliederung gelingt. 

Ohne dieſes Labyrinth jett zu betreten, in welches und Die 
Betrachtung der menſchlichen Eultur fpäter und zu vertiefen nö- 
thigen wird, möchten wir drei Richtungen namhaft maden, in 
denen das Gefühl als cine der weſentlichſten Kräfte in dem Zu- 
fammenhange unſeres geiftigen Lebens wirkſam wird. Man wird 
vor Allem ſich entwöhnen müfjen, die Geflihle als Nebenereignifie 
zu nehmen, die im Verlauf der inneren Zuftände zumeilen einträ- 
ten, während der größere Theil der letztern in einer gleichgültigen 
Reihe leid- und Iuftlofer Veränderungen beftände. Außer der völ- 
Tigen Ruhe würden wir und feinen Zuftand- benfen Fönnen, der 
nicht mit den eigenen Entwidlungsbedingungen der Seele entweder 
übereinſtimmte oder in irgend einer Weife ihnen zumider wäre. 
Welche Erregung daher die Seele auch immer erfahren mag, von 


jeder werben wir einen Eindrud der Luft oder Unluft erwarten 


müffen, und eine genauere Selbftbeobachtung, fo weit fie die vei- 
blaßten Farben dieſer Eindrüde zu erfennen vermag, beftätigt Diefe 
Bermuthung, indem fic feine Aeußerung unferer geiftigen Thätig- 
feit findet, die nicht von irgend einem: Gefühle begleitet mwäre- 
Berblaßt find jene Farben allerdings in dem entmwidelten Gerhüth 
vor dem übermächtigen Intereffe, das wir einzelnen Zwecken -un: 
fever perſönlichen Beftrebungen zuwenden, und nur eine abfichtliche 
Aufmerkjamteit findet ſie wieder auf, ebenfo wie unfere mikroſkopiſche 
Beobachtung die regelmäßige Bildung unſcheinbarer Gegenftände, 
über die unfer Blick gewöhnlich unachtfam binmegfieht. Jeder einfachen 
finnliden Empfindung, jeder Farbe, jedem Tone entjpricht urfprüng- 
lid ein eigner Grad der Luft oder Unluft; aber gewöhnt, dieſe 
Eindrüde nur in ihrer Bedeutung als Merkmale der Gegenftände 
aufzufafien, deren Sinn und Begriff und wichtig ift, bemerken 
wir den Werth des Einfachen nur dann no, wenn wir mit gefam: 
melter Aufmerkſamkeit uns in feinen Inhalt vertiefen. Jede Form 
der Zufammenfegung des Mannigfaltigen erregt neben ihrer Wahr 


% 








273 


nehmung in und einen leifen Eindrud ihres Uebereinftimmens 
mit den Gewohnheiten unferer eigenen Entwidlung, und diefe oft 
unflaren Gefühle find e8, melde für jedes einzelne Gemäth jedem 
einzelnen Gegenftand feine bejondere Färbung geben, fo daß er, 
mit demfelben Thatbeftande der Merkmale für alle, doch für jeden 
von uns ein anderer ſcheint. Aber ſelbſt die einfachften und fehein- 
bar trodenften Begriffe des Denkens find nie von dieſem neben 
hergehenden Gefühle ganz entblößt; wir faflen den Begriff der 
Einheit nicht, ohne zugleich ein Glüd der. Befriedigung zu genie- 
gen, das fein Inhalt einfchließt, den des Gegenfages nicht, ohne 
zugleich die Unluft der Feindfeligfeit mit zu empfinden; Ruhe 
Bewegung und Gleichgewicht beobachten wir weder an den Din- 
gen, noch entwideln wir uns ihre Vorftellungen, ohne und mit 
unferer ganzen LXebenbigfeit in fie hinein zu verfegen und en 
Grad und die Art der Förderung oder der Hemmung mitzufühlen, 
die fiir und aus ihnen hervorgehen könnte. Auf diefer Allgegen- 
wart der Gefühle beruht cin guter Theil unferer höheren menfch- 
lichen Ausbildung; fie ift der Grund der Phantafte, aus der die 
Werke der Kunft geboren werden, und welche das Verſtändniß aller 
natürliden Schönheit eröffnet; denn in nichts Anderem befteht 
diefe fhaffende und nachſchaffende Kraft, als in der Feinfinnigfeit 
des Geiftes, welche die Welt der Werthe in die Welt der Formen 
zu kleiden, oder aus der Verhüllung der Form das in ihr ent- 
haltene Glück berauszufühlen verfteht. 
| Aber das Gefiihl enthält zugleich den Grund jener eigen= 
thümlichen und höchſten Thätigkeit, welcher wir in dem Gebiete 
der Intelligenz begegneten, jener Vernunft nämlich, die von dem 
Ganzen der Wirklichkeit Formen des Dafeind befolgt wiffen will, 
in denen fie allein den Werth des Wirflichen verbirgt findet. 
Wenn wir von dem Weltall ebenſowohl die zählbare Endlichkeit 
einer beftimmten Größe als die unvollendete und unvollendbare 
Srenzenlofigfeit abhalten möchten, wenn wir von feiner Vorftellung 
verlangen, daß fie ein Ganzes und innerlich abgeſchloſſenes Eine 


Darbiete, das doch zugleich das. Umfaffende aller Eingelnen fei, fo 
Loge J. 3. Aufl. 





274 


folgen wir in diefer und in anderen Forderungen nicht mehr ber 
bloßen Neigung eines gleichgültigen Berftandes, dem fein Gegen- 
ftand ohne dieſe Bedingungen undenkbar würde, fondern wir 
folgen. den Eingebungen einer werthempfindenden Vernunft, die 
auch Das Denkbare abmeift, fo lange es nur denkbar ift und nicht 
durch die innere Würde feines Inhaltes zugleich Die Anerkennung 
feiner Gültigkeit in der Welt erringt. Gar Vieles würde ber 
Berftand für fih allein mögli und den Gejegen feines PVer- 
fahrens entfprechend finden, was die Vernunft dennoch um feiner 
inneren Unglaublichfeit willen verjhmähen wird; vieled Andere 
wird fie verlangen können, was dem Berftande in feinen eigenen 
Denkformen aufzufaffen mißlingt. Blicken wir auf unſere Welt- 
auffaffung, wie fie fih im Laufe unferer wirklichen, nicht allein durch 
die-Schlüfje der Wiffenfchaft, fondern auch durch die Erfahrung 
des Lebens zu Stande gekommenen Bildung entwidelt bat, fo 
werben wir fie reichlich eben jo fehr von diefen oft nur verftohlen 
mitwirkenden Forderungen unferer Vernunft, als von den völlig 
aufflärbaren Grundfägen unſeres Berftandes beftimmt finden. 
An den Räthſeln, welche uns die Veränderung der Dinge, die 
Mannigfaltigfeit ihrer Eigenfchaften, die Lebendigkeit und Freiheit 
aller Entwidlung darbieten, an diefen Schwierigkeiten arbeitet die 
wiſſenſchaftliche Kraft des Verſtandes fi) müde, nicht fruchtlos 
zwar, aber außer Stande doch, die Begriffe der Iebendigen Frei: 
heit und Thätigfeit fo klar zu vechtfertigen, wie die unvermwält- 
liche Zuverfiht der Vernunft zu ihrer nothmendigen Gültigkeit 
verlangen würde. Dem menſchlichen Gemüthe ift jene glückliche 
Sneonfequenz gegeben, zwei Gebanfenrichtungen arglos zugleich zu 
folgen, ohne den Widerfprud zu empfinden, in welchen fie zulest, 
nicht immer freilich in größter Nähe, zufammenftoßen. So geben 
wir und im Laufe der gewöhnlichen Erfahrung ohne Bedenken 
den Berfahrungsweifen des Berftandes hin, mit denen wir fiher 
find, immer Einzelned mit Einzelnem gefegmäßig verbinden zu 
fönnen, und mit denen wir zugleich ficher fein könnten, wenn wir 
e8 eben bemerften, niemals jenes Bild des Weltganzen zu er: 


275 


reihen, das während aller diefer Bemühungen unfere Vernunft 
gleichzeitig fefthält oder zu gewinnen ſucht. 

Nicht immer allerdings laſſen ung die Ereigniffe des Lebens 
in diefer Vergeflichkeit; in dem Dafein der Einzelnen wie in dem 
der Geſchlechter fehen wir unvermeiblid an einzelnen Wendepunk— 
ten das Bewußtfein der großen Lücke auftauchen, die zwifchen 
unferer wifjenfchaftlihen Erfahrung im Gebiete des Enplichen 
und unjerem Glauben über den Inhalt und die Form des Ewigen 
fih ausdehnt. Mber weder diefen Kampf in dem einzelnen 
Gemüthe, nod die großartigeren Formen, die er in der Gefchichte 
der Eultur und Speculation angenommen bat, mögen wir in 
dieſem vorläufigen Weberblid einer fpäteren Schilderung vorweg⸗ 
nehmen. Wie man au immer geglaubt bat, ihn entſcheiden zu 
müſſen, dieſe verfchtedenen Urtheile haben im wirflihen Leben, in 
welchen die Evidenz unferer Gedanfen noch eine anbere und 
anders vertbeilt ift, als innerhalb der Schranken der Wifjenfchaft, 
niemals die Zuverficht zu trüben vermocht, daß in jenem Gefühl 
für die Werthe der Dinge und ihrer Verhältniſſe unfere Vernunft 
eine ebenfo ernft gemeinte Offenbarung befigt, wie fie in den 
Srundfägen der verftandesmäßigen Forfhung ein unentbehrliches 
Werkeug der Erfahrung bat. Aber zugleich würde und eine 
Meberficht jener Urtheile lehren, daß feine Quelle der Offenbarung 
trüber fließt, Feine fo ſehr einer feften Faſſung bedarf, als Diefe, 
welche ihre Behauptungen über die nothiwendige Form der Welt 
nur aus dem Gefühle des Werthes zu begründen vermag, den 
fie in ihr zu entbeden, in anderen denfbaren zu vermiflen glaubt. 
Unzählige Umftände fünnen ung bier täufchen; unzählige unver: 
merft entftandene Gewohnheiten des Denkens und der Anfhauung, 
aus individueller Eigenthümlichkeit, aus dem Bildungsftande der 
Zeit, aus der Beichränktheit unferer Xebenserfahrung hervorge- 
gangen, können uns verleiten, das, was wir mit Recht in einer 
allgemeinen Weife verlangen würden, eigenfinnig in einer einzelnen - 
beftimmten Form oder unrichtig und uns felbft mißverftehend in 
völlig falſchem Sinne zu fuhen. Mögen daher diefe höheren 

18* 


276 


Anfichten der Dinge, wie man fie zu nennen liebt, immerhin bie 
belchende und erwärmende Macht in allen menſchlichen Beftre- 
bungen fein, fo werben fie doch immer die Berwandtidaft der 
werthbeftimmenden Vernunft mit der künſtleriſchen Phantafie be- 
ftätigen; was fie hervorgebracht haben, darin tritt überall das 
- Gefühl einer poetifchen Gerechtigkeit an die Stelle der Einficht 
in die Gründe ber Gewißheit. Ste bilden einen großen, aber 
fhmer zu gemeinfamer Verftändigung zu verwerthenden Schat 
unferes Innern, und die Wiffenfhaft muß vieleicht zufrieden fein, 
wenn ihr der Nachweis gelingt, daß die Klaren und unmwiberleg- 
lichen Grundſätze des Verſtandes eben nichts find, als felber Die 
aufflärbaren und zum Gebraud; fertig ausgebildeten Theile jenes 
Schages, nicht ihm frembartig zugefellt, ſondern aus ihm felbft her⸗ 
vorgehend, als die einzigen Verfahrungsweiſen, denen es von un: 
ferem menfhlihen Standpunkte aus gelingen kann, den eigenen 
Sinn und Zwed der Vernunft, die Verbindung der Wirflichfeit in 
die Einheit eines zufammengehörigen Ganzen, durchzuführen. 
Entiprehen nun dieſe Verſuche unſeres Geiftes, aus der 
Welt der Werthe die Welt der Formen zu deuten, der auffaffenden 
Thätigkeit der Phantafie, welche das Wirkliche aus feiner eigenen 
Schönheit, wie aus einer wirkenden Kraft, nachzuſchaffen fucht, 
fo fteht der Fünftlerifchen Erzeugung der Schönheit die handelnde 
Bernunft zur Seite. Verſchiedene Zeitalter haben verjchiedenen 
Spealen der Kunſt nachgetrachtet; aber mie abenteuerlich auch die 
Geftalt fein mochte, in welcher zumeilen ihre wenig feinfinnige 
Phantaſie ſchon den Ausdruck des Höchſten erreicht zu haben meinte: 
alle empfanden eben als Ideal, was fie verehrten. - Kaum weni- 
ger verſchieden find in der Mannigfaltigfeit der Zeiten und der 
Eulturftufen die fittlihen Ideale der handelnden Vernunft geive- 
fen; aber was auch ihr Inhalt fein mochte, man empfand es 
als Pflicht, ihn durch Thaten zn verwirklichen, und die fittlichen 
Grundfäge jeder Zeit wurden ſtets von dem Gemüthe in einer 
anderen Weife gebilligt, al8 die Wahrheiten ver Erfenntniß; aud 
fie waren Ausſprüche eines werthempfindenden Gefühles. Eine 














277 


Bildung, die von den verfchiedenften Seiten her die mannigfad- 
ften Aufflärungen über Die Sellung des Menſchen in der Welt, 
über Maß und Bedingungen feiner Kräfte und über den Reich— 
thum des realifirbaren Guten empfangen hat, glaubt vielleicht 
über diefen Standpunft hinaus zu fein, der auch das Bewußtſein 
unferer moraliſchen Berpflihtungen aus einem fittlichen Gefühle 
entfpringen ließ. Uns allerdings erfcheint der Inhalt der wefent- 
lichften fittlihen Gebote fo Mar, daß wir meinen, ihre innerliche 
Nothwendigkeit müſſe ſich ebenfo unmittelbar aufdrängen, wie fi 
die einfachften Grundfäge der Erkenntniß wenigftend ald unbewußte 
Uebung allen Bölfern aufgedrängt haben. Aber doch aud uns be- 
lehrt die Erfahrung des Lebens wenn gleich in geringerem Maßſtabe 
von der Verſchiedenheit des Inhaltes, den einzelne Gemüther mit 
gleicher Ueberzeugung und Religioſität als die verpflichtende Auf: 
gabe ihres Handelns feftbalten; eine ausgevehntere Ueberficht aber 
würde bei der Vergleihung verfchievener Völker und Culturen 
faum etwas Anderes finden, als die Thatſache, daß überall auch 
Gefinnungen und Handlungen Gegenftände einer wertbbeftimmen- 
den Vernunft find, aber daß die Fähigfeit diefer Vernunft, den 
Werth ihres gefuchten Ideal in den beftimmten Formen des 
Handelns wiederzuerfennen, ähnlichen Täufchungen unterliegt, wie 
ihnen Die Verſuche zu höherer Erkenntniß der Dinge ausgefegt 
find. Auch die Welt der fittlichen Ueberzeugungen tft ein Ergeb- 
niß der Bildung; daß fie nicht ohne die zahlreichen Einflüffe 
diefer entftehen konnte, davon haben wir in dem weiten ®e: 
mälde der Humanität, dem diefe Betradjtungen zum Eingange die- 
nen, die bezeichnenden Züge zufammenzuftellen; daß fie aber auch 
nicht durch die Bildung allein entftand, fondern ihre Wurzeln in 
dem innerften Wefen des Geiſtes hat, baran allein war bier zu 
erinnern Beranlaffung. Weit entfernt, al8 eine nebenherlaufende 
Zugabe nur aus der Hebung unferer vorftellenden Thätigfeit zu 
entftehen, beruht das Sittliche vielmehr auf biefem Grunde bes 
Gefühles, das weit eigenthlimlicher als die Erfenntniß die wahre 
Natur des Geiftes bezeichnet und mit feinem Einfluß auf die 


278 


offenbarſte Weife, wie wir gefehen haben, auch in die Bemühun- 
gen unſeres erfennenden Verſtandes hinübergreift. 


Aber wir wollten die Wirkſamkeit des Gefühl! nach drei 
Seiten hin beftimmen, und die eben gemachte Aeußerung erinnert 
und an die zweite diefer inneren Erfcheinungen, die wir nicht 
ohne die Orundlage des Gefühls begreifen Finnen, obwohl fie am 
häufigften als eine Thatſache des bloßen Erfenntniflebens aufge: 
faßt wird. Ich meine das Sebſtbewußtſein, in weldem wir 
und als Ich von dem Nicht-Ich der übrigen Welt unterjcheiden 
und die Mannigfaltigfeit der inneren Zuſtände auf dies Ich, als 
den zufammenhaltenden Mittelpunft aus- und eingehender Wir- 
fungen, bezieben. 

Früheren Anfihten hat es oft geſchienen, als bilde gerade: 
das Selbftbewußtfein jenen wejentlihen und angeborenen Charak— 
ter, ohne deffen urfprängliches Vorhandenfein der Geift jelbft un- 
denfbar fein würde, oder durch deſſen Befig er mwenigftend von 
der felbftlofen Scele des Thieres ſich unterſcheide. Man hat all- 
mählich dieſe Annahme aufgegeben und fi gewöhnt, das Selbft- 
bewußtſein als das Ergebniß eines nicht kurzen Bildungslaufes 
zu betrachten, ſei es, daß man ein Streben zu ſeiner Entfaltung 
überhaupt als die treibende Kraft in aller geiſtigen Entwicklung 
anſah, oder daß man als ein glückliches Nebenerzeugniß aus dem 
Mechanismus des Vorſtellungsverlaufes unter anderen auch das 
Bewußtſein des eigenen Ich hoffte hervorgehen zu ſehen. Zwiſchen 
dieſen Auffaſſungen hindurch ſcheint doch die Natur der Sache 
einen anderen mittleren Weg zu fordern. Gewiß kann Niemand 
ernſtlich das Selbſtbewußtſein ſo für ein angebornes Beſitzthum 
des Geiſtes halten, daß wir das, was wir ſelbſt ſind, in einer 
deutlichen Vorſtellung abgebildet von Anfang an vor uns ſähen. 
Kommen wir doch, durch alle Bildung des Lebens und durch alle 
Aufmerkſamkeit abſichtlichen Nachſinnens unterſtützt, nie zu dieſer 











279 


vollkommenen Erfenntniß, vor deren erfchöpfender Auskunft alle 
weiteren Tragen nad der eigentlicheren Natur unferes Weſens 
verftummten. Niemals zeigt unfer Bewußtfein uns dies Bild als 
ein gefundenes; nur hingemwiefen werben wir auf einen mehr oder 
minder dunflen Punkt, in dem das Tiege, was wir als unfer Ich 
ſuchen. Aber daß wir e8 eben fuchen können, daß wir dies fo 
unvolftändig Erkannte doch mit der entjchievenften Lebhaftigfeit 
immer von der Außenwelt trennen, diefen Trieb können wir nicht 
verftehen, ohne ihn al8 unabhängig von den Umftänden zu ben- 
fen,’ welche die fortichreitende Vervollkommnung unferes Wiſſens 
um und jelbft bedingen. Wie kommen wir alfo dazu, die Mannig- 
faltigfeit alles Vorſtellbaren in dieſe zwei Theile zu feheiven, das 
eine Ich und ihm gegenüber die unzählbare Fülle alles Uchrigen ? 
Unterfcheiden wir uns von der Welt, fo ift e8 nicht ein Unter- 
fcheiden, dem ähnlich, durch welches wir zwei andere Gegenftände 
auseinander halten; diefer Gegenfat ‚vielmehr zwifhen ung und . 
dem, mas nicht wir find, erſcheint und nad Sinn und Größe als 
ein unbebingter und umvergleihbar mit allen übrigen. 

Und died aus fehr natürlihem Grunde, wird man jagen: 
enthält doch er den befondern und völlig einzigen Ball, in welchem 
dasjenige, welches dieſe entgegenfegende Beziehung denkt, felbft das 
eine Glied des Gegenfages bildet. Dies Zufammenfallen des “Den- 
fenden und des Gedachten, der weſentliche Zug deflen, mas wir 
das Ich nennen, vechtfertige das befondere Gewicht, welches wir 
auf diefen Unterjchied legen. Aber genauer betrachtet erflärt dieſer 
Umftand ſehr wenig das Näthfel des eigenthiimlichen Intereffes, 
das wir an diefem Unterfchtede nehmen, und das fehr wenig mit 
der bloßen Theilnahme an ber intereffanten Eigenthümlichkeit eines 
befonderen Falles gemein hat. Nicht darin liegt die Bedeutung 
des Selbftbemußtfeind, daß Denkendes und Gedachtes zufammen- 
fallen; denn diefer Zug bezeichnet nicht unfer Ich allein, fondern 
die allgemeine Natur jed cs Ich, von der mir eben das unfere 
wodurch nun eigentlich unterfcheiden ? Dadurch gewiß, daß es das 
Dentende unferer Gebanten if. Aber mad meinen wir damit, 


280 


wenn wir irgend welche Gedanken als unfere bezeichnen? Darüber, 
was unfer ift, muß e8 offenbar eine unmittelbare Gewißheit geben, 
und fie kann uns nicht aus der allgemeinen Borftellung von der 
Natur des Ich fließen, von welcher unfern eigenen Tall zu unter: 
ſcheiden gerade die weſentliche Leiftung unferes Selbftbewußtfeins 
ift. Und nun wird man leicht verftehen, wie wenig eine immer 
vollflommenere Ausbildung unferer Einfiht in das Wefen unferer 
Seele die Rüde ausfüllen würde, die wir hier vorfinden. Denn 
jelbft wenn wir genau und zutreffend alle die eigenthimlichen 
Merkmale verzeichnen könnten, durch die in der That unfere Seele 
ſich von allem Anderen unterfcheidet, fo würde doch noch immer 
und jeder Beweggrund fehlen, die jo gewonnene Borftellung für _ 
mehr, als für das gleichgültige Gemälde eines Wefens zu nehmen, 
das irgendivo vorhanden wäre und von einem zweiten fi) ebenfo 
vollſtändig unterſchiede, wie ein dritte von einem vierten. Und 
wenn nun ferner auch dies felbft unferer Wahrnehmung nicht ent- 
ginge, daß dies in fo vollftändiger Erkenntniß durchſchaute Weſen 
zugleich eben daſſelbe ift, welches in diefem Augenblide diefe An- 
ſchauung feiner felbft vollzieht, fo würden wir mit diefer that- 
ſächlich vollendeten Selbftbefpiegelung zwar das Bild jenes Weſens 
durch den letzten ihm eigenthümlichen merkwürdigen Zug ergänzt 
haben, aber noch immer würden wir gleich weit entfernt fein von ber 
Bedeutung deffen, was wir in unferem wirflihen Leben als Selbft- 
bewußtjein kennen und genießen. Wohl wäre für dieſe vollkom⸗ 
mene Erkenntniß ihr eigenes Weſen in völliger Klarheit gegen- 
ftändlich geworden, aber auch fo gegenftändlic, daß ihr eigenes 
Selbft ihr nur als ein Gegenftand unter anderen erſchiene; un- 
befannt und unverftändlich würde ihr die Innigfeit bleiben, mit 
der wir in unferem wirklichen Selbftbewußtfein den unendlichen 
Werth diefer Zurückbeziehung auf uns jelbft empfinden. Wie alle 
Werthe des VBorgeftellten, fo wird auch diefer nur durch Gefühle 
der Luft und Unluft von uns ergriffen. Nicht indem jenes Zu- 
fammenfallen des Denkenden mit dem Gedachten von uns gedacht, 
fondern indem es in dem unmittelbaren Werthe, den e8 für und 








281 


hat, gefühlt wird, begründet es unfer Selbftbewußtfein und hebt 
unwiderruflich den Unterſchied zwiſchen und und der Welt iiber alle 
Bergleihung mit den Gegenjägen hinaus, durch die ein Gegenftand 
ſich vom andern fondert. 

Und hierzu reihen einfache finnliche Gefühle ebenſowohl aus 
als jene feiner geglieverten intellectuellen, durch welche entwideltere 
Geifter zugleich den Werth und das eigentbitmliche Verdienft ihrer 
Berfönlichkeit fih zur Anſchauung bringen, Wie reich oder wie 
ärmlich die Vorftellung der Seele von fich ſelbſt iſt, wie treffend 
fie ihr Bild entwirft oder e8 ganz verfehlen mag: völlig unab- 
hängig davon ift die Lebhaftigfeit und Innigkeit, mit welcher der 
Inhalt diefes Bildes von allem Andern unvergleihbar verſchieden 
gefühlt wird. Der getretene Wurm, der fih im Schmerze krümmt, 
unterfcheidet fein eigenes Leiden gewiß von der übrigen Welt, ob- 
gleich er weder fein Ich noch die Natur der Außenwelt begreifen 
mag. Aber die vollendete Intelligenz eines Engeld, fehlte ihr 
jenes Gefühl, würde wohl fharfe Anſchauungen des verborgenften 
Weſens der Seele und der Dinge entwideln und in lihter Klar: 
beit die Erſcheinung ihrer eigenen inneren Selbftipiegelung be- 
obachten, aber fie würde nie erfahren, warum fie auf ihren Uns 
terichied von der übrigen Welt jemals einen größeren Werth legen 
follte, als auf die zahlreichen Verſchiedenheiten der Dinge über: 
haupt, die ſich ihrer Erkenntniß ebenfo darbieten. So gilt uns 
das Selbſtbewußtſein nur für die Ausbeutung eines Selbftge- 
fühls, deſſen vorangehende und urfpringliche Lebendigkeit durch 
bie Ausbildung unferer Erfenntniß nicht unmittelbar gefteigert wird; 
nur der Reihthum und die Klarheit des Bildes, das wir von 
unferem Wefen und erfennend entwerfen, erhöht ſich im Fortſchritt 
unferer Bildung. Und ebenfo allerdings wächft mit ihm die Summe 
ber Gebanfen, die den Äußeren Gegenftänden eine Beziehung zu 
unferem Streben und Wollen geben; nicht nur klarer wird ber 
Inhalt unferes Ich, fondern er dehnt fi aus über einen zunehmen 
den Umfang; fo wächſt mittelbar auch die Lebhaftigfeit des Selbft- 
gefühles, indem die gebilvete Seele reizbar wird für unzählige Ver⸗ 





282 


hältniffe, die ihr als Störungen ober Förderungen ihres eigenen 
Weſens gelten, während fic dem unentwidelten Gemüthe nur 
gleihgültige Beziehungen zwifchen dem Aeußeren fcheinen. 


Auch diefen Bildungslauf zu fhildern, müffen wir der Dar- 
ftellung der menfchlichen Lebensverhältniffe, durch die er bedingt 
wird, zurücklaſſen, und nur mit wenigen Worten gebenfen wir 
einiger Punkte deſſelben, durch welche hindurch wir uns dent leß- 
ten Gegenftande diefer Meberficht nähern. E8 ift Leicht begreiflich, 
wie im Anfang das Bild des eigenen lebendigen Körperd eine 
bevorzugte Stelle in unferm Gedankenlaufe einnehmen muß. 
Werkzeug aller Wahrnehmungen und aller Bewegungen, ift er in’ 
jede Aeußerung unferes Lebens verflochten, und jede Erinnerung 
eines Eindrudes, einer Handlung, eines Leidens oder Genuffes 
führt mit ſich auch fein Bild zurüd und gewöhnt und daran, Die 
Regſamkeit unferes Weſens unmittelbar in der bewegten und 
beweglichen Geftalt des Leibes zu ſehen. Aber eben fo einfach 
find doch die Erfahrungen, die und bald davon überzeugen, daß 
das Lebendige in ihm nicht er felbft ift, daß wir wohl in ihm, 
aber nicht aufgehen in feine fichtbare Form, eine bemegende 
Kraft fuchen müſſen, die gleichzeitige Urfache feiner eigenen Ver— 
änderlichfeit und der lebendigen Ummwanblungen ber inneren Welt, 
in der unfere Borftellungen, Gefühle und Strebungen einander 
drangen. Mit dieſer unvolllommenen Auffaflung begnügt fich 
ohne Zweifel die größte Anzahl der, Menjchen, mehr hinausgemie- 
jen über die Vorftellung des Körpers, als hingewieſen auf irgend 
einen andern beftimmten Punkt. Wohl verfuht die Wiſſenſchaft 
diefe Lücke zu filllen, indem fie dies dunkle gefuchte Wejen in der 
Form eines Dinges, einer überfinnlichen Kraft, einer immateriellen 
Subftanz zu fallen ftrebt; aber diefe Verfuche Tiegen itber den 
Umfang des natürlichen und unbefangenen Gebanfenganges hin: 
aus, und indem fie die allgemeine Natur der Seele feftzuftellen 








283 


ſuchen, führen fie ohnehin nicht dazu, jedem Einzelnen die unter- 
ſcheidende Natur feines eigenen Ich aufzuhellen. Deshalb ift das 
natürliche Bewußtfein wenig geneigt, diefem grübelnden Nachden⸗ 
fen nachzuhängen; e8 freut ſich feiner Individualität vielmehr, 
indem e8 durch die Erinnerung an feine körperliche Erſcheinung, 
an bie Gefchichte ſeines Lebens, an feine Leiden und Freuden, 
feine Leiftungen und Hoffnungen, an feine ganze eigenthiimliche 
Stellung in der Welt ſich als dieſes einzelne Ich von jedem an= 
dern unterſchieden weiß. 

Aber e8 erfährt auch, wie die Welt ihm Widerftand leiftet, 
wie wenig e8 im nächften Augenblid das werben kann, was es 
im vorigen werden wollte; fein Wifjen und Können findet e8 ab- 
hängig von den BZufällen feines Bildungsganges, feine ganze ihm 
felbft beobachtbare Individualität erfiheint ihm als angethan durch 
Umftände, die nicht es felbft find. So fommen wir dazu, dieſem 
Icharfgezeichneten Bilde des empirifchen Ich ein anderes gegenitber- 
auftellen, in. welchem wir jene beftändigen Züge zu ſammeln glau⸗ 
ben, die den wahren Gehalt unſeres Wejens bilden und unabhän- 
gig von der beftimmten Form find, in welde die äußeren An= 
regungen uns weiter ausgeprägt haben. Sp wie wir in ber 
Betrachtung aller Dinge die zufällige Geſtalt, die ihnen eine fremde 
Einwirkung gegeben bat, von den unveränderlichen Eigenfchaften 
ſcheiden, durch welche fie jegt eben zu diefer und unter anderen 
Umftänden zu ganz anderen Formen der Erfcheinung befähigt 
‚ ‚werben, fo juchen wir jegt unfer wahres Ich in den dauernden 
Gewohnheiten und Eigenthiimlichleiten unferes geiftigen Wirkeng, 
die immer ſich würden gleich geblieben fein, auch wenn die äuße— 
ven Bedingungen ihrer Ausbildung völlig andere geweſen wären. 
Nicht durch das mithin, was wir wiffen, was wir gethan und er- 
lebt haben, glauben wir jegt unfer Ich zu erſchöpfen, fondern in- 
dem wir ausprüdlich die ganze Mannigfaltigfeit diefer Entwid- 
lung nur für cine der vielen möglidy gewejenen Ausbildungen 
unferes Weſens halten, finden wir ung felbft vielmehr in der all- 
gemeinen Stimmung unferer Geflihle, in dem Temperament, das 


284 


wir mit Niemand vollkommen ähnlich theilen, in der ganzen Ma— 
nier und Gewohnheit, der Gewandtheit oder Schwerfälligfeit unfe- 
res Berhaltens, in der eigenthümlichen Weife, in der wir mit 
dem Inhalte unferes Erfennens fchalten und walten. Dies Alles, 
meinen wir, würde völlig fich ſelbſt gleich geblieben fein, welchen 
Entwidlungsgang aud die Schickſale des Lebens uns vorgezeichnet 
hätten, und wenn wir gern jede ſchöne und vorziigliche Ausbildung, 
die unfere wirfliche Lage uns möglich gemacht hat, zu dem eigenen 
Berdienfte unferer Natur zählen, fo zweifeln wir doch nicht, Daß 
alles Berfehlte und Ungerathene den hemmenden Umftänden allein 
zuzurechnen fei. Das empirifche Ich erfcheint uns wie die Belau⸗ 
bung eines Baumes, deren File und Schönheit von der Gunft 
und Ungunft des Jahres abhängt; ftreifen wir fie ab, fo bleibt in 
dem Stamme die treibende Kraft, immer fich felbft glei und 
unter glüdlicheren Bedingungen zu der Hoffnung befferer Ent: 
widlung berechtigt. In diefer Weife, durch dieſes äfthetifche Bild 
unſeres beftändigen Naturells, pflegen wir am meiften unfere Per: 
ſönlichkeit uns felbft anfhaulich zu maden, und gewiß erreichen 
wir dadurch ein treueres und fprechenderes Gemälde unferes We- 
ſens, als durch Die zerftreute Mannigfaltigfeit unferer empirifchen 
Erinnerungen, welche des VBergangenen und Zufälligen zu viel, 
und von dem Zufünftigen zu wenig einſchließt. Aber wir finden 
doch bald, daß auch diefe VBorftellung und das noch nicht gewährt, 
was wir in gefteigerter Bedeutung des Wortes als unfer wahres 
Ich fuchen. | 

Denn nur in zu großer Ausdehnung finden wir unfer Tem: 
perament, die beftändige Stimmung unſeres Gemüthes, die eigen- 
thümliche Richtung und die Lebhaftigfeit der Phantafie, endlich 
die heroorragenden Talente, welche zunäct den Beftand unferer 
individuellften Perjönlichkeit auszumanen ſchienen, abhängig von 
der körperlichen Conftitution und ihren Veränderungen; ſelbſt als 
ererbte Anlage ift Vieles davon nur das Ergebniß eines Natur: 
laufes, der lange vor unferem eigenen Dafein ſchon einzelne Züge 
unſeres fpäteren Lebens unwiderruflich beftummte. Und felbft wenn 








285 


es nun nicht der Zuſammenhang phyſiſcher Wirkungen wäre, dem 
wir auf dieſe Weife verſchuldet find, wenn vielmehr unabhängig 
von ihm fich Die wefentliche Natur unferer Seele gebilvet hätte: 
immer würde felbft dann ihre wifprüngliche Anlage uns als ein 
Gegebenes, al8 eine Mitgift der fchaffenden Kraft erfheinen, aus 
welcher unfer Dafein floß, und wo wir irgend unfer eigenes 
Selbft zu erfaffen meinten, wilrden wir e8 doch nur finden als 
ein durch eine fremde Macht feftgeftelltes, nicht fo als unfer Ei- 
genthum, wie wir das befigen, was aus unferer eigenen Anftren- 
gung und freien Thätigkeit entflanden if. So bilvet ſich jene 
Sehnſucht aus, über allen Inhalt unferes Ich binauszugehen und 
in einem reinen noch beftimmungslofen und fich felbft geftaltenden 
Triebe das wahre und tieffte Weſen unferer Perſönlichkeit zu fu- 
hen; nur das glauben wir jegt wahrhaft zu fein, wozu wir uns 
jeldft gemacht haben. Wir wollen nicht den feltfamen Widerfprü- 
hen folgen, zu welchen in der wiſſenſchaftlichen Forſchung dieſe 
Richtung der Gedanken nothwendig führen mußte; die natürlichere 
Meinung des unbefangenen Gemüthes bejheidet fi hier und 
verlangt nicht, daß aus unferem Weſen Alles entfernt werde, was 
nicht unfere eigene That fei. Indem fie zugefteht, was fie nicht 
leugnen Tann, daß ohne unfere Wahl der Umkreis aller unferer 
möglichen Entwidlung durch äußere Umftände, durch Die Eigenthüm— 
lichkeit des Gefchlechtes, dem wir angehören, der leiblichen Con- 
ftitution, die und mitgegeben ift, des Zeitalters, in dem wir ge— 
boren werben, endlich durdy die allgemeinen Geſetze des geiftigen 
Lebens, welche für Alle gleich gelten, unverſchiebbar beftimmt ift, 
verlangt fie nur noch, daß in der Mitte aller diefer gefeglichen 
Nothwendigkeit ein Punkt der Freiheit wenigftens vorhanden fei, 
von dem aus unfere Thätigfeit diefen uns dargebotenen Stoff des 
Daſeins zu einem uns allein angehörigen Beſitzthum geftalten 
könne. Bedingt in allem Uebrigen, in den Formen der Erfennt- 
niß, dem Laufe der Borftellungen und Gefühle, wollen wir frei 
wenigftens im Wollen und im Handeln fein. 


286 


Wir haben früher Die Heberzeugung ausgeſprochen, daß neben 
dem Borftellen und dem Gefühl das Wollen ein eigenthimliches 
Element geiftiger Regſamkeit enthalte, nicht ableitbar aus jenen 
beiden, obwohl von ihnen als Veranlaffungen feines Hervortre- 
tens abhängig. Indem wir jedoch jegt zu einer genaueren Be— 
trachtung dieſer neuen Thätigkeitsweiſe der Seele geführt werben, 
müffen wir das Zugeſtändniß vorausihiden, daß unter den man⸗ 
nigfaltigen Erfcheinungen, die man unter verſchiedenen Namen ihr 
entweder unmittelbar zuorbnet ober doch als verwandt an fie an- 
Inüpft, viele fih befinden, in denen wir nur befonvere Formen 
des Vorſtellens und des Gefühle zu erkennen vermögen. Mit 
dem Namen des Wollend und Strebens find wir unleugbar zu frei= 
gebig und bezeichnen mit ihm mandes Ereigniß, zu melden bie 
Seele fih nur als beobachtendes Bewußtſein, nicht als bandeln- 
des Weſen verhält; Bewegungen der Vorſtellungen und Gefühle, 
Die in und auf mancherlei Veranlaſſungen des allgemeinen pfycht- 
ſchen Mechanismus nur gejhehen und als gefchehende von uns 
bemerkt werben, fafjen wir iwrig als Thätigfeiten, die unfer ent- 
ſchiedener Wille oder doch ein weniger ausprüdliches Streben un- 
ſeres Ich ind Werk gefegt habe. 

Prüfen wir die Mannigfaltigkeit der finnlichen Triebe, fo 
werden wir al8 ihren eigentbümlichen Kern immer nur ein Ge- 
fühl antreffen, das in Luft oder Unluft uns den Werth eines 
vielleicht nicht zu bewußter Einficht kommenden Eörperlihen Zu: 
ftandes verräth. Nur weil wir Erfahrungen gemacht haben, die 
nun der Mechanismus der Erinnerung ung wieder vorführt, fo 
daß die Vorſtellungen der Bewegungen oder der Gegenftände, die 
früher die Luft verlängerten oder die Unluft verkürzten, jegt dem 
Bewußtſein wiederkehren, nur dadurch geht das Gefühl in eine 
Bewegung über, auf die Wievererlangung diefer günftigen Um: 
ftände gerichtet. Aber was hier zunächſt entfteht, das ift nicht 
eine Aeußerung unferes Willens, fondern völlig willenlo8 und mit 
mechanischer Abfolge regt das Gefühl jelbft und die mit ihm ver- 
bundenen Borftellungen fogleih die Anfänge ber Teiblichen Be: 











- 


287 


wegung an, die jenem Zwede dienen, und was wir nın Trieb 
nennen, ift nicht ein Wollen, durch welches wir den Körper Ien- 
fen, fondern eine Wahrnehmung feines Leidens und der unmill- 
führlih in ihm entftehenden Bewegungen, durch welche nun auch 
die übrigen Thätigkeiten unferes Bewußtſeins zu entiprechender 
Wirkſamkeit veranlaßt werben. So ift mithin der Trieb nur das 
Innewerden eines Getriebenwerdens; und wenn irgend ein Wille 
in ihm vorkommt, fo ift es einfach Diefer, dem natürlichen Ab- 
lauf diefer inneren Veränderungen nicht zu widerſtehen, fondern 
fih ihnen binzugeben. 

Aber wir können dieſe Betrachtung nicht auf finnliche Triebe 
befchränfen; der größte Theil deſſen, was wir im täglichen Leben 
unfere Handlungen nennen, geſchieht völlig in derjelben Weife. 
Borftellungen tauchen in uns nad allgemeinen Gejegen auf und 
an fie nüpfen fih theils unmittelbar, theil durch das Mittel: 
glied verfchtevenartiger Gefühle allerlei Bilder körperlicher Be— 
wegungen, die bald als Mittel zur Erreihung eines äußeren 
Gegenftandes, bald als Linderungen eines vorhandenen Wehes 
unjerem Bemwußtfein vorſchweben. In den feltenften Fällen wird 
durch diefen Andrang innerer Reize ein wirkliches Wollen aufge- 
regt; von felbft geht meiftens die Vorftelungsreihe in äußere 
Bewegung über, und eine große Anzahl jelbft zuſammengeſetzter 
Handlungen Läuft in diefer unmwillführlihen Weife ab, ohne daß 
auch nur die Reihe der Bermittelungsglieder, durch welche fie von 
dem urſprünglichen Anlaß abhingen, vollftändig ſich vor dem Be- 
wußtjein entfaltet hätte. Kein Grund ift vorhanden, dieſe Er- 
eigniffe duch einen befonderen Namen von jenen Wirkungen ab- 
zutrennen, die wir in jedem zufammengefegten Organismus in 
gleicher Formenmannigfaltigfeit und mit gleicher mechaniſcher 
Nothivendigkeit der Abfolge zu Stande kommen fehen; und in der 
That pflegen wir geneigt zu fein, den Thieren, deren Neußerun- 
gen wir uns ausfchlieglich auf dieſe Weiſe begrüindet denfen, jeden 
eigentlichen Willen abzufprehen. Nur da find wir überzeugt, e8 
mit einer That des Willens zu thun zu haben, wo in deutlichen 





288 


Bewußtſein jene Triebe, die zu einer Handlung drängen, wahr: 
genommen werben, die Entſcheidung dariiber jedoch, ob ihnen ge- 
folgt werden foll oder nicht, erft gefucht und nicht der eigenen 
Gewalt diefer drängenden Motive, fondern der beftimmenden freien 
Wahl des von ihnen nicht abhängigen Geiftes überlaſſen wird. 
Sp nahe zeigt fich der Begriff der Freiheit mit dem des Willens 
verfnüpft; denn in diefer Entfcheidung über einen gegebenen That- 
beftand befteht allein die wahre Wirffamfeit des Willens. Aller 
mögliche Inhalt des Wollend dagegen wird überall durch den un- 
willführlichen Verlauf der Vorftellungen und Gefühle herbeigeführt, 
und ohne an fich felbft ein nad außen gerichtetes, geftaltendes 
und ſchaffendes Streben zu fein, muß der Wille ſich mit der Frei- 
heit unbejchränfter Wahl zwifchen dem begnügen, was ihm von 
dorther dargeboten wird. 

Wäre e8 nun unmöglich, dieſe Freiheit zu denken oder ihre 
Annahme zu rechtfertigen, würden wir dann noch Veranlaſſung 
haben, überhaupt den Namen des Willens beizubehalten? Wie 
jehr auch die eigenthümliche Berwidlung der Ereigniffe im geiftt- 
gen Leben Die des Naturlaufes noch übertreffen mag, ihr Zu— 
ſammenhang ſchiene dann doch dem Weſen nad in Nichts mehr 
von der volllommenen und blinden Nothwendigfeit eines ununter: 
brochenen Mechanismus abzumeichen. Dennoch glauben wir, daß 
ſelbſt unter diefer VBorausfegung das Wollen als eigenthlimliches 
Element fi) aus der Reihe der Übrigen Aeußerungen geiftiger 
Thätigkeit nicht würde hinwegdeuten laſſen, obmohl feine Stel- 
lung eine jehr befrembliche fein würde. Wenn die Sprache der 
Menſchen für einfache, nicht aus einer Vielheit von Borftellun- 
gen zufammengefeßte, jondern manche Bielheit vielmehr zu einem 
Ganzen erſt verbindende Vorgänge einen eigenthümlichen Namen 
ausprägt, jo mag fie häufig in feiner Anwendung irren und fehl- 
greifen in der Begrenzung der Erſcheinungen, in denen fie Dies 
Bezeichnete wieder zu finden glaubt; aber das, was fie meinte, 
wird fie ſchwerlich aus der Luft greifen, ohne daß es etwo in der 
Welt wirkliches Dafein hätte. Denn zulegt kann fih Doc alles 


289 


unſer Vorftellen nur des Inhaltes bemädtigen, den wir trgenb- 
wie erleben, und wie wir nichts völlig Neues erfinnen, fo fünnen 
wir uns auch kaum auberd irren, als in der Verbindung und 
Benutzung der einfachen Elemente, welche dieſe innere Erfahrung 
und dargeboten bat. Nur ein Borurtheil der Schule kann des: 
halb, wie e8 fcheint, den Verſuch machen, Die Natur des Wollens 
auf ein bloßes Wiſſen zurüdzuführen und die Behauptung zu 
vertheidigen, der Sag: ich will, fei gleichbedeutend mit dem Haren 
und zuverfichtlihen Bewußtſein des andern: ich werde. Nur die 
Gewißheit vielleicht, daß ih handeln werde, mag gleichgeltend 
fein mit dem Wiffen meines Wollens, aber dann wird in dem 
Begriffe des Handelns jenes eigenthiimliche Element der Billigung, 
der Zulaffung oder Abfiht eingefchloffen fein, welches den Willen 
zum Willen macht, und welches wir in der bloßen Borausficht 
des zufünftigen Eintretens einer von uns ausgehenden Wirkung 
vermiffen. Bergeblich fucht man deshalb das Borhandenfein des 
Wollend zu leugnen, ebenfo vergeblih, als wir uns bemühen 
würden, feine einfache Natur, die nur unmittelbar fich erleben 
Laßt, durch umfchreibende Erklärungen zu verbeutlihen. Diefe 
Biligung nun, durch welche unfer Wille den Entfchluß, welchen 
die Drängenden Beweggründe des Vorftellungslaufes ihm barbieten, 
als den feinigen aboptirt, oder Die Mißbilligung, mit welcher er 
ihn von ſich zurückweiſt, beide würden denkbar fein, auch wenn 
feine von beiden die geringfte Macht befäße, beftimmend und 
verändernd in den Ablauf der inneren Ereigniſſe einzugreifen. 
Ebenſo wie der Menſch dur äußere Verhältniffe zu einer Weife 
des Berhaltend gebrängt wird, der jede Theilnahme, jede Zu⸗ 
flimmung feines Innern fehlt, jo könnten auch in feinem Innern 
ſelbſt mit ununterbrochener Nothmendigfeit die einzelnen Ereig- 
niffe ſich verketten und unaufhaltſam Handlungen erzwingen, 
welche das Gewiffen mit machtloſer Reue ſchon im Augenblide 
ihres Geſchehens begleitete. 

Diefe Vorftellung, fo befremdlich fie im erften Augenblide 
erſcheinen mag, Yiegt doc, nicht jo weit von den Gebanfen ab, 

Zope I. 3. Aufl. 19 


290 


bie mir im Leben zu begen gewohnt find. Faſt nur die wiffen- 
ſchaftliche Unterfuhung pflegt die unbeſchraͤnkte Freiheit des Wol- 
lens mit der grenzenlofen Fähigfeit des Vollbringens zu verwech⸗ 
feln; unfere lebendige Erfahrung dagegen mahnt uns an unfere 
Schwäche im Streit mit der drängenden Gewalt unwillführlicher 
Strebungen, und wir glauben eines höheren Beiftandes bedürftig 
zu fein, um über fie zu fiegen. In der That ift es ein Irr— 
thum, von dem Willen mehr zu verlangen, als daß er wolle, und 
bie Schwierigkeiten, die man der Ueberzeugung von feiner Frei— 
heit entgegenftellt, geben am meiften, obwohl aud fo nit un= 
übermwindlich, aus diefem Borurtbeile hervor. Wie oft bat man 
nicht von dem freien Entſchluſſe eines befeelten Wefens, wenn es 
nicht gelänge, auch ihn wieder als eine nothiwendig bedingte Folge 
in den übrigen Zufammenhang des Weltlaufes einzufchalten, eine 
Zerftörung aller Ordnung der Wirklichkeit beforgt! Man vergaß, 
wie eng die Grenzen der Macht aud dann noch dem endlichen 
Geſchöpfe gezogen fein würden, wenn fein Wille nit nur frei 
im Wollen, fondern aud die Mittel ber Förperlihen Organtfation 
feinen Entjchlüffen unbedingt dienftbar wären. Man vergaß, 
daß jeve Wirkung, wie unberechenbar frei aud ihr Beweggrund 
geweſen wäre, doch, fobald fie als Wirkung beroortritt, wieder in 
den Kreis der berehenbaren den allgemeinen Naturgefegen unter= 
worfenen Ereigniffe eintritt, und daß Feiner Freiheit mehr Spiel- 
raum des Erfolges gegeben ift, als die unverrüdte Orbnung der 
Dinge nad ihrem eigenen Rechte ihr zugefteht. Und wenn man 
endlich bejorgte, daß dennoch die Vorgänge, melde ber befeelte 
Wille nad) feiner Wahl in den Ablauf der Wirklichkeit einführt, 
allmählich fich jummirend, dem Plane der Natur zumider fich 
ausbreiten Eönnten, fo überjah man doc, daß felbft der ununter- 
brochene freiheitlofe Zufammenhang aller Zuftände im Geelen- 
leben diefe Gefahr nicht mindern wilrde. Denn mo läge Die 
Burgſchaft dafür, dag in jedem einzelnen Gemüthe die Borftel- 
lungen die Gefühle die Strebungen ſich jeverzeit in fo glüdlicher 
Form und Miſchung zufommenfänden und aufeinander wirkten, 





“ 291 


um zulegt immer einen Ausſchlag zum Handeln zu geben, welcher 
mit dem eigenen Sinne des Naturlaufes übereinftimmte? Greifen 
wir nicht jo wie wir wirklich find, frei oder unfrei, in der That 
flörend oder verwüftend in den Beftand der Natur ein, mannig- 
fache Spuren unferer eigenwilligen Thätigfeit deutlich zurücklaſſend, 
obne freilih im Großen die Ordnung der Dinge erfchlittern zu 
innen? Und wenn wir nun annehmen, daß ein völlig unbe- 
rechenbarer und freier Wille unfere Handlungen lenkte, würden 
wir dann, ſobald wir Rückſicht auf die Grenzen unferer Macht 
nehmen, eine viel beträcdhtlihere Störung in der Orbnung der 
äußeren Welt befürchten müſſen? Und eben fo wenig, wie bie 
Natur um und, wiirde durch eine unbebingte Freiheit unjerer 
Entjchlüffe unfer eigenes Wefen, wie man fo oft meint, jeden in= 
neren Zuſammenhang verlieren. Denn immer würden ed nur 
die Entichlüffe fein, die wir jener Freiheit überlaſſen hätten; auf 
dem angebornen Gemeingefühl unferer Eriftenz, auf der Eigen: 
thümlichkeit unſerer Talente, der Summe der empfangenen Ein- 
drücke, auf der Erinnerung des Erlebten, auf der fortdauernden 
Stimmung, auf den immer wieder wirkſamen allgemeinen Ge- 
ſetzen unferes Borftellungslaufes würde die Einheit und Stetigfeit 
unferes perſönlichen Bewußtfeins breit und fiher beruhen, denn 
über alle dieſe Elemente unſeres geiftigen Lebens würde jene 
Freiheit Feine Macht befigen. Iene Größe der Veränderlichkeit 
dagegen, die in der That durch die Unberehenbarkeit der Entjchlüffe 
und noch übrig bliebe, dürfte leichter zu der Entwidlungsfähig- 
feit gehören, die wir wünſchen muſſen, als zu dem Wechſel, den 
wir zu fliehen haben. 

Aber das allgemeine Geſetz der Cauſalität, welches zu jeder 
Wirkung die genügende Urſache hinzuzuſuchen befiehlt, wird es 
nicht zuletzt jeder Annahme einer Freiheit entgegenſtehen und 
unerbittlich den Zuſammenhang des ganzen Weltalls in eine 
unendliche Kette blinder Wirkungen verwandeln? Wir möchten 
meinen, je deutlicher ſich diefe Verwandlung als die nothwendige 
Tolgerichtigkeit jener Auffaſſung des urſächlichen Zufammenhanges 

19 * 





292 * 


zeigt, um fo deutlicher ſei auch die Unrichtigkeit der Auffafſung 
ſelbſt. Daß die Gefammtheit aller Wirflichfeit nicht die Unge— 
veimtheit eines überall blinden und nothwendigen Wirbeld von 
Ereignifien darftellen könne, in welchem fr Freiheit nirgends 
Blag fer: Diefe-Ueberzeugung unferer Vernunft fteht und fo un: 
erichütterlich feft, daß aller übrigen Erkenntniß mur die Aufgabe 
zufallen kann, mit ihr als dem zuerft gemiffeh Punkte den wider: 
fprechenden Anfchein unferer Erfahrung in Einklang zu bringen. 
Wir leugnen nicht, daß dieſe Aufgabe der Wiffenfchaft noch weit 
von der klaren Löſung entfernt ift, die wir für fie wünſchen, und 
ohne hier in Unterfuchungen einzugehen, deren Führung ſchwer 
und deren Ergebniß zweifelhaft fein würde, mögen wir der ge 
wöhnlicyen Ueberzeugung nur einzelne Punkte zu wiederholter 
Ueberlegung einwerfen. 

Wenn das Caufalgefeg mit Recht zu jeder Wirkung eine 
Urfache verlangt, jo ift c8 Dagegen unfere Schuld, wenn wir in 
jedem Ereigniß eine Wirkung fehen, oder wenn wir Die gefundene 
Urſache überall jelbft wieder als Wirkung einer anderen betrach⸗ 
ten. Die unvollendbare Reihe, in welche wir uns hierdurch ver: 
wideln, muß uns darauf aufmerffam machen, daß jener Sag im 
Grunde weniger ausfagt, al8 er ſcheint. Wenn wir behaupten, 
daß jede Subftanz ungerftörbar ſei, fo fagen wir etwas Richtiges, 
fobald wir in dem Begriffe der Subftanz eben das Merkmal der 
Ungerftörbarkeit eingefchloffen haben; aber wir brüden damit nicht? 
aus, was eine unmittelbare Geltung hätte; denn es wird fih 
dann eben fragen, ob e8 Subftanzen in dieſem Sinne gibt, umd 
ob die Erfahrung, die uns allerdings nöthigt, zu jedem Kreife 
von Eigenfchaften und Entwidlungen ein Subject al8 Träger ber: 
ſelben hinzuzudenken, uns auch überall dazu nöthige, dies Sub- 
ject felbft in Geftalt einer fo gearteten Subftanz aufzufaflen. 
Ehen fo verlangt ohne Zweifel Alles, was wir einmal als Wir 
fung denfen und bezeichnen, feine Urfache, aber es ift fraglich, ob 
wir ein Recht haben, jedes vorkommende Ereignig als Wirkung 
in diefem Sinne zu betrachten. Eben jene Unvollendbarkeit ber 








293 


Cauſalreihe überzeugt uns von dem Nichtvorhandenſein dieſes 
Rechtes, denn fie führt nothwendig auf die Anerkennung eine® 
urfpränglichen Seins und einer urfprünglicen Bewegung zurück. 
Nicht darin befteht die unbebingte Guültigkeit des Cauſalgeſetzes, 
daß jeder Theil der endlichen Wirflichfett immer nur im Gebiete 
diefer Endlichfeit jelbft durch beftimmte Urfachen nad) allgemeinen 
GSefegen erzeugt werden müßte, jondern darin, daß jeder in dieſe 
Wirklichkeit einmal eingeführte Beftanbtheil nach dieſen Gefegen 
weiter wirkt. Sprechen wir gewöhnlich nur Davon, Daß jebe 
Birkung ihre Urſache habe, ſo follten wir im Gegentheil das 
größere Gewicht auf den andern Ausdruck des Satzes legen, 
darauf, daß jede Urfache unfehlbar ihre Wirkung hat. Darin 
befteht, nicht allein zwar, aber wie mir foheint zum mefentlicheren 
Theile der Sinn der Eaufalität, daß fie jevem aus irgend welcher 
Duelle einmal entftandenen Elemente der Wirklichkeit fein thäti- 
ge8 Eingreifen in den übrigen Beftand der Welt, zu welcher 8 
nun gehört, fichert, und zugleich ihm verwehrt, innerhalb berfel- 
ben anders thätig zu fein, als in Uebereinftimmung mit jenen 
Allgemeinen Gefegen, die in ihr alles Gefchehen beherrihen. So 
glihe die Welt einem Wirbel, zu dem von allen Seiten her, 
nicht von ihm felbft angezogen, mit von ihm erzeugt, neue 
Fluten fih einfinden; aber einmal in ihn eingetreten, find fie 
nun gezwungen, an feiner Bewegung Theil zu nehmen. So 
Baben wir ferner ein Bild deſſelben Vorganges an dem Berhal- 
ten unferer eigenen Seele zu den Werkzeugen bes Körpers; eine 
Menge Entichlüffe, Anfangspuntte künftiger Bewegungen, erzengt 
die Seele in fi; Feiner von ihnen braucht bedingt und begrün- 
det zu fein durch Ereigniffe in dem leiblichen Leben, auf welches 
ex zurückwirkt; aber jeder, in dem Augenblide, in welchem er in 
dieſes Leben übergeht, ordnet fih nun den eigenen Geſetzen deſ⸗ 
felben unter und erzeugt fo viel over fo wenig Bewegung umd 
Kraft, als diefe ihm zugeftehen, und Bewegung in diefer und in 
feiner andern Richtung, als in welcher fie es ihm geftatten. Der 
Anfänge, deren Urfprung nit in ihm felbft enthalten ift, kann 





294 


der Weltlauf in jedem Augenblide unzählige haben, aber Feinen, 
deſſen nothmendige Fortfegung nicht in ihm anzutreffen wäre. 
Wo aber ſolche Anfänge Liegen, können wir nit im Voraus 
beftimmen; überzeugt und die Erfahrung, daß jedes Ereigniß 
der äußeren Natur zugleich eine Wirkung ift, die ihre Urfache in 
vorhergehenden Thatfadhen hat, fo bleibt die Möglichfeit unbe: 
nommen, daß der Kreis des inneren geiftigen Lebens nicht gleich 
Durchgängig einen ftarren und nothwendig ablaufenden Mecdanis- 
mus bilde, fondern daß in ihm neben unbeichränkter Freiheit 
des Wollend auch eine beſchränkte Macht des unbebingten An- 
fangens gegeben fei. 


Indem wir nun dieſes Gemälde abſchließen, in welchem wir, 
weit entfernt, die Fülle des geiftigen Lebens erfchöpfen zu wollen, 
vielmehr nur die großen Umriffe feines Zuſammenhanges in ſich 
jelbft zu bezeichnen fuchten, möchten wir einen Punkt hauptſächlich 
als den Gewinn diefer Betrachtungen fefthalten: die Ueberzeugung 
nämlich von der durchgehenden Berfchievenheit, welche das Ber: 
halten des inneren. Lebens von den Eigenthimlichleiten bes 
äußeren Noturlaufes trennt. Nicht nur feine Elemente find an: 
dere al8 Die der Natur; Bewußtfein, Gefühl und Wille haben 
feine Achnlichfeit mit den Zuſtänden, die unfere Beobachtung und 
in den materiellen Maſſen entweder nachweiſt oder anzunehmen 
nöthigt; auch die Formen der Thätigfeit, alle jene Aeußerungen 
einer beziehenden Zufammenfafjung des Mannigfaltigen, deren 
Werth wir kennen gelernt haben, bieten Feine Analogie mit den 
Wechſelwirkungen, die wir zwiſchen jenen verfolgen können. Wie 
ſehr wir auch Durch die weit überwiegende Ausbildung der Na- 
turwiffenfchaften daran gewöhnt fein mögen, die Grundoorftellun- 
gen, welche dieſe entwidelt haben, als die überall anwendbaren 
Hilfsmittel der Unterfuhung anzufehen: wir müflen und dennoch 
zugefteben, daß wir bier ein völlig anderes und neues Gebiet 


295 


betreten haben, deſſen eigenthiimliche Natur auch die Gewöhnung 
an neue und eigenthlimliche Gefichtspunfte von uns verlangt. 
Man würde irren, wenn man diefe Forderung nur gegenüber 
dem Materialismus ausgefprochen glaubte, der folgerecht, indem 
ex die Selbftändigfeit des geiftigen Wefens leugnet, auch die Ber- 
pflichtung abweifen muß, neue Betrachtungsweiſen für einen 
Gegenſtand zu ſuchen, der ihm nicht neu erfcheint; viel weiter 
breitet fich Diefelbe Neigung, die wir tadeln, aud durch Anſich⸗ 
ten hindurch aus, die gemeinfam mit der unferen auf dem Zu— 
geftänbniß der jelbftändigen Urfpringlichfeit des Geifligen ruhen. 
So jehr find wir in der Betrachtung der Natur an bie mittel- 
baren Wirkungen und an ihre Erflärung durch Zufammenfegung 
einzelner Beiträge, jo fehr an die Zurückführung inbaltooller 
Unterſchiede der Eigenſchaften auf unbedeutende Veränderungen in 
der Größe und Berbindungsweife gleihartiger Elemente gewöhnt, 
daß uns zulegt das Berftändnig alles Unmittelbaren abhanden 
kommt und eine allgemeine Suht, Alles zu conftruiren, Allem 
eine verwidelte Mafchinerie feines Entftehend und Dafeins unter 
zufchteben, fi unferer Gedanken unwillkührlich bemächtigt. Taft 
möchten wir dann behaupten, daß auch in unferem Innern nichts 
vorhanden fei, als eine äußerliche Aneinanderkettung von Ereig- 
niffen, ähnlich der Mittheilung der Bewegung, durch melde wir 
in der Außenwelt. cin Element das andere ftoßen fehen; und 
was fonft no in uns vorkommt, Bemwußtfein, Gefühl und Stre- 
ben, wir würden faft werfucht fein, e8 nur als einen beiläufigen 
Schein anzufehen, den jenes wahre Gefchehen in uns wirft, wenn 
nicht dann doch wieder Etwas da fein müßte, für welches und 
in welchem biefer Schein entfteht. Dieſes Etwas ift nun ba; 
jede einzelne Yeußerung unferes Bewußtſeins, jeve Negung un- 
jerer Gefühle, jeder keimende Entihluß ruft uns zu, daß mit 
unüberwindlicher und unleugbarer Wirklichkeit Ereigniffe in ber 
That geichehen, die nach keinem Maße naturwiſſenſchaftlicher Be⸗ 
griffe meßbar find. So lange wir dies Alles in uns erleben, 
wird der Materialismus zwar im Bereiche der Schule, die fo 





296 


viele vom Leben fi abwendenden Gedanken einſchließt, fein Da— 
fein friften und feine Triumphe feiern, aber feine eigenen Belen- 
ner werden durch ihr Tebendiged Thun ihrem falfhen Meinen 
widersprechen. Denn fie werben alle fortfahren, zu lieben und zu 
haſſen, zu hoffen und zu fürchten, zu träumen und zu forſchen, 
und fte werben fi) vergeblich bemühen uns zu überreden, daß 
- Dies mannigfaltige Spiel der geiftigen Thätigfeiten, welches felbft 
die abfichtliche Abwendung vom Ueberfinnlichen nicht zu zerftören 
vermag, ein Erzenguiß ihrer körperlichen Organtfation fer, oder 
daß Das Imterefje für Wahrheit, welches bie einen, die ehr: 
geizige Empfinblichfeit, welche andere verrathen, aus den Berrid- 
tungen ihrer Gehirnfafern entjpringe. Unter allen Berirrungen 
Des menfchlichen Geiftes iſt dieſe mir immer als die ſeltſamſte 
erſchienen, daß er dahin kommen konnte, fein eigenes Weſen, 
welches er allein unmittelbar erlebt, zu bezmeifeln oder es fi 
als Erzeugniß einer äußeren Natur wieder ſchenken zu Yaffen, die 
wir nur auß zweiter Hand, nur durch das vermittelnde Wiſſen 
eben des Geiſtes kennen, den wir lengneten. | 














Drittes Bud. 


Das Reben. 


Erftes Kapitel. 


Der Zufammenbang zwifhen Leib und Seele. 





Verſchiedene Stufen ber Weltauffaffung; bie wahren und bie abgeleiteten Stanbpuntte. 
— Das allgemeine Band zwiſchen Geiſt und Körper. — Die Möglichkeit und bie 
Unerflärlicgkeit ber Wechfelwirtungen zwiſchen Gleihartigem und Ungleichartigem. — 
Die Entftehung ber Empfindungen. — Die Lenkung ber Bewegungen. — Der geftalts 
bildende Einfluß ber Seele. 


Weit ab von den Pfaden, auf denen ſich die Erklärung 
der Naturerſcheinungen zu bewegen pflegt, hat uns die Beobach⸗ 
tung des inneren Lebens nach andern Richtungen geführt. Aber je 
größer die Eigenthümlichkeit des geiftigen Dafeins ift, jo groß, 
daß nur"die unbedachteſte Gemöhnung an die Formen der Sin- 
nenwelt feine Entftehung aus den Gegenwirkungen der Stoffe 
denkbar fand, um fo lebhafter drängen fich jegt die muhſam zu- 
rüdgehaltenen Fragen nad) der Möglichfeit des gegenfeitigen Ein- 
flufje8 hervor, in welchen wir beide fo ſcharf geſchiedene Gebiete 
des Geſchehens doch überall verwidelt finden. Wie groß und 
Ihwerwiegend die leitende Macht ift, welche in jedem Einzelnen 
der Wechſel der Förperlihen Stimmung über Größe und Nic- 
. tung der geiftigen Regſamkeit ausübt, davon überzeugt uns, hin⸗ 
reichend um jede weitere Erwähnung unnöthig zu machen, bie 
gewöhnlichfte Erfahrung; ich meine jene Erfahrung, die auch dann 
noch übrig bleibt, wenn wir die leihtfinnigen Webertreibungen 
abziehen, mit denen mande Anſicht unferer Zeit, als ſei ihr 
jedes Andenken an Selbftbeberrihung und Entfagung abhanden 
gekommen, in allen Negungen des Seelenlebend nur den gleich⸗ 
Inutenden Widerhall phuftfher Vorgänge zu finden verfichert. Wie 


300 


ſehr anderfeitS alle höhere Cultur von den unzähligen Wechfel- 
wirfungen abhängt, die, alle zulegt durch Körperliche Thätigkeiten 
und Bebürfniffe vermittelt, zwifchen uns und der Außenwelt aus- 
getaufcht werden, und wie mädtig die umgebende Natur bald 
durch Teichte Gewährung bald durch eigenfinniges Berfagen neue 
Entwidlungen unferer Kräfte anregt oder verkümmern läßt: da— 
von hat jedes Zeitalter überzeugende Beifpiele gegeben, aber nod 
feinem ift fo lebhaft wie dem unferen diefe Abhängigkeit zu vol- 
lem und klarem Bemußtjein gelommen. Ob dies im Ganzen 
und günftiger ftelt, als frühere Geſchlechter, ob dieſe bewußte 
und in dem Umfange ihrer Anftrengungen großartige Ausbeutung 
der Außenwelt für den Fortfchritt des allgemeinen Wohlbefindens 
auch den Sinn für die Höhe der Zwecke Iebendig laſſen wird, 
für die doch alle dieſe Acußerlichkeit der Cultur zum Mittel be 
rufen ift, müſſen wir der Zukunft anheimftellen; gewiß hat bis 
jet die Haft dieſes Fortſchrittes nicht die Theilnahme fur bie 
ernften Fragen zu erftiden vermocht, die und über Den großen 
Zuſammenhang der geiftigen Weltordnung mit dem Naturlauf 
und im Kleineren über die Verknüpfung unferer perſönlichen Seele 
mit ihrer leiblichen Hülle immer von Neuem auffteigen. 

Aber von je mannigfaltigeren Intereffen das nad außen 
gerichtete Leben bewegt wird, aus beffen Geräufch wir uns ſelbſt 
fammelnd zur Ueberlegung diefer Fragen zurückkehren, befto viel 
geftaltiger find auch die Bedürfniſſe nad) Aufflärung und bie 
verſchwiegenen Erwartungen, die wir zu ihrer Unterfuchung mit⸗ 
bringen, deſto verſchiedenartiger bie verftohlenen Keime von Mif- 
verftändnifien, die fpäter mit widerſprechender Lebhaftigkeit ihrer 
Anſpruche anwachſend unfere Bemühungen zu verwirren drohen. 
Allen diefen ihrer ſelbſt fo oft ungewiſſen Anforderungen dei 
Gemüthes zu genügen, wird jeder Anftcht ſchwer fallen; am 
ſchwerſten dann, wenn wir ohne Theilung der Aufgaben auf ein 
mal die verfchtedenen Zwecke erfüllen wollen, die jede wiſſenſchaft⸗ 
liche Erörterung fich überhaupt ftellen kann. 

Denn unſere Wünfche können entweder auf das Berftändniß 





301 


ber Erfcheinungen und auf die Nachempfindung ihres wejentlichen 
Sinnes, oder auf die genaue Erfenntniß der äußerlihen Formen 
ihres Zufammenbanges und ihre gegenfeitige Berechenbarkeit aus- 
einander gerichtet fein; aber mehr als eine Unvollfommenheit der 
menſchlichen Natur ſcheint und das völlige Verſchmelzen beider 
Richtungen unferes Forſchens zu eimer untheilbaren Einheit des 
Wiſſens zu verfagen. Auf die legten und tiefften Gründe in dem 
Weſen der Dinge zurädzugehen und jebe Unflarheit ber Erſchei⸗ 
nungen, die und beläftigt, aus den urfprünglichften Gefegen alles 
Wirkens in der Welt und aus dem vernünftigen Sinne des 
Planes aufzuklären, der die einzelnen Ereigniffe zu der Ordnung 
eines bedeutungsoollen Ganzen zufammenfaßt: dieſe ideale Auf- 
gabe möchten wir weder dem begeifterten Streben verkümmern, 
das immer wieder zu ihrer Löſung zurückkehrt, noch möchten wir 
fle der Unempfänglichkeit gegenüber, die ſich geringfchägend von ihr 
abwendet, für ıninder werthvoll anerkennen, als fie if. Dennod 
müfjen wir zugefteben, daß dieſe Begeifterung fir das Höchfte felten 
die Mutter einer genaueren Erfenntniß des Niedrigeren geweſen 
ift; indem fie dem Gemüthe die eigenthümliche Befriedigung einer 
. fiheren Ruhe in dem allgemeinen Grunde aller Dinge gewährte, 
bat ſie nicht zugleich die ſcharfſinnige Beweglichkeit gefteigert, mit 
welcher der menſchliche Geift, für die Erfüllung feiner Lebensauf⸗ 
gaben auch auf die Berfettung der endlihen Welt angewieſen, 
das Hervorgehen des Einzelnen aus Einzelnem zu erforihen ein 
ſo großes Intereffe bat. Ueberall mo Zwecke des Handelns zu 
den Aufgaben der bloßen Erfenntnig Hinzutreten, wo es und 
daranf ankommt, den Ablauf der Ereigniffe nicht allein bewun- 
dernd zu verftehen, fondern umgeftaltend in ihn eingreifen zu 
können, da tritt an Werth die Einfiht in die höchſten Gründe 
der Dinge, die allen gemeinfam find, binter die Kenntniß der 
nächftliegenden Regeln zuriid, melde in dieſem einzelnen Gebiete 
unferes möglichen Handelns herrſchen. Nun gelangen wir mohl 
leicht von der Betrachtung des Einzelnen zu dem Allgemeinen 
und Höheren, das fi} ber ihm ausbreitet, aber ſchwerer finden 


302 


wir den Rückweg aus der Unbeftimmtbeit des Allgemeinen in 
alle jene Berwidlungen des Einzelnen, um defien genaue Beherr⸗ 
[hung uns zu thun iſt. Nicht dieſen Weg fehen wir daher die 
Wiffenfchaften einfchlagen, denen wir bisher die bleibendfte und 
fruchtbarfte Erweiterung unferer Einfichten verdanken; fie gehen 
in ihrer Arbeit nicht von den Punkten aus, die auch ein fpätere® 
ausdrückliches Nachdenken als die höchſten ihrer felbit gewiſſen 
Grundlagen aller Folgerungen, als die eigene weſentliche Wahr: 
heit ber Dinge zugeftehen müßte. Manches laſſen fic vielmehr 
unentſchieden und bahingeftellt, am meiften die endliche Recht⸗ 
fertigung der Grundfäge, die fie der forgfältigen Zergliederung 
der Erfahrungen als wohlbeglaubigte, obgleich in ihrem Urfpunge 
dunkle Unterlagen für die weiteren Schritte ihrer Erklärungen 
entlehnen; immer vorwärts auf die zunehmende fihere Herrſchaft 
uber das Einzelne gerichtet, mögen fie befhaulichen Gemüthern 
weniger Kopf zu befigen fcheinen, aber gewiß haben fie mehr 
Hand und Fuß, als jene höheren Anfichten der Dinge, Die meift 
mit. undurchführbaren Anfprüden, immer fehr verſchwenderiſch 
mit Forderungen, und Nichts felber gemährend, ihnen gegenüber: 
treten. Es gelingt uns vielleicht zumeilen, indem wir alle Be 
dingungen eines Naturereignifjes berüdfichtigen, eine Formel zu 
finden, welche das vollftändige Geſetz derſelben erſchöpfend aus- 
drückt; aber die Gleihung, die wir fo erlangt haben, vermögen 
wir vielleicht nicht. aufzuldfen, und die Wahrheit, Die wir an ihr 
befigen, bleibt ein unbenugbar verjchloffener Schag. In ſolchen 
Fällen befcheidet ſich die Wiſſenſchaft, und indem fie einige ber 
Bedingungen, die geringen Einfluß auf die Begründung der Er⸗ 
ſcheinung und großen auf die Verwicklung der Formel baben, 
aus ihrer Unterfuhung hinwegläßt, zieht fie aus. der vereinfad- 
ten und lösbar gewordenen Gleihung Folgerungen, die nur ans 
nähernd richtig, aber deshalb, weil man fie haben kann, nütz⸗ 
licher find als die vollfommen genauen, die man nicht haben 
kann. Auf ähnliche Weife finden wir vielleicht eine glaubliche 
Aufflärung über die höchſten Zwede der Welt; aber die bisherigen 


303 


Verſuche dazu haben und mit dem Mißgefchid vertraut gemacht, 
daß wir aus diefen hohen Aufgaben fehr wenig den vertwidelten 
Geſchäftsgang abzuleiten verfiehen, durch welchen der Naturlauf 
fie zur Erfüllung bringt, und doch Liegen die meiften praftifchen 
Beweggründe zu unferen Unterfuchungen auf Diefem Gebiete, bef- 
fen Gefeglichfeit fih einem. weniger hochfliegenden Gedankengange 
nicht unerforſchlich zeigt. 

Mit diefer natürlichen Vorliebe nun für die Dinge, die fich 
ausführen laſſen, verbindet fi fir und noch eine doppelte Be⸗ 
trachtung, die uns überredet, bie Aufgabe, welche uns obliegt, zu 
theilen. Je weiter wir und von den gegebenen Thatfachen ent- 
fernen, um aus ihrer verallgemeimnernden Vergleihung die höch- 
ften Grundfäge zu finden, Die und wieder zu ihnen zurädführen 
follen, um jo zahlreicher werden unvermeidlich die Quellen mög⸗ 
licher Irrthumer; ihre Menge wächft mit ber fleigenven Anzahl 
der Bermittlungsglieder, durch die unfere Schlüffe das Gegebene 
mit dem gefuchten Höchften verbinden. Nur ein verhängnißvolles 
Zutrauen zu ihrer eigenen Unfeblbarfeit kann daher die Wiffen- 
ſchaft verleiten, ihre Erfenntniß über einen reich gegliederten In- 
halt mit Vorliebe an die möglich geringfte Anzahl von Grund- 
fügen oder an ben dünnen Faden eines einzigen Princips zu 
Inüpfen, mit defien Riß das Ganze fallen müßte. Anftatt ihren 
Bau auf die ſcharfe Schneide einer einzigen Grundanſchauung zu 
ftellen und das fonderbare Kunftftüd der möglich größten Labili- 
tät mit immer tieffinnigeren Mitteln auszuführen, wird fie nlg- 
Yicher arbeiten, wenn fle für bie breitefte Grundlage ihres Auf- 
fteigen® forgt und das Gegebene mit befcheidenerem Anlauf zuerft 
auf die nächſtliegenden Erklärungsgründe bringt, die feine deutlich 
erkennbare Eigenthümlichfeit verlangt. Sie wird fi vorbehalten, 
diefe Ergebniffe erfter Ordnung zum Gegenftand einer höher ftei= 
genden Yorfhung zu machen; aber indem fte fi erinnert, wie 
in dieſer Höhe allmählich die Schärfe der Umriffe in den Gegen- 
ftänden der Frage und bamit bie Sicherheit unferer Beurtheilung 
abnimmt, wird fie Die Möglichkeit des Irrthums zugleich zugeben 


304 


und zugleich feine Schänlichfeit minbern. Denn es wird ihr 
frei ſtehen, dieſe höheven Gebiete wieder aufzugeben, bie fie mit 
unzureichenden Mitteln ſchon erfämpft zu haben glaubte, und fid 
auf jene niedrigeren noch immer unabhängig für ſich haltbaren 
Standpunkte zurüdzuzichen, Deren Ausſicht, obwohl fie nicht bie 
Ausfiht vom Gipfel ift, doch immer auch eine Wahrheit und 
Wirklichkeit bleibt. 

Und endlich, felbft wenn wir und getrauten, den Weg bis 
zum Gipfel der höchſten Höhe fehlerlos zurückzulegen, würden wir 
doch eine Beranlaffung haben, ihn nur felten zu gehen. Denn 
um bie Höhe zu erreichen, würben wir gendtbigt fein, gar mande 
von jenen Vorftellungsarten der Dinge aufzugeben, auf beren 
Anwendung fiy uns alle Klarheit und Anfıhaulichfeit in unferm 
täglichen Verkehr mit den Gegenftänden beruht. So gewiß wir 
nun dieſe Berzihtleiftung auf die Richtigkeit des uns fo vertraut 
gewordenen Scheines entichloffen durchführen müflen, eben fo 
gewiß werben wir doch dann, wenn wir von jenen höchſten Stand- 
punkten zu ber Ebene der und umgebenden endlichen Melt zus 
rückkehren, auch die Sprache des Scheines wieder vorziehen müß 
fen. Klarheit und Einfiht erreichen win, nicht, indem wir in 
jedem einzelnen alle die gewohnten Formen menſchlicher Auf 
faſſung aufgeben und die Sprache einer höheren Wahrheit an ihre 
Stelle ſetzen, ſondern dadurch, daß wir einmal auf den Grund 
der Dinge zurüdgehen und aus ihm Die Grenzen verftchen lernen, 
innerhalb deren mir.eben jene gewohnten Auffaffungsformen «ld 
gelenfige Werkzeuge unferer Erkenntniß als angenäherte uud ber 
Handhabung fühige Abkürzungen bes wahren Verhaltens ohne 
Irrthum anwenden bürfen. Niemals Bortheil, fondern nur ben 
Nachtheil beängftigenver Unklarheit bringt e8 mit fi, wenn wir 
in befondere und einzelne Unterfuchungen unmittelbar die höchſten 
Prineipien einmifhen, von denen alle Entſcheidung freilich zulegt 
abhängt; Niemand ift im Stande, zugleich Die ganze Reihe ber 
Weiterbeftimmungen im Auge zu behalten, durch welche doch eigent- 
lich auch jene höchſten Gründe erft zu dem werben, wovon Der 








305 


gegebene Fall zunächſt abhängt. Obwohl die Afteonomie den 
Stillftand der Sonne und die Bewegung der Erde entjchieden hat, 
fo vermeidet unfer Sprachgebrauch doch die Geſchmackloſigkeit, dem 
Auf- und Untergang der Sonne den jchrwerfälligeren Ausprud des 
wahren Verhaltens vorzuziehen; obwohl von den Kräften, mit 
welchen die kleinſten Theilchen gegen einander wirken, die größere 
oder geringere Fähigkeit der Körper abhängt, ihre geftörte Geftalt 
wieber berzuftellen, fo gehen wir doch nicht bei jedem Anlaß auf 
die Berechnung derſelben zurüd, fondern freuen uns, in dem Be- 
griffe der Elafticität und in ihren erfahrungsmäßig gefundenen 
Gefegen näher Tiegende Mittel zu bequemerer Beurtbeilung zu 
befigen; obwohl endlich jcde Veränderung, durd welche unſere 
Speifen genießbar werden, ohne Zweifel auf allgemeinen chemi— 


Then Gefegen beruht, jo warten wir doch nicht, bis dieſe entvedt 


fein werben, und vermuthlid wird die Kochkunſt felbft dann die 
Kunftgriffe der Erfahrung als beffere Bürgichaften des Erfolges 
den Vorſchriften der Wiſſenſchaft vorzichen. Die geringe Neigung, 
melde bisher die höheren Unterfuchungen gezeigt haben, den Schatz 
ihrer vielleicht fehr vollwichtigen Ergebniffe in dieſe gangbare 
Kleinmünze behaltbarer Gedanken und faßlicher Abkürzungen aus— 
zuprägen, hat ihnen nicht allein die allgemeine Theilnahme ent- 
zogen, fondern zu ihrer eigenen Unflarheit mitgewirkt. Es iſt 
fein volllommener Zuftand der Geſellſchaft, wenn die Entſcheidung 
jeder ftreitigen Kleinigkeit und Die Anmeifung zur Beforgung bes 
geringften Geſchäftes unmittelbar von der höchften Behörde einge- 
holt werben muß; wie man hier der gejegebenden Gewalt und 
ber leitenden Regierung einen mohleingeübten Mechanismus ber 
Berwaltung unterordnet, fo bedarf auch die Wiffenfchaft einer Ab- 
ſtufung der Gefihtöpunfte, und die nicht genügenden Entſcheidun⸗ 
gen ber niedrigeren müfjen zwar ben höheren zu beflerer Auf: 
klärung überwiefen werben können, aber nicht überall muß die 
Recht ſuchende Forſchung zu dem weiten Wege bi8 an ben legten 
Urfprung der Dinge zuräd genöthigt fein. 


Loge J. 3. Aufl. 20 


- 306 


Keine Frage dürfen wir ficherer erwarten, als die nach dem 
‚Bande überhaupt zwifchen Leib und Seele; fie pflegt die erfte zu 
fein, die man in dieſen Betradgtungen aufwirft, und zu ihr kehrt 
man im Verlaufe derfelben zurüd, indem man unbefriedigt durch 
alle Beftimmteren Auseinanderfegungen wie mit einem tiefen Athent- 
ſchöpfen nun noch einmal die eigentliche Schwierigfeit der Sache 
in ihr zufammenzufaffen meint. Und doc Tann faum etwas bin- 
derlicher fein, als eben das Mißverſtändniß, welches dieſe Fafſung 
der Frage ſelbſt einſchließt. Denn was iſt ein Band Anderes, 
als ein Mittel äußerlicher Verknüpfung für das, was nicht von 
felbft aneinander haftet und wegen des Mangels jeder innerlichen 
Beziehung keine Wechſelwirkung auszutauſchen geneigt iſt? Und 
wäre e8 uns nun gelungen, dieſes allgemeine und zwar dieſes 
eine Band zwiſchen Leib und Seele zu entdeden, welches Bebirf- 
niß hätten wir dann eigentlich befriedigt? Keine der zahlloſen 
Wechſelwirkungen, die wir zwifchen beiden gejchehen jehen, würde 
ihrer Geftalt und Art na aus dieſer Außerlihen Umſchnürung 
erflärbarer fein, als ohne fie; ja felbft die Möglichkeit jedes gegen— 
fettigen Einflufjes würden wir noch eimmal mit einem ganz neuen 
Anlauf der Unterfuhung aus der Natur des VBerbundenen zu be= 
greifen fuchen müſſen, da wir fie in ber unbeftimmten Vorftellung 
des Bandes nicht finden. - Und jedes Band überdies, durch welches 
neue Bindemittel find feine eigenen Beftandtheile verknüpft, um 
nun mit ihrem Zuſammenhang auch Anderes binden zu Können ? 
Wie weit mir aud in das Kleine hinein den Behelf eines immer 
ernenerten Kittes wiederholen mögen, zulegt werben wir zugeftehen 
müfjen, daß nicht ein vorangehendes Band die legten Elemente 
zur Wechſelwirkung befähigt, fondern daß eben die Wechſelwirkung 
ſelbſt fie unmittelbar aneinander heftet und fie befähigt, Bänder 
zu werben für Anderes, deſſen eigene gegenfeitige Verwandtſchaften 
zu kraftlos find, um feine Vereinigung im Kampfe mit wiber- 
flreitenden Hinderniffen zu bewirken. 

Aber hat nicht dennoch Die Forderung, jenes allgemeine Band 
aufzuzeigen, ben richtigen Sinn, eine Bedingung zu verlangen, 











307 


die für das Zuftandefommen der Wechfelwirkung vorher gewährt 
fein muß? Das Gefäß, welches zwei chemifche Stoffe umschließt, 
wirft e8 nicht als ein Band, das beide zunächſt zu gegenfeitiger 
Berührung zufammenzwingt und dadurch erſt ihnen Gelegenheit 
gibt, die Einflüffe auszuüben, deren beftimmte Art und Größe 
freilich nur in ihrer eigenen gegenfeitigen Verwandtſchaft begründet 
ft? Gewiß, die Elemente, deren Wechfelbeziehungen nicht fo Ieb- 
baft find, um fie einander aufſuchen zu laſſen, bebürfen einer 
leitenden Hand, um fie zufammenzuführen; aber nun, nachdem fie 
zufommen find, ift es weber jene Hand mehr noch das Gefäß, 
was fie verbunden bält, ſondern ihre eigenen Wechjelwirkungen 
verfnüpfen fie, und oft zu einer größeren Feſtigkeit, als jenes 
äußerlihe Band ihnen je hätte geben Fünnen. Und fo mag es, 
um das Gleihniß zu verlaffen, eine der Aufmerkſamkeit mirdige 
Frage fein, auf welche Weife in der erften Bildung des Lebens 
Leib und Seele vereinigt worden find; aber in dem einmal ge= 
bilveten und fich erhaltenden Xeben, deſſen Aufflärung notbmendig 
unfer nächfter Gegenftand fein muß, da wir nur aus der Kennt- 
niß feines Beſtehens Vermuthungen über feine Entftehung ent- 
wideln können: auch in ihm ein fortdauerndes Band zwifchen Leib 
und Seele zu verlangen, das von der lebendigen Wechſelwirkung 
beider noch verſchieden wäre, ift eine gleich überflüffige und arm— 
felige Vorſtellung. Ste ift ebenſo überfläfftg, ald wenn wir das 
Band der Freundſchaft, das zwei Gemlither verknüpft, noch be— 
ſonders als eine fihtbare Umſchnürung wahrnehmen wollten, wäh- 
vend ed eben die Freundichaft ſelbſt ift, welche das Band bildet; 
fie ift armfelig, weil fie e8 ift, die vecht eigentlich auf ganz äu— 
ferliche Weife Leib und Seele aneinanderfetten möchte und nicht 
daran denkt, daß ftatt bes einen formlofen Bandes vielmehr 
das feingegliederte Geflecht unzähliger Beziehungen beide auf das 
Sinnvollſte zu gegenfeitigem Eingehen auf ihre Zuftände und Be— 
bürfnifie befähigt. Denn jede einzelne Wechſelwirkung, die zwiſchen 
ihnen ausgetauſcht wirb, ift ein Baden deſſen, worin ihr Band be— 


fteht, und die fpottenden Einwürfe, die jo oft der Anficht von der 
20* 


308 


Zufammenfegung der menjhlihen Natur aus Leib und Seele ge 
macht werben, weil fie unjer Wefen aus ber Addition zweier Be: 
ftandtheile erzeugen wolle, tragen nur diefe Kümmerlidhkeit ihrer 
eigenen Borftellung von einem allgemeinen Bande mit Unrecht auf 
die unbegrenzte Mannigfaltigfeit diefer organifirten Wechſelwirkung 
über. Laffen wir deshalb dieſe nutzloſe Anficht auf ſich beruhen, 
wie fie theil® in gröberer Form fih nad) einem ftoffartigen Cement 
ſehnt, das vielleicht in Geftalt einer ätherifchen Materie Leib und 
Seele verfitte, theil8 in feinerer und doch nicht wahrerer Ausbil- 
bung bie Seele jelbft als Mittelglied zwifchen Körper und Gef 
ftellt und durch dies Alles nur die Anzahl der Fugen vermehrt, 
deren Verkittung fie doch wünſcht. 


Aber dieſe Wechſelwirkungen ſelbſt, gehören fie nicht zu dem 
Unerklärlichſten, oder gäbe es ein Mittel, ſich eine Anſchauung da⸗ 
von zu machen, wie die Eindrücke vom Körper zur Seele übergehen 
und von dieſer zurückkehren? Auch dieſe Frage enthält des Mif- 
verftändlichen viel, und in der That ift fie nur eine neue Form 
des Ausdruckes fitr die falſche Meinung, die der vorigen zu Grunde 
lag. Denn unerklärlich ift jene Wechfelmirkung allerdings, aber 
fie gehört nicht zu den Vorgängen, deren Wirklichkeit wir um ihrer 
Unerklärlichkeit millen bezweifeln dürfen, weil es ihre Pflicht fein 
würde, nad und befannten Gefegen ſich erklären zu Lafjen; fie 
jelbft ift vielmehr der Begriff jenes einfachen und urfprünglicen 
Geſchehens, auf welches jede Erläuterung zufammengefetter Ereig- 
niffe und zurüdführt, und welches wir nun, uns felbft mißver: 
ftehend, aus feinen eigenen Folgen begründen möchten. Ober ver: 
langen wir mit jener Frage vielleicht etwas Anderes al die aus: 
führliche und anfchauliche Beſchreibung der Arme, mit denen bie 
Seele thätig in den Körper übergreift, der phyſiſchen Werkzeuge, 
durch welche der Körper ihr feine Eindrücke beibringt, kurz jener 
ganzen Mafchinerie, welche hier, wie in anderen Fällen der Wed 








309 


jelwirkung, die wir genauer zu kennen glauben, den Uebergang 
ded Einfluffes von einem zum andern vermittele? 

Prüfen wir uns unbefangen, fo können wir nicht leugnen, 
daß in unferer Weltauffaffung jehr oft die Neugierde an die Stelle 
der Wißbegierde tritt, und Daß die reiche Befriedigung der einen 
durch die unftrhaltende Mannigfaltigkeit aufeinanderfolgender Bil- 
der und nur zu oft vergeflen läßt, wie völlig ungeftillt die andere 
bleibt. Wir ſchätzen die Gründlichkeit unferer Einfiht ſehr ge- 
wöhnlich nad der Menge der Einzelheiten, die wir in irgend einer 
Unterfuhung kennen gelernt haben; je mehr innerliche Mafchinerie, 
je mehr Zufammenfegung unfere zergliedernde Aufmerkſamkeit in 
irgend einem Gegenftande findet, defto vollftändiger glauben wir 
Weſen und Wirkungsweife defjelben begriffen zu haben. Wir den⸗ 
fen nicht daran, daß dieſe Mannigfaltigkeit zufammenbängenber 
Glieder eigentlich Doch nur die Summe deſſen vermehrt, was einer 
Erklärung eben bebürftig wäre, und daß jeder Nachweis von Mit- 
telgliedern zwifchen erfter Urſache und Enderfolg das Räthſel, wie 
nun überhaupt Wechſelwirkung zwifchen verſchiedenen Elementen 
möglich fei, nicht Löft, fondern nur vervielfältigt. Haben wir eine 
Machine, deren Wirkumgsmweife und zunächſt völlig unbegreiflid 
fehien, in ihrem Innern betrachtet, und gefchen, mo jedes Rad des 
Getriebes in das andere eingreift und feine cigenen Bewegungen 
in beftimmten Richtungen auf andere Elemente überträgt, fo glau= 
ben wir nun alle Räthfel gelöſt. Und doch haben wir nit im 
Geringſten eine Kenntniß der Art erlangt oder des inneren Vor⸗ 
ganges, durch melden hier die wirkenden Kräfte ihren Erfolg ber= 
oorbringen; wir haben nur das große unanſchauliche Geheim- 
niß der ganzen Mafchine in jene einzelnen Geheimniffe der ein— 
fachen Naturwirtung zerlegt, in Betreff deren wir und einmal 
entſchieden haben, fie als Mar gelten zu laſſen, obwohl fie doch 
für jede nähere Betrachtung fich zu völliger Unbegreiflichkeit ver 
Dunkeln. 

Denn alle Mafchinenwirtung beruht anf der Mittheilbarkeit 
der Bewegung und auf der Feftigfeit des Gefüges und bed Zu- 


310 


ſammenhanges in den Maſſen, zwifchen denen fie Übertragen wer: ' 
den fol. Welche von dieſen beiden Bedingungen verftehen wir 
nun? Wiffen wir anzugeben, was in der Mittheilung der Bewe⸗ 
gung geihieht, und mie der treibende Körper ed anfängt, um durch 
Stoß oder Drud den anderen in Bewegung zu fegen und einen Theil 
feiner Gefhwindigkeit an ihn zu übertragen? Ober ift e8 und 
vielleicht Klar, wie und wodurch die einzelnen Theile eines Trieb: 
rades fo aneinanderhaften, daß der Stoß, der dem einen von ihnen 
gegeben wird, aud die andern nöthigt, mit ihm in Gemeinschaft 
fih zu bewegen und die Freisfürmige Ummwälzung um eine Are 
bervorzubringen, die nun zu neuen nüglichen Effecten verwendet 
wird? Vielleicht berufen wir uns auf die Wirkung anziehender 
Kräfte, welche alle Theilhen zu einem Ganzen verbinden. Aber 
dieſe Wechſelwirkung der gegenfeitigen Anziehung, worin befteht 
fie felbft und worurd wird fie hervorgebracht? Wie fangen jene 
Kräfte e8 an, über die Grenzen des Körpers hinauszugreifen, dem 
fie angehören, und über einen andern, deſſen Eigenthum fie nidt 
find, dieſe Macht auszuüben, daß er ihrer Anziehung folgen muß? 
Wir befürchten nicht, daß man auch hier noch einmal won einem 
Bande ſprechen werde, das Sonne und Planeten zufammenhalte: 
man wirb der Frage, dic ſich fogleich erneuern würde, mie fle es 
nun machen, dies Band bald zu verfürzen, bald .zu verlängern, 
Durch das offene Zugeſtändniß ausweichen, daß hier eine der ein- 
fohen Wirkungen vorliege, Durch deren Zufammenfegung man wohl 
die Geftalt verwidelter Erfolge erflären könne, während fie jelbft 
durch Feinen neuen Zwiſchenmechanismus beutlicher werden als 
ohne ihn. Sowie wir wohl wiffen, was wir meinen, wenn ir 
jagen, daß etwas fei, aber nie erfahren und ergründen \werben, 
wie Sein gemacht wird, fo wiffen wir, was wir meinen, wenn 
wir vom Wirken fpredjen, aber nie werben wir angeben können, 
wodurch das Wirken überhaupt zu Stande kommt. Nichts wird 
unfere Wiſſenſchaft Teiften Können, als daß fie genau die Bebing- 
ungen aufſucht, unter denen dieſes unbegriffene und unbegreifbare 
Wirken entfteht; und wie großartig und wichtig ihre Leiftungen 





.311 


in der Entwirrung und Berglieverung verividelter Zufammen- 
hänge fein mögen: wenn fte die einfachen Wechſelwirkungen er- 
veiht bat, auf deren Zufammenfegung fie jenes Mannigfaltige 
-zurüdführt, wird fie überall befennen müſſen, daß der eigentliche 
Act des Wirkens in allen denkbaren Fällen feines Vorkommens 
uns gleich unerflärher bleibt. 

Aber man wird dies nur zugeftehen, um es ſogleich wieder 
zu vergeſſen, ſobald die beſtimmte Frage nach der Wechſelwirkung 
zwiſchen Körper und Seele aufgeworfen wird. Obgleich eine kurze 
Durchforſchung der Natuwiſſenſchaft uns lehren kann, daß in der 
That in allen Formen der Gegenwirkung zwiſchen Stoff und Stoff 
die gleiche Dunkelheit herrſcht, iſt es doch eine kaum zu überwäl⸗ 
tigende Gewohnheit geworden, den gegenſeitigen Einfluß zwiſchen 
Leib und Seele als einen beſonderen unglücklichen Ausnahmefall 
zu betrachten, in welchem uns wider Erwarten das nicht klar wer⸗ 
den wolle, was in jedem Beiſpiele blos phyſiſcher Wirkungen uns 
ganz deutlich ſei. Wie wenig es nun dort deutlich iſt, haben wir 
zwar gezeigt; aber dennoch wird dieſe Klage ſich wiederholen, denn 
der Eindruck der Unklarheit wird bier geſchärft durch die Unver— 
gleichbarkeit der Glieder, die auf einander wirken ſollen. Den 
materiellen Beſtandtheilen des Körpers ſteht die überſinnliche Na- 
tur ber Seele gegenüber; mie kann nun der Stoß und Druck ber 
Maſſen, oder ihre hemifche Anziehung, die einzigen Mittel, mit 
denen fie wirken zu können fcheinen, Eindruck auf die Seele ma- 
chen, die ihnen wie ein nichtiger Schatten feinen Angrifföpunft ges 
währt? Und wie möchte umgefehrt das Gebot der Seele, ein Ges 
bot, dem an fich Feine ausitbende Gemalt des Stoßes zur Seite 
ſteht, Maſſen bewegen, die nur fo bandgreiflihen Antrieben ges 
horchen würden? Nur von Gleihartigem zu Gleihartigem ſei 
ein Austauſch der Wirkungen denkbar. Aber bei näherer Ueber: 
legung zeigt ſich Doch auch dieſes Verlangen nach Gleichartigkeit aus 
dem Srrthume hervorgegangen, als feien Stoß, Drud, Anzieh- 
ung und Abſtoßung oder chemische Wahlverwandtſchaft erflärende 
Bedingungen der Wechſelwirkung, da fie doch nur Formen find, 


312 


in denen die Wirkung auf unbegreifliche Weife erfolgt. Die völlige 
Gleichheit zweier Kugeln macht an fi die Mittheilung ihrer Be- 
wegung im Stoße nicht begreiflicher; fie gemährt Lediglich unferer 
Anſchauung den Bortheil, die beiden wechſelwirkenden Elemente 
gleich deutlich vorftellen zu können und die räumliche Bewegung 
zu fehen, mit der fie fi nähern; d. h. fie madt uns ein Bil 
des Thatbeftandes möglich, wie er vor aller Wechfelwirkung if, 
aber ſie erflärt das Zuftandelommen des Wirkens um nichts bef- 
fer. Jener Bortheil der Anſchaulichkeit nun entgeht uns zunächſt 
allerdings. Wir witrden getröftet fein, wenn wir Die Seele fprung- 
fertig der Materie gegenüber fehen könnten, um auf fie einzu- 
dringen, oder ſich ausbreitend, um den Stoß derjelben aufzufangen; 
wir würden dann das Bild erreicht haben, nad dem wir uns fo 
ſehr fehnen, ohne für das Verſtändniß des Herganges das Ge 
ringfte gewonnen zu haben. Vielleicht führt und nun eine fpätere 
Wendung unferer Unterfuhung zu einem Standpunkte, auf wel- 
chem dieſe Ungleichartigkeit der itberfinnlichen Seele und des finn- 
lich mahrnehmbaren Stoffes ohnehin verfchtwindet; aber auch wenn 
fie nicht verſchwände, witrde fie nicht im Ernſt eine Vergrößerung 
der Schwierigfeit für uns fein. Denn der Act des Wirkens, ba 
er ſelbſt Fein ſinnlich anſchaulicher Vorgang ift, kann audy keine 
andere Gleichartigkeit der wechſelwirkenden Glieder verlangen, als 
eine ſolche, die reichlich dadurch gewährt tft, daß die Seele als 
wirkliche, des Thuns und des Leidens fähige Subftanz den Ato- 
men des Stoffes gegenüberfteht, die wir ihrerſeits chenfo als reale 
Mittelpuntte aus⸗ und eingehender Wirfungen betrachten. Jede 
Forderung noch weiter gehender Aehnlichteit wiirde nur auf dem 
Irrthum beruhen, welcher den Act des Wirkens als einen Uebergang 
fertiger Zuftände aus einem Element in das andere anfieht und 
deshalb freilich auf Aehnlichkeit oder Gleichheit beider dringen muß, 
uam dem auswandernden Zuftande da, wo er einmandert, eine gleich 
große und gleich geftaltete Bebaufung wieder anbieten zu Können. 

Und endlich, müſſen wir hinzufügen, gibt es nicht Wechſel⸗ 
wirkungen überhaupt, fo wie es nicht eine Berknitpfung überhaupt 


313 


gab. Jede Wirkung ift eine befondere, nah Form und Größe 
beftimmte, und wir haben feinen Grund zu der Annahme, daß 
alle Verſchiedenheit der Erfolge in der Welt immer nur von ver- 
ſchiedenen Zufammenfegungd- und Benutzungsweiſen eines und 
defjelben gleihartigen Wirkens herrühre. Iſt Died nun fo, was 
würden wir für die Aufhellung der Erfcheinungen gewonnen haben, 
wenn wir die allgemeine Möglichkeit des Wechſelwirkens zmifchen 
Leib und Seele irgendwie erklärt hätten, wenn wir aber aus 
ihr nicht entwideln könnten, warum unter verfchiedenen Umftän- 
den bald dieje, bald jene eigenthiimliche Art der Wirkung zwiſchen 
beiden ſich entfpinnen müßte? Im Imtereffe der Wiflenichaft kann 
es deshalb nur wenig liegen, Diefe allgemeinfte Frage weiter zu 
verfolgen. Sie wird zugeftehn und vorausfegen, daß die Art, wie 
Wirkungen überhaupt in der Welt möglich feten, in allen Fällen 
und auf jedem Gebiete der Ereigniffe gleich undurchdenkbar bleibe; 
Das wahre und ergtebige Feld der Unterſuchung liege in der Nach— 
forſchung darnach, unter welchen beftimmten und angebbaren Be— 
dingungen ebenfo beftimmte und angebbare Wirkungen allgemein 
und gefeglich eintreten. Während fie e8 aufgibt, zu erfahren, wo— 
durch und wie überhaupt Wirfungen von ihren Urfadhen hervor- 
gebracht werden, richtet fie ihre Aufmerkſamkeit auf die andere 
nüglichere Frage, welche Wirkungen von welchen Urſachen ausgeben. 
Indem fie die Sorge für das Zuftandelommen der Ereigniffe einer 
allgemeinen und gefeglihen Naturnothwendigfeit überläßt, deren 
Gebote feinen Widerſtand finden, welchen hinwegzuräumen bejon- 
dere Mittel nöthig wären, hat ſie an diefem Gedanken einen 
ebenſo reichen und ergiebigen Gegenftand der Unterfuchung, wie 
die Aſtronomie einen foldden in der Vorſtellung der allgemeinen 
Anziehung befigt, von deren Zuſtandekommen fie nichts weiß, aber 
aus welcher fie unter Berüdfihtigung der mannigfachen Umftänbe, 
unter denen ihre unbegreifliche Wirkung auftreten kann, eine Fülle 
der verwidelteften Erſcheinungen zu erklären vermag. 

Man wird diefe Anficht richtig bezeichnen, wenn man jte mit 
dem Namen des Decafionalismus belegt, aber man wird Unrecht 


314 


haben, e8 im Sinne eined Tadel zu thun. Wir nennen eine. 
Lehre jo, die Alles, was unferem unbefangenen Blide als die 
hervorbringende Urfache eines Erfolges erfcheint, nur als die Gele- 
genheit auffaßt, bei weldher auf unbegriffene Weife diefer Erfolg 
hervortritt. Died Bewußtfein num möchten mir eben erweden, 
daß alle unfere befte Kenntniß der Natur überall nur ein genaues 
Studium der Gelegenheiten ift, bei denen burcdh einen Zufammen: 
hang des Wirkens, deſſen innere bewegende Nerven wir nicht 
verftehen, die Ereigniffe bervortreten, jedes nach allgemeinen Ge— 
fegen an eine ihm allein zugehörige Veranlaſſung geknüpft, und 
jedes nad) ebenfo beftändiger Hegel fich mit der Veränderung diefer 
Beranlafjung verändernd. Wir ftehen nicht außerhalb des Kreifes 
naturwiſſenſchaftlicher Auffaffungen, wenn wir den Wechjelmwirkun- 
gen zwifchen Leib und Seele diefe Betrachtung unterlegen, fondern 
wir dehnen nur die Gewohnheiten der Naturerfenntniß folgeredht 
auf dies neue Verhältniß aus. Ya die Hare Einficht, daß auch 
unfer Wiffen um die phyſiſchen Ereigniffe kein wefentlich tiefere® 
ift, wird uns num felbft erlauben, jene Anſchauungen der täglichen 
Beobachtung, deren Wegfall in diefer Frage wir oben bevauerten, 
ohne Beflichtung eincd Irrthums wieder anzumenben. 

In der That warum follten wir und verfagen, von dem 
Drud und dem Stoß der Maffen auf die Seele, von der Anzieb- 
ung und Abftoßung beider durch einander zu fpredhen, ſobald dieſe 
Ausdrüde, obwohl fie feine Aufklärung enthalten, doch dazu dienen, 
unfere. Borftellungen des Sachverhaltes bequem und anſchaulich 
abzukürzen? Was wir unter jenen Worten im gewöhnlichen Leben 
zunächſt verftchen, das find die äußerlichen Formen, welche Die 
Wechſelwirkung größerer und zufammengefetter Maſſen gegenein- 
ander annimmt. Hier fheint ed uns, als wirkten die Maſſen 
durd den Stoß, durch den Drud. Wber geben wir auf die 
einfachen Atome zurüd, die das Gefüge diefer Körper bilden, fo 
treffen wir innerhalb der phyſikaliſchen Anfchauungen auf die Vor⸗ 
ftellung von großen Zwiſchenräumen, die auch in der Dichteften 
Maſſe die Hleinften Theile trennen, und deren Größe zwar durch 








315 


mannigfaltige Kräfte verkleinert, aber nie bis zu völliger Berüh— 
rung ber Atome vernichtet werden könne. Dann würde der Stoß 
zweier Atome anders zu fafen fein. Noch ehe eine Berührung 
erfolgt, würde die Annäherung des einen in dem andern eine 
zurüdftoßende Kraft erweden oder fteigern, und die nun erfolgenve 
Wirkung, die und früher durch den bandgreiflihen Anprall des 
Stoßes wie durch ein Mittel ihrer Verwirklichung zu entftehen 
fchien, würde in der That von einem mechfelfeitigen Einfluß ber 
Elemente aufeinander abhängen, für deſſen Zuftandefommen wir 
gar Feine weitere Mafchinerie mehr aufzuzeigen wiffen. Die Er: 
fcheinung des Stoßes würde nur noch die Folge eines inneren 
unvermittelten Berftändnifjes der Dinge untereinander fein, kraft 
deſſen fie ihre Zuftände nach allgemeinen Geſetzen auf einander 
wirken laſſen. Warum alſo follte nicht ein Atom des Nerven- 
ſyſtems ebenfo auf Die Seele oder fie auf jenes ftoßen und drüden 
können, da doch jeder gemeine Stoß und Drud ſich für Die nähere 
Betrachtung nicht als ein Mittel zur Wirkung, fondern nur als 
die anfchauliche Form eines viel zarteren Ereigniffes zwiſchen den 
Elementen ausweift? 


Doch ohne allzuviel Werth auf den Wiedergewinn dieſer 
Ausdrüde zu legen, wollen wir vielmehr die nächſte allgemeine 
Folge hervorheben, die aus unferer Anſicht fi für die Behand- 
lung der einzelnen Fragen ergeben wird. Wir haben eben des 
ſeltſamen Vorurtheils Erwähnung gethan, welches den Vorgang 
des Wirkens als die Uebertragung eines fertigen Zuſtandes von 
einem Element zum anderen betrachtet. Wie wenig aus einer 
folden Borausfegung fih die Mannigfaltigfeit der Ergebniffe 
würde erflären Iaffen, welche der Eindruck eines Reizes in ver- 
ſchiedenen Gegenftänden weckt, auf die er trifft, bedarf Feiner 
weiteren Erörterung; beftände fein Wirken nur in der Aus: 
ftrahlung eine8 fertigen Zuftandes, der von jenen als folder 


316 


aufgenommen würde, jo könnte ihm auch nichts antworten, als 
ein ganz gleichlautenves Echo, ebenfo vielftimmig, als Gegen- 
ftände vorhanden waren, die diefem gleichen Eindruck ſich öffneten. 
Mag es fein, daß von dem wirkenden Punkte immer nur eine, 
ibm und feinem Zuſtande entfprecdende Bewegung ſich ausbreitet, 
fo muß doch offenbar der Erfolg, den fic haben wird, verſchieden 
fein nad) der Berfchievenheit der Weſen, auf welde fie trifft. 
Die Anficht, die wir feftzuhalten befchloffen haben, legt uns jenen 
Irrthum nicht nahe; fie führt ung vielmehr ohne Umſchweif Dazu, 
jeden äußeren Einfluß, der von irgend einem Element auf ein 
anderes überwirkt, immer nur als einen veranlaffenden Reiz zu 
betrachten, welcher in dieſes zweite nicht einen fertigen und ihm 
fremden Zuftand Hineinträgt, jondern in ihm nur wedt, mas in 
feiner eigenen Natur ſchon begründet war. Die hölzernen Taſten 
des mufilalifchen Inftrumentes enthalten nicht felber die Töne, 
die fie durch ihren Anfchlag aus den Saiten hervorloden, lediglich 
die Spannung der legtern ift es, die Durch jenen Stoß in toner- 
zeugende Schwingungen übergehen kann. Ebenſo find alle Ein- 
brüde des Körpers nur Anftöße für die Seele, aus ihrer eigenen 
Natur die inneren Phänomene der Empfindung zu erzeugen, bie 
ihr von außen nie mitgetheilt werden fünnen. Denn auch wenn 
e8 nicht die Bewegung einer Zafte, ſondern felbft fchon eine 
Shallihwingung wäre, mad die Saite zum Mittönen brächte, 
‚immer würde doch diefe den Ton nur durch ihre eigene Spannung 
wieder zu erzeugen fähig fein, gleichviel ob das, was fie in Exzitte- 
rung verfegte, ein diefer Schwingung ähnlicher oder unähnlicher 
Borgang war. Nicht anders würde es fich verhalten, wenn wir 
auf irgend eine Weife die Empfindung als einen ſchon in den 
Rerven vorhandenen Zuftand faflen mollten; er würde im ber 
Seele doch von Neuem entſtehen müfjen durch irgend cine An- 
vegung, die der empfindende Nero ihr zukommen ließe, und er 
würde nie durch äußere Eindrüde in ihr entftehen können, wenn 
nicht ihre cigene Natur zur Entfaltung diefer eigenthümlichen 
Form des inneren Geſchehens an fich felbft befähigt wäre. Jede 











317 


Borausfegung mithin, die das, was in der Seele entftehen fol, 
auf irgend eine Art ſchon außer ihr als vorhanden vorausfegt, 
ift doch genöthigt auf diefen Gedanken zurüdzulommen und das 
Aeußere nur als eine Beranlaffung, das innere Ereigniß dagegen 
al8 ein aus der Natur defien, in welchem es geſchieht, hervor⸗ 
gehendes zu betrachten. Die Nothmwendigfeit diefer neuen Ent: 
ftehung deſſelben kann durch jene Annahme eben fo wenig ver- 
mieben werben, als etwa bie Erkenntniß einer Wahrheit ober bie 
Begeifterung eines Gefühls fih von einem Geifte an den andern 
ohne eine wiebererzeugende Selbftthätigfent des letztern mittheilen 
läßt. Im wie vielgeftaltiger Weiſe daher die Einwirkungen des 
Teiblichen Lebens die Entwidlung des geiftigen bedingen, fo führen 
fie doch weder das Bewußtſein überhaupt, noch irgend eine ein- 
zelne Empfindung oder Vorftellung der Seele fertig, als das ſchon 
gewonnene Refultat körperlicher Vorgänge zu; alle jene Einwirk— 
ungen find nur Signale, auf deren Eintreten die Seele nad un- 
veränberlichen Gejegen nur aus der Natur ihres eigenen Weſens 
beftimmte innere Zuftände erzeugt; aber die feine Organifation 
des Körpers, die es ihm möglich macht, jene Signale in einer 
beftimmten, den wirklichen VBerhältniffen der Dinge entſprechenden 
Gruppirung und Reihenfolge zu überliefern, Teitet auch Die Seele 
zu einer Abwechfelung und Verknüpfung ihrer Empfindungen an, 
in welder fie alle Wahrheit erreicht, Die überhaupt durch bie bloße 
Auffaffung des Gegebenen noch ohne denfende Bearbeitung feines 
inneren Zufammenhanges möglich ift. 

Sp wie nun das Ganze der Empfindungswelt eine innere 
Entwidlung ift, nicht von Außen bereingelommen, fondern in der 
Einheit des vorftellenden Wefend durch die Viclheit fremder An- 
ſtöße nur angeregt, fo tft auch die Mannigfaltigfeit der körperlichen 
Bewegungen, die auf den Anlaß der Seele entftchen, eine Entfal- 
tung wirkuagsfähiger, in ber leiblichen Organifation begrünbeter 
Berhältniffe, angeregt wohl durch die inneren Zuftände der Seele, 
aber nit von ihr als fertige auf die Werkgeuge des Körpers 
übergetragen. Bon jenen äußeren Reizen, welche eine Empfin- 


318 


bung beroorrufen, kennt unfer unmittelbare Bewußtſein weder 
ihre Natur noch die Mittel, durch welche fie einen Eindrud auf 
und erzeugen; erſt die Wiſſenſchaft hat nach Tanger fruchtlojer 
Bemühung die Eigenthümlichkeiten der Licht: und Schallwellen 
aufgeflärt, denen wir Ton und Farbe verdanken. Aber felbft 
von jenen Vorgängen, die durch dieſe Reize in unferem Nerven⸗ 
ſyſtem hervorgebracht, die nächſte Beranlaffung unferer Empfin- 
dungen find, wiffen wir nichts, und auch die phyſiologiſche Unter- 
fuhung hat fie bisher nicht kennen gelehrt ; nichts tritt in unſerem 
Bemußtfein hervor, als das Ende aller diefer VBermittlungen, bie 
bewußte Empfindung des Tones oder der Farbe ſelbſt. So 
wenig verfteht die Seele die Entwidlungsgefchichte ihrer Vor: 
ftellungen; fie erzeugt fie nicht als freie, mwählende und ihres 
Thuns fi bewußte Thätigkeit, fondern durch ein allgemeines 
und bindendes Naturgefeg ift fie als ein fo geartetes Weſen ge- 
nötbigt, diefem Eindruck mit diefer, einem beftimmten andern 
fiet8 mit einer beftimmten andern Empfindung zu antworten. 
Ganz ebenfo wenig weiß und verfteht die Seele von dem Bor: 
handenſein, der Lage, der Verknüpfung und ber Wirkſamkeit der 
Werkzeuge, durch welche fie ihre Bewegungen ausführt; fie Ternt 
wohl bald die äußere Geftalt der beweglichen Gliedmaßen kennen, 
aber nicht unmittelbar, ſondern nur durch die Hülfe der Wiffen- 
haft erfährt fie, und immer unvollfommen, die innere Einridh- 
tung der Muskeln und der Nerven, die zu ihrer Bewegung 
dienen. Nicht durch dieſe mangelhafte Kenntnig wird fie zu 
ihren Handlungen befähigt; nicht fie ift e8, welche die vorhan— 
denen Mittel überblidend, wählend und im Einzelnen Alles leitend, 
fih zur Ausführung einer Bewegung die nöthigen Muskeln aus- 
ſucht. Hätte ſie jelbft diefe gefunden, fie würde Doch rathlos 
fteben, wie fie diefen Werkzeugen die hinlänglihe Größe eines 
Anſtoßes zulommen laſſen follte; weiß doch felbft die Wiſſenſchaft 
nod nicht zweifellos, Durch welche Form des Vorganges der be= 
wegende Nero feine Erregung den Muskeln mittheilt. Auch hier 
muß die Seele jenem Zuſammenhange vertrauen, der in allem 





319 


Naturlauf nad unveränderlicden Gefegen Zuftand mit Zuftand 
verbunden bat und der auch die inneren Regungen, zu Denen 
ihre Natur fähig tft, ohme ihr mithelfendes Zuthun mit Verän- 
derungen ihres Körpers verknüpft. Sobald das Bild einer be- 
fiimmten Bewegung in unferem Bewußtfein verbunden mit dem 
Wunſche ihres Geſchehens auftaucht, fo ift Dies der innere Zuſtand, 
an den diefe durchdringende Gefeglichkeit der Natur als nothwen= 
dige Folge die Entftehung diefer beftimmten Bewegung gelettet 
hat und fie geſchieht nun, nachdem diefe Anfangsbedingung ihres 
Eintretens gegeben ift, ohne unfer Mitwirken, ohne unfer Zu— 
thun, ſelbſt ohne alle Einficht unferfeits in den Gang des Me: 
hanismus, den und ber Zufammenhang der Natur zu Gebot 
geftellt hat. 

Und nicht immer gehen Bewegungen aus unferem Willen 
hervor; fie erfolgen als Ausdruck Teivenfchaftliher Erregungen in 
unſern Geſichtszügen und in allen Theilen unſeres Körpers häufig 
ohne, felbft gegen unferen Willen; fie erfolgen in Bormen, deren 
Bedeutung oder deren Nuten zum Ausbrud oder zur Kinderung 
diefer inneren Erregung wir nicht verftehen; wir weinen und 
lachen, ohne zu wiſſen, warum das eine der Freude, das andere 
der Trauer ein nothmwendiger Ausdruck fein müßte; das Schwanken 
unferer Gemüthsbewegungen verräth fih in taufend Abwechſe— 
lungen unſeres Athmens, und wir fünnen nicht nachweiſen, weder 
auf welchen Wege, noch zu welchem Zwecke fi dieſe Yörperlichen 
Erjhütterungen an die unfere8 Innneren nüpfen. So find offen- 
bar viele geiftige Zuftände, nicht allein Entſchlüſſe des Willens, 
fondern auch willenlofe Gefühle und Vorftellungen, von dem alles- 
umfafjenden Naturlauf zu bedingenden Anfangspunkten gemacht 
worden, die allerdings unfere Seele zum Theil wenigſtens jelbft- 
. tbätig aus ihrem eigenen Innern erzeugt; nachdem ſie aber 
erzeugt find, bringen fie die ihnen entfprehende Bewegung 
mit der blinden Sicherheit eines Mechanismus, ohne unfer ein- 
richtendes und leitendes Mitwirken, felbft ohne unfere Kenntniß 
von der Möglichfert dieſes Wirkens hervor. 





320 


Man täufcht fi daher, wenn man mit einem belichten 
Gleichniſſe den Leib als das bewegliche Schiff, Die Seele als 
feinen Führer bezeichnet. Denn der Iegtere kennt, oder kann 
wenigſtens den Bau kennen, deffen Bewegung er leitet; ex fieht 
vor fi den Weg, den er ihn führen fol, und indem er in jedem 
Augenblid die Richtung, in der er ſich bewegt, mit der Bahn 
vergleicht, die er durchlaufen fol, kann er nicht nur die Größe 
der nöthigen Ablenkung berechnen, fondern fieht wor ſich Die me: 
chaniſchen Handhaben des Steuers, durch welche fie zu bewirken 
ift, und feine eigenen Arme, welche jene Handhaben drehen 
können. Weit entfernt von diefer verhältnißmäßig volllommenen 
Einfiht in den Gang der Mafchine, gleicht Die Seele vielmehr 
einem untergeordneten Arbeiter, der wohl an dem einen Ende eine 
Kurbel zu drehen oder Kohlen aufzuſchütten verfteht, aber gar nichts 
von der inwendigen Mebertragung der Bewegungen weiß, burd 
welche das andere Ende des Getriebe ein fertige Product liefert. 
Oder wollen wir bei jenem Gleichniß bleiben: das Verhältniß 
zwiſchen Seele und Leib gleicht nicht dem zwifchen dem Führer 
und der Mafchine, fondern natürlich dem zwiſchen der Seele 
diefes Führers und feinem Leibe;. der Führer erfüllt feine Auf 
gabe nur, weil ihm zu den verftändlichen Bewegungen, die et 
feinem Werkzeug mittheilen fol, die unverftandene Beweglichkeit 
jeiner eigenen Arme als Mittel zu Gebot ſteht. So täufät 
jenes Gleichniß oberflächlich, weil es das unbegriffene Verglichene 
ſtillſchweigend einfchließt. 

Man wird wenig geneigt fein, dieſer Anficht rückhaltlos 
zuzuftimmen. Zu fehr hat man fi) gewöhnt, die Seele als Die 
freiherrfhende und fchaltende Gebieterin anzufehen, deren Gebot 
den Körper zwinge. In dem Schwunge, den wir dem Arme 
mittheilen, glauben wir unmittelbar das Ueberſtrömen unfered 
Willens in die Organe zu fühlen, wie er fie werkthätig in Be 
wegung fest; und diefer Anftoß follte nicht genügen? Eine all 
gemeine Naturnothwendigkeit ſollte dem Willen die Folgfamkeit 
der Glieder erft zum Geſchenk machen müflen? Und doch iſt es 











321 


fo; in jenem Schwunge des Armes fühlen wir nichts fo wenig, 
als das Uebergehen der Kraft; was wir empfinden, ift nichts, 
als die Veränderung, welche durch Die ſchon gefchehene Anregung 
die Muskeln während ihrer Zuſammenziehung erfahren, und von 
welcher eine Wahrnehmung, der Müdigkeit ähnlich und in fie 
übergebend, zu unſerem Bewußtſein zurückkehrt. Nicht die Reben: 
dDigfeit des Willens und auch nicht die Thatfache feiner Macht 
über die Glieder wird durch unfere Auffaffung bebroht; aber feft- 
geftellt wird, daß die Natur des Willend nur im Tebendigen 
Wollen, nit an fi zugleih im Vollbringen befteht; fo wenig 
unjer Wille unmtitelbar über die Grenzen unferes Körpers hin- 
ausreicht und als thätige Gewalt die entfernte Außenwelt ver- 
ändert, fo wenig reiht er in unferer Berfönlichkeit an fi über 
unfere Seele hinaus; wenn er dennod eine Macht ausübt über 
den Körper, den ihm die Natur als Werkzeug zugefellt hat, fo 
iſt es, meil diefelbe Raturnothwendigfeit es feitgefett hat, daß an 
feine Gebote, die an ſich machtloſen, eine gefetslich geordnete Folg⸗ 
ſamkeit der Maſſen fich Tnüpfe. 

So ift alfo, um zu unferem Anfange zurldzufehren, Die 
Monnigfaltigfeit unferer Bewegungen eine Entwidlung der zweck⸗ 
mäßigen Verhältniſſe unferer körperlichen Organifation, nicht aus⸗ 
gedacht, nicht im Einzelnen überwacht und ins Werk geſetzt durch 
die Seele, fondern von ihr einficht8lo8 angeregt. Wohl Tann die 
Seele, indem fie eine Reihenfolge folder inneren Zuftände in 
fich erzeugt, die der allgemeine Naturlauf zu Anfangspunften von 
Bewegungen gemacht hat, auch eine Reihenfolge der letzteren in 
einer Ordnung und zwedmäßigen Gruppirung hervorrufen, für 
welche an fich die Einrichtung des Organismus feinen hinläng- 
lichen Grund enthält; aber alle ihre Herrichaft ber den Körper 
fommt in diefer Beziehung doch nicht über eine unendlich man- 
nigfach variirte Benugung und Zufommenfegung elementarer Be⸗ 
wegungen hinaus, von denen fie feine einzelne zu erfinnen ober 
zu. begreifen weiß. Sie verfnlipft zweckmäßige Elemente zu einem 
zweckmäßigen Gebraud, wie die Sprache ihre Book und Conſo⸗ 


Lotze 1. 3. Aufl. 


322 


nanten zu einem unendlichen Reichthum ber Worte und des 
Wohlflanges; aber wie die Sprache ihre Laute vorfand, fo findet 
die Seele die einfachen zweckmäßigen Bewegungen vor, leicht er- 
vegbar durch einen inneren Zuftand, den fie herbeizuführen weiß, 
aber in der übrigen Weife ihrer Entftehung und Durchführung 
ihr völlig dunkel und von ihr unabhängig. 


Als wir die Vorftellungen prüften, welche über den Grund 
der zwedmäßigen Bildung des lebendigen Körpers nach und nad 
heroorgetreten find, haben wir bereit$ jener Anficht gedacht, welde 
feine Harmonie nur aus der thätigen Mitwirkung eines geiftigen 
Weſens ableitbar glaubte. Wir haben damals gejehen, Daß dieſe 
Meinung ihr Ziel verfehlte, wenn fie durch die Hülfe der Seele 
die Entwidlung bes Körpers dem Gebiete des merhanifchen Ges 
ſchehens zu entziehen ſuchte. Denn das, wodurch allein Die Seele 
mehr ift, als der blinde Mechanismus, die verftändige Ueber: 
legung und die willkührliche Wahl der Zwecke und Mittel, konnte 
nad Allem, was die Erfahrung uns Lehrte, nicht als mitwirkend 
bei dem allmählichen Aufbau der körperlichen Geftalt betrachtet 
werden. Die Formen des Leibes werben in einem Zeitraum 
endgültig feftgeftellt oder vorbereitet, in welchem alle diefe Thätig- 
feiten der Seele ihrer Ausbildung noch entgegenjehen; Alles, was 
fie jelbft daher zur Begründung des körperlichen Lebens beitragen 
fonnte, vermochte fie nur, fofern fie als ein Element neben an: 
bern in den Zufammenhang der mechanischen Wechſelwirkungen 
mit verflodhten war, aus deren zufammenftimmender Thätigfeit 
mit blinder Nothmwendigfeit die vorherbeſimmte Form des Orga⸗ 
nismus hervorging. 

Dieſe nöthige Zurüdweifung einer falſchen Vorſtellung über 
die Form, in welcher die Seele an dem Ausbau des Körper 
theilnimmt, wurde an ſich nicht hindern, diefen Antheil groß und 











. 323 


wichtig zu denken. Immer würde die Seele durch die bedeutungs- 
vollere Natur ihres Wefens ein bevorzugtes Element in der Mitte 
aller übrigen fein, und obgleich auch ihre Mitwirkung nur in 
nothmendigen Rücdwirkungen beftände, zu denen fie in jedem 
Augenblide durch die Summe ihrer Beziehungen zu jenen ge= 
zwungen wird, jo könnte doch eben die Tiefe ihrer eigenen Natur 
fie befähigen, auch auf dieſe Weiſe Einflüffe von ſich ausgehen 
zu lafjen, deren Nuten für den Fortſchritt der Organifirung die 
Berbienfte aller übrigen Beftandtbeile überböte. Sehen wir nun, 
wie noch innerhalb der Grenzen unferer Beobachtung die An- 
regung des Willens die Muskelfaſern zur Verkürzung bringt, wie 
alſo offenbar einem Wechſel in den Zuftänden der Seele auch 
eine Veränderung in den Lagenverhältniffen Fleinfter Maffentheil- 
chen des Körpers nachfolgt, fo können wir im Allgemeinen die 
Möglichkeit durchaus nicht bezweifeln, daß in einer früheren Bil— 
dungszeit, in weldjer die Elemente des Körpers noch nicht die fefte 
Structur und Lage angenommen haben, weldye fie im Erwachjenen 
befigen, Die inneren Regungen der Scele aud auf die erft noch 
zu gewinnende Lagerungsform der Theildhen, mithin auf Die Aus: 
bildung der Geftalt, einen beträchtlichen Einfluß ausüben könn— 
ten. Allerdings wird der Anfangspunkt dieſes Einfluffes nicht 
die bewußte Vorftellung der Bewegung von Gliedmaßen fein fün- 
nen, von deren Dafein und Verwendbarkeit die Seele in Diefem 
BZeitraume noch feine Erfahrung haben Könnte; aber wie wir auch 
noch in der fertigen Geftalt Gemüthsbewegungen unwillkuührlich 
fih mit der Gemalt ihres Eindrudes auf einzelne Theile werfen 
und die Ragenverhältniffe diefer ſchon verfeftigten Elemente durch 
mimifche Bewegungen verändern fehen, jo könnten ohne Zweifel 
auch die formlofen, noch auf feine beftimmten Handlungen be- 
zichbaren Erregungen, welche Die unentwidelte Seele des werben- 
den Organismns erſchüttern, nad) ihrer qualitativen Natur einen 
ähnlichen Einfluß auf die erfte Feſtſtellung einzelner Tormverhält: 
niffe äußern. 
Aber im Ganzen müffen wir und doch zugeftehen, daß dies 

21* 





324 _ 


Alles nur Möglichkeiten find, oder vielmehr, wenn allerdings aud) 
nad unferer Anfiht ein Mangel aller Theilnabme der Seele an 
den Wechſelwirkungen, durch welche ihr Körper entfteht, unmög- 
lich ift, fo find wir doch durch die Analogien der Erfahrung nicht 
befähigt, den Umfang zu ſchätzen, in welchem jene Theilnahme 
wirflich ftattfindet. In dem ausgebildeten Körper ift die Macht 
der Seele über die Geftaltbilbung eine fehr geringe, und felbft 
fo weit fie ftattfindet, fcheint fie nur mittelbar ſich durch eine 
Abänderung der Verrichtungen zu äußern, auf welde, wie auf 
Herzſchlag, Athmung und Berdauung oder auf einzelne Muskel- 
gruppen, der Wechſel der Gemüthszuftände oder Die Hebung ge= 
wiſſer Bewegungen näher oder entfernter Einfluß bat. Die, 
Wirkungen der Seele find deshalb meift über den ganzen Körper 
verbreitet und ändern mehr feine Haltung, als feine Geftalt. 
Geben wir gern zu, daß die Veredlung des geiftigen Xebens zu: 
legt auch die körperlichen Formen veredelt, feine Berwilberung fie 
verwildern läßt, fo möchten wir hierauf auch den Einfluß der 
Seele beichränfen. Er entwidelt bis zu gewiffen Maße Schön- 
heit und Häßlichkeit der Geftalt durch Teife Veränderungen, melche 
er den an fich ſchon feftftehenden Proportionen einprägt; daß aber 
die erfte Bildung der organiſchen Form in überwiegendem Maße 
aus der geftaltenden Kraft der Seele hervorgegangen fei, ift eine 
poetiſche Lieblingsmeinung Vieler, für welche die zahlreichen Bei- 
jpiele der Nichtübereinftimmung zwifchen den geiftigen Anlagen 
und dem körperlichen Baue nicht vorhanden find. 











325 


Zweites Kapitel. 
Bon dem Site der Seele, 


Bedeutung ber Frage. — Beſchränkter Wirkungskreis ber Shlele. — Gehirnbau. — 
Art der Entſtehung von Bewegungen. — Bedingungen der räumlichen Anſchauung. 
— Bedeutung der unverzweigten Nervenfaſern. — Allgegenwart der Seele im 
Körper. 


In dem Begriffe der Seele, welchen wir bisher benugt ha- 
ben, dem eines untheilbaren Wefens, deſſen Natur zur Entmid- 
lung von Vorſtellungen Gefühlen und Strebungen fähig ift, Liegt 
nichts, was auf Raum und räumliche Beziehungen hindeutete, 
Aber die Gegenwirkungen, in welche die Seele zu den Maffen 
bes Körpers tritt, erregen das natürliche Verlangen, nicht nur 
die Möglichfeit und Art diefes MWechfeleinfluffes im Allgemeinen, 
fondern auch die gegenfeitige Stellung beider wirkfamen Glieder 
dieſes Verhältniſſes mit jener räumlichen Anfchaulichfeit vorftellen 
zu können, welche unfere Beobachtung der Natur zwar nicht die 
Sache eigentlich erflärend, aber mohl unfere Vorftelungen über 
fie aufflärend, überall begleitet. Man wird nad dem Site ber 
Seele fragen. 

Der Sinn diefer Frage ift einfach; laſſen wir dahin geftellt, 
ob e8 möglich jet, dem untheilbaren Wefen eines wahrhaft Seien- 
den irgendivie räumliche Ausdehnung in dem Sinne zugufchreiben, 
in welchem wir fie den materiellen Stoffen beilegen zu können 
glauben, fo werden doch alle Meinungen darin fich vereinigen 
dürfen, daß auch dem unausgebehnten Wefen ein Ort im Raume 
zulommen könne. Da wird es. vorhanden fein, bis wohin alle 
Eindräüde des ihm Fremden fich fortpflanzen müffen, um es mit 
ihrer Wirkſamkeit zu erreichen, und von wo aus rückwärts alle 


326 


die Anregungen Tommen, durch welche e8 unmittelbar feine Um— 
gebung, mittelbar durch dieſe die weitere Welt in Bewegung ſetzt. 
Diefer Punkt des Raumes ift der Ort, an welchem wir in die 
unräumliche Welt des wahrhaften Seins hinabfteigen müſſen, um 
das wirkende und leivende Weſen zu finden; und in diefem Sinne 
wird jede Anficht einen Sig der Seele fuchen Dürfen, auch wenn 
fie ihr außer dem Orte nicht zugleich die Ausdehnung einer räum- 
lichen Geftalt zugeftehen zu dürfen glaubt. 

Abber unſere Begriffe über die Wechſelwirkung der Dinge 
unter einander laffen in Bezug auf die räumliche Erfcheinung 
mehrere Möglichkeiten zu. Wir können uns denken, daß ein Wejen 
“mit der Geſammtheit der übrigen Welt nicht nur überhaupt in 
Beziehung ſtehe, fondern mit jedem Theile derfelben in gleich 
inniger unabgeftufter Beziehung. Nicht nur mit wenigen wirb 
, e8 dann unmittelbare Wechſelwirkungen austaufhen, um durch 
deren Vermittlung hindurch erft die übrigen zu beherrſchen, ſon— 
dern mit allen zugleich fteht e8 in jener lebendigen Verbindung, 
welche die Zuftände bes einen unmittelbar auf die des andern 
- wirken läßt. Drüden räumliche Lagen und Orte die Enge oder 
Roderbeit diefer inneren Verbindungen aus, jo wird dieſes Wefen 
nicht einen begrenzten Sig im Raume haben, ſondern allen 
Theilen der Welt innerlich gleich nahe, wird es äußerlich in ihr 
allgegenmwärtig zu fein ſcheinen. So ftellen wir und das Daſein 
Gottes vor. Er, der Schöpfer des Ganzen, ift jedem ſcheinbar 
verlorenen Punkte des Gefchaffenen gleich nahe; feine Kraft hat 
nit einen Weg zurüdzulegen, um zu erreichen, worauf fie wir- 
fen will, und die Zuftände der Dinge brauchen nicht ihn aufzu— 
fuchen, um feiner Vorſehung ſich anzuvertrauen, von der fie über— 
all gleih innig umfchloffen find. Aber wir faflen doch dieſe 
Allgegenwart nicht fo, daß wir dem Wefen Gottes die unermeß- 
liche Ausdehnung felbft zußhrieben, die feine Macht beherrſcht; 
mit richtiger Enthaltſamkeit von dieſer ſinnlichen Anſchaulichkeit 
denken wir ihn als das überſinnlich geſtaltloſe Wirken, für welches 
dieſe Unermeßlichkeit eben nichts iſt, weder eine Schranke ſeiner 








327 


unmittelbaren Gegenwart, noch eine Eigenfhaft, Die der Fülle 
ſeines Weſens etwas hinzufeste. 

Die Naturwiffenfhaft hat uns an einen zweiten denkbaren 
Fall gewöhnt, den von Weſen, welche zwar. mit der Gefammtheit 
aller ihres Gleichen unmittelbar, aber mit den verſchiedenen doch 
in abgeftufter Innigkeit der Beziehungen in Wechſelwirkung ſtehen. 
So erſtreckt ſich Die anziehende Kraft jedes gravitirenden Theil- 
chens auf alle andern und bi8 in jede unendliche Entfernung bin- 
aus unmittelbar; aber die Größe der Kraft nimmt mit der mad: 
jenden Entfernung ab. Und aud jene molecularen Wirkfamtfeiten, 
deren Erfolg ſchon bei den geringften merflihen Abſtänden ber 
wechſelwirkenden Elemente für unfere Wahrnehmung verſchwindet, 
Jaffen wir doch ins Unendliche hinaus mit raſch befchleunigter 
Abnahme reihen; ſchon in geringften Entfernungen mag ihre 
Stärke fi dem Verſchwinden nähern, aber es kann feinen abfo- 
luten Werth der Entfernung geben, welcher fie völlig vernichtete. 
Ueber die Räumlichkeit fo wirkender Wefen find verfchievene Vor- 
ftellungen glei zuläſſig. Man kann fie allgegenwärtig im Raume 
nennen, denn in der That bedarf ihre Wirkfamfeit Feiner fort- 
leitenden Vermittlung, um jeden Punkt des Raumes zu erreichen, ' 
Man kann ihnen ebenfo wohl einen bejchränften Ort von punkt⸗ 
fürmiger Kleinheit zujchreiben, wenn man die Abftufung ihrer 
Wirkſamkeit bedenkt. Dann werben fie an der Stelle des Raus 
mes ſich zu befinden ſcheinen, auf defien berlihrende Umgebung 
fie das Marimum ihrer Kraft äußern; fie werben dagegen ben 
übrigen unendlihen Raum nur mit abnehmender Macht zu be= 
herrſchen fheinen, ohne in ihm vorhanden zu fein. Diefe dop⸗ 
pelte Möglichkeit zeigt, daß die Frage nur ein irriged Intereſſe 
hat, ob in dem Falle ſolches Wirfens dem Weſen eine endliche 
oder unendliche Ausdehnung zufomme; ihm felbft wird gar fein 
Prädicat räumlicher Größe beigelegt. Wir dachten Gott nicht 
ebenfo groß als die Welt, bie er beberrfcht; wir denken auch dieſe 
wirkenden Subftanzen weder unendlich klein, wie Die geometrifchen 
Punkte, von denen ihre Wirkung ausgeht, noch unendlich groß wie 





328 


‚die Weite, über die fie fich erftredt. Sie felbft find, was fie find, 
überfinnliche Wefen; nichts ift weiter über fie gejagt, als daß 
nach dem Sinne, der ihnen im Ganzen der Welt zukommt, in= 
nerhalb der räumlichen Erfheinung der Dinge ihre Kraft von 
einer beftimmten Stelle auszugehen und abuchmend die entfernten 
zu erreichen fcheinen muß. 

Man kann eine dritte Annahme verfuchen, nad) welcher ein 
Weſen feine unmittelbare und unabgeftufte Wirkſamkeit auf ein 
beftimmtes ausgedehntes Raumgebiet erftredte, mit allem aber, 
was jenfeit der Grenzen dieſes Gebietes läge, nur in mittelbarer 
Wechſelwirkung fände. Aber diefe Aunahme würde eine falfche 
Borausfegung zu vermeiden haben. In dem leeren Raume 
liegt Fein denkbarer Grund dafür, daß bie Kraft eines Weſens 
fid nur bis zu einer Kugeloberfläche von beftimmten Halbmefler 
verbreiten, über Diefe Grenze hinaus aber erlöfchen follte. Wenn 
irgend eine Entfernung vor irgend einer andern ben Borzug vor- 
aus haben fol, diefe einſchränkende Macht zu üben, fo kaun fle 
ihn nur dem Realen verdanken, mit welchem bis zu ihr hin ber 
Kaum angefällt ift, über fie hinaus nit mehr. Ohnehin darf 
ja eine Kraft nicht wie ein Etwas vorgeftellt werden, das von dem 
wirtenden Element immer ausginge, auch dann, wenn ein zweites 
nicht vorhanden wäre, auf das fie wirken Könnte; fie entfteht in je- 
dem Augenblide des Wirkens zwiſchen ven beiden Elementen, zwi⸗ 
ſchen melden eine Wechſelwirkung um ihrer qualitativen Natur willen 
unvermeidlich ift. Sie wird deshalb überall fo weit in den Raum 
hineinveichen, als in ihm Elemente anzutreffen find, denen ihve 
innere Verwandtſchaft Diefe Nothwendigkeit des Wirkens auferlegt; 
und man kaun deshalb nie jagen, ein Element entziehe fi durch 
zu große räumliche Entfernung dem Einfluß einer Kraft, der «8 
im Uebrigen um feiner Natur willen zu gehorchen verpflichtet wäre. 
Mit andern Worten: es Tann feine Kraft geben, deren Wirkſam⸗ 
feit von Haus aus ſich anf ein endliches Raumgebiet, dann aber 
auch auf Alles das erfivedite, was innerhalb deſſelben anzutreffen 
wäre; wohl aber ift an einem Element eine Kraft denkbar, bie 





329 - 


fih nur anf eine gewiffe Art oder einen gewiſſen Kreis anderer 
Elemente befhränft und gleichgültig voritbergeht an allen denen, 
die nicht zu dieſer Art oder zu dieſem Kreife gehören. 

Ich Schalte noch einmal die eindringliche Wiederholung einer 
Behauptung ein, die allem Früheren zu Grunde lag; es tft durch⸗ 
aus nothmwendig, den oft gehörten Sag, ein Ding wirke nur de, 
wo es fei, in den entgegengefegten umzukehren: es ſei da, wo es 
wirke. Es tft durchaus ein Irrthum zu glauben, es heiße über- 
haupt etwas, wenn wir fagen, ein Ding fei an einem Orte und 
erlange in Folge defjen die Fähigfeit zu beftimmter Richtung und 
Ausdehnung feines Witend. Schon die gemöhnlichfte Ueberleg⸗ 
ung des alltäglichen Lebens beſtimmt den Ort eines Dinges mur 
nach feinen Wirkungen; dort ift ein Körper, von wo die Lichtftrah- 
len ausgehen, die er nach verjchiedenen Seiten fendet; dort ift er, 
von wo er der Hand, bie ihn zu beivegen ftrebt, widerftehenden 
Drud entgegenftellt; dort endlich, von wo er auf andere Körper 
anziehend fefthaltend oder zurüditoßend einwirkt. Und and dies 
ift nicht jo zu verftehen, als feien alle diefe Wirkungen nur für ung 
Erfenntnißgrände, durch welche wir des Körpers Sein an feinem 
Orte gewahr würden, während dies Sein jelbft eine von den 
Birkungen, die es kenntlich machen, unabhängige Bedeutung hätte. 
Es ift vielmehr weder zu fagen noch einzufehen, warum von 
einem Dinge, das gar nicht wirkte, mit größerem Rechte ein Sein 
an biefem, als ein Sein an jedem andern Orte behauptet mwer- 
den bürfte, oder wodurch ſich der Zuſtand eines Dinges, welches 
ohne alle Wirkſamkeit an einem beftimmten Orte blos wäre, von 
dem Zuſtand untericheiden fünnte, ın welchem es fich befinden 
würde, wenn ed an irgend einen beliebigen andern Orte fi 
aufhielte. | 

Unter diefer Borausfegung laſſen fich die Borftellungen feft- 
ftellen, die wir uns von dem angeführten dritten Fall bilden 
innen. Ift ein Weſen da, wo ed wirkt, hängt e8 aber in 
feinem Wirken nur von den innerlihen Beziehungen, die zwischen 
ihm und andern Elementen ftattfinden, nicht von dem leeren 


- 330 


Raume und feinen Orten und Entfernungen ab, fo können wir 
noch weiter hinzufügen: es ift Überall da, wo es mirkt, und 
fein Ort ift Hein oder groß, ftetig oder discontinuirlich, je nach⸗ 
dem diefe andern Elemente im Raume vertheilt find, mit denen 
e8 in dieſer unmittelbaren Gemeinfhaft der Wechſelwirkung fteht. 
Welches aber auch und wie geftaltet der Ort eines wirkenden 
Weſens fein mag, er tft nie eine Eigenfhaft des Weſens 
jelbft; dies wird nicht groß mit feiner Größe, nicht klein mit 
feiner Kleinheit, nicht ausgedehnt, weil er ausgedehnt ift, nicht 
vielfach und theilbar, wenn er vielfach oder zerftreut if. Neh— 
men wir an, um diefe Anfchauungen zu verdeutlichen, ein wir= 
kendes Element a ftehe in Wechſelwirkung mit allen Elementen 
der Art b und dieſe Wechſelwirkung fei unabhängig von ben 
Entfernungen, in welden ſich in der Welt die einzelnen b vor⸗ 
finden, fo würde a einen fo vielfadgden Ort im Raume haben, 
wie viele Elemente b in dem unendlichen Raume zerftreut find; 
an jedem diefer Orte würde a eben fo vorhanden fein wie an 
jedem andern, ohne daß deshalb die Einheit und Untheilbarfeit 
feines Weſens Titte. Es ſchadet der Denkbarkeit diefer Vorftel- 
lungsweiſe Nichts, daß wir in ber Weltorbnung für fie feinen 
. Tall der Anwendung wiffen. Nehmen wir ferner an, a ftehe in 
unmittelbarer Wechſelwirkung mit einer beftimmten Anzahl b von 
Elementen, gleihartigen oder verſchiedenartigen, fo wird der Ort 
des a überall fein, mo eines diefer Elemente ſich findet. - Dächten 
wir fie alle auf der Oberfläche einer Kugel vereinigt, fo würde 
der metaphyſiſche Ort des a diefe krumme Oberfläche fein, und 
zwar jeder ihrer Punkte, der von einem der b realen Elemente 
bejett wäre. Wir würden nicht eigentlich Recht haben, aber wir 
fönnten unferer Einbildungskraft das Bild verftatten, a befinde 
fih im Mittelpunkt der Kugel und übe von da eine Kraft aus, 
deren Wirkungsfphäre durch den endlichen Halbmeffer der Kugel 
beftimmt und begrenzt fer; wir würden durch dieſe Wendung des 
Ausdrudes und die bleibende untheilbare Einheit des a anſchau⸗ 
licher machen, ohne fie im Grunde noch fiherer zu machen, 


331 


als fie ohnehin bleiben würde. Man würde ſich endlich vor- 
ftellen fönnen, die Elemente b, mit welchen a in unmittelbarer 
Wechſelwirkung fteht, feien im Raume zerftreut und zwiſchen 
ihnen andere Elemente der Art c gelagert, mit welchen dem a 
durch feine Natur keine wirkungserzeugende Beziehung zukomme; 
dann wird a einen vwielpunftigen biscontinuirlichen Ort im 
Raume haben, oder an vielen Punkten zugleid fein und es 
wiirde jeßt, um der Zwiſchenſchaltung der Punkte willen, an denen 
a nicht ift, unferer Phantafie zwar ſchwerer fallen, die Anfchau- 
ung der Einheit des a feftzubalten, ohne daß beshalb in dem 
Sachverhalt felbft eine größere Schwierigkeit derſelben läge. 


Wenden wir diefe allgemeinen Betrachtungen auf den bejon- 
bern Ball an, der uns befchäftigt, jo wird nur der glüdliche Glaube 
an die Offenbarungen der Hellfeherinnen das unmittelbare Macht: 
gebiet der Seele ind Unendliche noch bemerkbar reichen laſſen; die 
Erfahrung des wachen Lebens hat nie darein Zweifel gefegt, daß 
oor Allem der Umriß unferes Körper den Bezirf abgrenzt, in 
welchem die Seele felbft thätig ift und von beffen Zuſtänden fie 
leidet. Wir empfinden nur, was den Körper erſchüttert, wir be= 
wegen nur ihn; durch feine Vermittlung wirkt die Außenwelt auf 
ung und mir auf fie. Aber die mannigfadften Beobachtungen 
haben uns ebenfo gewiß gelehrt, daß felbft in dem Körper der 
Schauplag feiner unmittelbaren Wechſelwirkungen mit der Secle 
no enger zu begrenzen ift. Verloren ift für Die Scele jeder 
Zuftand des Körpers, der nicht einen Theil des Nervenſyſtems 
zu erregen vermag, verloren für den Körper jede Bewegung der 
Seele, fiir welche der Uebergang aus dieſem Syſtem in die folg- 
famen Werkzeuge der Glieder verhindert if. So tritt die große 
Maſſe des Leibes doch nur als cin mittelbar beherrfchtes Gebiet 
der Außenwelt dem Nervengeflecgte als dem eigentlichen Site ber 
Seele gegenüber. Aber auch in diefem Iehrt die Beobachtung 
einen Unterſchied zwiſchen zuleitenden Theilen, die den Austaufch 
ber Erregungen vermitteln und anderen wefentlicheren, in denen 


332 


die Wechſelwirkung felbft vollzogen wird. Trennt ein einfacher 
Schnitt einen fenfiblen Nerven in feinem Berlauf zum Gehirn, 
fo find die Eindrüde, die fein an der Oberfläche des Körpers 
haftendes Ende nun noch von außen aufnimmt, fir di: Seele 
verloren; trennt cin gleicher Schnitt einen motoriſchen Newen, To 
geht der Willenseinfluß der Seele nicht mehr auf Die Glieder über, zu 
deren Muskeln der durchſchnittene Nero verlief. Nicht mit jedem 
Theile des Nervenſyſtems fteht daher Die Seele in unmittelbarer 
Wechſelwirkung; nur die Erregungen der Centralorgane können es 
fein, von denen fie in der That bewegt wird und welche fie umgekehrt 
durch ihre eigene Kraft hervorruft; der gefammte Verlauf der Newen 
ift nur ein Mittel, diefem engeren Bezirke wahrhafter Wechſelwir⸗ 
fung äußere Eindrüde, die an fich fiir die Seele unerreichbaren, an— 
zunähern und ihre eigenen Strebungen, die an ſich machtlofen, auf 
bie ausführenden Glieder überzuleiten. Die Fortfegung diefer Be— 
obachtungen, zu denen Verſuche und Krankheitsfälle Gelegenheit 
geben, verengt das Gebiet der Secle noch mehr; fie lehrt erken— 
nen, daß eine Trennung zwiſchen Gehirn und Rüdenmarf die Em— 
pfänglichkeit ded Bewußtſeins für dic Eindrüde, die tem letztern 
Organe zufommen, und ebenjo die Herrſchaft der Seele über Die 
Glieder aufhebt, die von ihm ihre zuleitenden Nerven erhalten. 

Allerdings führen die enthanpteten Rumpfe namentlich kalt⸗ 
blätiger Thiere auf äußere Reize noch Bewegungen aus, deren 
zweckmäßige Zufammenftimmung Bielen von nicht blos phyſiſchen 
Ursachen abhängen zu können ſchien. Doc auch diefe Bewegun- 
gen gefcheben nur, jo lange das Rückenmark und der Zufammen- 
hang der zu bewegenden Glieder mit ihm unverlegt ift; fie wür- 
den daher höchſtens beweifen, daß der unmittelbare Einfluß der 
Seele oder ihr Sig nicht auf das Gehirn ſich beſchränkt, jondern 
auch über diefen andern Theil der Sentralorgane ausdehnt. Mlein 
daß die Unterbregdung der Verbindung zwiſchen Nüdenmarf und 
Gehirn die Bewegungen der von dem erften allein abhängenden 
Theile dem Bemußtfein ſowohl als dem Willen entzieht, ift eine 
gewiffe Thatfache; daß dagegen die Bewegungen enthaupteter 


x 











333 


Ruümpfe unmittelbar, oder in welcher Weife fie etwa mittelbar 
von pfuchiichen Bedingungen abhängen, ift ungewiß. Webetlaffen 
wir deshalb fpäterer Gelegenheit die Ueberlegung dieſer Erfchei: 
nungen und balten wir vorläufig daran feft, Daß Einbrüde, die 
unjer Bemußtfein nicht empfängt, nicht ohne andern Beweis als 
Zuftände unferer Seele, Wirkungen, Die wir weder wollen nod 
in ihrem Gefchehen wahrnehmen, nicht ohne andern Beweis fr 
Thätigkeiten der Seele gelten fönnen. Unter diefer Borausfegung 
beſchränkt ſich allerdings der Sit der Seele auf das Gehirn. Ju 
diefem felbft endlich haben wir Grund, verſchiedene Theile von 
verfhiedenem pſychiſchen Werth zu unterſcheiden; aber die größeren 
und wohl unüberwindlichen Schwierigfeiten ber Unterſuchung ge- 
ſtatten bier nicht mehr, die eigentlicheren Organe der Seele von 
dem umgebenden Apparat blos zuleitender und hinwegleitender 
Werkzeuge genau abzutrennen. Ziehen wir das Ergebniß dieſer 
Betrachtungen, fo finden mir, daß Die erfte der oben verzeichneten 
Borftelungsweifen auf das Verhältniß zwifchen Secle und Kör⸗ 
per unanwendbar ift: die Scele ift nicht fo in ihrem Leibe all- 
gegenwärtig, wie wir und Gott in ber Welt allgegenmwärtig den- 
fen; fie fteht in unmittelbarer Wechſelwirkung nur mit dem Ge- 
bin; bier alfo hat fie in der Bedeutung, die biefem Worte zu 
geben ift, ihren Sig. 

Sehen wir nun zu, ob zur nähern Beftimmung dieſes Or- 
tes die zweite Auffaffungsweife tauglicher ift. Bon einem einzigen 
Punfte aus, an weldem ihre Wirkſamkeit ein Marimum ift, 
würde nad ihr die Seele ihren Einfluß mit abnehmender Stärfe 
über bie entfernteren Theile des Körpers gleich unmittelbar aus- 
behnen. Wollte man diefe Abnahme der Kraft ſich zwar raſch, 
aber Doch noch mit jo gemäßigter Befchleunigung erfolgend vorftel- 
len, daß ihre Wirkungen in irgend wahrnehmbarer Entfernung von 
jenem PBunfte des Marimum noch merklich blieben, jo würde fich 
feine Erſcheinung finden, melde biefer Annahme günftig wäre. 
Die zuleitende Verrichtung ber fenfiblen, die megleitende der mo- 
torifchen Newen hört ftet8 auf, wie nahe aud immer an ben 


334 


Centralorganen ihr Zufammenhang mit diefen unterbrochen wird, 

und niemals findet ſich die Spur einer auch nur ſoweit umnit- 
telbar in bie Ferne veihenden Wirkung der Seele, daß durch 
fie der geringe Abftand überflogen würde, den ein feiner Schnitt 
zwifchen zwei nächſtbenachbarte Elemente eines Nerven gebradt 
bat. Nur in der befondern Form würde daher dieſe zweite Bor: 
ftellungsmeife bier anwendbar fein, in mwelder wir fie allerdings 
auf den größten Theil des gewöhnlichen Verhaltens der Körper an: 
wenden; fo außerordentlich fehnell müßte mit der Entfernung 
von dem Funfte der größten Wirkung diefe Wirkung felbft ab: 
nehmen, daß fie in merflichen Abftänden nicht mehr wahrnehmbar 
würde. So wie ein Körper die Kihtftrahlen erft dann reflectirt 
und vom Stoß erft dann in Bewegung gefegt wird, wenn beide 
ihn an feinem Orte berührt haben, ebenfo würde die Seele nur 
mit den Elementen verfehren, deren Einwirkungen ſich bis auf 
unwahrnehmbar kleine Abftände dem Punkte ihrer größten Wir: 
fung näherten, einem Punkte, den wir eben beshalb nahezu als 
den einzigen Ort der unmittelbaren Wirkfamfeit der Seele, oder 
als ihren ausſchließlichen Sig bezeichnen dürften. 

Dies ift nun die Vorftellung, die man feit alter Zeit mit 
Borliebe ausgebilvet hat. Der Bau des Nervenſyſtems im Großen 
. begünftigte fie. Sihtlih ift der Verlauf der Nemwen beftimmt, 
Eindrüde einem Orte im Gehirn anzunähern, um fie dort erft 
zur Wechſelwirkung mit der Secle zu bringen, und bie motorifcen 
führen Anregungen, die der Wille nur dort wirflih auf Maffen 
überträgt, den Muskeln zu, die durch ihre räumliche Entfernung 
dem unmittelbaren Einfluß feines Antriebs entzogen find. Man 
hoffte cine Fortfegung defjelben Baues in dem Gehirn felbft zu 
finden, einen foldhen Schlußpunft des ganzen Nervenfuftems, in 
welchen alle zuleitenden Fäden zufammenliefen und aus welchem 
alle hinwegleitenden Kanäle der Wirkungen ausjirahlten. Diefen 
Punft würde man mit voller Befriedigung als den Sig der Seele 
anerkannt haben. Aber die Anatomie hat ihn bisher nicht fin- 
ben fönnen, und es ift feine Hoffnung, daß fie ihn fpäter finden 





335 


werde. Neben einander ftreihen die Fafern vorbei, durchkreuzen 
fih und verflechten fi; aber fie verſchmelzen nicht untereinander 
zu einem gemeinfamen Schlußgliede; nicht einmal eine gemeinfame 
Endridtung nehmen fie an, mit der fie einem foldhen Punkte fich 
näberten. Auch in dem Syſtem der Ganglienzellen, rundlider 
Bläschen, welche das gefaferte Mark in größter Menge von außen 
umgeben und zwiſchen feine Züge. eingeftreut find, fehlt jede Ans 
deutung einer Sentralifation. Sie ftchen durch feine Verbindungs- 
fäden unter einander in Verbindung; aber wir wifjen weder, ob 
die Verkettung eine allgemeine ıft, noch welche Bedeutung den 
Sanglienzellen überhaupt für die Aufnahme, Erregung und Um- 
jormung der im gefaferten Mark geſchehenden Erregungen zu— 
fommt. 

Wer dennoch die Hoffnung hegte, daß gefchärftere Unter: 
ſuchung diefen befhränften Sig der Seele finden werde, müßte 
ih ohnehin zugeftehen, daß man ihn unter falſcher Form gefucht 
hat. Wie fein aud) die einzelne Nervenfafer ift, eine gemeinfame 
Durhichnittsftelle aller könnte doch nie ein untheilbarer Punkt, 
fondern müßte ein kubiſcher Raum von ſehr wahrnehmbarer Größe 
feines Durchmeffers fein. Diefen Raum müßte die Seele mit 
unmittelbarer Wirkſamkeit beherrſchen; innerhalb defjelben würden 
wir eine Yortfegung gefonderter Nervenfäden nicht erwarten; ihre 
Iſolirung hätte nur die Aufgabe, die phnfifchen Vorgänge, die in 
ihnen ſich ereignen, ohne gegenfeitige Vermifhung bis zu dem 
Wirkungskreife der Seele zu bringen. Haben fie diefen erreicht, 
fo ift ihre fernere Auseinanderhaltung unnöthig; denn in ber 
Seele felbft gibt es doch ſchließlich keine Scheibemände, welche die 
einzelnen Einbrüde fonderten, und fie muß e8 verftehen, die vielen 
verſchiedenen ohne gegenfeitige Trübung in der Einheit ihres We- 
jens zu beherbergen. Jeuen Mubifchen Raum, den Sig der Seele, 
würde man fidh daher entweder ausgefüllt durch ein ungefafertes, 
irgendwie homogenes Parenchym denken, durch welches hindurch 
alle Erregungen der Nerven ſich allfeitig verbreiten, oder als einen 
Höhlenraum, an deſſen Wandungen und innerhalb der Entfernung, 


336 


bis zu welcher die unmittelbare Wirkſamkeit der Seele reicht, Die 
fämmtlihen Newenfafern oder eine hinreichende Anzahl Abgeord- 
neter derſelben nur vorüberzugehen, aber nicht zu endigen brauch⸗ 
ten. In der That bat man häufig die letztgenannte Borftellung 
gewählt und in der vierten Hirnhöhle den Sig der Seele, freilich 
ohne die nöthige Beftätigung durch anatomische Thatfachen, zu 
finden geglaubt. 

Ich führe dieſe Möglichkeiten, denen ſich noch manche andere 
beifügen Tiefe, theils in der Ueberzeugung von dem Nuten auf, 
den allemal die Ausarbeitung jeder Anfiht bis zu vollſtändiger 
Klarheit gewährt, theils in der anderen Ueberzeugung, daß aller- 
dings die Anatomie zu einem völlig entiheidenden Endurtheil fiber 
fie nody nicht befähigt iſt. An fih hat feine diefer Vermuthun⸗ 
gen einen fehr großen Werth; man wird leicht finden, daß jede 
von ihnen, auch wenn fie thatſächlich richtig wäre, doch ihrem Be- 
griffe nach eine Zurückführung auf Die Dritte ber oben verzeich— 
neten Borftellungsmwetfen nothwendig machen würde. Denn was 
hieße es doch zulest, daß die Seele in einem beftimmten Raume 
enthalten fer und in Folge deſſen nur mit dem mwechfelmirkte, mas 
diefen Ort berührt? Sie kann nit einen beftimmten leeren 
Kaum einem andern leeren Raum vorziehen, um in ihm recht⸗ 
mäßiger ihren Ort zu haben, als in biefem; daß fie au einem 
beftimmten Orte jet, bedeutet ja, wie wir gefehen haben, nichts 
Anderes, als daß fie nur mit den realen Elementen, die ſich an 
diefem Orte finden, in unmittelbarer Wechfelmirfung zu ftehen 
dur ihre Natur genöthigt wäre. Diefe Wechſelwirkung, indem 
fic gejhieht, macht eigentlich erft jenen Raum zum Orte ber 
Seele, und wenn ed, wie ohne Zweifel vorauszuſetzen tft, wiele 
Elemente find, mit denen die Secle in diefer wechſelſeitigen Be— 
ziehung ftebt, To tft auch ihr Ort ebenfo vielfah. Nur aus Teicht 
begreiflichem Bedürfniß der Anfchaulichleit, aber ohne Nöthigung 
durch die Natur der Sache, ſucht dann zur diefen vielen Orten 
unſere Phantaſie noch einen genmetrifhen Mittelpunkt ihrer Ber- 
theilung ‚und möchte Diefen dann gern als den eigentlicften Sig 





337 


der Seele anfeben; aber fie wiirde nicht angeben können, in wel- 
her innigeren Beziehung die Secle zu ihm ftände, als zu jenen, in 
denen fie wirft. Ob daher die vielen Orte diefer Wirkfamteit fich 
im Gehirn nahe zufammendrängen, ohne andere Orte der Un- 
wirkſamkeit einzufchließen, ob fie alfo einen auch anſchaulich als 
Einheit ſich darftellenden Sig der Seele bilden, oder ob fie zer- 
ſtreut eine Vielheit von Punkten bleiben: Dies tft eine anato= 
miſche Trage nach der Anordnung der wechſelwirkenden Elemente, 
deren Beantwortung man der Erfahrung überlaffen kann. Wie 
die Antwort auch ausfallen mag, fle ändert die allgemeinen Vor— 
ftellungen nicht, die wir gewonnen haben. 

Noch einer Bermuthüng erwähne ih, um hiermit abzufchlie- 
en, der Borftellung nämlich von einer beweglichen Seele, deren 
Ort innerhalb der Eentralorgane wechfele. Sie fheint mir von 
geringem Bortheil Damit die Seele an den beftimmten Punkt 
ſich hinbewegen könne, an welchem es eine anfommende Erregung 
aufzufaffen gibt, müßte fie doch von der Richtung bereit8 Runde 
erhalten haben, von welcher ber die Erregung zu erwarten if. 
Um alfo zu dieſer Bewegung nad) der eben jett gereizten Nerven- 
fafer und nach Feiner andern Richtung Hin beftimmt zu werben, 
müßte fie ſchon aus der Ferne irgendwie von den inneren 
Zuftänden derfelben auf andere Weife beeinflußt worden fein, als 
von den Zuſtänden der anderen, in denen jett eben eine Erregung 
nicht ankommt. Die Bewegung der Seele fünnte mithin nicht 
als Mittel zur erften Ermöglihung einer Wechſelwirkung mit dem 
erregten Element, fondern nur als Beihülfe zur Verftärkung einer 
ſchon eingetretenen dienen. Noch unklarer bliebe, wie die Seele 
es begönne, um ihre Richtung zu dem motorifhen Element zu 
nehmen, dem fte jelbft ihre eigene Erregung erft mittheilen will. 


Eine Schwierigkeit, die man bereitS empfunden haben wird, 


nöthigt und noch zu einer ferneren auch jonft nich Anfruchtbaren 
Loge l. 3. Aufl. 


338 


Umformung der gewonnenen Anfichten. Daß die Seele mit einer 
befchränkten Anzahl der Nervenelemente ausfchließlich in unmittel- 
barer Wechſelwirkung ftehe, bleibt fo Lange unwahrſcheinlich, als 
wir in der Natur diefer bevorzugten Elemente feinen Unterſchied 
von der Natur aller der übrigen finden fünnen, mit Denen die 
Seele in gleicher Beziehung nicht ſteht. Nun tft es allerdings 
eine in der Phyſiologie häufig worgetragene Anficht, Daß die Ver- 
rihtung des Centralnervenmarks weſentlich verſchieden von ben 
Venctionen der Nerven und auch verfchteden fei von den Thätig: 
fetten derjenigen Gehirntheile, Die felbft nur als in Die Schädelhöhle 
hinein verlängerte Fortfegungen der Newen zu betrachten wären. 
Diefe Annahme würde die Borausfegifng einer irgend wie aud 
bevorzugten Natur der Elemente einfchliegen, welche dieſen bevor: 
zugten Verrichtungen dienen, obgleich eine unmittelbare Betätigung 
für dieſe Folgerung durch anatomifche Beobachtung fehlt. Aber 
gleichviel, wie e8 ſich hiermit verhalten mag: aus allgemeineren 
Gründen finden wir die bisher gemachte Vorausfegung unzuläng: 
lich, daß alle Nöthigung und Befähigung zur Wechſelwirkung 
zwifchen zwei Elementen auf einer beftimmten Beziehung zwiſchen 
dem beruhe, was wir ihre Naturen oder den qualitativen Inhalt 
ihres Wefens nennen. Was das eine Element von dem andern 
erfährt, wird nicht allein von dem abhängen, was dieſes andere 
beftändig ift, fondern auch won Dem veränderlichen Zuftande, in 
welchem e8 ſich eben befindet; daß überhaupt ein Element mit 
dem andern zu wechſelwirken genöthigt ift, and Diejer wirkſame 
Zufammenbang findet vielleicht nicht immer zwiſchen den conftan- 
ten Naturen beider, fondern nur in. einzelnen Augenbliden zwi⸗ 
hen beftimmten Zuftänden beider ftatt; oder wenn für alle Zeit 
und für alle Zuftände beide in dieſer Weife verfettet find, jo 
liegt der Grund ihres Fireinanderfeind nicht in dem, was fie 
beide find, fondern darin, daß fie vermöge deſſen, was fie find, 
Zuftände erfahren können, welche nach dem Sinn und Plan ber 
Weltordnung als erregender Grund und nachfolgende Erregung 
zufammengehören. Ich verzichte darauf, diefen Gedanken in feine 


339 


metaphyſiſchen Zufammenhänge bier zu verfolgen und ziehe vor, 
ihm einen deutlichen Ausdruck in engerer Beziehung zu unferem 
befonderen Gegenftand zu geben: die Secle wird nicht in aus— 
fchlieglicher und dann unabläffiger Wechſelwirkung mit einer be— 
fonderen Art von Nervenelementen und allen beliebigen Zuftänden 
diefer Elemente ftehen; fondern fie wird zuerft nur reizbar für 
gewiſſe Arten des Geſchehens fein, auf jene Art und Zahl von 
Nervenelementen aber ihre Wirkſamkeit und ihre Empfänglichkeit 
deshalb befchränfen, weil nur in dieſen jenes Geſchehen verwirf- 
licht wird, Und nun bleibt dahingeftellt, ob Diefe Elemente ihre 
eigenthümliche Natur, oder ob ohne ſolche Eigenthümlichfeit Die 
Gunſt ihrer Stellung zwiſchen andern fie ausſchließlich zu Schau= 
plägen dieſes Gefchehens macht. In dem Yegtern Falle würde 
es einer fpecififhen Verſchiedenheit zwiſchen den Elementen der 
Gentralorgane und denen der Nerven nicht bedürfen; die Eigen: 
tbümlichfeit der Structur würde Die erfteren ausfchließlih zum 
Site der Seele maden, weil fie allein die Vorgänge möglich 
machte, für welche dieſe die angebeutete ſympathiſche Reizbarkeit 
befigt. 

Es bleibt mir zu zeigen, daß die eben vorgetragene Anſicht 
ihre Entftehung nicht allein den Weberlegungen über den Sit 
der Secle verdankt, daß ſie vielmehr unabhängig hiervon auch in 
der Betrachtung von pfuchifchen Ereigniflen wieder entfteht, welche 
auf den erften Blick keineswegs mit ihr verträglich fcheinen. 

Zu den gewöhnlichſten Vorftellungen über die Entftehung 
der willführlichen Bewegungen gehört die, daß im Gehirn die Ur- 
ſprünge der motorifchen Nerven mie eine Claviatur nebeneinander 
ausgebreitet liegen, dem bewegenden Einfluß der Seele geöffnet. 
Aber möge diefe Claviatur immer vorhanden fein: die Seele ift 
unfähig auf ihr zu fpielen. Sie bat Fein Wiffen von der gegen= 
feitigen Lage diefer Taften, und feine Kenntniß davon, daß Diefe 
und nicht eine andere Tafte der beftimmten Bewegungsabſicht ent- 
ipreche, welche fie hegt, jo wie etwa der Clavierfpicler gelernt hat, 
die Tafte, die er ſieht, mit der gefehriebenen Note in Beziehung 

22* 





340 


zu fegen. Und wüßte fie jelbft dies Alles, was follte es ihr 
nügen? Wie finge fie ed doch an, nun ihre Wirkſamkeit auf diefe 
- and nicht auf jene Tafte überzutragen? Kann doch der Spieler 
Dies nur vermöge eben diefer noch unerflärten Folgſamkeit feiner 
beweglichen Finger, die dahin greifen, wohin fein Wille fie weift; 
und er würde es nicht können, wenn er auch biefen Webergang 
feines beftimmten Wollend auf die ihm entfprechenden Nervenfä- 
den ſelbſt erft durch feine Einficht vermitteln follte. Die Seele 
Tann, wie wir geſehen haben, nicht8 Anderes thun, als einen in- 
neren Zuſtand in fich erzeugen ober erleiden, an welchen ohne ihr 
Zuthun der Naturlauf die Entftehung einer körperlichen Berände- 
rung genüpft hat. Nur durch das, was er qualitativ ift, Tann 
diefer Zuftand ſich von andern unterfcheiden; und von dieſer Dua- 
lität muß nit nur die Größe und Art, fondern auch der Ort 
‚ der Wirkung abhängen, die der Naturlauf an ihn knüpft. Freude 
und Schmerz enthalten beide weder eine Kenntniß gewiſſer 
Nerven und Muskeln, noch einen Trieb zu deren Bewegung; aber 
fie find verſchiedenartige Erfehlitterungen des Gemüthes, und um 
dieſes inneren Unterſchiedes willen folgt dem einen das Lachen, 
dem anderen das Weinen. Weber bewußt noch unbersußt hat 
hier die Seele um der Freude willen ihren Einfluß dahin, um des 
Schmerzes willen dorthin gerichtet, fondern ohne al ihr Zuthun 
hat der einen Art der Erregung diefe, der andern jene Bewegung, 
der einen alſo eine Wirkung in diefen, der anderen eine Wirkung 
zum Theil in andern Muskeln geantwortet. 

Soll denn nun in der That, wird man fragen, die Seele 
ihre inneren Zuftände fo gewiffermaßen nur klagend in's Blaue 
hinausrufen, und erwarten, daß die geeignete Abhülfe blos durch 
den verfchiebenartigen Ton ihrer Aeußerung zu Stande kommen 
werde, ohne daß fie felber befühle, was eigentlich geſchehen fol? 
Gewiß ift diefe Zummthung, die wir der Phantaſie ernſtlich ma- 
hen mäfjen, ungewöhnlich genug; aber Doch wird fie ſich als eine 
ausführbare erweifen laſſen. Bon den unzähligen Schallwellen, 
welche Die Luft durchkreuzen, wird jede ohne Zweifel in einer ges 














341 


fpannten Platte, einer Fenſterſcheibe, welche fie trifft, irgend melde 
Erſchütterungen bervorbringen; aber nur eine von ihnen wird bie 
Platte zum Deittönen bringen, nur die nämlich, deren Schwing- 
ungen regelmäßig zu wiederholen die Platte durch ihre eigene 
Structur und Spannung befähigt if. Wenn e8 gilt, aus einer 
flüſſigen Miſchung verfchiedener Stoffe einen einzelnen auszufchei= 
den; bringen wir das Mittel, das zu feiner Fällung dienen fol, 
nur überhaupt hinein und wir haben nit nöthig, nun diefem 
noch ſelbſt eine beftimmte Richtung zu geben und mit ihm den 
überall zerftreuten Theilchen des auszufcheidenden Stoffes nachzu⸗ 
gehen; indem e8 fi durch die ganze Flüſſigkeit verbreitet, geht 
ed von ſelbſt theilnahmlos an denen allen vorliber, zu denen es feine 
Wahlverwandtichaft befigt, und findet mit völliger Sicherheit Überall 
die Theile desjenigen auf, mit dem es ſich zu einem Niederſchlage 
verbinden kann. Nach der Ausfällung diefes einen wird ein zwei— 
tes Reagens aus derfelben Flüffigkeit einen andern Stoff aus: 
iheiden, überall indem das, mas durch feine qualitative Natur 
aufeinander bezogen ift, fich zur Wechſelwirkung zufammenfindet 
und auf Heine Entfernungen felbft gegenfeitig ſich anzicht, nie— 
mals fo, daß dem einen von-Anfang an eine beftimmte Richtung 
inwohnte und fein Erfolg fich verſchieden geftaltete nach Der 
Natur deflen, was e8 in diefer Richtung anträfe. Läge der Seele 
in der That die ganze Claviatur der motorischen Nervenenden 
geordnet vor, jo könnte die Art ihres Einfluffes auf fie feine an- 
dere fein. Ste würde nit in jedem Falle einen übrigens gleich— 
artigen Stoß ausführen, dem fie nur eine beftimmte Richtung 
gäbe, und der nun blos deswegen, meil er in dieſer Richtung auf 
diefcs, nicht auf jenes Nervenende träfe, auch nur diefe, nicht eine 
andere Bewegung erzeugen müßte; fie kann für jede beabfichtigte 
Bewegung vielmehr nur einen eigenthlimlichen qualitativen Zuftand, 
einen Ton von beftimmter Höhe in jenem Gleichniß, hervorbrin⸗ 
gen, und von der Wahlvermandtichaft, meldhe zwiſchen Diefem Zu— 
fand und der eigenthämlichen Leiftungsfähigfeit eines beftimmten 
Nervenuriprungs obwaltet, wird erft die räumliche Richtung ab- 


342 


hängen, welche der Einfluß ber Seele nimmt, und welche er nur 
täufchend von Anfang an ſchon inne zu Halten fchten. 

Nichts kann diefes Verhalten fo einfad Far machen, als Die 
Erinnerung an die mimifchen Bewegungen. In dem Gefihtsaus- 
druck erfcheinen in unendlich feinen Abftufungen und Miſchungen 
die in unfern Stimmungen einander durchkreuzenden Gefühle 
verförpert. Kaum wird Jemand geneigt fein, Dies unerjchöpflich 
harakteriftiihe Spiel Fleiner Bewegungen und Spannungen von 
einer bewußten oder unbewußten Thätigfeit der Scele abzuleiten, . 
die eine große Anzahl Nervenurfprünge aufgefucht habe, um jedem 
von ihnen eine den hier gemifchten Elementen der Luft und Un— 
Luft entiprehende Anregung nitzutheilen. Weiß die Scele Doc 
ohnehin nicht, aus welchem Grunde die Thräne beffer der Trauer 
als der Luft und das Laden dieſer beffer als jener entſpräche. 
Ohne Zweifel hat fie bier gar nicht gefucht und nicht gefunden ; 
wie vielmehr jeder einzelne Gemiüthszuftand als eine Erſchütterung 
der Seele feinen Weg zu beftimmten Organen feines Ausdruckes 
nimmt, weil dieſe allein eben von dieſer Erſchütterung miterregt 
werben, fo findet auch jene Mifchung der Gefühle von felbft ihren 
permwidelten Weg zu den Theilen, in denen fie ihre leibliche Re— 
fonanz erhalten fol. Aber dies Verhalten. ift nicht auf dieſe eine 
Klaffe der Bewegungen beſchränkt. Auch jeder anderen willkühr— 
ih von und ausgeführten Bewegung geht als ihr wahrer erzeu- 
gender Anfangspunkt eine Vorftellung jener eigenthlimlichen Mo- 
Dification des Gemeingefühls voran, die mit der gefchehenden Bewe— 
gung, wie frühere Erfahrungen uns gelehrt, verfnüpft war. Wir 
beugen den Arm nicht, indem mir feinen einzelnen Nerven be— 
ftimmte Anſtöße zumeffen, fondern inden wir das Bild jenes Ge— 
fühles in und wieder erzeugen, das wir in diefer Stellung des 
Armes, bei diefer Faltung ber Haut, bei dieſem Spannungsgrabe 
der Muskeln hatten; wir finden und dagegen ungeſchickt, cine Be- 
wegung nadhzuahmen, die wir zwar beutlich fehen, ohne aber 
uns fogleih in die eigenthiimlihe Empfindung hineinfühlen zu 
fönnen, bie ihre wirkliche Ausführung uns gewähren würde. 





343 


— Bergeblich würden wir num verfuchen, von der Berbreitungs- 
weife dieſer geiftigen Zuftände über die Fürperliden Organe und 
von der Art, in welcher fie bier in einzelnen die ihnen entſpre— 
chende Kefonanz hervorrufen, eine noch weiter ausmalende an- 
Ihauliche BVorftellung zu geben. Wir müfjen wichnehr, wenn, 
wie wir hoffen, die angeführten Bergleihe den Gedanken, den 
wir hegen, Marer gemacht haben, felbft diefe Vergleiche wieder 
zu vergefjen bitten. Denn eine nothmwendige und unvermeibliche 
Geltung können wir nur dem allgemeinen Sage beilegen, daß 
jede cerregende Wirkung der Seele auf den Körper von der quali= 
tativen Beſtimmtheit eines geiftigen Zuſtandes ausgeht und erft 
um ihretwillen eine Iocale Richtung nach einem beftimmten Or- 
gane nimmt; jede weitere Ausführung oder Verbildlichung diefes 
Borganges dagegen müſſen wir ablehnen. Denn allgemeine Be- 
trachtungen, wie fie und bier möglich find, werden doch die Be- 
dürfniſſe der Secle in ihrem Verkehr mit dem Körper nic fo 
volftändig und genau errathen, daß wir aus unferer Einfiht in 
das, was zweckmäßig fein würde, die vorhandenen Einrichtungen 
im Boraus zu beftimmen vermöchten. Erft der wirkliche Befund 
des Thatfählichen pflegt und hinterher auch die Zweckmäßigkeit 
einſehen zu Iaffen, die in ihm liegt, und macht und aufmerkſam 
auf Bedürfniſſe, die dann, nachdem wir fie aus den Anftalten 
zu ihrer Befriedigung Tennen gelernt haben, uns freilih als 
dringlihe und unabweisbare erjcheinen, ohne Doch vorher von und 
im mindeften geahnt worden zu fein. 


Ein Gegenftüd der vorigen Betrachtung veranlakt bie 
Aufgabe des Bewußtſeins, eine große Anzahl von Empfindungen 
nicht allein in ihrem qualitativen Inhalt wahrzunehmen, fondern 
außerdem in beftimmter räumlicher Anorbnung fie unter einander 
zu verbinden. Diefe Leiftung ſchien nothwendig vorauszufegen, 
daß die einzelnen Eindrüde in derſelben gegenfeitigen Lage, in 








344 ° 


welcher fie den Körper berührten, auch zu der Seele fortgepflanzt 
werden, und daß an dem Sige ber legteren fich die ifolirten 
Nervenfäden, deren jeder nur einen einzigen Eindrud leitet, in 
derfelben regelmäßigen Nebeneinanderorbnung endigen, in welcher 
fie in dem Sinnesorgan die anlommenden Reize aufnehmen. 
Aber eine genauere Betrachtung wird uns bald lehren, daß Diefe 
Borausfegung zu einer wirflihen Erklärung unferer räumlichen 
Anſchauungen nicht dienen würde. 

Sollen wir zunächſt ausdrüdlih erinnern, oder dürfen wir 
dies als zugeftanden annehmen, daß von den Gegenftänden nicht 
räumliche ausgedehnte Bilder, ihnen ähnlich und fie deckend, ſich 
ablöfen, um in die Seele cinzutreten? Und daß, wenn dies wirf- 
lich geſchähe, aus der Gegenwart diefer Bilder innerhalb derrSeele 
ihr Wahrgenommenmerden noch jo wenig erflärlich wiirde, wie 
aus dem vorherigen Dafein der Gegenftände außerhalb der Seele? 
Sollen wir hinzufügen, daß ja doch dies, was wir ein Bild des 
Gegenftandes in unferem Auge nennen, nichts ift, als die That- 
face, daß in unferem Sinneöwerkgeug die neben einander liegen— 
den Nervenenden in berfelben Ordnung von verichtedenfarbigen 
Lichtftrahlen getroffen werden, in welder diefe Strahlen von den 
Segenftänden felbft ausgehen? Daß endlich dieſe Thatſache eines 
geordneten Nebeneinanderfeind verjchiedener Erregungen in ver= 
ſchiedenen Nervenfafern doch noch nicht die Wahrnehmung diefes 
Borganges, fondern nur der wahrzunehmende Vorgang felbft ift, 
deſſen Möglichkeit, in feiner ganzen inneren Ordnung zum Be- 
wußtjein zu kommen, chen den Gegenftand unferer Frage aus- 
maht? Wir wollen die Borausfegung machen, daß und dies 
wenigftens zugeftanden fe. Möge nun entweder, wie e8 Einigen 
wahrſcheinlich dünkt, dieſes Bild im Auge ohne Verlegung feiner 
Zeihnung dur die Sehnewen bis zu dem Gehirn an den Ort 
der Seele fortgepflanzt werden, oder möge diefe felbft, wie es 
Anderen denfbarer fcheint, unmittelbar in beiden Augen gegen- 
wärtig fein: auf melde Weife kann dann in beiden Fällen die 
beftimmte Lage dgr verſchiedenartig gereizten Nervenenden, mithin 


345 


bie gegenfeitige Lage ter Eindrüde für fie ein Gegenftand des 
Bemwußtfeind werden? Und wäre die Seele felbft, damit wir das 
Aeußerſte zugeben, ein ansgevehntes Weſen, den Umfang ber 
Augen und die Ausbreitung der Haut mit ihrer Gegenwart 
füllend, fo Daß jeder Farbenpunft, der die Neghaut, jeder Drud, 
der die Oberfläche des Körpers trifft, zugleich aud eine räumlich 
beftimmte Stelle der Seele träfe: mie würde fie jelhft dann inne 
werden, daß e8 jegt die ſe Stelle ihrer eigenen Ausdehnung ſei, 
welche der Reiz berührt habe, und nicht jene? in einem andern 
Augenblide aber jene und nicht dieſe? 

Wollen wir nicht ein unmittelbar fertiges und unerflärbares 
Wiffen der Seele von ihrem eigenen Umfange oder von der Ge- 
ftalt "des Körpers voraußfegen, jo werden wir zuzugeben haben, 
daß irgendwo der Zeitpunkt fommen muß, in welchem die räum- 
lihe Lage der wahrzunchmenden Bildpunkte, fo lange und ſo 
forgfam fie auch von dem Sinnesorgan feßgehalten worden fein 
mag, dennoch bei ihrem Uebergang in das Bewußtſein gänzlich 
verfchwinden muß, um in diefem völlig von Neuem nicht als 
räumliche Lage, fondern als Anfhauung einer folhen wieder ge- 
boren zu werben. Die Nothwendigkeit diefer Annahme ift in 
feiner Weife von der Vorftellung, die wir und von der räumlichen 
oder unräumlihen Natur der Seele machen, fondern einzig 
von dem Begriff des Bewußtſeins abhängig, welches wir dieſer 
wie auch immer beichaffenen Natur zufchreiben. Möchte die Scele 
immerbin felbft fih im Raume ausbreiten und als eine feine 
Durchduftung den Körper bis in feine legten Enden durchdringen: 
ihr Wiffen und Wahrnehmen mird doch ftet8 eine intenfive 
Thätigkeit fein, die wir nicht ſelbſt wieder ftoffartig ausgebreitet 
denfen können. In dem Bewußtfein hören alle jene Scheidewände 
auf, welche in dem Zörperlichen Sinnedorgan die einzelnen Ein- 
drücke von einander trennten; in ihm kann felbft jene Mannig- 
faltigfeit der örtlihen Lage nicht mehr vorkommen, durch welche 
etwa an der ausgedehnten Subftanz der Seele die ihr eingeprägten 
Eindrüde fih noch unterſchieden; feine unräumlihe Einheit ift 


346 


nur no empfänglih für qualitative Verſchiedenheiten der Er— 
regungen, und alle jene farbigen Punkte des Auges, alle Drud- 
punfte der gereizten Haut können zunädft in ihm nur fo ortlos 
zufammen fein, wie die gleichzeitigen und Doch unterjheidbaren 
Töne einer Harmonie. 

Sol die Seele dies Mannigfadhe in eine räumliche An- 
ſchauung wieder auseinanderoronen, fo bebarf fie zweierlei. Sie 
muß zuerft in der Natur ihres Weſens cine Nöthigung, Yähig- 
fett und Drang zugleich, befiten, Raumoorftellungen überhaupt 
zu bilden und das Vielfache ihrer Empfindung gerade in Diefer 
Form der Berbindung und Sonderung aus und an einander zu 
rücken. Vielleicht vermag die Philofopbie einen höheren Grund 
dafür zu finden, daß die Seele oder daß wenigftend die menjc- 
lihe Seele dieſe Form der Anfhauung aus ſich entwideln muß; 
vieleicht vermag fie es auch nicht; wir jedenfalls ſetzen dieſe 
Fähigkeit als eine gegebene Thatſache voraus und unfere Be— 
trachtungen haben nicht die Abficht, fie felbft, fondern nur ihre 
möglihe Anwendung zu erflären. Damit e8 nämlich zu Diefer 
Anwendung kommen könne, damit die Seele in ihrer allgemeinen 
Raumanſchauung, mit welcher fie jedem möglichen Inhalt Der 
Wahrnehmung ganz gleihmäßig entgegenfommt, jedem einzelnen 
Eindrude feinen beftimmten Platz anzumeifen im Stande fei, 
dazu bedarf fie offenbar eines Anftoßes, der von den anzuord- 
nenden Eindrüden felbft berfommt, und durch welchen dieſe ihre 
gegenfeitige Lagerung im Raume verlangen. Dieſes zweite Be- 
dürfniß allen iſt e8, deſſen Befriedigung hier den Gegenftand 
unferer Frage ‚bildet; nur hierauf hat die Meberzeugung Bezug, 
welche wir ausſprachen, daß der ziwingende Grund, um deswillen 
die Seele jedem Eindrud feine beftimmte Lage in dem Raume 
anmweift, welchen fie worftellt, nicht in der Lage felbft Liegt, welche 
der Eindrud im Sinnesorgan bat, denn dieſe räumlichen Ver: 
hältniffe des Wahrzunehmenden Finnen nicht wie fie find, nicht als 
räumliche in das Bewußtſein übergehen; daß vielmehr jener 
Grund einzig in einer qualitativen Eigenfchaft irgend welcher 


347 


Art Viegen kann, welde der Eindruck um der eigenthänlichen 
Natur ded Ortes willen, an welchem er den Körper berührt, zu 
feiner übrigen qualitativen Beftimmtheit hinzu erwirbt. Nur für 
folche Unterfchiede ift das Bewußtſein zugänglich, und fie werben 
ihm als Merkmale oder als Rocalzeihen dienen, nad deren An— 
leitung e8 in der Wieverausbreitung der Eindrüde zu einem 
räumlichen Bilde verfährt, zu unmittelbarer Nähe diejenigen zu- 
fammenftellend, deren Localzeihen nächſtverwandte Glieder ciner 
abgeftuften Reihe find, andere um beftimmte Entfernungen aus- 
einanderräüdend, deren Merkmale eine größere Verſchiedenheit dar- 
bieten. 

So lange diefe Kennzeichen fehlten, würde der Eindrud zwar 
feinem Inhalte nad) wahrnehmbar, aber nicht an eine beftimmte 
Stelle des Raumes Iocalifirbar fein. Kann doch jede Farbe nad 
und nady an jeder beliebigen Stelle unferes Geſichtsfeldes erjchei- 
nen, jeder ftärfere oder ſchwächere Drud auf jeden Theil unferer 
Körperoberflähe wirken; durch feinen unmittelbaren Inhalt, fo 
_ und nicht anders gefärbt zu fein oder diefen beſtimmten Grad der 
Stärke zu befigen, kann deshalb kein Eindrud einen beftimmten 
Drt in unferer Raumanfhauung verlangen. Neben diefem In— 
halt vielmehr und ohne fhn zu ftören, muß in jeder Erregung 
eine harakteriftiiche Nebenbeftimmung vorhanden fein, welche aus- 
Schließlich dem Punkte entfpricht, in welchem der Reiz die enpfäng- 
liche Fläche des Sinnesorganes traf, und welche anders fein würde, 
wenn der gleiche Reiz eine andere Stelle des Organs berührt 
hätte. cher einzelne der Secle zugeführte Iocalifirbare Eindruck 
befteht daher in einer feften Affociation zweier Elemente; das eine 
von ihnen ift jener-phnfifche Vorgang, welcher das Bewußtſein 
zur Erzeugung einer beftimmten Empfindungsqualität, zum Sehen 
dDiefer Farbe, zum Fühlen dieſes Wärmegrades nöthigt; das an⸗ 
dere ift der befondere Nebenvorgang, der für allerlei Empfin- 
dungsinhalt derfelbe, für jeden einzelnen Ort feiner Entftehung 
verſchieden ift. Nicht deshalb alſo, weil ein Eindrud irgendwo 
entitand, wird er won der Seele, als wüßte fie von felbft Davon, 


348 


auf diefe Stelle feines Urſprungs wieder zurüdbezogen, jondern 
nur deswegen, weil in ihm fich dieſes qualitative Merkzeichen 
feiner relativen Lage zu andern erhalten bat. 

Man wird finden, wie diefes Verhalten dem entfpricht, was 
wir über das Zuftandelommen der Bewegungen früher äußerten. 
Wie dort die Seele nicht gleichartige Anftöße nad beftimmten“ 
Richtungen des Raumes ausfandte, ſondern qualitative innere 
Zuftände erzeugte, denen fic überlaffen mußte, nah Maßgabe 
ihrer Eigenthümlichkeit ihre Richtung zu finden: fo nimmt fie 
hier nicht die räumlihen Tagen der Reize als foldye fertig auf, 
fondern verlangt innere Unterfchiede zwiſchen ihnen, um fie über- 
haupt räumlich zu trennen, und meßbare Größen .diefer Unter- 
ſchiede, um fie an beftimmte Stellen des Raumes auseinander 
zu rüden. Diefe Einrichtung nun halten wir für die nothwen— 
dige Grundlage aller unferer Raumvorftellungen, welcher unferer 
Sinne fie auch vermitteln möge; aber wir müffen den fpectelleren 
Unterfuchungen der medicinifhen Pſychologie den Nachweis über- 
laffen, in welcher Form in jedem cinzelnen Falle dieſen allge- 
meinen Anforderungen genügt fei. 


So lange man glaubt, daß die räumlichen Verhältniſſe der 
Eindrüde als ſolche fertig in die Seele übergehen, wird man 
natürlich im Intereſſe der Seele jeden derſelben in einer tfolirten 
Tafer zu der Secle geleitet und zugleich bi8 zu dem Sige der 

_ Seele die gegenfeitige Lage der Fafern vollfommen unverſchoben 
denken müflen. Daß man mit alle dem zulegt doch nichts er- 
reicht, bedenft man gewöhnlich zur fpät; denn die bloße Thatfache, 
daß der eine Eindrud aus diefer hier, der andere aus jener dort 
gelegenen Bahn kommt, würde der Seele für ihre Raumanſchau⸗ 
ung nur etwas nügen, wenn fie entweder mit einem neuen Auge 
und einer neuen unerflärten Wahrnehmungskraft die Richtung 
beider Bahnen und die Größe des Winkels zwiſchen ihnen ſehen 








349 


fönnte, oder wenn fie im Stande wäre, aud blind dem Reize 
abzumerfen, aus welcher Gegend er komme. Das erftc kann fie 
nicht, das zweite würde fie nur können, wenn eben der Reiz in 
feinem Inhalt oder neben demfelben ein wahrnehmbares Zeichen 
feines Urſprungs an fi träge, und fo würde diefe Meinung doch 
am Ende auf die Vorſtellung von den Localzeichen zurückkommen, 
von der wir ausgingen. Hängt dagegen die Beurthetilung des 
Urfprunges der Eindrüde nicht mehr von der Richtung ihres An- 
drängens zur Seele, fondern von dem qualitativen Nebeneindruck 
ab, den fie ald Erinnerung an ihren Ausgangsort bewahrt haben, 
jo ft ed nun nicht mehr in pſychiſchem Intereffe nothwendig, daß 
in dem Zwiſchenraum zwifchen Sinnedorgan und Seele ihre rela- 
tive Rage beibehalten und jeder von ihnen in einem befondern 
Kanale zu ihr Hingeleitet werde. Wenn wir eine Bibliothet in 
einem neuen Locale in derſelben Ordnung aufzuftellen wünſchen, 
welche fie in ihrem früberen hatte, fo plagen wir uns nicht damit 
ab, auch unterwegs dieſe Ordnung feftzuhalten; wir zerftören fie 
vielmehr und fchichten einftweilen zufammen, was ohne. gegenfei= 
tige Beichädigung zur Bequemlichkeit des Transportes vereinigt 
werden Tann, und einer ganz fremben Perfon können wir es 
überlafien, in dem neuen Locale die alte Ordnung wieder herzu⸗ 
ftellen, indem fie fih nad den aufgeflebten Etiketten richtet, die 
jevem Bande feine Stelle bezeichnen. Ganz ebenfo wird bei dem 
Uebergang der Nerveneindrüde in das Bewußtſein die räumliche 
Ordnung derfelben jedenfalls zerftört und e8 ift fein Grund vor- 
handen, warum dies nicht fehon früher innerhalb der Nerven 
felbft geichehen Eönnte. Denn nur darauf fommt ed an, daß jeder 
Eindrud fo Iange von andern ifolirt gehalten wird, bis er feine 
Iocale Etikette erhalten bat; nachdem dies einmal gefchehen ift, 
bleibt für den Dienft der Seele kein Bedürfniß weiterer Son- 
derung. Sp padt man viele Briefe zufammen, und am Empfangs- 
ort läßt fih der Ort ihres Abganged aus dem aufgebriüdten 
Stempel gleich gut erkennen, welches aud die Art ihrer Befür- 
derung gewefen fein mag. Nur dann würde jenes Bebürfnif 


350 


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fortbeftehen, wenn die Natur der Nervenproceffe die gleichzeitige 
Leitung verfgiedener Eindrüde mit ihren Localzeihen nicht ohne 
wechjelfeitige Störung durch dieſelbe Faſer möglich madhte. 

Es ift möglich, daß diefer letztere Fall ftattfindet, und in der 
That deutet man auf diefe Weife ganz gewöhnlich den tfolirten 
Berlauf ver Nervenprimitivfafern, ohne Verſchmelzung mit andern 
und ohne Theilung ihres einfachen Cylinders. Aber Die Deutung 
anatomifcher Thatfachen ift zuweilen mehr eine hergebrachte Ge- 
wohnbeit al8 eine bewiejene Wahrheit. So jehr die Iſolirung 
der Fafern eine gefonderte Leitung der Eindrüde vermitteln zu 
follen ſcheint, jo finden wir fie doch auch in folden Fällen ange- 
wandt, in denen wir an biefen Zweck kaum denken fünnen. Ein 
Muskel, deffen ſämmtliche Bündel normal fich ſtets nur zugleich 
zu verkürzen beftimmt find, erhält doch ebenfalls mehrere Nerven- 
fäden, und aud fie verlaufen unverſchmolzen zum Rückenmark, 
obgleich nie ein Wall eintreten zu können ſcheint, in welchem es 
für die beabfichtigte Function förderlich wäre, daß die Erregung 
jedes einzelnen von ihnen ſich gefondert von denen der übrigen 
fortpflanzte. Der Geruchönero zerfällt, wie alle anderen Stunes- 
nerven, in cine große Anzahl feiner Fäden und dod tft er kaum 
dazu beftimmt oder fähig, eine diefer Anzahl entſprechende Biel- 
heit von Gerlichen gleichzeitig und ohne VBermifhung ihrer Eigen- 
thiimlichfeiten aufzunehmen. Ein Gleiches gilt vom Geſchmacks⸗ 
nerven, deſſen Wahrnehmungen verſchiedener Eindrüde niemals 
eine Deutlichkeit befigen, zu deren Herftellung eine Menge gefon- 
derter Leitungsmwege der Mühe werth geweſen wäre. Ich glaube 
niht, daß man aus folden Thatfachen einen anderen Schluß 
zieben kann, als diefen, daß die Anwendung der ifolirten Nerven⸗ 
fafer, deren Durchmefjer wir überall nur zwiſchen jehr engen 
Grenzen ſchwanken fehen, für den Organismus aus einem fehr 
allgemeinen Grunde nothwendig ift. Vielleicht Tann überhaupt 
jener phyſtſche Vorgang, auf welchem die Thätigfeit der Nerven 
beruht, worin er num auch beftehen möge, nur in Fäden von be= 
ftimmter Dide und beſchränktem Querſchnitt ſich entwideln. Fügen 











351 


wir dann die Bermutbung hinzu, daß die Größe diefed Vor— 
ganges innerhalb eines einzelnen dieſer cylindrifchen Elemente 
gleichfalls nur eine beſchränkte fein fan, fo witrde daraus die 
Nothwendigkeit folgen, durch eine größere Anzahl von Faſern, die 
benfelben Eindruck leiteten, die Stärke veffelben bi8 zu dem Maße 
zu erhöhen, welches feine weitere Benugung für die Zwecke des 
Lebens verlangt. Sehen wir doch diefelbe Einrichtung aud außer: 
halb des Nervenſyſtems in dem Tleifche der Muskeln, defjen Zer⸗ 
fälung in cine außerordentliche Anzahl feinfter Fäden müßig 
Ichlinen wiirde ohne die Annahme, daß aud hier Die Zuſammen⸗ 
ziehungsfähigfeit nur fo dünnen Eylindern überhaupt möglid) war, 
fo daß Die große Anzahl vereinigter Faſern die verlangte Stärke 
der mechanifchen Wirkung beftreiten mußte. Die allgemeine Ber- 
wendung der Zellenform zu dem Aufbau des Pflanzenkörpers ift 
eine ähnliche Thatfache; auch ſie dentet an, daß jene eigenthüm- 
Ihe Gattung chemiſcher Vorgänge, welche das Pflanzenleben be- 
barf, mir in diefen räumlich beichräntten Gebilden möglich ift, 
in denen eine halbfläffige Saftkugel von geringem“ Durchmeſſer 
mit ihrer ganzen Mafje innerhalb des Wirkungskreiſes der Mole- 
enlarfräfte Tiegt, welche von der feften Umhüllungshaut auf fie 
ausgeitbt werden. Doc wie dies auch fein mag: jedenfalls fün- 
nen wir die Bildung langgeftredter und unverzweigter Faſern als 
eine ſehr allgemeine Gewohnheit des organifchen Geftaltungstrie- 
bed bezeichnen. Nachdem fie aber aus irgend einem Grunde ein: 
mal in die beftändigen Berfahrungsmweifen beffelben aufgenommen 
ift, wird fie natürlich mit Vortheil auch für die Iſolirung cin- 
zelner Erregungsbahnen, wo cin befonderer Zweck eine foldye ver- 
langt, verwendet werben können, ohne deshalb doch in allen Fäl- 
len ausfchließlih nur dieſer Abficht zu dienen. 


⸗ 


Die Aufmerkſamkeit endlich, die wir ſo lange dieſer ganzen 
Frage gewidmet haben, möchte ich ausdrücklich noch gegen die Ge— 


352 


ringihägung rechtfertigen, mit welcher entgegengejegte Anfichten 
ihre Verhandlung überhaupt für überflüſſig halten. Ueberflüffig 
kann e8 uns nicht fcheinen, auf eine Neugier einzugehen, die un— 
vermeiblich doch wieder in Jedem fich einftellen wird, fo oft fie 
auch, durch hohe Worte eingefchlichtert, verftummt fein mag, und 
ohne deren klare Befriedigung die Vorftellung, welche wir über 
das Wechfelverhältnig zwiſchen Leib und Seele uns ausbilden, 
ſtets ihres natürlichften Anknüpfungspunktes beraubt haltlos im 
Leeren ſchweben wird. Nur den Inhalt unferer Antwort, nicht 
das Beftreben eine zu geben, können wir dem Tadel und Wiber- 
ſpruch überlafien. Er wird ihn reichlich und in verfchievenen 
Formen von jener Anficht ernten, welche die Scele mit gleicher 
allgegenwärtiger Wirkſamkeit Durch den ganzen Körper ausgegof- 
fen denft, an Ort und Stelle: die Eindrüde aufnehmend, wie fie 
geihehen, und die Anregungen ertheilend, die ihren Zwecken ent- 
ſprechen. Wenn indeffen die Tauglichkeit einer Borftellungsweife 
an ihrer Mebereinftimmung mit den Thatfachen der Beobachtung 
abgemeffen werden darf, jo glaube ich nicht, Daß wir den Angriff 
diefer Gegnerin zu ſcheuen haben. Bedarf fie jenes Schlußpunf- 
te8 des ganzen Nervengerwölbes nicht, welchen die Anatomie nicht 
finden konnte, fo hat fie Dagegen noch nie überzeugend nachzumei- 
fen gewußt, wozu fie überhaupt noch des Nervenſyſtems jelbft be- 
Darf, welches die Beobachtung nun einmal findet: e8 ift ihr nicht 
gelungen zu zeigen, wie diefe überall verbreitete Seele dazu komme, 
ihre einzelnen Eindrüde auf beftimmte Raumpunkte zu beziehen, 
und fi ein Bild des Körpers zu entwerfen, durch den fie ergof- 
jen ift; fie hat endlich nie den Widerſpruch der Erfahrung befei- 
tigen Fönnen,emwelcdhe und nun einmal Ichrt, daß nur nach vollen- 
deter Fortleitung zu den Centralorganen die Erregungen des Kör⸗ 
pers für das Bewußtfein, nur nach vollendeter Leitung in ent- 
gegengefegter Richtung die Antriebe der Seele für den Körper 
vorhanden find. Weit mehr im Kampf gegen die Thatfachen ber 
Beobachtung als durch fie unterſtützt, fucht dieſe Anficht nur bie 
vorgefaßte Meinung von der nothiwendigen Einheit des Körpers 








353 


und der Scele durchzufegen und im Gefühl des Werthes diefer 
höheren Auffaflung wendet fic felten andere Waffen, als die des 
Spottes, gegen die Borftellungsweife, die wir bisher vertheidigten, 
Alſo aus Leib und Seele, wird fie uns einmwerfen, foll wie aus 
zwei getrennten Beftanpftüden unfere Perſönlichkeit beftehen ? Un 
an einem einzelnen Punkte fol, wie ein menfchlicher Richter, die 
Seele auf hohem Throne figen, den Parteien und Zeugen zu- 
hörend, die ihr melden, was in ihrem Körper geſchah, und mas 
fie unmittelbar wahrzunehmen nicht im Stande mar? Man wird 
leicht fich Diefe Einreden weiter ausmalen, aber man wird zugleich 
bemerfen, daß fie felbft fchon bis hierher zu viel ausmalten; 
denn in der That zu dieſem Alfo haben wir keine Veranlaſſung 
gegeben. Natürlich nicht aus Leib und Seele laſſen wir unfere 
Perfönlichkeit zufammengefegt fein, fondern überall, wo wir in 
ftrengem Sinne des Wortes unfer wahres Wefen fuchen, find wir 
und bewußt gewefen, es ausſchließlich in ver Seele zu finden, 
und nie haben wir den Körper filr mehr, als für das vertrau= 
tefte Stüd der Außenwelt gehalten, das eine höhere Macht und 
inniger zum Eigenthum gegeben hat, als unfere eigene Arbeit 
jemals Fremdes und anzufchließen vermag. Und an jenem Sitze 
der Seele, was können wir zulegt Unpafiendes finden, wenn mir in 
aller Stille den hohen Thron und das ganze Genrebild der Ge- 
rihtöverhandlung bei Seite räumen, Zuthaten, die nur bie ges 
fällige Phantafie der Gegner uns ſchenkte? Da e8 nun doch ein= 
mal nicht fo ift, daß unfere Seele allwiffend die Ereigniffe in der 
Entfernung wahrnähme oder allmächtig in die Weite hinaus wirkte, 
was verlieren wir Doch, wenn wir diefe Thatfache aufrichtig zu- 
geben und den Umkreis der unmittelbaren Wechfelmwirkungen zwifchen 
Körper und Seele auf einen Theil der Centralorgane beſchränken? 
Wenn die Seele die leifeften Erzitterungen des Leibes durch mit- 
telbare Fortpflanzung derjelben in fih aufnimmt und mit den 
zarteften Abwechſelungen der Empfindungen und Gefühle begleitet ; 
wenn umgefehrt das Getriebe des Körpers jede flüchtige Erre: 


gung, weldhe die Seele einem feiner Punkte mittheilte, zu aus⸗ 
Loge J. 3. Aufl. 23 


354 


drudßvoller Bewegung auögeftaltet: was wermiffen wir Dann 
eigentlih? Und was wirden wir im Grunde gewonnen haben 
durch Die entgegengefeßte Ueberzeugung, daß Die Seele ſelbſt ſich 
mitfrimmt in dem gefriummten Zeigefinger, durch den wir Se: 
mand locken, oder ſich mitballt in ber ballenden Fauſt, durch die 
wir ihn hernach niederſchlagen? 


Drittes Kapitel. 
Formen der Wechſelwirkung zwiſchen Leib und Seele. 





Organ ber Seele. — Organ ber Raumanſchauung. — Körperliche Begründung ber 
Gefühle. — Höhere Intelligenz, ſittliches und äſthetiſches Urtheil. — Organ des 
Gedächtniſſes — Schlaf und Bewußtloſigkeit. — Einfluß körperlicher Zuſtände auf 
ben Vorſtellungslauf. — Centralorgan ber Bewegung. — Reflexbewegungen. — 
Ungehdte Ruckwirkungsformen. — Theilbarkeit der Seele. — Phrenologie. — 
Hemmung des Geiſtes durch die Verbindung mit dem Körper. 


Wenn man den Aufforderungen des Materialismus zu ent- 
gehen fucht, und doch die offenbare Thatfache nicht Teugnen kann, 
daß die Möglichkeit der Ausnbung geiftiger Fähigkeiten in hohem 
Grade von dem unverfehrten Zuſammenhang und dem nuuverlet- 
ten Bau des Gehirns abhängig ift: fo pflegt man gewöhnlich zu 
‚dem Ausweg zu flüchten, biefen weſentlichen Körpertheil doch nur 
als das Organ der Seele zu betrachten. Sie felbft fahre fort, 
als das Hberfinnliche einfache Wefen zu beftehen, ausgeftattet mit 
Fähigkeiten, die wir kennen gelernt haben; nur zur Ausübung 
derſelben bebürfe fie der Werkzeuge, melde die Organtfation ihr 
in dem Baue des Gehirns vorbereitet barbiete. 

Ih habe Schon öfter meine Meberzeugung ausgefprochen, daR 
unfere Kenntniß des geiftigen Lebens feine Fortfehritte machen 
wird, fo lange man glauben wird, mit einer jo fehr gedankenloſen 
Borftellung, wie e8 dieſe von den Organen der Seele ift, etwas 
geleiftet zu haben. Nicht einmal den Materialismus wird man 





355 


durd fie an Rlarheit übertreffen. Denn abgefehen von der all- 
gemeinen Unbegreiflichleit, wie es ihm überhaupt gelingen könne, 
geiftige Wirkungen an körperliche Maſſen zu fnüpfen, ift er tarin 
wenigftens Mar, daß ex das Gehirn als das Handelnde, Denken 
und Empfinden Fühlen und Wollen unmittelbar als die Leift- 
ungen dieſes Handelnden bezeihnet. Dies einfache Berhältniß 
verftehen wir; was es dagegen heißen folle, daß nicht das Gehirn 
jelbft, Tondern die Seele durch das Gehirn fihle, denke oder wolle, 
das bedarf offenbar einer Aufklärung; denn jedes ſolche Durch 
ift für einen wiſſenſchaftlich erzogenen Verftand ein Räthſel, wel: 
ches gelöft fein will, während die Schwärmerei höherer Anfich- 
ten der Dinge faft immer in der Unklarheit folder Bermittlungs- 
verhältnifie die Löſung aller Räthſel ſelbſt zu finden glaubt. Wo 
von einem Werkzeug die Rede iſt, da werden wir und immer 
fragen möäffen, durch welchen Mangel feiner eigenen Kraft ders 
jenige, der fich beffelben bedienen fol, zu feiner Benugung ger 
nöthigt wird; durch welche Vorzüge ferner dies zur Hülfe gezo— 
gene Mittel die Mängel der benugenden Kraft fo ausgleichen: 
kann, daß fie fähig wird zu einer Leiftung, welche ohne dies ihr 
nnausführbar geweſen wäre; auf welche Weile enblic der Ger 
brauchende fich des Werkzeuges zu bemächtigen und e8 fir Die 
Zwede feiner Abficht fruchtbar zu handhaben verftehen wird. 
Diefe Fragen hat man fi felten vorgelegt, und wenn wir Die große 
Menge der Organe des Vorſtellens des Denkens des Wollens 
überbliden, von denen man fo oft leihthin, freilich ohne fie 
näher zu ſchildern, geſprochen bat, fo können wir nicht zweifeln, 
daß viele unter ihnen find, welche der Seele gerade das möglich) 
machen follen, wozu fie feiner fremden Hülfe bedarf, viele ferner, 
die das gar nicht leiſten könnten, wozu man fie beruft, manche 
endlich, von denen man nicht begriffe, wie ihre an ſich viel- 
leiht nüglide Einrichtung jemals zur Berfügung der Seele ges 
bracht werden Könnte. 

Die geringere Sorgfalt, welche man bisher auf bie Ber: 


deutlihung deſſen vermandt hat, was man eigentlich von dem 
23% 


356 


Körper für die Aufgaben der Secle an Unterftüägung und Hülfe- 
Yeiftung zu erwarten und, zu verlangen berechtigt ift, hat ber - 
richtigen Deutung der Centralorgane immer als eine befondere 
Schwierigkeit entgegengeftanden. Und wir werden nicht im Stande - 
fein, dieſe Hinderniffe einer gedeihlichen Unterfuhung ſchnell hin- 
wegzuräumen. Denn wie leiht wir auch Einiges ausjcheiden 
fönnen, was wir nur als eingeborene Thätigfeit der Seele be- 
trachten durfen und wofür nad) einem Organ zu fuchen thöricht 
fein würde, fo können wir nur felten den ganzen Umfang der 
Heinen Beihülfen überjehen, die einer Fähigkeit doch nöthig find, 
um ihre Ausübung in Uebereinftimmung mit der äußeren Welt 
zu lenken, von welcher die Seele nur durd die Vermittlung 
Lörperlicher Werkzeuge Kunde hat. So kann es mittelbar doch 
leiblihe Organe geben für Verrichtungen, die ihrem wefentlichen 
Charakter nad aller körperlichen Unterftügung unfähig und unbe- 
bürftig find. Nur wenig werden wir daher im Stande fein, aus 
unferer Kenntniß des geiftigen Lebens heraus im Voraus die 
Werkzeuge vollftändig zu beftimmen, welde die Organifation zu 
feinem Dienfte ftelen muß. Aber nachdem fo oft von den ver- 
fchiedenften Seiten her die mannigfadften Anläufe zur Erflärung 
de8 vorhandenen Baues gemacht worden find, veizt uns Doch 
dieſer Verſuch, nicht fo fehr um der Aufichläffe willen, die mir 
von ihm über die Beitimmung der einzelnen Gehirntbeile zu er- 
halten hofften, als um der Beranlaffung willen, die er ung 
gibt, die äußerſt mannigfahen Bormen des wechfelfeitigen Ein- 
fluſſes zwiſchen Körper und Seele zu durchmuſtern. 


Ih habe kaum nöthig, von dem Anfange des geiftigen Le— 
bens, von der Empfindung, noch einmal ausführlicher zu ſprechen. 
Nichts ſcheint der Körper für fie leiften zu können, als daß er 
die äußeren Eindrüde aufnimmt und fie in einer fir die Teichte 
und genaue Yortleitung günftigen Form dem Wirkungskreife der 











357 


Seele räumlich nähert. Welches auch die phyſiſchen Vorgänge 
fein mögen, welche die Sinnesnerven durchkreiſen: ihre Umfegung 
in die Empfindungen der Farbe, des Tones oder des Geruches 
kann nie dur ein neues zwiſchen fie und die Seele eingefcho- 
bene8 Organ erleichtert werden. Denn alle Arbeit eines folchen 
würde doch immer nur die eine Form nervöſer Erregung in eine 
andere verwandeln können, aber niemald die Kluft verfleinern, 
die zwiſchen allen phyſiſchen Bewegungen als folden und ven 
Empfindungen jelbft als Zuftänden des Bewußtfeins beftehen 
‚bliebe. Und eben fo wenig werben alle jene Aeußerungen bes 
beziehenden Wiſſens, welche fih-auf eine Vergleichung der gege- 
benen Empfindungsinhalte beſchränken, einer körperlichen Unter: 
ftügung bebürftig oder fähig fein. Um die größere oder geringere, 
Berwandtichaft zweier Farben oder Töne, oder die Unterfchiebe in 
der Stärfe der Eindrüde zu beurtheilen, bebarf das Bemußtfein 
Nichts, als diefe Elemente felbft, die e8 vergleichen fol, und außer 
ihnen nur jene Fähigkeit des beziehenden Uebergehens, die mir 
unter allen Leiftungen des geiftigen Lebens am wenigſten auf 
phyſiſche Wirkungen zurüdführbar gefunden haben. So lange 
daher nicht andere Aufgaben binzutreten, würden wir feine Ver- 
anlafjung haben, ein Centralorgan der Sinnlichkeit zu erwarten, 
von deflen vorgängiger Verarbeitung der Eindrüde die Seele in 
ihrer eigenen Verwerthung derfelben abhängig wäre; nur zulei= 
tender Kanäle würde fie bedürfen, welche die einzelnen Reize ihr 
zuführen und fie befähigen, ihre Empfindungen in einer Reihen— 
folge zu entwideln, welche den Abwechſelungen in dem Thatbe— 
ftande der Außenwelt entſpricht. Mber zwei andere Aufgaben 
laſſen fih neben dieſer einfacheren unterfcheiden: die räumliche 
Anordnung der Sinneseindrüde in unferer Anſchauung, und die 
Wahrnehmung der Gefühlswerthe, welche theild den einzelnen, 
theils beftimmten Verbindungen mehrerer von ihnen zulommen, 
Für beide Leiftungen bedarf die Seele körperlicher Beihülfe. 
Wir haben gejehen, auf welche Vorausfegung die Möglich- 
feit einer räumlichen Anſchauung mit Nothwendigfeit zurückführt: 


358 


jedem einzelnen Eindrude, jedem Farbenpunkt der Reghaut, jenem 
Berührungsgefüihle der Haut mußte ein eigenthümlicher Reben: 
eindrud hinzugefügt werben, welder, ohne den Inhalt dieſer Em- 
pfindung zu ändern, nur als Localzeihen die Stelle ihres Ur: 
fprunges bezeugt. Diefer nothiwendigen Forderung fügen wir 
jest eine Bermuthung über die Form Hinzu, in welder wir 
glauben, daß fie wenigſtens fiir den Gefichtöfiun erfüllt ſei. Nur 
eine ſehr Feine Stelle in der Mitte der Neghaut gewährt und 
vollfommen ſcharfe Wahrnehmungen; undeutlich erſcheinen alle 
Gegenftände, deren Bilder neben dieſer Stelle auf die feitlihen 
Gegenden der Neghaut fallen. - Allein jeder ftärfere Eindrud, 
welcher einen von diefen minder bevorzugten Orten trifft, erwedt 
unwillkührlich eine Bewegung ded Auges, durch welche wir ihm 
unfern vollen Blid zuwenden, und fo das Bild, welches cr er- 
zeugte, auf jene Stelle des deutlichften Sehens überführen. Aber 
nach feiner befonderen Lage wird jeder dieſer feitlichen Punkte der 
Netzhaut eine ihm allein eigenthümliche Größe und Richtung ber 
Bewegung des Auges erfordern, damit den Strahlen, die früher 
auf ihm ſich zu eimem umdentlicheren Bilde vereinigten, diefe 
Stelle der deutlichften Wahrnehmung als auffangende Fläche un— 
tergefhoben werde. Die Erfüllung diefer Forderung fegt voraus, 
daß jede der einzelnen Faſern, deren Enden in der Netzhaut die 
Lichteindräde aufnehmen, in einer ihr allein eigenthiimlichen Art 
und Größe ihre Erregungen auf Die verichtedenen motorischen 
Nervenfäden übertragen fünne, von deren mannigfach abgeftuften 
Zufammenwirken die Weite und Richtung der Augenbewegungen 
abhängen. 

Geftatten wir und nun die Vermuthung, daß eine folde 
Wechſelwirkung zwiſchen den reizaufnehmenden und den bewegung: 
erzeugenden Nerven der Augen fir die Begründung ver Raum: 
anſchauungen benußt fei, fo würde die vielfache und reichgeglie- 
derte Verflechtung ber Fäden beider Gattungen, mie wir fie fir 
diefen Zweck vorausfegen müßten, uns ganz das Bild eined eigen- 
thumlichen Gentralorgans der räumlihen Anſchauung 











359 


gewähren. Jede einzelne gereizte Stelle der Netzhaut würde dann 
vermöge der befonderen Art, in welcher die von ihr entfpringende 
Faſer mit den motorischen Fäden verbunden ift, einen ihr aus: 
Ihließlih zugehörigen Bewegungsantrieb in diefem Organe erzeu⸗ 
gen, von welchem die Seele auch dann, wenn ihm Feine wirflide 
Bewegung des Auges nachfolgt, einen irgendwie geftalteten Ein= 
brud erfahren Tann. Diefer Eindrud endlich, der nicht nothwen⸗ 
dig felbft ein vom Berwußtfein wahrgenommener Vorgang zu fein 
braucht, fordern zu jenen unbewußten Zuftänden gehören kann, 
deren Einfluß auf die Seele dennoch groß ift: Diefer Eindruck 
würde das Localzeichen fein, nad deſſen Anleitung die Seele dem 
Farbenpunkte, mit welchem er verbunken ift, feine Lage zu allen 
übrigen, mithin feine fefte Stelle in dein Raume ihrer Anfgauung 
zumeift. Wir müffen e8 den ausführlichen Unterfuhungen ber 
medieiniſchen Pſychologie überlaſſen, theild die zahlreichen Schwies 
rigleiten hinwegzuräumen, die im Einzelnen diefer veriwidelte Zu: 
ſammenhang darbietet, theil® nachzuweiſen, daß in der That ein 
Syſtem ſolcher Bewegungsantriebe alle jene Feinheit und Viel—⸗ 
ſeitigleit der Abſtuſung und der Verwandtſchaft zwiſchen den ein: 
zelnen Localzeichen darbieten würde, wie ſie die Schärfe unſerer 
räumlichen Geſichtswahrnehmungen vorausſetzt. Unſere Abſicht 
konnte hier nur die ſein, an dem Beiſpiele dieſer Anſicht, deren 
Inhalt bei aller Wahrſcheinlichkeit, welche er für uns beſitzt, doch 
nicht Thatſache, ſondern Vermuthung iſt, ein Bild der Vorſtellung 
zu geben, die wir uns auf dieſe oder andere Weiſe im Wejent- 
lichen immer ähnlich von der Begründung unferer räumlichen An- 
fhauung werden machen müſſen. Welche andere Vorſtellungsweiſe 
man auch immer im Einzelnen zulegt vorziehen möchte, man wird 
nicht von der Nothwendigkeit ablommen, für dieſe Leiftung unferer 
gerftigen Thätigfeit ein vorarbeitendes Centralorgan anzunehmen, 
und wir tragen fein Bedenken zuzugeftchen, daß wir einen be- 
trächtlichen Maffenantheil des Gehirns allein für dieſen Zweck 

beftimmt glauben. 


360 


Die Gefühle der Luft und Unluft, welche theils die 
einzelnen Empfindungen begleiten, theil8 aus der vergleichenden 
Aufammenfaffung mehrerer entftehen, fehen wir zu auffällig nad 
dem Stande des körperlichen Befindens ſchwanken, al8 daß wir 
ihren Urfprung ganz allein in der werthempfindenden Thätigfeit 
der Seele fuchen möchten. In fehr vielen Fällen allerdings än- 
dern krankhafte Verftimmungen nicht nur das Gefühl, fondern 
auch den Inhalt der Empfindung, an die es ſich knüpft; es ift 
nicht derſelbe Geſchmack, den der Kranke widrig und der Gefunde 
angenehm findet; und in folden Fällen fönnten wir vermuthen, 
daß die Seele über den Eindrud, den ihr der Sinneönero wir 
Tich zuführt, immer nad denfelben Gefegen ihrer eigenen Natur 
urtheilt, ohne dazu noch der maßgebenden Dazwiſchenkunft eines 
förperlihen Organs zu bedürfen. Aber häufig bleibt doch aud 
der Inhalt der Wahrnehmung unverändert und doch wechfelt die 
Größe und Art des Gefühles, welche er erweckt. Gewiß wird 
nun auch hier oft die Lehhaftigfeit der Theilnahme, die wir ihm 
zumenden, durch den allgemeinen Charakter der eben vorhandenen 
Gemüthäftimmung, die aus rein geiftigen Anläffen entftanden fein 
kann, bald erhöht, bald herabgefegt, und zu denfelben Harmonien 
der Töne, zu denfelben Zufammenftellungen der Farben fühlen wir 
und mwahrfcheinlih nur aus ſolchen Gründen bald mehr bald we: 
niger wahlverwandt geftimmt. Dennoch bleibt ſowohl in Bezug: 
auf die Stärke als auf die Färbung unferer Gefühle eine Ber- 
änderlichfeit unferes Ergriffenwerdens übrig, welche wir mit Wahr: 
jcheinfickeit nur davon ableiten innen, daß die Uebereinftimmung 
oder der Widerftreit, in welchem fi die Erregungen der Nerven 
mit den Bedingungen unferes Lebens befinden, erft an einer be: 
fonderen Nachwirkung gemeffen wird, welche nicht immer der wirt: 
ih erlittenen Störung oder Förderung richtig entſprechend erfolgt. 

Nach der Einathmung von Aether oder Chloroform erlifät 
nicht immer mit dem Gefühl zugleich das Bewußtſein; es ift im 
Anfange den Betäubten zuweilen möglich, mit ziemlicher Genauig: 
feit die einzelnen Vorgänge einer chirurgiſchen Operation wahr: 


361 


zunehmen, welcher fie unterworfen werben; aber ſie fühlen den 
Schmerz derfelben nit. Auch in anderen Berftimmungen des 
Nervenſyſtems fühlen wir und zuweilen von ber eigenthiimlichen 
Affectloftgkeit unferer, Eindrüde beängftigt, die mit aller Deut- 
Tichfeit aufgefaßt uns doch kaum als unfere eigenen Zuftände er- 
feinen; fo wenig find fie von dem Gefühle des Ergriffenfeing 
begleitet, welches im gefunden Leben jede unferer Empfindungen 
in angemeffenem Grade mit fich führt. Hier fcheint es nun, als 
wenn zwar die Leitung der äußeren Reize bis zu jenem Punkte 
ununterbrochen wäre, wo fie durch Wechſelwirkung mit der Seele 
in bewußte gleichgültige Wahrnehmungen umgefegt werden, aber 
als wenn zugleich ihre Fortpflanzung bis zu einem anderen Punkte 
gehemint wäre, an welchen anichlagend fle jene eigenthlimliche Re⸗ 
fonanz erweden müßten, deren Rückwirkung in der Eeele erft das 
begleitende Gefühl erwedt. Die genauere Unterfuhung. würde 
jedoch nad) den Thatfachen, welche dic Erfahrung bisher kennen 
gelehrt hat, die Frage nicht völlig entfcheiden fünnen, ob wir in 
der That in diefem Sinne ein eigenthiimliches Centralorgan des 
Gefühles anzunehmen haben, oder ob nicht eine andere Form 
förperlicher Mitwirkung die vorkommenden Erſcheinungen ebenfalls 
erflären würde. 

Aber nicht ohne Intereffe würde eine Nachforſchung nad) den 
Grenzen fein, innerhalb welcher iiberhaupt die Gefühle diefer Mit- 
wirkung bedirfen. Beruht das Wohlgefallen an den confonirenden 
Accorden der Töne auf einer Vergleihung der entitandenen Ton- 
empfindungen allein, fo daß die Seele felbft, jeves Körpers 
entledigt, noch fortfahren würde, diefelben Accorde ſchön zu finden, 
falls es möglich wäre, ihr die erneuerte Empfindung derſelben 
zu verihaffen? Ober fühlt die Secle in diefem Wohlgefallen 
nur die günftige Nebenwirkung, welche gerade diefe Verbindung 
von Tönen auf einen anderen Theil ihrer leiblichen Organijation 
ausübt, fo daß ihr Genuß nur von einem nebenherlaufenden 
Nutzen, nicht von den eigenen inneren Verwandtſchaften diejer Ton⸗ 
gruppe herrührte und mithin unmöglid würde, wenn mit ber 





362 


förperlichen Grundlage aud die Möglichkeit, ihr wohlzuthun, hin⸗ 
wegfiele? Diefe Fragen find unlösbar für jest und ftatt ihrer 
Beantwortung, deren Werth für Die Auffaffung des ganzen gei= 
ftigen Lebens fchon dieſes eine Beifptel hinlänglich erkennen läßt, 
müſſen mir uns vorläufig mit der Ueberzeugung begnügen, daß 
die Lebhaftigfeit und Wärme unferer Gefühle und Damit Die ganze 
Geſtaltung unferer Gemüthswelt von dem Einflufje der leiblichen 
Organtfation jedenfalls in hohem Grade abhängig if. 


Durch die genaue Ucherlieferung der äußeren Einprüde, durch 
die Lebhaftigkeit der Gefühle, welche ſich an jede einzelne Empfin- 
dung und an ihre Verbindungen mit andern knüpfen, durch alle 
diefe Leiſtungen arbeiten die körperlichen Organe auch jenen höhe— 
ven Thätigfeiten des Geiftes vor, durch meldhe feine verftändige 
und vernünftige Erfenntniß das Ganze einer geordneten Welt- 
auffaffung bermorbringt. Aber in diefer Vorbereitung des Ma- 
terials, an welchem die Seele die Kräfte ihres beziehenden Wiſ— 
fend ausüben fol, fcheint auch der einzige Beitrag zu befteben, 
den die Verrihtungen des Körpers für diefe höheren Aufgaben 
des Seelenlebens darbieten können; ihre Löſung felbft wirb der 
eigenen Thätigkeit des Geiftes überlaſſen bleiben. Spricht man 
von Organen des VBerftandes oder der Bernunft, von 
Werkzeugen des Denkens und der Beurtheilung, fo geftehen wir, 
weder von dem Bedürfniß, welches zu folden Annahmen führen 
fönnte, noch von der Art des Nutzens eine Ahnung zu haben, 
welchen das Borhandenfein aller diefer Inftrumentation für das 
höhere geiftige Leben gewähren könnte. Keine jener beziehenden 
Thätigleiten, aus deren unerſchöpflich mannigfacher Wiederholung 
alle unfere Erkenntniß hervorgeht, wird im Mindeften durch die 
Mitwirkung einer körperlichen Kraft befürbert werben können; 
aber die Möglichlett einer jeden wird davon abhängen, daß ihr 
bie Beziehungspunkte, welche fie vergleichen foll, das Material 


363 


ihrer Arbeit durch die Sinne und folglich durch die Beihülfe der 
förperlihen Verrichtungen paſſend und richtig dargeboten werde. 
So hängt die Blüthe des geiftigen Lebens, was nie geleugnet 
worden tft, Durch taufend Wurzeln mittelbar mit dem Boden des 
leiblichen Dafeins zufommen; aber außer der allgemeinen Nab: 
rung, welche er barbietet, treibt der Boden nicht noch ein bes 
fondere8 Organ in bie Höhe, deflen die Pflanze ſich bedienen 
müßte, um zu blühen. 

Wenden wir und ferner zu der fittlihen Beurtheilung 
von Handlungen, fo können wir zugeben, daß auch fie mittelbar 
ſehr gewichtig mit beftimmt wird durch die Genmtigfeit, mit wel- 
her unfere finnlihe Auffaffung einen Thatbeftand darftellt, und 
durch die Lebhaftigfeit, mit welcher nach der beftändigen ober 
augenblidlihen Stimmung unferes Förperlichen Befinden fich theils 
andere Borftellungen umfichtiger oder verworrener an diefen That- 
beftand anknüpfen, theil® Gefühle feinen Werth meſſend fidh ent- 
wideln. Aber dennoch wird Feine Erregung eines körperlichen 
Organes der Seele in dem weſentlichſten Punkte, in der Fällung 
des moralifchen Urtheiles ſelbſt beiftehen fünnen; die Meithülfe der 
Nerven wird ftet8 nur den angenehmen oder unangenehmen Ge- 
fühlswerth der betrachteten Handlung für das perjönliche Leben 
des Beurtheilenden, aber niemals die von aller perſönlichen Luft 
“und Unluft entblößte Beurtheilung ihrer fittlihen Güte ober 
Schlecdhtigfeit begründen können. Wie wenig wir deshalb auch leug⸗ 
nen können, daß in nur zu hohem Maße jene Einwirkungen der 
förperlichen Thätigfeiten in Wirklichkeit unfer moraliſches Urtheil 
Venfen und verbüftern, fo haben wir doch nirgend Grund, diefem 
zu feiner eigenthümlichen Leiftung die gefährliche Hülfe eines eigenen 
leiblichen Organs aufzubringen. Und ebenfo mag ein großer 
heil des Eindrudes, den uns ſchöne Gegenftände erweren, auf 
einer gefälligen und übereinftimmenden Erregung unferer Nerven 
beruhen. Aber wer in dem äſthetiſchen Gefühle neben dem ge- 
wiß nicht fehlenden Antheil perfönlichen Woblgefühles noch eine 
unabhängige Verehrung und Werthſchätzung des Schönen ſieht, 


364 


wird nun aud dieſes Mehr einzig der Secle zurehnen müſſen. 
Der Schauer der Erhabenheit, das Lachen über komiſche Vorfälle, 
‚ fie werben beide gewiß nicht durch cine Uebertragung der phnft- 
hen Erregungen unferer Augen an die Nerven der Haut ober 
des Zwerchfelles erzeugt, fondern dadurch, daß der Inhalt des 
GSefehenen in eine Welt der Gedanken aufgenommen und in dem 
Werthe erkannt wird, den er in dem vernünftigen Zuſammen⸗ 
hange der Tinge hat. An die geiftige Stimmung, die hieraus 
fi entwidelt, bat der Mechanismus unfered Lebens jenen für: 
perlihen Ausdruck gefnüpft, aber der Körperliche Eindrud würde 
für fi ohne jenes Verſtändniß deffen, was er darbietet, niemals 
diefe Stimmung erzeugen. Wie groß daher aud und wie viel- 
geftaltig die Mitwirkung der körperlichen Sunctionen für das 
höhere Geiftesleben fein mag, fo befteht fie doch gewiß nicht darin, 
baß diefem beſondere Werkzeuge für Das Eigenthümlichfte feiner 
Leiftungen zugeordnet wären, jondern nur darin, daß zur Ber: 
wirflihung mander mittelbar nothwendigen Vorbedingungen die: 
fer Leiftungen die ungeſchmälerte Thätigkeit vielfacher vorbereiten: 
der Organe erforderlich iſt. 


Zu diefen Borbedingungen gehört nicht nur die Zuleitung 
augenblidlich einwirkender Einbrüde, fondern auch die Fefthaltung 
vergangener, ihr Wiedererfcheinen im Bewußtſein, jener ganze be: 
wegliche Ablauf der Borftelungen, durch deſſen Zuſammenhang 
unſer Leben Einheit, unſere Handlungen beſtändige Ziele errei⸗ 
chen. Haben wir eben die höheren Thätigkeiten des Geiſtes un⸗ 
abhängig von dem Körper zu faſſen geſucht, fo würden fie in eine 
gleich tiefe Abhängigkeit zurüdfallen, wenn die Erhaltung dieſer 
Grundlage, aus welcher fic auftauchen, den phyſiſchen Gegenwir⸗ 
fungen des Organismus überlafien wäre. Je nachdem das Or: 
gan des Gedächtniſſes mehr oder weniger treu und dauer 
haft den Gewinn des früheren Lebens fefthielte, je gelentiger und 


365 


elaftifcher die neroöfen Erzitterungen verliefen, durch welche die im 
Gehirn erhaltenen Nachbilder vergangener Eindrüde einander 
wechfelfeitig beleben: um fo reiner und reicher oder um fo mehr 
verbüftert und eng würde in jedem Augenblid. unfer Bemußtfein 
von dem Zuſammenhang unferes Lebens, unferer Pflichten und 
Hoffnungen fein. Oder vielmehr fein folder Zufammenhang 
würde überhaupt ftattfinden, fondern vereinzelt witrde in jedem 
Augenblid die Seele die Borftellung, das Gefühl oder die Stre' 
bung entfalten, welche ihr die eben wieder erwachende fürperliche 
Anregung geböte; ohne die eigene Fähigkeit, auch in ihrem In— 
nern jelbft das Vergangene zu dem Gegenmwärtigen aufbemwahrend 
berüberzuzieben, Könnte fie jelbft durch den Kleinften Zeitraum 
hindurch die Stetigkeit eines einzigen Gedankens nicht erzeugen, 
deſſen ganzer Sinn erft durch die Aufeinanderfolge mehrerer Bor: 
ftelungen volftändig würde. In der That nun hängt ohne 
Zweifel auch unfer VBorftellungslauf mittelbar in großer Ausbeh- 
nung von der beftändigen Einwirkung der Körperlihen Vorgänge 
ab; der Annahme eines befonderen Gedächtnißorganes jedoch, auch 
wenn es nur als unterftügendes Hilfsmittel für die eigene - Er- 
innerungsfähigfeit der Seele gelten follte, ftehen größere Schwie- 
rigkeiten entgegen, als man gemeinhin anzunehmen pflegt. Dem 
Einwurf, daß die Maffe des Gehirns, ohnehin nicht beftändig, 
fondern einer langſamen Erneuerung gewiß unterworfen, nicht 
ohne Verwirrung die eingeprägten Nachbilver unzähliger Eindrücke 
zu fpäterem Wiedergebraud aufbewahren könne, begegnet man zwar 
Iheinbar, aber doch nicht triftig mit dem Hinweis auf die un— 
zähligen MWellenbewegungen der Töne und der farbigen Lichter, 
die ohne gegenfeitige Störung benfelben Luftraum gleichzeitig 
durchkreuzen können. 

Wenn unſer Blick eine kurze Zeit unverwandt auf die Some 
gerichtet war, dann bleibt von ihr uns ein ſcharf umſchriebenes 
kreisförmiges Nachbild auch bei geſchloſſenem Auge zurück; denn 
während der ganzen kurzen Dauer jenes Blickes wurden dieſelben 
nebeneinanderliegenden Punkte der Netzhaut von den Strahlen 


366 


getroffen; in demfelben Kreife aneinanderftoßender Nervenfafern 
zittert die Nachwirkung fort, und fo erhält uns die gegenfeitige 
Lage der gereizten Theile die runde Geftalt und die Größe des 
Bildes. Sehen wir dagegen die Geftalt eines Menjchen auf uns 
zulommen, fo dehnt mit jedem Schritte ihrer Annäherung ihr 
Bild auf unferer Netzhaut fi vergrößernd aus; faum ein ein- 
ziger Punkt der ganzen Geftalt bildet fl im nächſten Augenblid 
auf derfelben Stelle des Auges ab, auf welcher e8 im vorigen 
geſchah; nicht ein einziges Nachbild, ſondern unzählige von einander 
verfchiebene würden und zurädbleiben, wenn in der That unfere 
Nervenorgane jeden Eindrud eines Augenblides in dauernden 
Spuren firirten. Und nichts würden wir gewinnen, wenn wir 
meinten, daß erft eine größere Anzahl diefer momentanen Er— 
regungen fih zu einem beftändigen bleibenden Nachbilde zufam- 
menfegten; denn welches deutliche Bild Könnte aus einer Anhäu⸗ 
fung vieler entftehen, Die unter einander zwar in ihren Zügen 
ähnlich, in ihrer Größe aber fo verſchieden wären, daß jedes mit 
feinen Rändern über Das andere hervorragte und alle mithin ein- 
ander mit ungleichartigen Punkten ihrer Zeichnung deckten? Bes 
obachten wir, wie ganz unter benjelben Berbältnifien Die verfchie= 
denen fih in einander ſchiebenden Farbenfpectra des Prisma zu 
eintönigem Grau verfchmelzen, fo werden wir gewiß nicht annch- 
men Finnen, daß die Wahrnehmungen des Auges auf diefem 
Wege bleibende Eindrüde erzeugen, die den Nachbildern ähnlich 
Form und Farbe gejehener Geftalten aufbemahren. Und doch 
haben wir bisher dieſe Geftalten noch als unveränderlidh in ihren 
Umriffen vorausgeſetzt. Aber wir ſehen denfelben Menſchen viel- 
leicht in taufend verſchiedenen Stellungen und Bewegungen feiner 
Glieder; welches von al den unzähligen Bildern, die er fo in 
unjer Auge warf, tft dasjenige, welches das Gehirn fefthalten 
wird? Oder follen wir annehmen, daß fe alle aufbewahrt wer: 
den? Und wenn wir uns vielleicht auch dazu entfchlöffen, um 
welchen Preis witrben wir zulett dieſe körperliche Verfeftigung ber 
Eindräde erfauft haben? Doc wohl nur um den Preis ber Ans 





367 


nahme, daß bei ber Kleinheit des Gehirns, welche nicht geftattet, 
für jedes dieſer zahllofen Bilder ein eigenes Maſſentheilchen vor- 
anszuſetzen, dem es inwohne, jedes einzelne einfache Atom eine 
unendlide Menge verſchiedener Eindräde ohne gegenfeitige Stö- 
rung derfelben müſſe in ſich beherbergen fünnen. Daſſelbe Atom 
welches in dem Bilde eines Baumes einen grünen Punkt vertritt, 
würde in bem einer Blume einen vothen, in dem bes Himmels 
einen blauen, in dem jever einzelnen Menfchengeftalt wieder 
einen anders gefärbten vertreten; und ohne zu wiſſen, wie es 
zugehen ſollte, müßten wir ferner vorausfegen, daß bie Wieberer: 
wedung eines einzelnen von diefen Einbrüden in dem einen bie- 
fer Atome ftet8 in dem amdern Atom auch nur den beftunmten 
andern Eindrud weckte, der mit dem vorigen felber zu der Ein- 
beit eine8 zufammengehörigen Bildes ftimmt. 

Eine ſolche Vorſtellungsweiſe würde nur vervielfältigt Dies 
ſelbe Annahme enthalten, melde wir ein Mal machen. Wenn 
jedes einzelne Atom der Gehirnmaſſe zur umverworrenen Aufbe- 
wahrung unzähliger Einvrüde fähig ift, warum follte Die Secle 
allein, ein einfaches Wefen gleich jenem, Dazu unfähig fein? Wa- 
rum follte fie allein das Vermögen des Gedächtniſſes und ber 
Erinnerung nit an ſich felbft, nicht ohne die Unterftügung eines 
korperlichen Organs befigen können, da wir body jedem Theile 
dieſes vorausgeſetzten Organs daffelbe Vermögen unmittelbar und 
ohne die Zwiſchenſchiebung eines neuen Werkzeuges zuerfennen 
müffen? In der That aber müffen wir vielmehr behaupten, daß 
nur der ungetheilten Einheit der Seele, nicht einer Mehrheit zu- 
ſammenwirkender Gehirntheilchen die Aufbewahrung und Wie- 
derbringung der Eindrücke möglich if. Denn felbft die Bilder 
ſtunlicher Wahrnehmungen, welche unferem Gedächtniß zurlidhlei- 
ben, find wicht im eigentlihen Sinne Bilder, nicht Zeichnungen 
von unveränberliher Größe, Zahl und Stellung ihrer einzelnen 
Theile; nur das allgemeine Schema vielmehr, die Methode ber 
Berzeihnung, den Sinn des inneren Zuſammenhanges mannig- 
faltiger Merkmale Hält unſere Seele feft und erzeugt daraus in 


368 


den einzelnen Augenbliden der Erinnerung die beftunmten Bilder 
wieder, und nicht immer das Bild einer ſolcher Stellung, Lage 
oder Bewegung der Geftalt, welche fie früher ſchon wahrnahm, 
und von der ein verfeftigter Eindruck ihr zurlidgeblieben fein 
inte, fondern der Erfahrung vorgreifend bringt fie mit gleicher 


Deutlichkeit befannte Figuren in nie beobachteten Berjchiebungen . 


ihrer Umrifje zur Anſchauung. Aber dieſe Aufbewahrung nicht 
ſowohl der mannigfachen Beftandtbeile felbft, als vielmehr der 
Kegel, nach der fie zufammengefegt find, ift eine Handlung des 
bezichenden Wiſſens, eine Leiftung der Scele; jede Annahme 
eines Gedächtniforgand würde nur dahin führen, außer demje- 
nigen Gedächtniß, welches wir unferer Seele felbft dann noch 
würden zufchreiben müſſen, aud die einzelnen Gebirnatome als 
Seelen zu betrachten, deren Erinnerungskraft die unfere unterftüßte. 
Und in diefer ganzen Betrachtung baben wir noch völlig abge: 
ſehen von jenen mittelbar erzeugten allgemeineren Borftellungen un- 
jere8 Denkens, die nicht Bilder eines Gegenftandes, fondern Aus- 
drüde innerer Beziehungen find; der Verſuch, aud ihre Feſthal⸗ 
tung auf körperliche Nachbilder zurüdzuführen, würde nur die 
Nothwendigkeit beftätigen, das Gedächtniß zu den urfprünglichften 
Leiftungen der eigenen Natur der Seele zu zählen. 

Aber bemeifen nicht zahlreiche und ganz alltägliche Erfah— 
rungen, daß diefe Heberlegung, welche ans dem Begriffe des Bor- 
ftellens und Erinnernd die Unmöglichkeit feiner leiblichen Begrün- 
dung zu erweiſen fuchte, dennoch zu einem falſchen Ergebniß ge= 
fommen iſt? Sind nicht für diefe Begründung Beweiſes genug 
der gewöhnliche Schlaf, die Bewußtloſigkeit und die zahlreichen 
Störungen der Erinnerung in Krankheiten? Zeigen diefe Erſchei— 
nungen nicht alle, daß jene Leiftungen des geiftigen Lebens nur 
fo lange ausführbar find, als die körperliche Gefundheit ihre 
Werkzeuge unverfehrt erhält? So überrevend jedoch dieſe Folge 
rung fih ausnimmt, fo ift fie dennoch willkührlich und hat eine 
andere Deutung der Thatſachen gegen fi. 

Wenn in einem vielfach zufammengefegten Syſteme von 











369 


Elementen die Störung des einen Theiles eine beftimmte Ver— 
rihtung aufhebt, jo kann e8 fein, daß dieſe Verrichtung auf die- 
jem Theile als auf ihrem einzigen bewirfenden Grunde berubte, 
und nun wegfällt, weil da8 hinwegfiel, wovon fie erzeugt wurde; 
doch ift ebenjo Möglich, daß fie in ihrer Erzeugung gar nicht abe 
. Hängig war von dem geftörten Theil, durch die Störung deffelben aber . 
wie Durch ein pofitive8 Hemmniß verhindert wird. Die legte Deu: 
tung hier vorzuziehen, werben wir allerding® zunächft durch unfere 
Anfiht von der Natur des Bewußtſeins überhaupt geneigt ge- 
macht; denn völlig unbegreiflich ſchiene e8 doch, wie ein körperliches 
Drgan ed anfangen follte, der Seele die Fähigkeit des Bewußt⸗ 
ſeins mitzutheilen, wenn fie Diefelbe nicht in ihrer eigenen Natur 
befäße. Aber aud die Thatfachen der Beobachtung ſprechen zum 
Theil deutlich für unfere Auffoffung, und nirgends entſchieden 
gegen fie. Den gemöhnlihen Schlaf von einer Erfhöpfung der 
Gentralorgane abzuleiten, die zur weiteren Erzeugung ded Be: 
wußtſeins unfähig geworden wären, tft im höchſten Grade un— 
wahrfcheinlich für Jeden, der ſich erinnert, wie raſch in gefunden 
Körpern, und wo die Gewöhnung daran vorhanden ift, der Schlum- 
mer unmittelbar auf den lebhafteften Gebrauch aller geiftigen Fä— 
higkeiten folgen Tann, und wie wenig, wenn er zufällig unter- 
brochen wird, dieſe oder die ihnen zu Grunde gelegte Kraft der 
Centralorgane fich wirklich erichöpft zeigt. Viel überredender ftel- 
Ien fi die allmählich wachſenden Gefühle der Ermüdung als 
Reize dar, die durch ihre abfpannende Unluft die Freude und 
Theilnahme an der Fortführung des Gedanfenganges ſchmälern; 
und eben fo gibt der fchlaftrunten Erwachende kaum jo fehr das 
Bild eines Erſchöpften, deſſen Kräfte ſich wieder fammeln, ald den 
eines Gebundenen, von dem Hemmungen allmählich fih löſen. Brin⸗ 
gen fehr heftige Koörperſchmerzen plögliche Bewußtloſigkeit hervor, 
jo mag man in biefem Falle wohl an eine fehnelle Lähmung 
eines Organs glauben, auf welcher der Wegfall feiner Leiftung, 
des Bemußtjeins, beruhe; entfteht dieſelbe Ohnmacht aus einer 


NUeberraſchung des Gemüthes durch traurige Sreigniffe ‚jo weiß 
Lotze I. 3. Aufl. 


370 


ih nit, warum nicht unmittelbar dieſer innere Aufruhr der 
Seele als ein Hinderniß gelten fol, welches ihr die Fortfegung 
des Bewußtſeins augenblidlih unmöglich macht und zugleich bie 
gewohnte Folgſamkeit der körperlichen Thätigfeiten gegen ihre Herr- 
Ichaft mit aufhebt. Können wir nun bier den geiftigen Schmerz 
als den hemmenden Reiz anfehen, welcher die ſtets vorhandene 
Tähigfeit des Bewußtſeins an ihrer Aeußerung hindert, warum 
fol nicht in dem vorigen Falle der Körperliche Schmerz diefelbe 
Wirkung baben? Auch er ift ja nicht blos die leibliche Störung, 
von welcher er ausgeht, fondern als Gefühl ift er ein Zuſtand 
des Bewußtſeins, und zwar ein folder Zuftand, von deſſen ges 
ringeren Graben wir wirflih noch in ung felbft beobachten kön⸗ 
nen, wie fehr fie die Fortſetzung jedes Gedankenganges Durch ihren 
überwältigenden Eindrud und durch die Abſpannung des Interef- 
jes für alles Andere beeinträchtigen. Wir müſſen endlich hinzu⸗ 
fügen, daß keinesweges alle Einflüffe, welche der Körper auf bie 
Seele vielleicht mit großer Gewalt ausübt, ſtets von der Art fein 
muſſen, daß fie in unferem Bewußtſein deutliche Wahrnehmungen umd 
Gefühle veranlaflen; vielmehr wie die förperlichen Reize in der Em⸗ 
pfindung eine Aeußerung des Bewußtſeins hervorrufen, ebenfomwohl 
kann ihre Wirkung die ehtgegengefeßte fein, und pas Bewußtſein kann 
plöglich ſchwinden unter einem Eindrude, der entweder ganz verborgen 
bleibt, oder von der fliehenden Befinmung nur noch unter der Form 
wenig lebhafter fremdartiger unfagbarer Gefühle empfunden wird. 

Wir können nicht finden, daß die mannigfachen Arten ber 
Bemwußtlofigfeit noch eine andere Erklärung bebürften, als vieler 
nicht das Bewußtſein braucht erzeugt zu werben durch ein Organ, 
mit deffen Beſchädigung es verginge; aber es Tann als eine ein- 
geborene Fähigkeit der Seele von unzähligen Seiten ber durch 
Eindrüde gehemmt werden, welche den inneren Zuftand der Seele 
ungünftig verändern. Weit dunkler find jene halben Störungen 
bes Gebächtniffes, welche der Wiedererinnerung einzelne Theile des 
Erlebten unzugänglih machen, und von denen mir mande fiht- 
lich verfälfchte Erzählungen aus früherer Zeit befigen, mande 














‚971 


unbezweifelbare Beifpiele der gemöhnlichften Erfahrung entnehmen 
können. Wir halten das Bekenntniß nicht zurück, daß hier Bie- 
les unenträthjelt bleibt und in den einzelnen Fällen immer blei- 
ben wird; aber wir nehmen von diefen Thatfachen nicht den Ein- 
druck mit, daß fie für eine fpecielle Körperliche Begründung un⸗ 
ferer Erinnerung fprächen. 

Betrachten wir auch nur den Gedankenlauf unferes gefun- 
den Zuftandes, fo müffen wir geftehen, daß uns fehr häufig die 
Zriebfedern, welche die eine Vorftellung in unfer Bewußtſein zu- 
rüdführten, und bie Gründe, aus denen eine andere fo lange in 
ihm fehlte, ganz dunkel bleiben; wir ahnen, daß der Wechſel un- 
ferer Gedanken nicht blos durch die Verfnüpfung der Vorftellun- 
gen unter einander gelenkt wird, melde wir beobachtend noch ziem⸗ 
lich verfolgen Können, fondern daß er in hohem Grabe von jenen 
andern weit undeutlicheren Aflociationen bedingt wird, melde fich 
in jedem Augenblice zwiſchen dem vorhandenen Vorſtellungskreiſe 
und dem gleichzeitigen Gemeingefühl unferer körperlichen und gei- 
fligen Stimmung bilden. Krankheit und Fortſchritt im Lebensalter 
ändern allmählich oder plötzlich dieſes Lebensgefühl; in manchen Ge⸗ 
dankenkreis der Jugend findet fich Daher das Alter nicht mehr zurück; 
denn wenn es auch den Thatbeftand der Vorftellungen in einigem 
Umfang wieder erzeugt, fo fehlt Doch jegt dem Inhalte derfelben die 
unwieberholbare Stimmung, die weiter führen follte; in Die Träume 
der Krankheit weiß ebenfo der Genefene fich nicht zurlidzunerfegen, 
denn mit dem fiechen Gemeingefühl, welches er überwunden hat, 
fehlt ihm der Schlüffel zu dem Wege, der zu ihnen führte, fo 
fegt endlich ein erneuerter Krankheitsanfall die irren Träume des 
vorigen fort, indem er ihren Anfangspunft, die Störung des Ge— 
meingefühles, wieder erzeugt; fo fühlen wir uns überhaupt 
zuweilen im Leben, und befonder8 wenn große Erfhlitterungen 
bes Gemüthes unfer ganzes Wefen aufgeregt, plöglid von lang— 
entwöhnten Träumen, von Erinnerungen und Stimmungen iber- 
fallen, denen wir in der Geſchichte unferes Lebens kaum noch eine‘ 


beſtimmte Stelle zu geben wiſſen. 
24* 





372 


Jene auffälligen Störungen des Gedächtnifles, wie fle ſchwere 
Krankheiten oder Berlegungen erzeugen, fcheinen mir Feine wejent- 
lich anderen Räthſel darzubieten, als dieſe Zufälle des verhält 
nigmäßig gefunden Lebens; überall würde es darauf ankommen 
zu zeigen, von welcher Seite her ein hemmender Drud auf bie 
Berbindung ausgeübt wird, durch welche Die eben einwirkenden 
Einprüde im gefunden Zuftande die mit ihnen afloctirten Erin 
nerungen wieder emporheben würden. Wir können kaum hoffen, 
daß in irgend einem einzelnen Falle und dieſer Nachweis voll- 
fommen gelingen werde; am wenigften aber möchten wir die an 
den vorhandenen zahlreichen Geſchichten verſuchen, in Denen wir 
zu oft und zu kenntlich den vielfachen Irrthümern und Xüden 
begegnen, welche das Borurtbeil des Beobachter oder feine Un- 
aufmerkfamfeit auf ihm ummwichtig erfcheinende Züge verurfacen. 
In vielen folder Erzählungen fehen wir die Störung der Er: 
innerung aus der Verkehrtheit des fprachlihen Ausdruckes gefol- 
gert. Aber mit diefer Erfcheinung betreten wir ein won bem 
vorigen ganz verfchiedenes Gebiet, in welchem die Seele nit 
mehr bei ſich allein bleibt, fondern Körperliche Mittel der Aeuße— 
rung zu verwenden ſucht. Diefe Herrichaft über Stimm und 
Sprachwerkzeuge ift gewiß nur buch ein Centralorgan möglid, 
in weldhem die bewegenden Nerven in folder Weiſe angeoronet 
und verflodhten find, daß der im Bemwußtfein fchmebenden 
Lautvorſtellung die gleichzeitige Erregung der zu ihrem Ausfpre- 
hen mitwirkenden Faſern geftattet if. Sind die VBermuthungen 
zuläjfig, welche wir früher über die Entftehungsweife der Bewe- 
gungen ausdrückten, jo würden wir Teicht begreifen, daß manche 
krankhafte Verſtimmung biefes Centralorganed die richtige Weber: 
tragung jener Erregung verhindern kann. Dann würde der Kranfe 
mit dem ungetrübten Bemußtfein des Lautes, den er bilden will, 
doch zum Ausfprechen eines andern genöthigt, ober zu jevem Aus: 
druck überhaupt unfähig fein. Diefelbe Beranlaffung, ein zufam- 
menordnendes Centralorgan voranszufegen, welche wir hier bei 
der Sprache finden, haben wir jedoch in Bezug auf alle Bewe⸗ 














373 


gungen überhaupt, und es ift Zeit, unfere Vorftellungen über 
ihre Erzeugung bier zum Abſchluß zu bringen. 


Daß die Seele weder von den Mitteln der Berwegung, von 
Musfeln und Nerven, noch von der Art ihrer möglichen Benugung, 
von der Natur des Anftoßes, welcher den Iegteren mitzutheilen 
ift, oder der Zufammmenziehungsfähigfeit der erfteren eine unmit- 
telbare Kenntniß befigt, haben wir früher gefehen. Sie kann 
nichts thun als gewiſſe innere Zuftände in ſich erzeugen, und er- 
warten, daß an diefe der Zufammenhang der Organtfation die 
Entftehung einer beftimmten Bewegung knupfen werde. Nicht fie 
ſelbſt ift die Werkführerin, fondern auf ihr unbelannte Weife voll- 
zieht der Mechanismus des Lebens ihr Gebot. Aber dieſe Ge- 
bote wenigſtens müßte fie zu geben im Stande fein, fie müßte in 
fih nit nur einen Grund finden, eine beftimmte Bewegung zu 
wollen, fondern auch jenen inneren Zuftand in ſich erzeugen kön— 
nen, von welchem die Entftehung berjelben abhängt. Wäre nun 
die Seele in einen Körper eingefchloffen, der nie von felbft ſich 
bewegte, wie würde fie auf den Gedanken kommen, daß er beiveg- 
lich ſei, daß Bewegungen nügen, daß dieſe Bewegung von diefem, 
jene von jenem inneren Zuftande ihres eigenen Weſens erzeugt 
werden könne? Offenbar ift e8 nicht allein nothwendig, daß der 
Körper durch eigene Reize ſich von felbft bewege, Damit die Seele 
feine Veränderlichkeit bemerfe und es Tennen lerne, welchen Ein- 
drud überhaupt Bewegungen ihr verjchaffen, fondern gleich nöthig 
auch, daß der äußere Reiz mit mechanischer Sicherheit von felbft 
in dem Körper Diejenigen Bewegungen anrege, die unter ben vor= 
handenen Umftänden zur Vertheidigung des Lebens, zur Aus- 
gleihung einer Störung, zur Befriedigung eines Bedürfniſſes 
zwedmäßig find. Unkundig an ſich aller diefer Verhältniſſe, würde 
die Seele das Richtige nicht errathen, und felbft die Erfahrung 
würde ihr ein zwedmäßiges Verhalten, wenn nicht ein Keim iwe= 


374 


nigftens dazu ihr fertig gejchenkt wäre, entweder niemals oder erft 
dann lehren, wenn eine lange Reihe von Mißgefchie vielleicht das 
Beftehen der Organifation überhaupt untergraben hätte. Denn 
gewiß würde e8 um die Erhaltung berjelben übel ftehen, wenn 
der Scharffinn der Seele in jedem Augenblide die Mittel ent- 
deden und anwenden follte, drohenden Störungen zu entgehen; 
fie wird nur gefichert fein, wenn in gewiffer Ausdehnung wenig: 
ftend auch ohne die Mitwirkung der Seele die zweckmäßige Hand- 
Yung von dem Eindrude der Umftände felbft als nothmendige 
Folge ausgelöft wird. 

Unfähig zur erften Erfindung wird die Seele dagegen wohl 
fähig fein zur Vervollkommnung dieſes Mechanismus; indem fie 
beobachtet, auf welchen Reiz welche Bewegung mit melchem gin- 
fligen Erfolge und mit meldhem unmittelbaren Eindrud fir fie 
felbft folgt, wird fie in einem fpäteren Falle nicht mehr ben 
wirflihen Eingriff des Reizes abzuwarten brauchen. Sein ber 
Erinnerung wieberfehrendes oder aus der Ferne wahrgenommenes 
Bild, ſelbſt das Bild nicht deſſelben, fondern eines Ähnlichen Rei⸗ 
38 wird in der Seele die Vorftellung jenes Eindrudes und da 
mit auch einen unmillführlichen Trieb zur Wiebererzeugung jener 
Bewegung erweden. Wenn daher zunächſt die Seele nur ald 
ohnmächtiger Beobachter den zweckmäßigen Wirkungen zufah, durch 
melde der organiſche Mechanismus die Sicherheit ihres Wohn⸗ 
fige8 vertheidigte, fo dankt fie ihm doch fpäter dafür, indem fle 
ihre mannigfadhen Fähigkeiten, Vergangenes in der Erinnerung 
aufzubewahren, Zutünftiges aus früheren Analogien zu erwarten, 
das gemeinfame Aehnliche aus oberflächlicher Verſchiedenheit her: 
vorzubeben, unwillkührliche Wirkungen durch Nüdfiht auf ben 
erzielten Erfolg zu verbeffern, num der Verfeinerung und Vervoll⸗ 
fommnung jener gewiß ſchon Eünftlichen, aber den Bebitrfniffen de 
vollen Lebens noch nicht entfprechenden Verkettung zwiſchen Heizen 
und Rücdwirkungen widmet. Die Langfamleit, mit welcher das 
menſchliche Kind allmählich zur Herrihaft über feine Glieder 
kommt, in Verbindung mit der äußerft feinen individuellen Aus 


375 


prägung diejer Herrfhaft, die ihm doch im Fortichritt der Bil- 
dung möglich ift, zeigt uns, wie bebeutend hier der mithelfenve 
und verebelnde Einfluß der Seele eingreift: der äußerſt Kurze 
Zeitraum Dagegen, den das neugeborene Thier meift bedarf, um 
die Bewegungsarten feiner Gattung völlig zu erlernen, und bie 
oft komiſche Sleichförmigkeit, mit welcher die jungen Geſchöpfe 
ohne individuelle Unterfchieve die Sonderbarkeiten derfelben ent⸗ 
wideln, dies lehrt uns, wie hier umgelehrt eine feftere, früh und 
fiher wirkende Verbindung zwifchen den Einbrilden des Gemeins 
gefühle8 und den Bewegungen bergeftellt ift. 

Beobachten wir die.fpielenden zweckloſen Bewegungen junger 
Thiere und der Kinder, fo muß uns auffallen, wie felten und 
faft nie ohne befonbere Krankheit fi unter ihnen einzelne, zus 
fammenbanglofe, unzweckmäßige Zudungen einfinden. Und doch 
hätte man ſolche erwarten können bei der unzähligen Menge zu⸗ 
fälliger Eindrüde, welche die Muskeln und die motorishen Nerven 
in jevem Punkte ihres Verlaufes treffen können. Aber fie treten 
nicht auf; vielmehr verrathen felbft die zögerndften und ungeſchick⸗ 
teften Bewegungen, welche wir wirklich beobachten, doch immer 
Schon die gleichzeitige und zweckmäßige Wirkſamkeit zufammenge- 
böriger Musfelgruppen. Wir können e8 als eine Thatfache der 
Beobachtung ausfprehen, daß in dem jungen Organismus fchon 
den zufälligen Reizen, worin fie auch beftehen mögen, die verein- 
zelte und zufammenhanglofe Anregung einzelner Bewegungsbruch⸗ 
ftüde ſchwer, die Heroorrufung zufammenftimmender Bewegungs: 
gruppen leicht gemacht iſt. Das erfte vielleicht, aber nicht Das 
zweite ift denkbar ohne ein Gentralorgan, in welchem die einzel- 
nen motorischen Nervenfäden jo zufammengelagert und verflochten 
find, daß ein einziger Reiz, welcher einen beftimmten Punft deſ⸗ 
felben trifft, auf einmal eine Mehrheit von Faſern zu überein⸗ 
flimmender Bewegung erregt. Theils das Gehirn, theild ſchon 
das Ruckenmark bat ohne Zweifel unter andern Aufgaben auch 
die eines ſolchen Eentralorganes, und obgleih wir ben beftimm- 
teren Bau deſſelben blos aus den Bedürfniſſen des Lebens nicht 





376 


vorauszufagen unternehmen möchten, können wir doch einen Zug 
defielben mit hinreichender Wahrfcheinlichkeit vermuthen, nämlich 
die beftändige Mitverflechtung zuleitender fenfibler Faſern in das 
Gewebe der motorischen. 

Die erfte Aufgabe eines motoriſchen Eentralorganes wurde 
darin beſtehen, überhaupt die Bewegungen des Körpers, die der 
Eigenthümlichkeit feiner Gattung gemäß in dem Baue der Glieder 
möglich gemacht find, zu wirklicher Ausführung zu bringen. Es 
würde hierzu Hinveichen, daß innere Reize, wäre es ſelbſt nur der 
des Blutlaufs, die Elemente des Centralorganes abmwechjelnd oder 
- dauernd zur Thätigfeit erregten, und wir würden dann mit mes 
chaniſcher Sicherheit und Negelmäßigfeit jene Elemente aller Bes 
wegung, das Schreiten Schwimmen Fliegen und ähnliche, erfol- 
gen feben. Allein alle dieſe Bemegungsfähigfeiten find dem Thiere 
doch zum Gebrauche in einer wiberftehenden Welt gegeben und 
es muß eine Möglichfeit vorhanden fein, aud ihre einzelnften 
Abſchnitte ſchon in Mebereinftimmung mit den veränderlichen 
äußeren Umftänden abzuändern, unter denen fie ausgeiibt werden 
folfen. Iſt e8 nun ausſchließlich das Gefhäft eigenthümlicher fen= 
fibler Faſern, von dem veränderlihen Zuſtande der einzelnen 
Theile Eindrüde aufzunehmen und zu leiten, jo werden wir auch 
in jenem Centralorgane eine mannigfadhe Begegnung fenfibler 
Fäden mit motorischen erwarten müſſen. Jedes beginnende Un= 
gleihgewicht des Körpers wird dann durch den neuen Einbrud, 
den e8 durch die erfteren auf die legteren überträgt, eine paffende 
Rückwirkung zur Herftellung des Gleichgewichtes, jedes Hinderniß 
den Anfang menigftend zu einer zweckmäßigen Umgehung hervor- 
rufen. Denfelben Zufammenhang werben wir ferner da benutzt 
finden, wo ein von außen kommender ungewöhnlicher Reiz eine 
beftimmte Bewegung theils zur Abwehr, theild zur Benugung 
feines Eindrudes verlangt. Auch hier werden wir es für die 
Sicherung des Lebens als die nüglichfte Einrichtung vorausfegen 
Können, daß, ohne die überlegende Anordnung der Seele abzu= 
warten, der Reiz unmittelbar mit mechanischer Nothwendigkeit die 





377 


zwedmäßige Rüdwirkung auslöft. Zahlreiche Bewegungen Diefer 
Art beobachten wir theils an unferem eigenen Körper, wie die 
convalfivifhen Exrplofionen des Huften® des Niefensd des Er— 
brechens, durch welche ohne unfere Kenntniß des Herganges Die 
Entfernung ſchädlicher Reize bewirkt wird, theils bat man fie an 
dem Rumpfe geföpfter Thiere, alfo unter Umftänden wahrgenom- 
men, unter denen bie natitrlichfte Borausfegung gegen die Mit- 
betheiligung der Seele fpricht. 

So lange nun diefe Bewegungen im Uebrigen das Gepräge 
mechaniſcher Wirkungen nicht verleugnen, jo Tange fie alfo nicht 
ohne äußere oder nachweisbare innere phyſiſche Anregungen ent- 
ftehen und ohne Rüdficht auf diejenigen äußeren Umftände, welche 
fih nicht durch phyſiſche Eindrücke gelten machen können, auf 
gleiche Reize immer in gleicher Weiſe erfolgen: jo lange würde 
alle zwedimäßige Mannigfaltigkeit ihrer Zufammenfegung in der 
That feinen Grund enthalten, auf eine verborgene Mitwirkung 
der Seele zu ſchließen. Aber manches Andere kann diefen Schluß 
zu empfehlen fcheinen, ohne ihn doch wirklich zu berechtigen. Es 
ift nicht unwahrſcheinlich, ſondern hat im Gegentheil die Wahr- 
fcheinlichkeit für fih, daß für die Form, welche die erregte Be: 
wegung annehmen wird, nicht blos der Ort fondern auch die 
Art des heroorrufenden Reizes mitbevingend if. Hierauf ift 
wenig bisher geachtet worden; man hat ſich begnügt, die That- 
fache zu beobachten, daß zum Beifpiel in einem enthaupteten 
Froſche die Reizung einer beftimmten Hauptftelle eine Bewegung 
des Beines nach diefer Stelle bin zur Folge habe, und daraus 
bat ſich die Vorftellung entwidelt, daß der fenfible Nero eines 
beftimmten Hautpunktes feine Erregungen, welcher Art fie fein 
mögen, immer in gleicher Weife auf motorifche Nerven Übertrage, 
mithin eine ſtets gleiche Bewegung zur Folge habe. Segen 
wir Dagegen voraus, mas möglich ift, daß biefe Uebertragung 
anders, theils in anderem Maße, theild auf andere motorifche 
Faſern geſchehe, wenn die mitzutheilende Erregung eine andere ift, 
ſo wire bereit8 hierdurch in Diefe Neflerbewegungen, wie man 


378 


fie zu nennen pflegt, der Schein einer zweckmäßig wählenden Will- 
führ kommen, ohne daß doch in der That eine Mitwirkung der 
Seele in ihnen vorhanden wäre. j 
In fo weit würde nun die Harmonie der Bewegungen auf 
ber Zwedmäßigfeit der beftändigen Bildung des Centralorganes 
beruben. Aber die bekannten Erfheinungen der Uebung und Ge- 
wöhnung, die Erfahrungen, daß Bewegungen uns zur zweiten 
Natur werden können, deren erſte Ausführung uns große Schwie- 
rigkeiten darbot, Aberzeugen uns, daß die erfte Bildung der Or- 
gane im Laufe des Lebens zu noch größerer Trefflichfeit entwickelt 
werben ann. Denn die Wahrnehmung, wie häufig ſich einzelne 
Züge erworbener Anmuth und Feinheit der Körperlichen Haltung 
und Bewegung forterben, läßt uns daranf fchließen, daß die An- 
übung nicht erfolge, ohne in den leiblichen Organen eigenthüm⸗ 
liche phyſiſche Veränderungen heroorzubringen und zurüdzulaffen. 
Mande zw:cdmäßige Rückwirkung, die an und fir fich nicht durch 
die beftändigen Grundzüge der Organifation an einen beftimmten 
äußeren Reiz gebunden war, kann dieſe anerzogene Dispofttion 
des Nervenſyſtems nun doch auf ihn folgen laſſen; dann ent⸗ 
widelt das Drgan eine Intelligenz des Wirkens, die nicht fein 
urfprüngliches Eigenthbum und auch nicht die unmittelbare That 
einer noch in ihm lebenden Seele, fondern nur der Gewinn an 
phyſiſcher Gewohnheit ift, welchen e8 feinem früheren Verkehr 
mit der Seele verbanft. Denn lernen allerdings konnte e8 Diefe 
Formen des Rückwirkens nicht aus fich felbft, fondern nur dadurch, 
daß an den Reiz, den e8 empfing, die bazwifchentretende Ueber⸗ 
legung der Seele die Rückwirkung knüpfte; aber mas die Körper: 
liche Organifation nicht erfinden Tonnte, das Tann fie Doc feft- _ 
halten, nachdem eine wieverfehrende Hebung für fie den Zufmn- 
menhang zwiichen dem gejchehenen Einvrud und der folgenden 
Beränderung dur zurüdgelaffene materielle Spuren zu einer 
phyfiſchen Nothwendigkeit ausgeprägt hat. Sehen wir daher ben 
Rumpf gelöpfter Thiere auf einen Äußeren Reiz zumeilen durch 
eine Form der Bewegung antworten, welche aus dem phyſiſchen 


379 


Eindrude, den der Reiz in diefem Augenblide dem Nervenſyſtem 
wirklich mittheilt, nicht hinlänglich erflärbar fcheint, fo ift es den— 
noch nicht nöthig, in dem Rumpfſtück einen mitabgetrennten See⸗ 
Tentheil anzunehmen, deſſen Meberlegung zu dem wahrgenommenen 
Reize die nöthigen Bermittlungsglieder bis zur hinlänglichen Be— 
gründung der zwedimäßigen Bewegung ergänzte. 

Welches auch immer die Thatſachen der Beobachtung fein 
möchten, wir könnten uns zu ihrer Erflärung nicht diefe Ver— 
muthung erlauben, deren innere Unmöglichfeit uns deutlich iſt. 
Bon einer theilbaren Seele mag man mit einem Scheine ber 
Berftändlichleit noch Tprechen, wenn man nur an die noch unent- 
widelte Anlage zum geiftigen Leben denkt, die wie ein homogenes 
Ganze fih Dur den Körper auszubehnen fchiene; foll aber das 
im Leben bereit8 ausgebildete Bewußtſein mit feinen Erinnerun- 
gen, Erfahrungen und den durch diefe gewonnenen Fertigfeiten 
und Kenntniffen der Gegenftand der Theilung fein, jo milrden 
wir faum mit diefer Forderung und auch nur fo weit Flar wer— 
den, daß wir uns vorftellen Einnten, was wir eigentlich verlangen. 
Und doch wiirde nur eine Theilbarkeit der legtern Art diefe Er: 
Theinungen erklären; denn die Fähigkeit, den Umftänden ge— 
mäß zu handeln, würde dem fopflofen Rumpfe durch eine nod 
aller Erfahrung entbehrende Intelligenz nit um das Geringfte 
leichter verfhafft, als durch einen rein phyſiſchen Mechanismus 
ver erften Bildung. Nur zwei Anfichten fcheinen jenen Beobady- 
tungen gegeniiber möglih. Entweder wir fehen die Zweckmäßig— 
feit folder Bewegungen, wie fie der Fopflofe Rumpf Faltblütiger 
Thiere häufig ausführt, zwar als Erzeugniffe der Intelligenz an, 
aber nicht einer in ihm noch gegenwärtigen, fondern der Intelli- 
genz jener einen Seele des Thieres, mit deren Site diefer Rumpf 
früher zufommenbing, und deren Ueberlegung in feinen Central- 
organen Gewohnheiten zwedmäßigen Wirkens begrlindete, welche 
fortdauern, auch nachdem der Zuſammenhang zwiſchen ihm und 
der Seele aufgehoben if. Ober wenn wir, mit Unvecht wie mir 
ſcheint, dem Eindrude voller Lebendigkeit nachgebend, den jene 


380 


Bewegungen allerdings erwecken, ſie nicht mehr von einem Echo, 
fondern nur von unmittelbarer Gegenwart einer Intelligenz ab- 
leiten zu dürfen glauben: fo fteht nichts im Wege, in dem Rüden- 
mark eine Mehrheit individueller Weſen von feeliicher Natur an- 
zunehmen, deren jedes feine Intelligenz fir ſich haben möchte. 
Während des Lebens würde die eine Seele, welche wir die des 
Thiered nennen, durch ihre bevorzugte Stellung oder die größere 
Kraft ihrer Natur alle diefe Theilfeelen beherrſchen und alle 
witrden durch die Verbindung, in der fie unter einander ftehen, 
an den Erlebniffen des ganzen Thieres Theil nehmen und von 
feinen Erfahrungen Nuten ziehen. Fällt am enthaupteten Thiere 
der Einfluß feiner Hauptfeele weg, fo werben die Seelen der Theile 
noch immer fi den Reizen gemäß äußern können, die ihre Kör- 
pergebiete treffen, und die früheren Erfahrungen, die freilich jede 
von ihnen nur im Zufammenhange mit dem Kopf und feinen 
Sinnesorganen machen Tonnte, die fie aber einmal gemacht in 
der Erinnerung fefthält, werden fie noch jetzt befähigen, ſich in 
ihren Handlungen den äußeren Umftänden mit Zwedmäßigfeit zu 
Accommodiren. | 


Mit der Annahme diefes Sentralorganes für die Regelung 
der Bewegungen glauben wir die Reihe der Hilfen erfchöpft zu 
haben, melde wir unmittelbar von dem Baue des Körpers für 
die Leiftungen der Seele verlangen müflen. Site find alle darauf 
gerichtet, einestheil® die Verknüpfung äußerer Eindrücke zu einer 
räumlichen Orbnung der Anfchauung, anderfeit8 die Auögeftaltung 
innerer Zuftände in einen zweckmäßigen Zufammenbang räum- 
Ticher Bewegungen möglih zu maden; alle jene umfafjende 
Arbeit Dagegen, durch melde die Intelligenz den Inhalt der finn- 
lichen Eindrüde zur Einheit einer vernünftigen Weltauffaffung 
gliedert, haben wir der körperloſen Thätigkeit der Seele allein 
überlafien müſſen. Biel einfacher ſcheinen daher die Aufgaben, 











381 


die wir dem Gehirn ftellen, als die mannigfachen Leiftungen, 
welche die Phrenologie von ihm erwartet, indem fie für viele der 
verwideltften Aeußerungen des Geifted eigenthlimliche Organe 
ſucht und zu finden glaubt. Wie unficher auch dieſe Beftrebungen 
fein mögen, der unbefangene Eindrud der Beobachtung läßt fie 
doch nicht als ganz grundlos erfcheinen, und nicht jeder Einwurf, 
welcher ihnen gemacht wird, trifft fie mit Recht. Gewiß ift die 
Annahme nicht nothwendig, daß alle an ſich gleichartigen Seelen 
ihren inbivibuellen Charakter erft durch die befondere Ausbildung 
ihrer Teiblihen Organe erhalten, Nichts hindert vielmehr bie 
Meberzeugung, daß durch eine urfprüngliche Eigenthiimlichfeit jebe 
einzelne von Anfang an zu einer ihr allein angebörigen Entwid- 
Yung der allgemeinen Fähigkeiten beftimmt fei, welche fie als bie 
gemeinfamen Grundlagen alle8 geiftigen Lebens mit allen übrigen 
theilt. Wenn wir dagegen Anftoß daran nehmen, auch nur einen 
andern Theil der Borbeftimmung zu dem eigenthümlihen Cha- 
rakter der Perfönlichkeit in dem körperlichen Baue zuzugeftehen, 
fo vergefien wir, daß alle folhe Bemühung, das geiftige Leben 
von Teibliher Bedingtheit fern zu halten, doch an andern nicht 
zu leugnenden Thatſachen ohnehin fheitert. Weder unfer Ge- 
ſchlecht, noch unfere Nation, nicht die Zeit unferer Geburt noch 
die gejellihaftliche Stellung unferes Lebens, nicht unfere Armuth 
oder die Bortheile des Reichthums haben wir uns felber gewählt 
oder gegeben; fo lange wir an ſolchen Verhältniffen fo oft die 
Hoffnungen geiftiger Entwidlung zu Grunde geben fehen, haben 
wir wenig Beranlafiung, die Abhängigfeit des Geifted von feinem 
Körper mit befonderer Heftigfeit zu beftreiten. Sp gewiß der Ma- 
terialismus für eine höhere und zufriedenftellende Weltanficht feine 
Ausficht gibt, fo wenig räumt doch die Behauptung einer felbftän- 
digen Seele die dunflen Rätbfel fogleich hinweg, welche der Welt- 
auf und die Schiefale des Lebens uns oft fo ernft und drückend 
entgegenbalten. 

Aber die Annahme bejonderer, an verſchiedene Gegenden des 
Gehirns vertheilter Organe für einzelne höhere Geiftesnermögen 


382 


hat doch wenig Wahrſcheinlichkeit. Theils würden wir und von 
ber Art ihres Nugens feine Vorſtellung machen können, theils die 
gegenfeitige Wechſelwirkung, die zwifhen allen Thätigkeiten der 
Seele beftändig ftattfindet, durch fie nicht begünſtigt finden; endlich 
wenn wir auf Erflärung verzichteten, würde felbft die bloße Samm⸗ 
Yung thatfächlicher Beweife fir den Zuſammenhang einer gewiſſen 
Gehirnbildung mit beftimmten geiftigen Verrihtungen befondere 
Schwierigkeiten darbieten. Sie wurde in dem Unterfuchenden jene 
volftändige und durchdringende Menſchenkenntniß vorausfegen, für 
welche nicht nur jede verborgene Neigung eines individuellen Cha— 
rakters völlig durchſichtig wäre, jondern ebenfo Har auch das noch 
weit verborgenere Gewebe der Gründe, aus welchem fie als ein 
nun fertige8 Ergebniß hervorging. Denn ohne Zweifel wird auf 
bie Geftalt, welche der abgeſchloſſene Charakter eines Menfchen 
dem Beobachter darbietet, nicht Die angeborne Anlage allein, fon- 
dern auch die Reihenfolge und Eigenthümlichkeit der äußeren Um— 
gebungen, in denen er ſich bildete, einen mitbeſtimmenden Einfluß 
ausgeibt haben. Kaum der Erwähnung aber bebarf es, wie 
ſchwer die Aüdvertheilung der gefundenen Züge anf diefe ver- 
ſchiedenartigen Urfachen fein muß, und wie nahe die Gefahr Liegt, 
Erzeugniffe der Erziehung, des Lebensganges und der Kranl- 
heit al8 unmittelbare Folgen einer Törperlichen Organbildung zu 
denten. Höchſtens bei jenen Talenten, deren VBorbandenfein leicht 
nachweisbar ift, die Durch Vererbung häufig fich fortpflanzen und 
durch Hebung kaum in merflichem Grade erfegt werben können, 
wo fie fehlen, dürfte e8 einer vorurtheilsloſen Beobachtung Leichter 
gelingen, ihre Beziehung irgend welcher Art zu beftimmten Ausbil 
dungsformen des Gehirns und feiner knöchernen Hülle feftzuftellen, 
So laffen fih für Ortfinn und Farbenfinn, fir mufilalifche An— 
Inge, vieleicht für mathematiſche Befähigung überhaupt und fir die 
erfinderifche Gefchieflichkeit der Hand Körperliche Grundlagen finden, 
während für die feineren Eigenthümlichkeiten der geiftigen Indi⸗ 
vidualität wir Diefe Erwartung nur wenig hegen. 

Und dennody mögen auch fie in hohem Maße non dem Eins 





383 


fluß des körperlichen Lebens abhängen, obwohl in einer anderen 
Weiſe, als daß jeder einzelnen derfelben ein befonderes Organ 
zugeorbnet wäre. Die ungeheuren Verſchiedenheiten in der Höhe 
und Eigenthümlichkeit der geiftigen Ausbildung, wie fie das menfch- 
lie Geſchlecht mehr als irgend eine Gattung der Thiere dar: 
dietet, ſcheinen am meiften aus den Unterfchieden eines allgemei- 
neren pfychiſchen Naturells hervorzugehen, das in naher Bezich- 
ung zu dem fteht, was wir mit dem Namen des Temperamentes 
zu bezeichnen pflegen. eiftige Fähigkeiten baben in allen Inbi- 
viduen einen unſcheinbaren Keim, und wie vafch auch in einzelnen 
ihre Kraft heroortritt, fo entmwideln fie ſich Doch überall Durch die 
Aufbewahrung und Summirung ihrer einzelnen Leiftungen, deren 
jede zum Mittel für Die Ausführung einer fpäteren größeren wird. 
Nicht nur von der Schärfe des urfprünglichen Eindrudes der 
Wahrnehmungen, fondern bauptfächlic von der Lebhaftigkeit des 
Sefühlsantheils, welcher fih an fie Inüpft, von der Regſamkeit 
bes organischen Lebens und der Beweglichkeit des mit feinen Ver: 
änderungen wechfelnden Gemeingefühles, von der Mannigfaltigfeit 
der Stimmungen und dem Reichthum der inneren Erregungen, 
von denen einzelne Borftellungsreihen angeregt, andere abgebrochen, 
dev Uebergang von der einen zur anderen mit größerer oder ge- 
ringerer Gejchwindigfeit bewirkt wird: von allen diefen Einflüffen 
hängt ohne Zweifel nicht nur die Schnelligfeit oder das Zögern 
der geiftigen Entwicklung überhaupt, ſondern auch manche bleibende 
Eigenthumlichkeit der Richtung ab, welche ihr Verlauf annimmt. 
Zum großen Theil werben: diefe Einwirkungen des Körpers nicht 
durch befondere Organe, fondern durch feinen ganzen Bau über- 
haupt vermittelt ; Die verſchiedene Kräftigfeit der Conftitution wird 
dem Dichten und Trachten des Gemüthes aud im Ganzen einen 
eigenthümlich gefärbten Hintergrund geben, und der demifchen 
Miſchung des Blutes, von deſſen Reizkraft die Thätigkeit der 
Nerven erregt wird, würden wir, hierin aud durch Erfahrungen 
in Krankheiten unterftägt, einen beträchtlihen Einfluß auf Höhe 
und Richtung der geiftigen Regſamkeit einräumen müſſen. 


384 


Doch mag zu einem andern Theile die Bildung der Gentral- 
organe auch hierauf Bezug haben. Hauptſächlich die Hemilphären 
des großen Gehirns ſehen wir in der anffteigenden Thierreibe 
mit der größeren geiftigen Entwidlung der Gattungen an Maſſe 
gewinnen, und zahlreiche Erfahrungen Yaffen kaum zweifelhaft, 
daß in dem Menfchen, in weldem ihre Ausbildung die umfang: 
reichfte ift, Die Größe des geiftigen Lebens von ihrem mehr oder 
minder volllommenen Baue abhängt. Aber diefe Gebirntheile 
haben nicht das Ausfehen einer Reihe von einzelnen in fi ab- 
gejchloffenen Organen; aus einer großen Menge von Yafern mit 
zwiichengefchalteten Ganglienzellen zufammengefegt, befigen fie eine 
weit gleichförmigere und monotonere Structur, als die zu ſehr 
eigenthümlichen Formen ansgeprägten inneren und unteren Theile 
des Gehirns, über und um welche fie fih als eine dicke burd 
vielfache Furchungen gezeichnete Hüllenſchicht wölben. Es iſt feine 
erweislihe Thatſache, aber es gilt uns für eine glaubhafte Ver⸗ 
muthung, daß diefe beftimmter geftalteten Gegenden des Gehtrnd 
Die Organe des geiftigen Lebens einfchließen, deren nothmendige 
Annahme wir früher begründeten, und denen eine unveränderlide 
befondere Form des Wirkens eigenthümlich ift; daß dagegen bie 
äußere Maſſe der Hemifphären einen Apparat von allgemeinerem 
Nuten bilde, dazu beftimmt, theils die Wiedererzeugung der 
nervöſen Kraft zu vermitteln, welche in jenen Organen tbi- 
tig ift, theils Die Reizbarkeit derfelben zu regeln, theils endlich, 
‚wie wir bei der Betrachtung der Gefühle anbenteten, eine Art 
der Nefonanz zu gewähren, durch welche dem mahrgenommenen 
Inhalt eine gewiſſe Größe des Gefühlsantheiles, dem ſich bil⸗ 
denden Willensanftoß eine beftimmte Stärke bewegender Kraft 
mitgetheilt wurde. Nur in dieſem Sinne einer mittelberen und 
body fehr mächtigen Einwirkung auf das geiftige Xeben möchten 
‘wir diefen Theilen be8 Gehirns den Namen eines Organes ver 
"Intelligenz des Gemüthes oder des Willens zugeftehen. 

Sp haben wir die verſchiedenen Formen gefhilvert, in denen 
ber Körper ſich als beförderndes und helfenbes Mittel der geiſti— 





385 


gen Ausbildung bewährt. Nur dieſe eine Seite der Sache pflegt 
die naturwiſſenſchaftliche Unterfuhung hervorzuheben; religiäfe 
Meberlegungen allein führen gemöhnlich auf Die andere: fle erzeu- 
gen in uns die Neigung, den Körper auch in gewiſſem Umfange 
als eine Schranfe zu betrachten, welche die freie Entfaltung der 
Seele hindere. Nichts fteht der Möglichkeit dieſer neuen Anſicht 
entgegen; jo wie wir ungewöhnliche Schwankungen des leiblichen 
Lebens in Krankheiten die Thätigfeit des Geiftes hemmen fehen, 
fo kann aud die beftändige gefunde Verbindung zwiſchen beiven 
eine zurüdhaltende Wirkung auf die Entwidlung des Innern aus: 
üben. Die Erfahrung zeigt und jedoch nur ärmliche Thatjachen, 
die hierauf Hindeuteten, und nirgend ſehen wir in Törperlichen 
Krankheiten, durch welche jenes Band zwifchen den beiden Natu⸗ 
ren in und etwa gelodert würde, einen unerwarteten und neuen 
Aufſchwung des Seelenleben® eintreten. Die Berufung auf bie 
Wunder des Somnambulismus und des Hellfehbens wird dieſe 
Behauptung nicht entkräften. Nachdem nun fo oft ſchon diefe Er⸗ 
ſcheinungen die Aufmerkſamkeit erwedt und getäufcht haben, nach⸗ 
dem jo viel hellgefehen worden ift ohne den mindeften bleibenden 
Gewinn fir den Fortfchritt der Menſchheit: nad diefen Erfah- 
rungen follte man vermuthen, daß auch die Theilnahme für dieſe 
Dinge nun hellſehend geworden fei und in ihnen das erkannt 
babe, was fie find: eigenthümliche Steigerungen krankhafter Vor- 
gänge, denen verwandte won geringerer Heftigfeit die alltägliche 
Erfahrung darbietet. Schon der gewöhnliche Rauſch zeigt uns 
jene einfeitige Belebung des Bewußtſeins, dem die klare und zu- 
fammenfafjende Meberficht feines Inhaltes und der äußeren Um— 
gebungen abhanden kommt, während allerhand Triebe zu pathe- 
tifhem rhythmiſchem Gebahren, die Luft und mit ihr die Fertig— 
feit zu mancherlei Wagniſſen hervortreten, was Alles in dem Nüd- 
ternen theils Die geringere Lebhaftigfeit feiner Nervenwirkungen 
und die niedrigere Stimmung feines Gemeingefühles theild Die 
ſchüchterne Ruckficht auf Schicklichkeit und Herkommen zurückhielt. 
Und ebenſo mag im Schlafe eine beſonders aufregende Vorſtellungs⸗ 


Lotze I. 3. Aufl. 


386 


reihe, die fih wach erhält, während die unzähligen zerſtreuenden 
Eindrücke der Außenwelt binmwegfallen, zumeilen leichter ihren 
Schluß finden und der Schlafwandelnde in feinem halbaufermwed- 
ten Bemußtfein die Löfung einer Aufgabe vollbringen, die dem 
Wachenden mißlang. Aber wir vergeflen dabei nicht, Daß es 
Doch eigentlich die Kräfte die Kenntniffe kurz der ganze Erwerb 
des wachen Lebens war, was aud den Schlafenden zu Diefer Lei- 
ftung befäbigte. Mit dem finfenden Bewußtſein der Gefahr wächſt 
die Kühnheit des Wagenden, mit dem Wegfall der Rüdfiht auf 
die Umgebung die Dreiftigkeit des Verfuchenden, mit der Abhal- 
tung aller Störung die innere Sammlung und der Zuſammen⸗ 
Hang ver Kräfte, ohne daß im Grunde Neues und Ungeahntes 
an bie Stelle des fonft Gewöhnlichen tritt. So ift dies menſch⸗ 
Yiche Leben, welches wir beobachten, ausnahmslos an die Wechjel- 
wirkung mit dem Körper gefnüpft, Die größere Schönheit der Ent- 
widlung aber, zu melder die Seele, befreit von diefem Bande, 
fih erheben mag, werben wir nicht voreilig vor feiner Zerrei⸗ 
ßung errathen, 


Viertes Kapitel, 
- - Das Leben der Materie, 





Die beftändige Käufchung. der Sinnlichkeit. — Unmöglichkeit deß Abbildes ber Dinge in 
unferer Wahrnehmung. — Eigner und höherer Werth ber Stunlichkeit. — Die innere 
Regfamkelt ber Dinge. — Die Materie Erſcheinung eineß Weberfinnlichen. — Ueber 
die Möglichleit ausgebehnter Wefen. — Die allgemeine Befeelung ber Welt. — Der 

,  Segenfag zwiſchen Körper und Seele nicht zurßdigenommen. — Berechtigung ber 
Vielheit gegen bie Einheit. 


Wie viele Einwürfe mögen im Stillen jeden Schritt unferer 
bisherigen Darftelung begleitet haben! nicht ſolche allein, Die von 
den einzelnen Schwierigkeiten der mannigfadhen von uns durch⸗ 
eilten Fragen Beranlaffung zu Gegenreven nahmen, denen nicht 
wir, ſondern nur die ausgedehnteren Unterfuhungen der Wiſſen⸗ 








387 


haft Antwort geben könnten; vielmehr eine zufammenhängende 
Empörung des Gemüthes müfjen wir erwarten über die Kälte 
einer Anficht, welche alle Schönheit und Xebendigfeit der Geftal- 
ten in einen ſtarren phuftfch-pfuchifchen Mechanismus verwandele. 
Gegen die fchöpferifche, aus fich ſelbſt quellende Entwidlung des 
körperlichen Lebens, gegen die Durchgeiftigung des Leibes, gegen 
die Wahrheit der Empfindung und die Willfiihrlichleit der Bewe— 
gung baben wir manche Angriffe richten müfjen, und in ber 
That haben wir damit faft alle jene Züge in Frage geftellt, in denen 
das unbefangene Gefühl den Kern aller Poeſie des lebendigen Da- 
ſeins zu befigen glaubt. Befremblic Tann uns daher die Stand- 

haftigkeit nicht fein, mit welder die Weltanficht des Gemiüthes 
als eine höhere Auffafjung der Dinge auch den Überzeugendften 
Darftellungen von unſerer Seite widerftehen wird; um fo nötht- 
ger ift deshalb der Verſuch, die Harmlofigkeit unferer Anficht zu 
zeigen, Die, wo fie und zwingt, Meinungen aufzuopfern, mit denen 
wir einen Theil unferes Selbft aufzugeben glauben, doch durch 
das, was fie uns dafür zurliefgibt, die verlorene Befriedigung 
wieder möglich macht. 

Die Empfindung gilt dem unbefangenen Bemußtfein überall 
als die Wahrnehmung einer vollen außer ihm vorhandenen Wirf- 
lichkeit. Bon ihrem eigenen Glanze beleuchtet Liegt die Welt um 
uns, und Töne und Düfte durchkreuzen außer uns den unermeh- 
Vihen Raum, der in den eigenen Farben der Dinge fpielt. Ge— 
gen diefe ftetS vorhandene Fülle ſchließen unfere Sinne bald fid 
ab und befchränfen uns auf den Verlauf unferes inneren Lebens, 
bald öffnen fie fih mie Pforten dem ankommenden Reize, um 
ibn fo, wie er ift, in der ganzen Anmuth oder Häßlichkeit feines 
Weſens in fih aufzunehmen. Kein Zweifel trübt die Zuverſicht⸗ 
Yichfeit . dieſes Glaubens, und felbft die Täufchungen der Sinne, 
verſchwindend gegen bie Ueberzahl in fi zuſammenſtimmender 
Erfahrungen, erſchüttern die Gewißheit nicht, daß wir hier über- 
all in eine vorhandene Welt hineinbliden, die fo, wie fie und er- 
ſcheint, auch dann zu fein nit aufhört, wenn unfere mans 

- 25* 


358 


delbare Aufmerkſamkeit fih von ihr abwendet. Der. Glanz der 
Sterne, den der Wachende fah, wird, fo hofft er, auch über dem 
Schlafenden fortglänzen; Töne und Düfte, ungenofien zwar und 
ungebört, werden duften und Mingen, nad wie vor; nichts von 
der finnlihen Welt wird untergegangen fein außer der zufälligen 
Wahrnehmung, die vorher von ihr dem Bewußtfein zu Theil 
wurde. Und dieſes vollkommene Zutrauen zu dem wahrhaften 
Dafein ihrer Anſchauungen befigt die Sinnlichkeit nicht nur harın- 
108, fondern ein tiefes Bedurfniß bemegt fie zugleich zur lebhaf⸗ 
ten Abwehr jedes Angriffes, der die volle Wirklichkeit ihrer Er— 
fcheinungen bedrohen möchte. Es ſoll die eigene Lieblichkeit Des 
Gegenftandes bleiben, die uns in der Süße des Geſchmackes und 
des Duftes berührt, die eigene Seele der Dinge, die im Klange 
zu uns Sprit; der Glanz der Farbe verbliche für uns in feinem 
Werthe, wenn wir feinen Schimmer nicht als die Offenbarung 
eines andern Weſens bewundern bürften, das, uns fremd, nun 
doch jo durchſichtig für ung wird, daß wir mitgenießend in feine 
Natur und verfenten und mit ihr verfchmelzen können. Der befte 
Theil der Bedeutſamkeit des Sinnlichen wiirde hinweg fallen, wenn 
dieſe helle Wirklichkeit des Empfundenen und genommen wiirde; die⸗ 
felbe Sehnfucht, die auf höheren Stufen des geiftigen Lebens nad) 
Ergänzung durch ein Anderes ftrebt, ſucht ſchon hier in der Sian- 
lichkeit dieſen träumerifhen Genuß einer völligen Durchdringung 
mit fremdem Wefen feftzubulten. Und nicht nur haften ſoll im 
irgend einer Weife das Sinnliche an den Dingen felbft; derſelbe 
Zug jener Sehnſucht verlockt und vielmehr, die finnlichen Eigen- 
haften als Thaten deſſen zu betrachten, an dem wir fie finden. 
Die Dinge find nicht allein farbig, fondern e8 iſt ihr lebendiges 
thätiges Scheinen, das in den Farben uns anblidt; ihr Geſchmack, 
ihr Duft find an uns andrängende Handlungen, in denen ihr ia- 
nerſtes Weſen fi dem unjeren nähert und und das aufichleekt, 
was innerhalb der äußerlihen Raumgrenzen, die ihre Geftalten 
füllen, das eigentliche Reale ihres Dafeins bilbet. 

Nicht überall freilich im täglichen Leben ift uns dieſer Ernſt 





389 


der Empfindung gleich gegenwärtig; andere Zwecke mit ber Mans 
nigfaltigleit der Ueberlegungen, melde fie mit fid führen, laſſen 
uns ohne Andacht iiber manche ſinnliche Anſchauung hinweggehens 
wos im Einzelnen uns bewegen würde, verfhwimmt für unſeren 
zerſtreuten Blick zu gleichgilltigem oder widerwärtigem Gefammt- 
eindrude; wir glauben chaotiſche unreine Maffen zu fehen, wo das 
bewaffnete Auge oft noch regelmäßige Kruftallifation und Spuren 
einer zierlichen Bildungskraft entdeckt. So merben die Farben ung: 
gleihgültig an den fünftlihen Formen unferer Geräthe; wenden 
wir aber unfern Blid auf die kleinſten Theilchen des natürlichen 
Stoffes, den unfere Technik fiir die Bebirfniffe des Lebens in 
eine ihm gleichgültige Geftalt gezwungen hat: wie tritt ſogleich 
wieder die Macht des finnlihen Zaubers hervor in der fetten 
Tiefe und der leuchtenden Pracht der Farbe, in jenem wunder⸗ 
famen Spiel gebrochener Fichter, „Die irifirend um die feinften Nig- 
ungen und Streifen der Oberflächen ſchweben! Dann fehen wir 
um Kleinen bafjelbe ſchöne Geheimniß aufblühen, das in den ges 
ftaltlofen duftigen Färbungen des Himmeld und an den felbft ges 
heimnißvollen Geftalten der Blumen immer unjere Sinne ahnungs⸗ 
voll erregte. Die manderlei Klänge, welche die Welt beleben, 
fegen fich wohl vor dem beihäftigten und unaufmerkſamen Ohr 
zu einem gleichgültigen Geräufche zufammen; aber das nachdenk⸗ 
liche Laufchen, das fie fondert, erkennt in den einzelnen Stimmen 
der Natur wieder jene Kundgebungen, dur die ein rätbfelhaftes 
Innere der Dinge unliberfegbar in jede andere Sprache und 
doch mit unmittelbarer Deutlichkeit zu uns fpridt. Nur die zus 
fälligen Verbindungen, in welche die Elemente des Sinnlichen für 
mande Gewohnheit unferer Auffafjung gerathen, die willführlichen 
Formen, in die wir die Dinge zum Dienfte unferes Lebens zu- 
fammenfegen, laſſen die urfprüngliche Bedeutfamfeit der finnlichen 
Anſchauungen für und zeitweis verfchmwinden; aber fie wird über— 
all non neuem empfunden, mo wir dem Eindrucke des Einfachen 
nnd Hingeben ober ihn aufſuchen, oder wo wir in vollenbetey 
Kunft das verbinden, was durch die Wahlverwanbtichaft feiner, 


390 


Natur verbunden zu werden verlangt. Dann erfennen wir ben 
Anſpruch wieder an, den unfere Sinnlichkeit macht, uns den Ein- 
blick in das innerfte Tebendige Wejen einer fremden wahrhaften 
Wirklichkeit zu gewähren, die in ihrer Fremdheit bald verwandt 
bald feindfelig und gegeniberfteht. 

Und allen diefen Glauben ftrebt und nun in der That die 
mechaniſche Naturanficht zu rauben, oder fie fcheint es doch zu 
wollen. Sie lehrt uns, daß jede Empfindung nur das eigene 
Erzeugniß unferer Seele fei, angeregt zwar von äußeren Ein- 
britelen, aber weder diefen noch den Dingen ähnlich, von denen 
fie ausgingen. Weder finfter noch bel, weder laut noch fill, 
vielmehr völlig beziehungslos zu Licht und Klang Tiege die Welt 
um und ber, ohne Duft und Gefchmad die Dinge; felbft was 
auf das Unwiderleglichſte die Wirflichfeit des Aeußeren zu bezeu- 
gen ſchien, Härte, Weichheit, Widerſtand der Dinge ſind zu For⸗ 
men der Empfindung geworden, in denen nur eigene Zuftände 
unferes Innern zum Bemwußtfein fommen. Nichts erfüllt in Wirk⸗ 
lichkeit den Raum, als eine unbeftimmbare Unzählbarteit von 
Atomen, in den mannigfaltigften Formen der Bewegung gegen 
einander ſchwingend. Und weder dieſe Atome noch jene Bewe— 
gungen find fo, wie fie find, Gegenftände unferer Beobachtung; 
beide find Die nothwendigen VBorausfegungen, auf welche nur bie 
DBerehnung der Erjheinungen, diefe aber nothwendig, zuräd- 
führt. Jene einfachen Elemente felbft Finnen wir nicht fchildern, 
da fie allen finnlihen Eigenſchaften, dem einzigen amfchaulichen 
Material unferer Schilderungen, fremd find; ihre Bewegungen 
können wir wohl verzeichnen, aber nie find fle in ihren wirklichen 
Bormen Gegenftände unferer wirklichen Wahrnehmung. Unferem 
Bewußtſein wird in aller Wahrnehmung unmittelbar Nichts zu 
Theil, als was es in fich felbft erzeugt hat; nur die fpätere 
Meberlegung der Bedingungen, unter denen unfere Empfindungen 
entftehen,, Teitet und allmählich zu der Annahme jener Urſachen 
zurück, die für fi der Beobachtung ſtets entzogen bleiben. So 
ift denn das Reale der äußeren Welt von unferen Sinnen völlig 





391 


geſchieden, und die ganze Mannigfaltigfeit der Sinnenwelt eine 
Erſcheinung in uns felbft, die wir freilich rückwärts iiber die 
Dinge ausbreiten, als fei ſie ihre natitrliche Geftalt und Beleuch— 
tung, Die aber doch fo wenig an ihnen haftet oder aus ihnen 
hervorgeht, als etwa die Keflerionen, zu denen uns die Erfahrung 
veranlaßt, fertig an den Gegenftänden hängen, an welche wir fie 
anknüpfen. Ä 

Vergeblich verfuchte man, gegen dieſe Xehre Die Realität der 
finnliden Erſcheinungen zu verteidigen. Man mußte zugeben, 
baß jene Bemegungsformen, welche die Berechnung vorausgefegt 
Hatte, in der That die veranlaffenden Bedingungen unferer Em- 
pfindungen find; aber man vermißte und verlangte den Beweis, 
daß nicht das, was einerſeits freilich Erzeugniß unferer geiftigent 
Natur ift, anderſeits doch zugleich in der Außenwelt felbft und 
in ben Reizen vorhanden fei, die zu feiner Wiedergeburt im Be— 
wußtſein treiben. Leuchtende Schwingungen des Wethers und 
tönende Schallwellen follten den Raum durchkreuzen und die mes 
chaniſche Bewegungsform nur das äußerlihe Hilfsmittel fein, 
durch welches fie Auge und Ohr zur Nachbildung jener an fich 
vorhandenen finnlihen Inhalte erregen. Aber man hätte den 
Beweis des Gegentheiles nicht von der mechanifhen Phyſik er- 
warten follen, da eine leichte Ueberlegung ihn vorher von felbft 
hätte darbieten Finnen. Wir kennen nicht allein Farbe und Ton 
nur duch unjer Empfinden, fondern wir würden völlig unfähig 
fein zu jagen, was wir uns unter ihnen noch vorftellen zu 
können meinten, jobald ſie nicht von und oder von einem anderen 
Bewußtſein mehr wahrgenommen würden. Sowie Geſchwindig⸗ 
feit nur angder Bewegung haftet und nicht für ſich etwas ift, 
das zur Bewegung noch hinzukommen Tünnte, fo haben alle finn- 
fihen Empfindungen nur den einen Ort ihrer Eriftenz, das Be- 
wußtfein, und nur die eine Art ihrer Eriftenz, ein Leiden oder eine 
Thätigfeit, ein Zuſtand überhaupt diefes Bewußtſeins zu fein. 
Noch ehe eine mechaniſche Theorie in den Bewegungsformen ber 
äußeren Elemente die Urſachen nachwies, von denen die Entſteh⸗ 


392 


ung ber Empfindungen in uns abhängt, hätte die Meflerion fidh 
darüber Har werden können, daß fie anf alle Fälle nur als folde 
Zuſtände des geiftigen Wejens und feines Wiffens denkbar find, 
und daß jeder Verſuch miplingen muß, das was an dem Lichte 
leuchtet und in den Tönen Flingt, irgendwo außer den empfinden⸗ 
den Wefen als für fich vorhandene Eigenfchaft der Dinge oder 
als ein Ereigniß zwiſchen ihnen feſtzuhalten. Vergeblich ift eg, 
das Auge fonnenhaft zu nennen, als märe das Licht, ehe es ge= 
fehen wird, und als bebürfte das Auge einer befonderen geheimen 
Faͤhigkeit, das nachzuahmen, was es vielmehr felbft erft erzeugt; 
fruchtlos fcheitern alle myſtiſchen Beſtrebungen, durch eine vers 
Borgene Identität des Geiſtes und der Dinge den finnligen An« 
ſchauungen eine Wirflichfeit außer und wieverzuverfchaffen. Aber 
wie fruchtlos fie fein mögen, immer werden fie freilich von jener 
ſeltſamen Empfindſamkeit erneuert werden, die ihre vielleicht be= 
rechtigten Wunſche nicht durch thätige Hinwegräumung der Schwie- 
rigfeiten zu befriedigen, fondern nur durch die bequeme Hingabe 
an das innerlich Widerfprechende zu täufchen verfteht. 


Sollen nun wirklich alle dieſe Anſprüche aufgegeben werben, 
die dem unbefangenen Bemwußtfein ſo begründet ſchienen? Sol bie 
ganze Pracht der Sinnlichleit nichts fein, als eine Täufchung 
unſeres Inneren, das unfähig die wahre Natur der Dinge anzu⸗ 
fhauen ſich durch die Erzeugung eines Scheines tröftet, dem keine 
objective Geltung irgend einer Art zukommt? Wäre es wenigften® 
möglich, die finnlihen Empfindungen fo zu faflen, als überfegten 
fie, der Bedeutung nad) wiedererfennbar, die Eigentehaften der 
Dinge in eine Sprache, die dem Geifte geläufig ift, fo würden 
wir uns beruhigen und die unvermeibliche Trübung hinnehmen, 
Die der Inhalt des Seienden bei feinem Uebergang in unfere 
Erkenntniß erlitt. Aber mas haben Schwingungen des Aethers 





393 





mit Licht, Verdichtungswellen der Luft mit Tönen zu tbun? So 
völlig unvergleichbar tft bier die phufifche Veranlaſſung mit ber. 
Empfindung, die ihr folgt, daß wir in dieſer nicht einmal einen 
abgeſchwächten Wiverhall jener finden, fondern ohne einen Schat⸗ 
ten der Aehnlichkeit eine neue Erſcheinung in uns auftauchen 
fehen. Wie ungeſchickt ift daher die Sinnlichkeit zu ihrer Auf: 
gabe, Die Natur der Dinge, oder Doch wenigftens die wahre Außen- 
feite ihres Weſens wiederzugeben; wie völlig ſchwankend wird da⸗ 
durch auch die Hoffnung, daß bie Erfenntniß ihr Inneres durch⸗ 
bringen werde! Ueberall in Irrthum eingejchloffen, können wir 
unfere finnlihe Wahrnehmung nur eine fortgefegte Sinnestäu- 
hung nennen. 

Wenn dieſe Klagen matikrlich find, fo ift e8 doch gewiß nicht 
der Geift der mechanifhen Naturforfhung, der fie veranlakt hat. 
Indem die Phyſik von den unanfhaulichen Elementen ausgeht 
und die Mannigfaltigfeit ihrer Bewegungen verfolgt, indem fie ben 
Eindruck zu beftimmen fucht, den die Uebertragung dieſer Er⸗ 
ſchütterungen auf die empfänglichen Nerven des Iebendigen Kör⸗ 
pers, von ihnen endlich auf die Seele hervorbringt, betrachtet ſie 
dieſen Zufammenhang einfach als eine caufale Kette von Vor: 
gängen und findet e8 bier nicht wunderbarer als fonftwo, daß 
nad fo vielen Mittheilungen der Wirkung von einem Träger 
zum andern der legte Erfolg, die Qualität der bewußten Empfin- 
dung felbft, den erften veranlaffenden Urjachen völlig unähnlich 
ft. Warum doch, würde fie uns mit Recht fragen, verlangt ihr, 
daß es anders ſei? Warum fegt ihr als eine Pflicht eurer Sinne 
voraus, daß fle Die Dinge, von denen fie angeregt werden, fo 
darftellen follen, wie fte wirklich find, und nicht vielmehr eben fo, 
wie ſie diefelben wirklich darftellen? Warum überhaupt follen fe 
nicht den Iegten Erfolg zum Bemußtfein bringen, fondern viel- 
mehr die erften Urfachen ; und iſt nicht der Glanz und der Ton, den 
fie euch Hberliefern, eben indem er überliefert wird, fo gut wie 
Die ungefehenen Dscillationen des Aether und ber Luft eine 
Thatſache, die gleiche® Hecht hat, wahrgenommen zu werben, wie 


394 


jene? Und wenn ihr bedauert, daß die Pracht der finnlichen Welt 
verloren gehen fol, was hindert euch Doch, fie vielmehr feſtzuhal⸗ 
ten und euch ded Umſtandes zu erfreuen, daß es Wefen in der 
Welt gibt, deren Innered durch den Andrang jener Bewegungs: 
formen zu fo ſchönen Rüdwirkungen, zur Entfaltung einer hellen 
Farben und Tonwelt fih anregen läßt? Was enblich nöfhigt 
euch, in Die weit minder erfreuliche Tiefe zu gehen, diefen ſchönen 
Schein hinwegzuſcheuchen, und euch nach dem wahren Anblid des 
tragenden Gerippe8 zu ſehnen, deſſen Starrheit feine weichen Um: 
riffe verhüllen ? 

In der That ift wohl Veranlaffung dazu, jene jo felbftver- 
ſtändlich fheinende Borausfegung zu prüfen, als ſei Sinnlichkeit 
und alle Erkenntniß nur dazu vorhanden, bie Geftalten der Dinge, 
wie fie find, unferem Bewußtfein abzubilden. Man wird und 
zweifelnd einwenden, wozu doc diefer Zweifel führen ſolle? Als 
wenn nicht natürlich die Aufgabe des Erfennens eben im Erken⸗ 
nen beftehen müßte? Aber diefer Einwurf wiederholt eben nur 
jene Ucbereilung, die uns Allen jo geläufig if. Denn eine un 
zweifelhafte Thatjache, von der unfere Betrachtung beginnen muß, 


befteht nur in der Wahrnehmung, daß in unferem Bewußtſein 


eine mannigfache Welt der VBorftellungen vorhanden ift, in deren 
Erzeugung wir und von unbefannten außer uns gelegenen Be 
dingungen abhängig finden. Gefeglich in fih und mit dem Reiche 
diefer unbefannten Bedingungen verbunden, entwirft diefes Spiel 
der Borftellungen übereinftimmend für die verſchiedenen Geifter 
das Bild einer gemeinfchaftlihen Außenwelt, in welcher. fie zum 
Wechſelverkehr des Handelns und ber Mittheilung einander be 
gegnen. Für jeden Einzelnen hat daher das Vorftellen bie Auf- 
gabe, wahr zu fein, aber doch nur in dem Sinne, daß e8 Jedem 
bie gleiche Welt vorhalte, die e8 Andern zeigt, und daß nicht eine 
individuelle Täufchung uns aus der Gemeinfchaft mit den übri- 
gen Geiftern ausfchließe, indem fie und eine Reihe äußerer Be 
ziehungspunfte vorfpiegelte, an denen wir nie mit der Thätigfeit 
der Andern uns berühren können, weil fte fir Niemand als fir 





395 


und vorhanden find. Unbeftimmt bleibt e8 dabei gänzlich, ob die 
Welt, deren Anſchauung wir übereinftimmend durch unfere Bor- 
ftellungen erhalten, für alle ein gleicher folgerechter Irrthum iſt, 
oder ob das, was wir zu fehen glauben, in der That bie eigene Ge⸗ 
ſtalt der Außenwelt abbildet, von deren Einwirkungen wir uns 
abhängig fühlen. 

Theil diefe Gewöhnung des täglichen Lebens, theils das 
eigenthümliche Intereſſe der Wiflenfchaft, die freilich ausdrücklich 
das Erkennen der Dinge zur Aufgabe ihrer Unterfuhungen macht, 
haben in uns die Gewohnheit hervorgebracht, die Vortrefflichkeit 
unferer Vorftellungen und Empfindungen nah der Genauigfeit 
zu mefjen, mit welder fie abbildend die Natur der Gegenftände 
wiederholen. Dan vergift Dabei, daß der Lauf Diefer inneren 
Erſcheinungen in und ganz ebenforwohl eine vollwichtige Thatjache 
iſt, als das Dafein deſſen, von dem fie herrühren; und nachdem 
man fih einmal gewöhnt hat, fie mit dem Namen des Erfennens 
zu belegen und ihnen ſtillſchweigend dadurch die nothwendige Be— 
ziehung auf ein Aeußeres anzuheften, pflegt man nun Sein und 
Erkennen fo einander gegenüberzuftellen, als ſei mit dem erften 
der eigentliche Effectiobeftand der Welt abgefchloffen und Tiege dem 
Veßtern nur ob, gut oder fchlecht dieſe fertige Welt im Wiffen 
noch einmal zu wiederholen. Aber dieſe Thatjache, daß der Ein- 
fluß des Seienden und feiner Veränderungen in.dem Innern ber 


geiftigen. Wefen dieſes Aufblühen einer Welt finnliher Empfin- 


dungen veranlaft, fteht nicht al8 eine mäßige Zugabe neben bem 
übrigen Zufommenhange der Dinge, ald wäre der Sinn alles 
Seins und Geſchehens vollendet auch ohne fie; fie felbft ift viel- 
mehr eines der größten, ja das größte aller Ereigniffe überhaupt, 
neben deſſen Tiefe und Bedeutſamkeit alle8 Uebrige verſchwindet, 
was fonft zwiſchen ven Beſtandtheilen der Welt ſich ereignen 
könnte. Sowie wir jede Blüthe nach ihrem eigenen Farbenglanz 
und Dufte ſchätzen, ohne zu verlangen, daß fie die Geftalt ihrer 
Wurzel abbilvend wiederhole, jo müfjen wir auch dieſe innerliche 
Melt der Empfindungen nad ihrer eigenen Schönheit und Be- 


bentung fohägen, ohne ihren Werth an der Treue zu meſſen, mit 
ber fle das Geringere wicberbringt, auf dem fie beruht. 

Denn in der That warum follten wir nicht dies ganze Ver: 
haltniß umkehren, an welches uns eine undurchdachte Borftellungs- 
weije gemöhnt bat? Anftatt das Aeußere als den Zielpunkt auf- 
zuftellen, nach dem alle Schnfucht unferes Empfindens fi ri: 


ten müßte, warum follen wir nicht vielmehr diefe Teuchtende und 


tönende Pracht der Sinnlichkeit als den Zweck auffafjen, zu deſſen 
Erfüllung alle jene Beranftaltungen der Außenwelt beftimmt find, 
fiber deren Verborgenfein wir uns beflagen? Die poetifche Idee 
und ihre eigene bedeutfame Schönheit ift e8, was an dem Schaut 
fpiel uns befriedigt, das wir auf der Bühne fih vor uns ent 
wideln fehen; Niemand glaubt dieſen Genuß zu fteigern ober die 
noch tiefere Wahrheit zu finden, wenn ex ſich in die Betrachtung 
der Maſchinerien verfenten Könnte, welche dieſen Wechfel der De 
eorationen und der Beleuchtung hervorbringen; Niemand, indem 
er den Sinn der gefprodenen Worte in fi aufnimmt, vermißt 
die deutliche Erkenntniß der phufifchen Vorgänge, durch welche der 
Organismus der Darfteller jene tönenden Vibrationen der Stimme 
erzeugt oder die Bewegung der ausbrudspollen Geberven ind 
Werk ſetzt. Der Lauf der Welt ift dieſes Schaufpiel; feine mes 
fentlihe Wahrheit ift der Sinn, der ſich in ihm verftändlic für 
das Gemüth entfaltet; jenes Andere aber, was wir oft fo gern 
wiſſen möchten und worin wir in befangener Täufhung erft das 
wahre Weſen ber Dinge fuchen, ift nichts als ber Apparat, auf 
dem die allein mwerthoolle Wirklichkeit dieſer ſchönen Erjcheinung 
beruht. Anftatt zu Magen, daß die Sinnlichkeit Die wahren Eigen⸗ 
haften der Dinge außer uns nicht abbilvet, follten wir glücklich 
fein, daß fie etwas viel Größeres und Schöneres an ihre Stelle 
fest; nicht gewinnen, fondern verlieren wilrden wir, wenn wir die 
leuchtende Herrlichleit der Farben und des Lichtes, die Kraft und 
Anmuth der Töne, die Süße des Duftes aufopfern müßten, um 
an der Stelle diefer verfchwundenen Welt ber mannigfachſten 


Schönheit und an der genaueften Anfchanung mehr oder minder 


397 


häufiger, nad dieſer oder jener Richtung gehender Schwingungen 
gu tröften. Iſt es doch außerdem und möglich, in wiffenfchaft- 
licher Unterfuchung diefer Erkenntniß habhaft zu werden und jene 
farblofen Gründe der finnlichen Welt in der That noch zu er- 
zeichen, Über welche die wirklide Empfindung dieſen täufchenden 
oder, wie wir richtiger fagen würden, dieſen verflärenden Schim⸗ 
mer verbreitet. Sehen wir deshalb von der Klage ab, als ent- 
gehe unferer Wahrnehmung das wahre Wefen der Dinge; eben 
barin befteht es vielmehr, als was fie uns erjcheinen, und 
Alles was fie find, ebe fie und eriheinen, das tft die ver- 
mittelnde Vorbereitung für diefe endlihe Verwirklichung ihres 
Weſens ſelbſt. Die Schönheit der Farben und der Töne, Wärme 
und Duft find es, was an fid) die Natur. bervorzubringen und 
auszubrüden ringt und für fi allein nicht zu erreichen vers 
mag; fie bedarf dazu als des legten und ebelften Werkzeuges 
eben des empfindenden Geiſtes, der allein im Stande if, dem 
ftummen Streben Worte zu geben und in der Pracht der finn- 
lien Anihauung zu heller Wirklichfeit zu beleben, was alle jene 
Bewegungen und Geberben der äußeren Welt fruchtlo8 zu jagen 
fih bemühten. 


Aber wie groß auch die Bedeutung fein mag, Die wir auf 
dieſe Weife der finnlichen Empfindung in dem Zufammenhange 
der Welt zufchreiben: wir müſſen doch fürchten, die alten Klagen 
nicht durch fie völlig zu beſchwichtigen. Denn zu einfeitig fällt 
der Bortheil des Genuffes der geiftigen Welt zu, und alle Natur 
ſteht ihm gegenüber nur noch als das Ieblofe, wenn gleich bes 
wegliche Gerüft der Mittel da, durch welches die Schönheit der 
Sinnenwelt nur in einem Anderen, aber nicht in ihm jelbft her⸗ 
vorgebracht wird. Sollen nun Die Dinge nur dazu dienen, durch 
ihre Bewegungen felbft genußlos den Seelen Anregungen zu dies 
fem innerlichen Leben zuzuführen? Soll die eine Hälfte des Ge: 
Ichaffenen, die, welche wir unter dem Namen der materiellen Welt 
zufammenfafien, durchaus nur zum Dienfte der anderen Hälfte, 


398 


des Reiches der Geifter, vorhanden fein, und haben wir nicht 
Recht mit der Sehnfucht, den ſchönen Glanz der Sinnlichkeit auch 
in demjenigen anzutreffen, von dem er doch immer für und aus⸗ 
zugehen ſcheint? Vielleicht würde num dieſe Sehnfucht allein nicht 
binreihen, um eine neue ©eftaltung unferer Anfihten Hinläng- 
ih zu begründen; nehmen wir jedoch an, daß eine tiefer gehende 
Unterfuchung die Kraft dieſes Grundes ergänzte, jo würden wir 
doch gewiß auch in ben Dingen felbft die Wirklichkeit alles finn- 
lichen Inhaltes nur unter VBorausfegung der Bebingungen mög- 
ih finden dürfen, unter benen fle und überhaupt benfbar if. 
Nur ald Formen oder Zuftände eines Anſchauens oder Wiſſens 
läßt fih nun der Inhalt der finnliden Empfindung, laffen ſich 
Licht und Farbe, Ton und Duft begreifen; follen fie nicht allein 
Erfcheinungen in unferem Innern fein, fondern auch den Dingen 
eigen, von. denen fie auszugehen ſcheinen, fo müfjen bie Dinge 
ſich felbft erſcheinen können und in ihrem eigenen Empfinden fle 
in fih erzeugen. Zu diefer Folgerung, welche iiber alles Seiende 
die Helligkeit lebendiger Befeelung ausbreitet, müßte unjere Sehn⸗ 
fucht entichloffen fortgehen; in ihr allen fände fie eine Möglich- 
feit, dem Sinnlichen eine Wirklichkeit außer uns zu vetichäffen, in⸗ 
dem fie ihm eine Wirklichkeit im Innern der Dinge gäbe; fruchtlos 
Dagegen wilrbe jeder Verfuch fein, das was nur als innerer Zu- 
ftand irgend eines Empfindend denkbar ift, als eine Außerliche 
Eigenfhaft an empfindungslofe Dinge zu heften. 

Sp finden wir und hier zu einem Gedanken zurüdgeführt, 
den ſchon unſere erften Betrachtungen über die Natur der Seele 
uns nahe legten, zu jener Annahme eines doppelten Dajeins, 
das alle Materie führe, äußerlich mit den befannten Eigenjchaften 
des fürperlichen Stoffes ſich benehmend, innerlih von geiftiger 
Regſamkeit belcht. Wir wieſen damals die Anwendung dieſes 
Gedankens zurüd, melde das Ganze des lebendigen Leibes un⸗ 
mittelbar zugleich als bie empfinbende Seele auffaffen, oder ans 
dem Zuſammenwirken vieler Elemente die Einheit unſeres Bes 
wußtjeins erflären wollte; wir erkannten, daß die legtere nie als 


399 


das Ergebniß aus Werhjelmirkungen einer Vielbeit, fondern nur 
als die Aeußerung eines untheilbaren Weſens denkbar fei, und 
daß die völlige Verſchmelzung der geiftigen Thätigfeit mit Dem 
Ganzen des Körpers, das nicht von Emigfeit beifammen war, 
fondern im Laufe des Wachsthums aus den verichiedenartigften 
Beiträgen der Außenwelt zufammentritt, gleich jehr den allgemei- 
ren Möglichkeiten als den beftimmteften Thatfachen der Erfahrung 
widerfpreche. Auch jett können wir nicht anders denken, und der 
Verſuch, die Materie als bejeelt zu faflen, muß nothwendig mit 
dem anderen verbunden fein, die Geftalt, in welcher unfere un- 
mittelbare Beobachtung diefe Materie wahrzunehmen glaubt, bie 
unendlich theilbare Ausdehnung, als einen Schein nachzumeifen, 
dem eine Mannigfaltigfeit untbeilbarer, nur durch überfinnliche 
Eigenſchaften beftimmter Wefen zu Grunde liegt. Manche bisher 
zerftreut und ohne Abſchluß gebliebenen Fäden unferer Ueberle- 
gungen laufen jest zufammen und nähern fi ihrem Ende; möge 
es und erlaubt fein, um zu ihrer völligen Vereinigung zu gelan- 
gen, die Aufmerkſamkeit noch einmal ausdrücklicher auf jenen Be- 
griff der Materie zu richten, den wir bisher gelten ließen, zu— 
frieben, feine Mebergriffe in fremde Gebiete abzumehren, und dem 
wir jest endlich auch das zu entziehen fuchen müfjen, welches er 
eigenthiimlich zu beherrfchen ſchien. Denn während frühere An- 
fihten aus den Wirkfamkeiten des Stoffes das geiftige Leben wie 
eine leichte und felbftverftändlihe Zugabe glaubten hervorgehen 
zu ſehen, ift e8 jet in der That unfere Abjiht, Die alleinige 
urſprüngliche Wirklichkeit der geiftigen Welt zu vertreten und zu 
zeigen, baß wohl die materielle Natur aus ihr, aber nicht fie aus 
diefer begreifbar if. 

In jenen allgemeinen Betrachtungen, Die wir dem Bilde des 
leiblichen Lebens vorausfhidten, haben wir uns überzeugt, daß 
eine Erklärung der mannigfaden Formen und Ereigniffe, welche 
und die Beobachtung im Großen darbietet, nur aus den Wechfel- 
wirkungen vieler von einander gefchtedener und gegen einander 
felbftändiger Mittelpunfte aus- und eingehender Kräfte möglich 


400 


ift. Beftätigt doch unmittelbar die Wahrnehmung des bewaffneten 
Auges in vielen Fällen diefe innere Gliederung ſcheinbar gleid- 
artiger Maflen, und eine eindringendere Unterſuchung, welche alle 
Die räthſelhaften Erſcheinungen beritdfichtigte, Die und der feinere 
Bau auch der unbelebten Körper und bie von ihm abhängigen 
Eigenthümlichkeiten ihres Wirkens zeigen, wurde ſich unvermeid: 
ih dazu genöthigt fehen, diefelbe Organtifation der Materie aus 
einzelnen wirffamen Thetlen noch weit über die Grenzen möglie 
her Wahrnehmung hinaus anzunehmen, Aber der letzte Schritt, 
den unfichtbar Kleinen Atomen, auf welche wir jo geführt werden, 
jede räumliche Ausdehnung, Form und Größe abzufprehen, war 
doch dort nur cine mögliche, noch nicht eine nothwendige Veronll- 
ſtändigung diefer Anfiht. Konnte man jedoch fr die Bedürfniſſe 
ber Phyſik diefe Trage unentſchieden laſſen, fo nöthigt und die 
Borftellung, welche geiftiged Leben oder eine Analogie deſſelben 
auch für die Materie retten möchte, eine beftimmte Antwort auf 
fie zu ſuchen 

Bezeichnet nun Die gewöhnliche Annahme die Materie ald 
das Ausgevehnte, Undurchdringliche, Widerftanbleiftende und Un⸗ 
vergängliche, fo würden wir ihr zuerft einmwerfen müſſen, daß zu 
dieſen Eigenfchaften und Handlungsweiſen das Subject fehle: wir 
vermiffen die Angabe deſſen, was bier ausgebehnt, undurchdring⸗ 
lich und unvergänglich fer, und was dieſe verſchiedenen Eigen 
haften, die ihrem eigenen Begriffe nach in Feiner nothwendigen 
Berbindung ftehen, zufammen vorzukommen nöthige. Beſſert nun 
jene Annahme ihren Mangel durch das Zugeſtändniß, daß ja 
allerdings das eigentlich Seiende in der Materie in einem un 
fagbaren Ueberfinnlichen beftehe, aus deſſen Natur eben jene Eigen- 
ſchaften und ihre Verbindung nothwendig und beftändig folgen: fo 
wärben wir ihr antworten müſſen, daß mit dem Begriffe eines 
Seienden zwar die übrigen Prädicate, aber nicht das der Ausdeh⸗ 
nung vereinbar fei, durch welches doch gerade am weſeutlichſten bie 
Materie fih von allem anderen Seienden zu unterſcheiden meine. 

Denn wer von der Ausdehnung der Materie fpricht, iſt nicht 


401 


zufrieden damit, in jedem Punkte des Raumes, den er im Auge 
bat, die wirkende Herrſchaft die Macht oder die geiftige Gegen 
wart einer Subftanz anzutreffen, welche felbft doch nur an einem 
einzigen Punkte zugegen wäre; jeder kleinſte Ort dieſes Raumes 
fol vielmehr von ihr ftetig ebenſo erfüllt fein, wie fie jenen be- 
vorzugten Punkt erfüllen würde. Und zugleich ift für dieſe Anficht 
jeder einzelne Punkt jenes erfüllten Raumes auch für fih ein 
bleibender Mittelpunkt von Kräften, und ber Wegfall aller übrigen 
wurde ihn nicht hindern können, der Natur des in ihm enthal- 
tenen Antheils an Realem gemäß feine Wirkungen fortzufegen. 
So kommt diefe VBorftellungsweife zu einer unendlichen Theilbar⸗ 
feit des Ausgebehnten, aber eben Damit vermag fie, wie mir ſcheint, 
bie Borftellung eines wirklichen Getheiltfeind nicht von ihm abzu- 
"Halten. Denn das, was nad feiner gefhehenen Abtrennung von 
einem Ganzen feine Wirkungen mit dem proportionalen Antheil 
von Stärke, der feiner Größe entjpricht, ungeftört fortzufegen ver- 
mag, exiftirte doch wohl ſchon in dem Ganzen als ein felbftän- 
diger Theil, mit andern gleich felbftändigen zwar zu einer georb- 
neten Summe, aber nicht zu einer wahrbaften Wefenseinheit ver- 
bunden. Ober umgelehrt, was im Stande ift, in eine Vielheit 
völlig jelbftändiger Theile zu zerfallen, einzelne ohne Aenderung 
feiner Natur aus ſich zu entlaffen, andere, die nie feine Theile 
waren, ın fih aufzunchmen: das Tann in folder Gleichgültigkeit 
gegen Vermehrung und Verminderung nicht mehr als ein einziges 
in fich gefchloffenes Wefen, fondern nur als eine Vereinigung ur- 
fprünglich vieler gedacht werden. Man mag diefer äußeren Viel- 
fältigkeit immerhin eine innere Einheit des Vielen entgegenfegen, 
man mag annehmen, daß alle dieſe Theile durch Gleichheit ihres 
Weſens, durch gemeinfomen Sinn, durch folivarifhe Verpflich— 
tung zu einer gemeinfohaftlihen Entwidlung und Wirkungsweiſe 
auf das Imnigfte verbunden find: ſobald wir abjehen von dem, 
was fie einft waren, und dem, was fie fein follen, fo lange wir 
nur ind Auge faflen, was fie find, kann feine dieſer höheren Ein- 
heiten uns darüber täuſchen, daß fie zunächft unwiderſprechlich 
Loge I. 3. Aufl. 26 


402 

eine Bielbeit bilden. Welche Nebengedanten man ſich auch immer 
über die Innerlichfeit des Ausgebehnten machen möge: wir bes 
ſtehen darauf, daß man um ihretmillen feine Aeußerlichkeit nicht 
bemäntele. Und diefe Aeuferlichfeit, eben das Außgebehntfein, 
wird nie denkbar werben, ohne daß wir einzelne Punkte voraus⸗ 
fegen, die unterſcheidbar, die außer einander, die durch Entfernun- 
gen von einander getrennt find, die endlich durch die Wirkung 
ihrer Kräfte oder durch ihre gegenfeitigen Einflüffe überhaupt ein- 
ander die Orte beftiinmen, welche fie einnehmen. Dieſe Unter- 
ſcheidbarkeit vieler Punkte ift nicht eine beiläufige Folge der Aus- 
dehnung, fondern fie ift das, worin ihr Begriff felbft beftcht; 
wer den Namen der Ausdehnung ausſpricht, bezeichnet damit eine 
Eigenſchaſt, die nur gegenfeitige Beziehungen von Mannigfachen, 
nur Nichteinheit, nur Wechſelwirkung einer Vielheit ausdrückt. 

Jeder Verfuh, die Ausdehnung als Präbicat nicht eines 
Spftems von Weſen, fondern eines einzelnen Elementes zu faffen, 
müßte nothwendig die andere Behauptung einfchließen, daß in 
biefem Elemente die Theile, die auch in ihm unterſcheidbar fein 
müflen, damit e8 eine räumlihe Größe darftelle, doch nie zu 
felbftändiger und freier Eriftenz trennbar feien. Aber unfere Er- 
fahrung bekräftigt im Großen wenigftens durchaus die Trennbar- 
feit des Unterſcheidbaren; mur in den unfichtbar kleinen Dimen- 
fionen der Atome könnten wir hoffen, zugleich Ausdehnung und 
untheilbare Stetigfeit anzutreffen. Aber wir wilrden wenig mit 
diefer legten Vermuthung gewinnen. Denn worin würten wir 
dann den Grund der beftimmten, weder größeren noch geringeren 
Ausdehnung fuchen, welche jeves Atom unveränverlich füllt? Wenn 
nicht in der Anzahl der Theilchen, die e8 einfchließt, worin dann 
anders, als darin, daß die überfinnlihe Natur defien, was bier 
wahr oder fcheinbar ſich ausdehnt, nur zur Erfüllung diefes und 
feines größeren Raumes, nur zur Herftellung diefer und feiner 
größeren ungerreißbaren Scheingeftalt ausreihte? So ift zulegt 
doch auch fir dieſe Anficht die Größe der Ausbehnung nur der 
räumlide Ausorud für das Maß intenfiver Kraft, und es ift 


403 


nicht eigentlich das Wefen, fonbern feine Wirkſamkeit, welche den 
Raum füllt. Geſtehen wir darum lieber fogleich zu, daß Aus- 
dehnung fo wenig das Prädicat eined Weſens fein Tann, als ein 
Strudel oder Wirbel die Bewegungsweiſe eines einzelnen Ele- 
mentes ift; beide laſſen fih nur al8 Formen der Beziehung zwi⸗ 
fhen vielen denken. Sp werden wir genöthigt, jene Vorſtellungs⸗ 
weife feftzubalten, die uns früher nur ald eine mögliche erjchien 
und die ausgedehnte Materie als ein Syſtem unausgevehnter 
Weſen zu faflen, die Durch ihre Kräfte ſich ihre gegenfeitige Tage 
im Raume vorzeichnen, und indem fie der Verſchiebung unter 
einander wie dem Eindringen eines Fremden Widerftand leiften, 
jene Erfcheinumgen der Undurchdringlichkeit und der ftetigen Raum- 
erfüllung hervorbringen. 

Die Neigung, die Ausdehnung ummittelbar als Eigenfchaft 
des Wirklichen zu denen, beruht vielleicht auf einer Vorftellung, 
die wir aus unferer eigenen Lebenserfahrung verftohlen in diefen 
ganz anderen Gedankenkreis einführen. Vene "Anfichten wenig. 
ftend, welche die Ausdehnung der Materie nur als einen von 
vielen Ausdrüden deuten, in welden ein viel allgemeineres Bes 
ftreben des ſchaffenden Abfoluten, eine Sehnfuht nah Entfaltung 
und Ausbreitung ind Unendliche ſich kundgebe, verrathen in ber 
äfthetifchen Begeifterung für Diefe Form des Thuns ihre Erinne- 
rung an den Genuß, ben die Freiheit ungemeffener Ausbreitung 
und Ermeiterung unferes Daſeins uns menfhlihen Wefen ver= 
ſchafft. Für uns ift der Raum ter Umgebung zunädft eine 
Schranke, eine Weite, die wir durch Bewegung überwinden und 
aufzehren müflen; fir uns ift deshalb Bewegung gleichzeitig An⸗ 
ftrengung und Genuß; jenes, weil wir fie nur dur den Me⸗ 
chanismus unferer Glieder burchführen Können, dieſes, weil bie 
veränderte Stellung den Reiz neuer Anſchauungen und das Be— 
wußtſein unferer Kraftübung erwedt, durch die wir fie errungen 
haben. Diefe Stimmung, die Gemeingefühl gehobener Kraft 
und befriedigter Sehnſucht, das und in der Durchwanderung 


großer Entfernungen belebt, tragen wir unvermerft auf den all- 
26 * 


‘ 


404 


gemeinen Begriff der Bewegung über. Alle jene Phantaften, die 
in ber unenblihen Bewegung der Himmelskörper einen Gegen: 
ftand ſchwärmeriſcher Verehrung faben und in ihr das wahre 
Sein und die ewige Thätigfeit des Seienden fanden, meinten 
im Stillen, daß die Heberwindung diefer ungeheuren Räume für 
jene Rörper eine Leiftung fei, deren lebendigen Kraftaufmand fie 
felber empfänden; wie der Vogel ſich feines Fluges freut, fo ge: 
nöffen die Planeten felber den Schwung ihrer Berwegung, und 
wie jener mit ſcharfem Auge die ſchöne Verſchiebung feiner Um: 
gebungen überblidt, an ihr den durchmeſſenen Raum fchätenb, fo 
fet auch für diefe ein Bemußtfein von der Größe der überwun: 
denen Entfernungen in irgend einer Weife vorhanden. Es find 
ähnliche Nebengedanfen, welche uns fir die Erpanſion des Abſo⸗ 
Iuten und für die ftetige Ausdehnung der Materie begeiftern; 
wir begleiten fie dabei mit einem Gefühl der Entlaftung von be 
engendem Drude; und wie wir tiefeinathmend in der Erweiterung 
unferer Bruft unmittelbar die Zunahme unferer Lebenskraft zu 
empfinden glauben, fo ‚liegt eine verworrene Erinnerung an das 
fühlbare Glück folder thätigen Ausbreitung auch in der Vorftel- 
Yung jener raumerfüllenden Thätigfeit, die wir der Materie zu: 
Tchreiben. Und Doc überzeugt uns eine einfache Betrachtung, daß 
von allen den Bedingungen, auf welchen für und die Möglichkeit 
diefer Luſt beruht, Feine fir die unorganifirte Materie vorhanden 
ift; je urfprünglicher ihr die Ausbehnung zufommen fol, um jo 
weniger ift fie eine Leiftung für fle, deren Ausführung eine le 
dendige Anftrengung erforderte; und alle jene Erpanfion des Ab- 
foluten Tann nicht als eine Luft der Befreiung und ber Weber: 
windung von Schranken, fondern nur als Zerfall in eine Biel 
heit verfchiedener Punkte gefaßt werden, auf deren Außereinan- 
derſein alle Ausdehnung allein berubt. 

Bielleiht Haben wir den Vorwurf zu beforgen, in dieſen Be: 
merkungen Nebenvorftellungen, bie ſich als Zuthaten individueller 
Phantafie wohl zufällig hie und da einfchleichen, fiir weſentliche 
Beitandtheile jener Anficht von einer ausgedehnten Materie au: 








405 


t 


gegeben zu haben. Aber zu viele Beifptele zeigen uns Doch, wie 
häufig dieſe liebenswürdigen Erinnerungen an das volle menfch- 
lie Dafein wirflih im Stillen die Erwägungen lenken, deren 
Zügel das reinfte und abftractefte fpeculative Denken ganz feft allein 
zu führen glaubt; und in unferem Falle wüßte ich in der That 
nicht, wenn das Seiende nichts davon hätte, ausgedehnt zu fein, 
was uns dann noch veranlaffen follte, jo hartnädig feiner inner- 
lichen Natur diefe Eigenfhaft anhängen zu wollen und mit fteti= 
ger Materie den Raum völlig auszuftopfen, den, für alle Erflä- 
rung der Erſcheinungen hinreichend, überfinnliche Wefen mit ihren 
lebendigen Kräften beherrichen könnten. Aber hinzufügen könnten 
wir im Gegentbeil, daß unferer Auffaffung möglich fein würde, 
was jener mißlingt; indem jedes einzelne Wefen durch feine Wech⸗ 
ſelwirkung mit den übrigen ſich felbft und diefen ihre Orte im 
Raume beftimmt, Wirkungen ausjendet und in fih aufnimmt, 
wird es von diefer feiner Lage zu der Gefammtheit der anderen 
auch Eindrüde empfangen können, die dem ftetig Ausgedehnten 
feine bloße Gegenwart und Ausbreitung im Raume nicht ver- 
ſchafft haben würde. 


Mit dieſer Vorausſetzung unräumlicher Atome haben wir die 
einzige Schwierigkeit beſeitigt, die uns hindern konnte, jenem Ge⸗ 
danken eines inneren geiſtigen Lebens nachzuhängen, welches alle 
Materie durchdringe. Die untheilbare Einheit jedes dieſer ein— 
fachen Weſen geſtattet uns, in ihm eine Zuſammenfaſſung der 
äußeren Eindrücke, die ihm zukommen, zu Formen der Empfindung 
und des Genuffes anzunehmen. Alles, was an dem Inhalte der 
Sinnlichkeit unfere Theilnahme erregte, Tann nun in dieſen Wefen 
eine Stätte objectiver Eriftenz haben, und unzählige Ereigniffe, 
auf deren Borhandenfein uns nicht unfere unmittelbare Empfin- 
dung, fondern nur der Ummeg wiflenfchaftlicher Unterfuhung führt, 
brauchen nun nicht verloren zu gehen, fondern fünnen im Innern 
der Stoffe, an denen ſie auftreten, zu mannigfacher ung unbe- 


406 


kannter Wärme und Schönheit der Wahrnehmung verwerthet wer⸗ 
ben. Geber Drud und jede Spannung, welde die Materie er- 
leidet, die Ruhe des ficheren Gleichgewichtes wie die Trennung 
früherer Zufammenbänge, alle® dies gejchieht nicht nur, fondern 
ift geſchehend zugleich der Gegenftand irgend eines Genuſſes; jedes 
einzelne Wefen, mit abgeftuften Wechſelwirkungen in das Ganze 
der Welt verflochten, ift, wie einer der größten Geifter unſeres 
Volkes e8 nannte, ein Spiegel des Univerfinn, ven Zufammen: 
bang des Weltalls von feinem Orte aus empfindend und die be= 
fondere Anficht abbildend, welche er diefem Orte und biefem 
Standpunkte gewährt. Kein Theil des Seienven ift mehr unbe- 
lebt und unbefeelt; nur ein Theil des Geſchehens, jene Bewe— 
gungen, welche die Zuftände des einen mit denen des andern ver- 
mitteln, ſchlingen fih als ein äußerlicher Mechanismus durch bie 
Fülle des Befeelten, und führen allem die Gelegenheiten und An— 
regungen zu wechfelnder Entfaltung des inneren Lebens zu. 
Wir zeichnen mit dieſer Schilderung eine Auffaffung, für 
welche wir, überzeugt von ihrer wejentlihen Wahrheit, doch kaum 
ein anderes Zugeftändniß erwarten dürfen, als daß fie unter den 
Träumen, die unfere Phantafte ſich entwerfen kann, einer von 
denen fei, die nicht im Widerſpruch mit dem Wirklichen ftehen. 
Aber eben fo wenig fei ihre Wahrſcheinlichkeit Uberredend, denn 
indem fie meine, eine ſchwärmeriſche Sehnfucht zu befriedigen, 
biete fie weit mehr, als diefe gern annehmen möchte. Wer würde 
den Gedanfen ertragen wollen, daß in jevem Staub, den unfer 
Fuß tritt, in dem profaiihen Stoffe des Tuches, das unfer Ge- 
wand bildet, in dem Material, welches unfere Technif zu man- 
cherlei Geräthen auf das Willkührlichſte formt, überall die Fülle 
bes feelenvollen Lebens vorhanden fei, das wir uns freilich gern 
in dem gebeimnißvollen Umriffe der Blume und vielleicht noch in 
ber regelmäßigen ſchweigſamen Geftalt des Kryſtalles ſchlummernd 
benfen? Allein mit diefem Eimvurf wärde man doch nur ben 
Irrthum wiederholen, mit dem, wie wir früher erwähnten, fchon- 
unfere finnliche Anſchauung geringſchätzend über die Schönheit ber 








407 


. einfachen Beftandtheile hinwegſieht, welche der Zufall ihr in un- 
günftiger und veriworrener Stellung und Mifhung vorführt. 
Zener Staub ift Staub nur fiir den, melden er beläftigt; bie 
gleichgältige Form des Geräthes fegt den Werth der einzelnen 
Elemente, aus denen es befteht, ebenfo wenig herab, als eine 
verkümmerte gefellfchaftliche Lage, melde alle Aeußerung des gei⸗ 
ſtigen Lebens unterbrädt, die Hohe Beſtimmung aufbebt, für 
welche auch dieſe niedergevrädten Bruchſtücke der Menfchheit ben: 
noch berufen find. Wenn wir von dem göttlichen Urfprunge und 
dem himmlifchen Ziele der menſchlichen Seele Tprechen, haben wir 
mehr Urfache, einen befümmerten Blick auf dieſen Staub des 
Geifterreich® zu werfen, deſſen Leben uns häufig fo fruchtlos 
ſcheint und feine Aufgabe völlig verfehlend; weit weniger Grund 
würden wir haben, jenen unbedeutenden Beſtandtheilen der Außen- 
welt ihr inneres Leben zu leugnen, denn wie fie auch in ihren 
Zufommenhäufungen uns unfhön erſcheinen mögen, fie vollziehen 
wenigſtens überall und ohne Mangel die Wirkungen, welche ihnen 
die allgemeine Ordnung als Aeußerungsmeifen ihrer inneren Zu⸗ 
ftände geftattet hat. 

In der That nun beruht die Neigung, welche wir hier filr 
die BVorftellung einer durchgängigen Befeelung des Weltalls 'be- 
fennen, nicht auf dem Wunfche, jenen Glauben an die VBerfchmel- 
zung unferer Seele mit dem Ganzen unferer leiblichen Organi⸗ 
fation, den wir früber zurückwieſen, jetzt noch und anzueignen. 
Sie hängt überhaupt nicht mit diefer engeren Frage nad dem 
Zufammenhange des Geiftigen und Körperliden in uns zufam: 
men, fondern geht aus einer allgemeineren Ueberzeugung über 
das Weſen der Dinge hervor, deren Gründe vollftändig und ge 
ordnet zu entwideln die Aufgabe ber firengeren Wiſſenſchaft blei- 
ben muß. Diefe würde zu zeigen haben, wie unbenfbar und 
widerfpreddend im Grunde jene Vorftellung ift, mit der allerdings 
das gewöhnliche Leben und felbft die berechnende Unterfuhung ber 
Welt ſich zu bebelfen weiß: die Vorftellung von einem Seienden, 
welches nie für fich felbft vorhanden wäre, in all feinem Sein 





408 


nur den Sammelpunft von Einbritden bilvete, die nicht zum Ge. 
genftand feines eigenen Genuffes wilrden, oder den Ausgangs: 
punkt von Wirkungen, die weder in feinem Wiffen noch in feinem 
Wollen begründet, erft fir ein Anderes eine Anregung zu man 
nigfaltigem Thun enthielten. Vergeblich würben wir verfuden, 
das Was dieſes Weſens durch irgend eine einfache und überfinn- 
liche Oualität bezeichnet zu denken; wir würden und überzeugen 
müſſen, daß eben fo mie die finnliden Qualitäten, deren objec- 
tive Wirklichkeit aufzugeben wir ung leichter entſchlöſſen, auch alle 
jene überfinnlichen, bie wir ihnen als das Wahre gegenüberftellen 
möchten, ihr Dafein doch nicht minder nur in dem Bewußtſein 
deſſen haben, der fie denkt, und daß fie nie im Stande fein würden, 
den Quell der Wirkſamkeiten und Kräfte zu bezeichnen, die wir 
von den Dingen ausgehen fehen und für melde wir eine Be 
gründung in dem Wefen derſelben fuchen müſſen. Jene Scen, 
den einen Theil der Welt nur als das blinde und lebloſe Mittel 
für die Zwecke des anderen Theile anzufehen, jene Sehnſucht, 
das Glück der Befeelung über Alles zu verbreiten und Die über- 
al in jedem Punkte fich felbft genteßende Welt als eine voll 
fommenere gegenüber dem zwiefpältigen Aufbau des Geiftigen über 
dem bewußtloſen Grunde zu redhtfertigen: dies Alles ift nur bie 
eine Reihe der Beweggründe, welche uns drängen, hinter der 
ruhigen Oberfläche der Materie, hinter den flarren und geſetz⸗ 
lichen Gewohnheiten ihres Wirkens die Wärme einer verborgenen 
geiftigen Regſamkeit zu fuchen. Eine andere und bringenbere 
Reihe von Motiven liegt in den inneren Widerfprüchen, die und 
den Begriff eines nur Seienden, aber nicht fich felbft Beſitzenden 
und Genießenden unmöglich” machen und uns zu der Ueberzeu⸗ 
gung nöthigen, daß lebendigen Wefen allein ein mahrhaftes Sein 
zulomme, und baß alle anderen Formen des Dafeins ihre Er- 
Hörung nur aus dem geiftigen Leben, nicht dieſes die feinige aus 
ihm erhalten könne. 

Sp finden wir uns faft am. Ende unferes Weges auf bie 
Gedanken zurüdgeführt, die am Anfange der menſchlichen Ent- 


% 





409 


widlung in den mythologiſchen Dichtungen das Gemüth bemeg- 
ten. Und mit Abfiht erinnern wir an dieſe Verwandtſchaft, die 
für. die wiſſenſchaftliche Sicherheit unferer Auffaffung wenig empfeb- 
Iend fheint. Denn in ber That haben wir mit diefer Behnup- 
tung einer durchaus beſeelten Welt nur eine Ausficht bezeichnen 
wollen, die fidh bier wor uns eröffnet und einen vorauseilenden 
Blid wohl, aber nit einen wirklichen Gang in unendliche Fer— 
nen möglich macht. Wie gern wir diefen Blick im Stillen feft- 
halten mögen, ihn in die wirkliche Wiffenfchaft einführen dürfen 
wir dennoch nicht; wir würden in ber That nur zu haltlofen 
Träumen einer weniger malerifchen Mythologie zurückkehren, wenn. 
wir das auszuführen verſuchen wollten, was wir als bie Wabr- 
heit der Sache allerdings uns denken: wenn wir zeigen wollten, 
wie die Gefege der phyſiſchen Erfcheinungen aus der Natur der 


geiftigen Regſamkeit heroorgehen, die im Inneren der Dinge ver 


borgen ihr wahres Weſen und der einzige Quell aller ihrer Wirk: 
ſanikeit ift. Wohl hat fon das Altertfum von Liebe und Haß 
gefprochen, al8 den Gewalten, welche die Stoffe bewegen und die 
Formen ihres gegenfeitigen Verhaltens beftimmen, und hat da- 
durch auf ein Iebendiges und verftändliches Motiv jene Anziehun- 
gen und Abftogungen zu begründen gefucht, Die wir jegt oßne - 
Berftändniß ihres Grundes nur thatfählih an die todte Maſſe 
gefnüpft denken. Wohl miffen wir im Allgemeinen zugeben und 
fefthalten, daß jede räumliche Bewegung der Stoffe ſich als der 
natürliche Ausdruck der inneren Zuftände von Weſen deuten läßt, 
Die mit einem Gefühle ihres Bebürfniffes, mit der Sehnſucht 
nad wahlverwanbter Ergänzung, mit der Empfindung beginnen- 
ber Störung einander fuchen oder fliehen: aber gewiß ftehen wir 
nicht fo im Mittelpunkt der Welt und des fchöpferifchen Gedan- 
kens, der fih in ihr ausdrückt, Daß wir jemals aus einer voll- 
ftändigen Erkenntniß des geiftigen Weſens, die und ja verfagt ift, 
bie beftimmten Gefege der phufifhen Vorgänge als nothwendige 
Volgen abzuleiten vermöchten. Hier, wie jo oft für die Beſchränkt⸗ 
heit des menſchlichen Standpunktes, ift der Weg des Erkennens 


410 


ein anderer als ber, auf welchem die Natur der Sache ſich eni- 
widelt, Nichts bleibt uns übrig, als der Erfahrung die Gefege 
abzulaufchen, die ſich in den Testen Verzmeigungen der Wirklich⸗ 
feit geltend enweifen, für das Ganze der finnlihen Welt aber und 
im Stillen das Verſtändniß zu bewahren, daß fie doch nur bie 
Berbüllung eines unendlichen geiftigen Lebens ift. 


Werfen wir nun einen Blick auf die Vortheile, welche dieſe 
Umgeftaltung unferer Anfichten für die Auffaflung des Verhäli⸗ 
niſſes zwischen Leib und Seele gewähren könnte, jo werben wir 
fie vieleicht geringer, vielleicht in anderer Richtung gelegen finden, 
als wir erwarteten. Wer Anftoß an der Möglichkeit einer Wed- 
ſelwirkung nahm, die zwifchen der Seele und dem anders gearte⸗ 
ten Realen der Materie ftattfinden follte, wird feine Bedenken 
nun durch die Einſicht beſchwichtigen können, daß ja in der That 
nicht verfchiedene Wefen einander bier gegenüberftehen, fondern daß 
die Seele als ein untheilbares Weſen, der Körper als eine zu 
ſammengeordnete Vielheit anderer, ihrer Natur nach verwandte 
und nun gleichartige Glieder dieſes VBerhältnifies find. Nicht auf den 
Körper, fofern er Materie ift, wirkt die Seele, ſondern fie wirkt 
auf die mit ihr vergleichbaren Hberfinnlichen Wefen, die nur 
durch eine beftimmte Form ihrer Verknüpfung und den Anfohein 


der ausgedehnten Materie gewähren; nicht als Stoff und nicht 


mit Werkzeugen des Stoffes übt der Körper feinen Einfluß auf - 
ben Geift, fondern alle Anziehung und Abftogung aller Drud 
und Stoß find felbft in jener Natur, die uns aller Befeelung 
ledig fcheint, jelbft wo fie von Stoff zu Stoff wirken, nur der 
eriheinende Ausdrud einer geiftigen Wechſelwirkung, in der allein 
Leben und Thätigfeit if. Aber wir Iegen wenig Werth auf bie 
fen Bortheil, durch den nur eine eingebildete Schwierigkeit ent- 
fernt, und das Unbegreifliche, wie überhaupt Eines auf das Andere 
wirken könne, ung nicht Marer wird. 


411 


Noch weniger kann unfere Anficht jenen gefallen, denen ein 
völliges Ineinanveraufgehen von Körper und Seele der nothwen⸗ 
dige und allein wünſchenswerthe Abſchluß aller unferer Betrach⸗ 
tungen ſchien. Denn fo ſcharf wie jemals vorher fahren wir auch 
jett fort, die eine untheilbare Seele, die wir die unfere nennen, 
dem befeelten Körper gegenüberzuftellen, und fo hartnädig wie früher 
müſſen wir den Körper felbft als ein Syſtem von Theilen be= 
trachten, aus deren zufammenwirkenden Thätigfeiten fein Leben 
hervorgeht, nur daß eine innerliche geiftige Regſamkeit jet jedes 
der Theilden füllt, die unferer früheren Darftelung nur als 
Ausgangspunkte phufifcher Kräfte. von Bedeutung waren. So 
wenig es und früher möglich ſchien, aus der Durchkreuzung phy⸗ 
ſiſcher Wirkungen der Nerven die eigenthiimlichen Elemente des 
geiftigen Lebens zu erflären, fo wenig reicht jett die vergeiftigte 
Ratur der Theile bin, um die Entftehung des einen Bewußt⸗ 
ſeins in uns begreifliher zu machen. Was aud immer jedes 
Atom eines Nerven innerlich in fid erleben mag, ob e8 unter 
dem Eindruck der äußeren Reize eine der unferigen ähnliche ober 
ihr unähnlihe Empfindung erzeugen, fie wie wir mit einem 
Grade der Luft oder Unluft begleiten und ſich durch fie zu Stre⸗ 
bungen hinreißen laffen mag: all diefes innere Leben ift für un- 
fere eigene geiftige Entwidlung ohne alle Bedeutung, fo lange 
es fi nicht äußert. Nur dadurch, daß jedes Atom der Nerven 
anf das ihm zunächft Tiegende feinen Eindrud überträgt, bis durch 
die gefchloffene Kette aller die Erregung auch unferer Seele über: 
liefert wird, nur hierdurch greifen die inneren Zuftände Diefer 
Elemente in die Geftaltung unferes geiftigen Lebens mitbeftim- 
mend ein. Aber Feines von ihnen theilt feinem Nachbar biefe 
Zuftände fertig mit; keine Welle bewußter Empfinbung, leben: 
digen Gefühles und Strebens Tann fich in der Bahn des Ner: 
ven fortbewegen, um durch bloßen Eintritt in unjere Seele mım 
unfere Empfindung, unfer Gefühl, unfer Wille zu werben; jebes 
einzelne Weſen kann das, was fein eigner Zuftand fein fol, nur 
durch die Thätigfeit feiner eigenen Natur in fich felbft erzeugen, 





412 


und nichts wird darauf anlommen, ob der äußere Reiz, welcher 
e8 Dazu anregt, dem zu erzeugenden Zuftande ſelbſt ſchon glich 
oder nicht. Wenn die Begeifterung für einen großen Gedanken 
vafch über eine Menge der Menfchen fich verbreitet, jo geht fie 
nicht fertig von einem zum andern über, wie eine Luftart ober 
ein anſteckendes Miasma, welches der eine Körper ausdünſtet und 
ber andere einathmet. Jede Seele muß dur ihre eigene Kraft 
fie von neuem erzeugen und aus ihrem Innern heraus fid für 
ben Gegenftand entflammen, deſſen Bild und Vorſtellung felbft 
nur durch mannigfache VBermittlungen eonventioneller Spradjlaute 
und aufflärender Erinnerungen von einem zum andern mittheil- 
bar ift. 

Haben wir daher ſchon Yängft die Möglichkeit zugegeben, 
daß in jebem Atom des Nerven ein dem ähnlicher Vorgang fih 
ereigne, welchen unfer eigenes Innere in der bewußten Empfin- 
dung erfährt, fo müfjen wir doch zugleich Die andere Behauptung 
wiederholen, die wir hinzufügten, die nämlich, daß für alle Ent- 
wicklung der Pſychologie diefe Möglichkeit vollkommen gleichgültig 
ift. Für die Erzeugung unferer Empfindung kommen die Nerven 
nur als Boten in Betracht, dazu beftimmt, eine Nachricht an 
ihren Empfänger zu befördern. Vielleicht Fennen die Boten den 
Inhalt der Nachricht und überdenken ihn während des Weges 
mit gemüthlicher Theilnahme; aber in dem Empfänger wird Ver: 
ſtändniß und Würdigung des Inhaltes, wenn beides ihm nid 
aus feinem eigenen Innern quillt, Durch das Mitgefühl des Ueber⸗ 
veichenden nicht erzeugt, und nicht dadurch gemindert werben, 
daß eine völlig theilnahmlofe Hand ihm zulegt gleichgültig ihre 
Botichaft itberlieferte. Die Aufgabe, zu melcher fie berufen find, 
erfüllen daher die Nerven ganz ebenfo gut, wenn fie nur Bahnen 
für die Leitung eines vein phyſiſchen Vorganges find, der nur ein: 
mal, nur bei feinem Eindrud auf unfere Seele, eine Verwand⸗ 
Yung in Empfindung erfährt, und der Wiſſenſchaft ift es, nicht 
ohne großen Bortheil für ihre Sicherheit, erlaubt, jede Rüuchſicht 
auf die unbekannte geiftige Regſamkeit bei Seite zu laſſen, mit 





413 


welcher ihrerſeits die Afthetifche Anficht der Natur alles Vorhan⸗ 
dene erfüllen darf. 

In der That nur die Schönheit der lebendigen Geftalt wird 
ung verftändlicher durch dieſe Borausfegung. Sie würde aller- 
dings auch für jene Anficht nicht dazufein aufhören, für welche 
der Körper nur eine Summe unbelebter Theile wäre; jo wie wir 
in dem Faltenmwurf des beweglichen Gewandes die Kraft und Größe, 
Anmuth und Zierlichleit, wie den wechſelnden Reichthum ber 
Thätigfeiten nachempfinden, durch deren Spuren das geiftige Leben 
den felbftlofen Stoff zu befeelen weiß, jo würde der Körper, als 
eine noch folgfamere Hülle und zu mannigfaltigerem Ausdrucke 
geſchickt, uns die ſchöne und unbedingte Herrichaft der Seele über 
die finnlihen Mittel der Erfheinung verrathen. Aber gewiß ge= 
winnt die Wärme diefer Schönheit, wenn wir das Ebenmaß ber 
menſchlichen Geftalt und die harmonifche Lagerung ihrer Theile 
nicht nur als die feine Berechnung eines in ſich zufammenpaffen- 
den Werkzeuge, wenn wir die anmuthigen Verfchiebungen, durch 
welche im Wechſel der Stellungen jeder Theil, ſich Tpannend oder 
erfchlaffend, mit den iibrigen ein neues Gleichgewicht fucht, nicht 
nur als das Kunſtſtück einer ihre eigenen Störungen ausgleichen- 
den Berrihtung zu fallen brauden; wenn wir vielmehr in jedem 
Punkte der Geftalt ein Gefühl ahnen birfen, in welchem er das 
Gluck feiner eigenthiimlichen Stellung. und, feiner mannigfachen 
Beziehungen zu dem Ganzen genießt, oder wenn wir in jenem 
abgeftuften Nachhall Teifer Dehnungen und Stredungen, mit denen 
jede örtliche Bewegung fi) über die Umriffe bes Körpers ver- 
breitet, ein Zeichen des feelenvollen Verſtändniſſes erbliden, mit 
welchem alle Theile zu dem gemeinfamen Genuffe ihrer ſchönen 
Berfettung zufammenftimmen. 

Es ift das Bild einer gefelligen Ordnung vieler Wefen, 
unter welchem wir jet die lebendige Geftalt und ihr geiftiges 
Leben auffaffen. An einen bevorzugten Punkt der Organifation 
geftellt, fammelt die beherrfchende Seele die unzähligen Eindrücke, 
die ihr eine Schaar mefentlich gleichartiger, aber durch die gerin= 


414 


gere Bedeutung ihrer Natur minder begünftigter Genoffen zufühtt. 
In ihrem Innern hegt fie das Empfangene und geftaltet e8 zu bewe⸗ 
genden Untrieben, welche fie der bereitwilligen Kraft jener Gefähr- 
ten zur Entwidelung georbneter Rückwirkungen mittheilt. Ein allge- 
meines Verftändniß und Mitgefühl durchdringt Diefe Bereinigung 
und kein Erlebniß des einen Theiles muß nothwendig verloren fein 
für den anderen, nur der eigene Plan des Ganzen kann die alljet- 
tige Verbreitung der Wirkungen hemmen. Ich weiß nicht, in welchen 
Bunkte die Befriedigung, die mir diefe Anficht zu gemähren fcheint, 
durch die Annahme überboten werden könnte, welde die völlige 
Verſchmelzung der Seele mit der Teiblihen Organifation verlangt, 
und den mittelbaren Genuß, den die unfere jedem einzelnen Theile 
von den Erlebnifien der übrigen verfchafft, in ein unmittelbares 
Bufammenfallen aller verwandeln möchte. Wenn wir die Seele 
wie einen verſchwommenen Haud durch den Umfang des Körpers 
ausgebreitet denfen, wenn wir fie unmittelbar mitleiven und mit- 
thun laſſen, was er in jedem Augenblide und an jedem einzel- 
nen Punkte feines Baues erfährt und leiftet: gewinnen wir da⸗ 
durch etwas, was uns die Borftellung einer mittelbaren Wechſel⸗ 
wirkung nicht gewähren könnte? Werben die Empfindungen und 
weniger deutlich zu Theil, wenn wir ihre Erregung nur von ber 
legten Einwirkung eines phufifchen Nervenreized auf die Natur 
einer untheilbaren Seele abhängig denken, und werben fie klarer 
dadurch, daß wir jeden einzelnen Schritt der phyſiſchen Vermitt- 
lung, durch welche fie uns überliefert werben, von einer geiftigen 
ZThätigfeit begleitet fein Iaffen, die doch nie im Bemußtfein zum 
Vorſchein kommt? Sind unfere Bewegungen vielleicht in böbe- 
rem Sinne unfere eigenen lebendigen Thaten, wenn unjer Wille 
mitläuft bis an das Ende der motorischen Nerven und vielleicht 
b18 in die Fafern der Musfeln, und bleiben fie nicht vielmehr 
eben fo wohl unfer Eigenthum, wenn nur einmal eine Regung 
der Seele nöthig war, um den vorbereiteten Zufammenhang 
bienftdarer Theile zur Thätigkeit aufzurufen? Was überhaupt 
jollte und bewegen, dieſes Mare Bild einer geordneten Herrſchaft 





415 


des Einen über eine organifirte Vielheit in die tritbe Borftellung 
jener dumpfen Einheit Aller zu verwandeln, in welcher jede regel- 
mäßige Form der Wechfelwirkung, welche die Beobachtung uns 
kennen lehrt, nur noch eine unverftändliche Weitläuftigfeit zu fein 
fhiene? Alles, was wir im Leben ſchätzen und woraus jeber 
edlere Genuß entipringt, ruht auf dieſer Form der Verbindung 
eines Mannigfachen; in unzähligen Individuen verkörpert, fiihrt 
Das menſchliche Gefchlecht dieſes Leben beftändiger Wechfelwirkung 
ber gegenfeitigen Theilnahme in Liebe und Haß, des beftändigen 
Bortihritted, der den Gewinn des einen Theile zum Mitgenuſſe 
der übrigen bringt. Jede Berichmelzung der Vielen zu Einem 
fett nur Die Größe des Lebens und des Glückes herab, denn fie 
vermindert die Anzahl der Weſen, deren jedes für ſich den Werth 
gegebener Verhältniffe hätte genießen Können. Ueberall ift bie 
Einheit, in die wir uns fehnen mit einem Andern einzugeben, 
nur die vollftändige Gemeinſchaft der Mittheilung, der gegenfeitige 
Mitgenuß des fremden Wefens, aber nie jene trübe Vermifchung, 
in der alle Freude der Vereinigung zu Grunde geht, weil ſie mit 
dem Gegenfag auch das Dafein deſſen aufhebt, mas feine Ber: 
fühnung empfinden konnte. 

Und wie wenig beglinftigt endlich Doch die unbefangene Be⸗ 
obachtung den Traum von diefer Einheit! Aus zerftreuten Be- 
ftandtheilen der Außenwelt wird allmählich diefer Bau des Kör- 
pers zufammengelefen, und in beftändigem Wechſel gibt er ihr 
Theile zurück. Was ift alfo das, womit die Seele Eines fein 
Könnte? Verſchmilzt fie abwechjelnd mit dem ankommenden Erfag 
des Leibes und ſcheidet fih aus von dem zerfallenden Reſte, worin 
ann dann jene Einheit anders beftehen, al8 in Wechfelwirkungen, 
die fich entjpinnen und wieder erlöfchen, je nachdem der Naturlauf 
neue Elemente zu ber Gefellung der übrigen binzutreten läßt, 
andere aus ihren Beziehungen verbrängt? Wie das Reiſegewühl 
der Menfchen ift dieſes Leben der Theile. Wir wiſſen nicht, wo— 
ber fie kommen und nicht wohin fie gehen; fremd gerathen fie 
zufammen und für kurze Zeit bilbet ſich zwiſchen ihnen ein ge— 


416 


felliger Verkehr, dem gemeinfamen Zwede der Reife in allgemet= 
nen Regeln des Berbaltens entſprechend, und jeder fammelt in 
fih die Anregungen, die das mittbeilende Wiſſen des Anderen 
ihm gewährte. So mögen wir wohl jedes Atom des Körpers 
als den Sig einer eigenen geiftigen Regſamkeit denen; aber wir 
fennen fie nicht; wir wiffen nichts von ihrer früheren Geſchichte, 
und nichts von der Entfaltung, die ihr vielleicht die Zukunft bringt; 
für einen vorübergehenden Zeitraum in den regelmäßigen Strudel 
unfere8 lebendigen Körperd hineingezogen, mag jedes Clement 
feine eigenen inneren Zuftände durch neue Erfahrungen bereichern 
und unferer Entwidlung durch die vermittelnde Fortpflanzung ber 
Erregungen dienen, welche die Außenwelt ihm mittheilt; aber fein 
inneres Leben ift doch nie das unfere, und wenn dieſe Vereini— 
gung der verſchiedenen Wefen zu Grunde geht, auf denen umfere 
lebendige Geftalt beruht, dann haben wir wohl alle zufammen 
etwas Gemeinfames erlebt, aber doch nur als urfprünglich ver- 
ſchiedene Weſen, die aus einer vorübergehenden Berührung fi 
wieder trennen. 


Fünftes Kapitel. 


Bon den erften und lebten Dingen des Seelenleben®. 





Beſchränltheit ber Erkenntniß. — Fragen über bie Urgeſchichte. — Unſelbſtändigkeit 
alles Mechanismus. — Die Naturnothwendigkeit und bie unenbliche Subflanz. — 
Möglichteit deB Wirkens überhaupt. — Urfprung beftimmter Geſetze des Wirkens. 
— linfterblichleit. — Entftehung ber Seelen. 


Aber woher famen am Anfang der Gefchichte zu dieſem 
Spiele des befeelten Lebens jene Weſen zufammen, um in folder 
Bereinigung zu Trägern fo fchöner Entwidlungen zu werben? 
Und wie wiederholt ſich in der Fortpflanzung der Gefchlechter 
dieſes Wunder, welches jede Seele ihren Körper finden, jede be- 
ginnende Teibliche Organifation den belebenden Haud ihres Geiftes 


417 


empfangen läßt? Welche Schickſale endlich ſtehen nach der Wuf- 
löſung diefer Gemeinfhaft den einzelnen Wefen bevor, und am 
meiften jener einen Seele, deren Beftimmung zu unendliche Ent- 
faltung durch Die Bedentung deſſen verbürgt jcheint, was fie in 
diefem leiblichen Leben begounen und errungen hat? 

Zu dieſen Tragen führt unvermeiblih unfere Betrachtung 
und zulegt zurück; und je ſchärfer wir das Bild der gegenfeitigen 
Beziehungen zwiſchen Körper und Seele zu zeichnen verjucht haben, 
ym jo mehr müfjen wir uns aufgefordert fühlen, durch eine Auf- 
Härung über den Urfprung diefes Zufammenhanges und den Sinn 
feiner endlichen Auflöſung einen Abſchluß unferer Auffafiungen 
zu ſuchen. Aber follen wir und gegenfeitig täufhen? Ich, in- 
dem ich vorgäbe, eine Löſung diefer Räthſel zu kennen, und wer 
mir bis hierher gefolgt, dadurch, daß er ſich ftellte fie mir zuzu— 
trauen? Nicht einmal des Rückblickes auf die erfolglofen Au- 
#trengungen von Jahrhunderten bedarf e8, fondern nur einer ein- 
fachen Erinnerung an die Mittel, die menſchlicher Erkenntniß ge: 
geben find, um die Hoffnungslofigfeit jedes Unternehmens zu 
_ empfinden, das über dieſe erften und letzten Dinge die Klarheit 
anſchaulicher Exfenntniß zu verbreiten fuchte. Keinen Augenblid 
mögen wir uns daher dem trügerifhen Traume bingeben, als 
könne e8 je gelingen, in fichere Erkenntniß zu verwandeln, was 
nur als gläubige Ahnung das Gebiet menſchlicher Erfahrung zu 
umgeben beftimmt if. Aber eine Aufgabe bleibt uns dennoch. 
Denn fo jehr wir uns verfagen, Bilder deſſen zu entwerfen, was 
über die Grenzen dieſes Gebietes hinausliegt, fo müffen wir Doch 
zuſehen, ob die Betrachtungen, die wir innerhalb deſſelben ans 
gefnüpft haben, wenigftens die Möglichleit eines befriedigenden 
Abſchluſſes in unerreihbarer Ferne übrig laffen, oder ob daß, 
was wir zu wiflen überzeugt find, felbft die Hoffnung einer fol- 
hen Ergänzung abſchneidet. Wohl werden der menſchlichen Ein- 
ſicht unausfüllbere Läden übrig bleiben, aber fie kann nicht, ohne 
ſich felbft aufzugeben, an das glauben wollen, deſſen Unverein- 

Lotze J. 3. Aufl 27 


410 


ein anderer als der, auf welchem die Natur der Sache fi eni- 
widelt; Nichts bleibt uns übrig, als der Erfahrung die Geſetze 
abzulaufchen, die fich in den legten Verzweigungen der Wirklich⸗ 
feit geltend exweifen, für das Ganze der finnlichen Welt aber und 
im Stillen das Verſtändniß zu bewahren, daß fie Doch nur die 
Verhüllung eines unendlichen geiftigen Lebens ift. 


Werfen wir nun einen Blick auf die Vortheile, welche dieſe 
Umgeftaltung unſerer Anfichten für die Auffaffung des Verhäli⸗ 
niffes zwiſchen Leib und Seele gewähren Tönnte, jo werden wir 
fie vielleicht geringer, vielleicht in anderer Richtung gelegen finden, 
als wir erwarteten. Wer Anftoß an der Möglichkeit einer Wech⸗ 
ſelwirkung nahm, die zwiſchen der Seele und dem anders gearte⸗ 
ten Realen der Materie ftattfinden jollte, wird feine Bedenken 
nun buch bie Einficht beſchwichtigen Können, daß ja in der That 
nicht verſchiedene Weſen einander hier gegenüberſtehen, fondern daß 
die Seele als ein untheilbares Weſen, ber Körper als eine zu: 
ſammengeordnete Bielheit anderer, ihrer Natur nach verwandte 
und nun gleichartige Glieder dieſes Berhältnifies find. Nicht auf den 
Körper, fofern er Materie ift, wirkt die Seele, jondern fie wirkt 
auf die mit ihr vergleichbaren überfinnlichen Wefen, die nur 
durch eine beftimmte Form ihrer Verknüpfung und den Auſchein 
der ausgedehnten Materie gewähren; nicht als Stoff und nidt 
mit Werkzeugen des Stoffes übt der Körper feinen Einfluß uf - 
den Geift, ſondern alle Anziehung und Abſtoßung aller Drud 
und Stoß find felbft in jener Natur, die und aller Befeelung 
ledig Scheint, felbft wo fie von Stoff zu Stoff wirken, nur ber 
erfcheinende Ausdruck einer geiftigen Wechſelwirkung, in der allein 
Leben und Thätigfeit if. Aber wir Iegen wenig Werth auf die 
fen Bortheil, durch den nur eine eingebildete Schwwierigfeit ent 
fernt, und das Unbegreifliche, wie Aberhaupt Eines auf das Andere 
wirken könne, uns nicht Harer wird. 





411 


Noch weniger kann unfere Anſicht jenen gefallen, denen ein 
völliges Ineinanderaufgehen von Kdrper und Secle der nothwen⸗ 
dige und allein wunſchenswerthe Abſchluß aller unferer Betrach⸗ 
tungen ſchien. Denn fo fharf wie jemals vorher fahren wir auch 
jest fort, Die eine untheilbare Seele, die wir die unfere nennen, 
dem befeelten Körper gegeniberzuftellen, und fo hartnädig mie früher 
müffen wir den Körper felbft als ein Syſtem von Theilen be= 
trachten, aus deren zuſammenwirkenden Thätigfeiten fein Leben 
hervorgeht, nur daß eine innerliche geiftige Regſamkeit jet jedes 
der Theilden füllt, Die umnferer früheren Darftellung nur als 
Ausgangspunkte phnfifcher Kräfte von Bedeutung waren. So 
wenig e8 uns früher möglich ſchien, aus der Durchkreuzung phy⸗ 
ſiſcher Wirkungen der Nerven die eigenthümlichen Elemente des 
geiftigen Lebens zu erflären, fo wenig reicht jet die vergeiftigte 
Natur der Theile bin, um die Entftehung des einen Bewußt- 
ſeins in uns begreiflihder zu maden. Was auch immer jedes 
Atom eines Nerven innerlich in ſich erleben mag, ob es unter 
dem Eindrud der Äußeren Reize eine der unferigen ähnliche ober 
ihr unähnlide Empfindung erzeugen, fie wie wir mit einem 
Grade der Luft oder Unluft begleiten und ſich durch fie zu Stre⸗ 
dungen binreißen laffen mag: all dieſes innere Leben ift für un- 
fere eigene geiftige Entwidlung ohne alle Bedeutung, fo lange 
es fih nicht äußert. Nur dadurch, daß jedes Atom der Nerven 
anf das ihm zunächft liegende feinen Eindruck überträgt, bis durch 
die gefchloffene Kette aller die Erregung auch unferer Seele über: 
liefert wird, nur hierdurch greifen Die inneren Zuſtände Diefer 
Elemente in die Geftaltung unferes geiftigen Lebens mitbeftim- 
mend ein. Aber keines von ihnen theilt feinem Nachbar dieſe 
Zuſtände fertig mit; feine Welle bemußter Empfindung, Ieben- 
digen Gefühles und Strebens kann fih in ber Bahn des Ner: 
ven fortbewegen, um durch bloßen Eintritt in unjere Seele nun 
unfere Empfindung, unfer Gefühl, unfer Wille zu werben; jedes 
einzelne Weſen Tann das, was fein eigner Zuftand fein fol, nur 
Durch bie Thätigfeit feiner eigenen Natur in ſich felbft erzeugen, 


412 


und nichts wird darauf ankommen, ob der äußere Reiz, welcher 
es dazu anregt, dem zu erzeugenden Zuſtande ſelbſt fchon glich 
oder nit. Wenn die Begeifterung für einen großen Gedanken 
vafch über eine Menge der Menſchen fich verbreitet, jo geht fie 
nicht fertig von einem zum andern über, wie eine Luftart ober 
ein anftedlendes Miasma, welches der eine Körper ausdünſtet und 
ber andere einathmet. Jede Seele muß durch ihre eigene Kraft 
fie von neuem erzeugen und aus ihrem Innern heraus fi für 
den Gegenftand entflammen, deſſen Bild und Vorftellung felbft 
nur duch mannigfache Bermittlungen conventioneller Spradlaute 
und aufllärender Erinnerungen von einem zum andern mittheil⸗ 
ber ift. 

Haben wir daher ſchon längſt die Möglichkeit zugegeben, 
daß in jedem Atom des Nerven ein dem ähnlicher Vorgang fid 
ereigne, welchen unfer eigenes Innere in der bewußten Empfin: 
dung erfährt, fo müſſen wir doch zugleich die andere Behauptung 
wiederholen, die wir Hinzufügten, die nämlid, daß für alle Ent- 
wicklung der Pſychologie diefe Möglichkeit vollkommen gleichgültig 
if. Für die Erzeugung unferer Empfindung kommen die Nerven 
nur al8 Boten in Betracht, dazu beftimmt, eine Nachricht an 
ihren Empfänger zu befördern. Vielleicht kennen die Boten den 
Inhalt der Nachricht und überdenken ihn mährend des Weges 
mit gemüthlicher Theilnahme; aber in dem Empfänger wird Ver: 
ftändnig und Würdigung des Inhaltes, wenn beides ihm nicht 
aus feinem eigenen Innern quillt, dur das Mitgefühl des Ueber: 
reichenden nicht erzeugt, und nicht dadurch gemindert werben, 
daß eine völlig theilnahmlofe Hand ihm zulegt gleichgültig ihre 
Botſchaft überlieferte. Die Aufgabe, zu welcher fie berufen find, 
erfüllen daher die Nerven ganz ebenjo gut, wenn fie nur Bahnen 
für die Leitung eines vein phnfifchen Vorganges find, der nur ein- 
mal, nur bei feinem Eindrud auf unfere Seele, eine Verwand⸗ 
lung in Empfindung erfährt, und der Wiffenfchaft ift es, nicht 
ohne großen Bortheil fiir ihre Sicherheit, erlaubt, jede Rüchſicht 
auf die unbefannte geiftige Regſamkeit bei Seite zu Yaffen, mit 





413 


welcher ihrerſeits die Afthetifche Anficht der Natur alles Borhan- 
dene erfilllen darf. 

In der That nur die Schönheit der lebendigen Geftalt wird 
uns verftänblicher durch dieſe Vorausſetzung. Site würde aller- 
dings auch für jene Anficht nicht dazufein aufhören, für welche 
der Körper nur eine Summe unbelebter Theile wäre; fo wie wir 
in dem Faltenwurf bes beweglichen Gewandes die Kraft und Größe, 
Anmuth und Zierlichleit, wie den wechſelnden Reichthum ber 
. Thätigfeiten nachempfinden, Durch deren Spuren das geiftige Leben 
den felbftlofen Stoff zu befeclen weiß, jo würde der Körper, als 
eine noch folgfamere Hülle und zu mannigfaltigerem Ausdrucke 
geſchickt, uns die fchöne und unbedingte Herrichaft der Seele über 
die finnlichen Mittel der Erfeheinung verratben. Aber gewiß ge- 
winnt die Wärme diefer Schönheit, wenn wir das Ebenmaß ber 
menfhlihen Geftalt und die barmonifche Lagerung ihrer Theile 
nicht nur als die feine Berechnung eines in fi zufaınmenpaffen- 
den Werkgeuges, wenn wir die anmutbigen Verſchiebungen, durch 
welche im Wechſel der Stellungen jeder Theil, fi) fpannend ober 
erſchlaffend, mit den übrigen ein neues Gleichgewicht fucht, nicht 
nur als das Kunſtſtück einer ihre eigenen Störungen ausgleichen- 
den Berrihtung zu faffen brauchen; wenn wir vielmehr in jedem 
Punkte der Geftalt ein Gefühl ahnen dürfen, in welchem er das 
Glück feiner eigenthiimlihen Stellung. und feiner mannigfachen 
Beziehungen zu dem Ganzen genießt, oder wenn wir in jenem 
abgeftuften Nachhall Teifer Debnungen und Streckungen, mit denen 
jede örtliche Bewegung ſich über Die Umriffe des Körpers ver- 
breitet, ein Zeichen des feelenvollen Verſtändniſſes erbliden, mit 
welchem alle Theile zu dem gemeinfamen Genuſſe ihrer ſchönen 
Berkettung zufammenftimmen. 

Es ift das Bild einer gefelligen Orbnung vieler Wefen, 
unter welchem wir jegt die lebendige Geftalt und ihr geiftiges 
Leben auffaffen. An einen bevorzugten Punkt der Organtfation 
geftellt, fammelt Die beherrfchende Seele die unzähligen Eindrücke, 
die ihr eine Schaar wefentlich gleichartiger, aber durch dic gerin- 


414 


gere Bedeutung ihrer Natur minder begünftigter Genoſſen zuführt. 
In ihrem Innern hegt fie das Empfangene und geftaltet e8 zu bewe⸗ 
genden Untrieben, melche fie der bereitwilligen Kraft jener Gefähr- 
ten zur Entwidelung georbneter Rückwirkungen mittheilt. Ein allge 
meines Verſtändniß und Mitgefühl durchdringt diefe Bereinigung 
und kein Erlebnif des einen Theiles muß nothwendig verloren fein 
für den anderen, nur der eigene Plan des Ganzen kann die alljei- 
tige Verbreitung der Wirkungen hemmen. Ich weiß nicht, in welchem 
Punkte die Befriedigung, die mir diefe Anficht zu gemähren fcheint, 
durch die Annahme überboten werben könnte, welche die völlige 
Verſchmelzung der Seele mit der leiblichen Organifation verlangt, 
und den mittelbaren Genuß, den die unfere jedem einzelnen Theile 
von den Erlebniffen der übrigen verfchafft, in ein unmittelbares 
Bufammenfallen aller verwandeln möchte. Wenn wir Die Seele 
wie einen verſchwommenen Hauch durch den Umfang des Körpers 
ausgebreitet denken, wenn wir fie unmittelbar mitleiden und mit- 
thun laſſen, was er in jedem Augenblide und an jedem einzel- 
nen Punkte feines Baues erfährt und leiftet: gewinnen wir da⸗ 
durch etwas, was uns die Borftellung einer mittelbaren Wechſel⸗ 
wirkung nicht gemähren könnte? Werben bie Empfindungen uns 
weniger deutlich zu Theil, wenn wir ihre Erregung nur von ber 
legten Einwirkung eines phyſiſchen Nervenreizes auf die Natur 
einer untheilbaren Seele abhängig denfen, und werben fie Harer 
dadurch, Daß wir jeden einzelnen Schritt der phyſiſchen Vermitt⸗ 
lung, durch welche fie uns überliefert werden, von einer geiftigen 
Thätigfeit begleitet fein Laffen, die Doch nie im Bemußtfein zum 
Borfhein kommt? Sind unfere Bervegungen vielleiht in höhe⸗ 
vem Sinne unfere eigenen lebendigen Thaten, menn unfer Wille 
mitläuft bi8 an das Ende der motoriſchen Nerven und vielleicht 
bi8 in die Fafern der Muskeln, und bleiben ſie nicht vielmehr 
eben fo wohl unfer Eigenthum, wenn nur einmal eine Regung 
ber Seele nöthig war, um ben vorbereiteten Zuſammenhang 
dienftbarer Theile zur Thätigkeit aufzurufen? Was überhaupt 
jollte und bewegen, dieſes klare Bild einer geordneten Herrichaft 





415 


des Einen über eine organifirte Bielheit in die trübe Vorftellung 
jener bumpfen Einheit Aller zu verwandeln, in welcher jede regel- 
mäßige Form der Wechſelwirkung, welche die Beobachtung un 
fennen lehrt, nur noch eine unverftändliche Weitläuftigkeit zu fein 
fhiene? Auch, was wir im Leben fchägen und woraus jeder 
edleve Genuß entipringt, ruht auf diefer Form der Verbindung 
eines Mannigfachen; in unzähligen Individuen verkörpert, führt 
das menfchliche Geſchlecht dieſes Leben beftändiger Wechſelwirkung 
der gegenfeitigen Theilnabme in Liebe und Haß, des beftändigen 
Bortichrittes, der den Gewinn des einen Theiles zum Mitgenufle 
der übrigen bringt. Jede Berfchmelzung der Vielen zu Einem 
fegt nur die Größe des Lebens und des Glückes herab, denn fie 
vermindert Die Anzahl der Weſen, deren jedes für ſich den Werth 
gegebener Berhältniffe hätte genießen innen. Ueberall ift die 
Einheit, in die wir und fehnen mit einem Andern einzugehen, 
nur die vollftändige Gemeinfchaft der Mitteilung, der gegenfeitige 
Mitgenuß des fremden Wefens, aber nie jene trübe Vermiſchung, 
in der alle Freude der Vereinigung zu Grunde geht, weil fie mit 
dem Gegenfag auch das Dafein deſſen aufhebt, mas feine Ver- 
fühnung empfinden konnte. 

Und wie wenig begünftigt endlich Doch die unbefangene Be- 
obachtung den Traum von diefer Einheit! Aus zerftreuten Be- 
ftandtheilen der Außenwelt wird allmählich diefer Bau des Kör— 
pers zufammengelefen, und in beftändigem Wechſel gibt er ihr 
Theile zurüd. Was ift alfo das, womit die Seele Eines fein 
könnte? Verſchmilzt fie abwechſelnd mit dem antommenden Erfag 
des Leibes und ſcheidet fi aus von dem zerfallenden Reſte, worin 
kann dann jene Einheit anders beftehen, als in Wechſelwirkungen, 
die ſich entfpinnen und wieder erlöfchen, je nachdem der Naturlauf 
neue Elemente zu der Gefellung der übrigen binzutreten läßt, 
andere ans ihren Beziehungen verdrängt? Wie das Reiſegewühl 
der Menſchen ift dieſes Leben ber Theile. Wir wiffen nicht, wo— 
her fie kommen und nicht wohin fie gehen; fremd geratben fie 
zufammen und für kurze Zeit bildet ſich zwifchen ihnen ein ge= 





a6 _ 





war Berdhr, Dee gemeiiamen Zwede der Reife in allgemei- 
mer Kenia des Serdaltens entiprechend, unb jeder fammelt in 
+ ie Meresenoer, Die das mittbeilende Wiſſen des Anderen 
ıır gewährte Se mögen wir wohl jedes Atom bes Körpers 
4 ex ig Oner ciaenen geiftigen Regfamfeit benfen; aber wir 
irn &e ri: wer ifen midts von ihrer früheren Geſchichte, 
zn? rıßef row der Extialtumg, die ihr vielleicht die Zufunft bringt; 
% omen reräberachenden Zeitrumm in ben regelmäßigen Strudel 
zrien$ Iherrisme Simers bineingezogen, mag jedes Element 
ame Saaca irweren Zrũãande durch neue Erfahrungen bereichern 
zu wre Gxomflrma tenb die vermittelnde Fortpflanzung der 
Ermuenze Firmen, melde die Außenwelt ihm mittheilt; aber fein 
zenrrE Schr :* de nie daß umfere, und wenn bieje Bereini- 
gen: 2er veriiierneen Wein zu Grunde gebt, auf denen umfere 
ternge Gekzir Ioreht, Damm haben wir wohl alle zufammen 
mal Gemerizmeb erlebt, aber doch nur als urfprünglich ver- 
nme Bir. te amd eimer vorübergehenden Berührung ſich 


MENT mern 


Fünftes Kapitel. 


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417 


empfangen laͤßt? Welche Schickſale endlich flehen nad der Auf- 
Yöfung diefer Gemeinſchaft den einzelnen Wefen bevor, und am 
meiften jener einen Seele, deren Beftimmung zu unendlicher Ent- 
foltung durch die Bedeutung deſſen verbirgt ſcheint, was fie in 
Diefem leiblichen Leben begonnen und errungen hat? 

Zu diefen Fragen führt unvermeidlich unfere Betrachtung 
und zulegt zurüd; und je ſchärfer wir das Bild der gegenfeitigen 
Beziehungen zwiſchen Körper und Seele zu zeichnen verfucht haben, 
am fo mehr müfjen wir und aufgefordert fühlen, durch eine Auf— 
Härung über den Urfprung diefes Zufommenhanges und den Sinn 
feiner endlichen Auflöfung einen Abſchluß unferer Auffaffungen 
zu ſuchen. Aber follen wir uns gegenfeitig täuſchen? Ich, in— 
dem ich vorgäbe, eine Löſung diefer Räthfel zu kennen, und mer 
mir bis hierher gefolgt, dadurch, daß er ſich ftellte fie mir zuzu— 
trauen? Nicht einmal des Rüdhlides auf die erfolglofen Anz 
ſtrengungen von Jahrhunderten bebarf e8, fondern nur einer ein 
fachen Erinnerung an die Mittel, die menſchlicher Erkenntniß ger 
geben find, um bie Hoffnungslofigteit jedes Unternehmens zu 

., empfinden, daß über diefe erften und Iegten Dinge die Klarheit 
anſchaulicher Erlenntniß zu verbreiten ſuchte. Keinen Augenblick 
Mögen wir uns daher dem trügerifhen Traume hingeben, als 
Zönne es je gelingen, in ſichere Exfenntniß zu verwandeln, mas 
nur als gläubige Ahnung das Gebiet menſchlicher Erfahrung zu 
Amgeben beſtimmt ift. Aber eine Aufgabe bleibt uns dennoch. 
Denn fo fehr wir us verlanen. Bilber deffen zu entwerfen, was 

gt, fo muſſen wir doch 
nerhalb defielben au—⸗ 
eines befriedigenden 
laſſen, oder ob das, 
ie Hoffnung einer ſol⸗ 
der menſchlichen Ein- 
‚er fie fann nit, ohne 
Ien, deſſen Unverein= 
27 


418 


barkeit mit der nothwendigen Geltung ihrer eigenen Grundfäte 
fie begreift. 

Zur Erwägung bdiefer legten Fragen finden wir die Bor- 
ftellungsweifen unzulängli, in denen wir uns bisher bewegt 
haben. Denn fie alle festen den Zuſammenhang der Wirklichkeit 
als eine fertige, gegebene Thatſache voraus und bemühten fid 
nur um bie Auffindung der allgemeinen Geſetze, nad) denen die⸗ 
fer vorhandene Weltlauf feine einzelnen Ereigniffe auseinander 
entwidelt. So galten fie alle nur ber Erhaltung und der Fort⸗ 
fegung eines Erſcheinungskreiſes, deſſen erfte Entſtehung und end- 
liches Ziel fie abfichtlih aus dem Bereiche ihrer Unterfuhungen 
ausſchloſſen. Und in der That, fo wie wir aus dem fihtbaren 
Bau der fertigen Mafchine die Wirkungen, welche fie Teiften Tann, 
und bie Neibenfolge derfelben berechnen, ohne in diefer Beur⸗ 
theilung weſentlich geförbert zu werben durch die Kenntniß ihres 
Urfprunges und des Herganges ihrer Erbauung: ebenfo vermögen 
wir die Erhaltung der Welt und den Rhythmus ihrer Ereigniffe 
aus ihrem gegenwärtigen Beftande zu verftichen, auch ohne bie 
Geſchichte der Schöpfung zu fennen, aus der fie entiprang. Aber 
allerdings nur um den Preis, daß wir für jeden einzelnen Augen- 
blick den Grund der beftimmten Geftalt, mit welcher die Ereig- 
niffe ihn füllen, in dem vorhergehenden Augenblid als vorhan- 
dene Thatſache vorausfegen. So ſchieben wir nur das Näthfel 
Schritt für Schritt zurüd, um enblih bei dem Geftändniß an⸗ 
zulangen, daß der erfte Urfprung von Allem uns unverftändlid 
bleibt, und daß wir in allem Weltlauf höchſtens Abwechſelungen 
der Entwickelung, aber nie die Entftehung jener erften Anorb- 
nung begreifen, auf welcher die Möglichkeit all dieſes Wechſels 
auf einmal beruht. 

Man täuſcht ſich, wenn man glaubt, die Wiſſenſchaft ver⸗ 
möge irgendwo dieſe Schranken zu überſchreiten. Nachdem die 
Vorſtellung von der Bildung des Planetenſyſtems aus einem feu- 
rigen Nebel, eine geniale Anficht über Ereigniffe einer Vorzeit, 
die aller Erfahrung entzogen ift, in den Beitand der allgemeinen 








419 


Bildung übergegangen ift, jo meint man wohl, nun doch einmal 
endlich eine ſchöne Ordnung der Erſcheinungen, zwar nicht aus 
Nichts, aber doch wenigften® aus einem formlofen Urgrunde über- 
zeugend 'entwidelt zu haben. Aber man. vergift, daß die Ge- 
ſchichte dieſes Feuerballs, den man fo fcharffinnig in feine ſpä⸗ 
teren Geftaltungen verfolgt, nothwendig auch rückwärts ſich in eine 
unendliche Bergangenbeit verlängert. Der allmählich erkaltende 
und fich verdichtende muß eine Zeit erlebt haben, da feine Tem: 
peratur noch höher, feine Ausdehnung größer war; wo Tiegt num 
der Anfangsaugenblid der Verdichtungsbewegung, in deren Forts 
fegung begriffen jene Vermuthung ihn aufgreift? Und woher 
flammt die urfprünglige Richtung und Geſchwindigkeit der Dres 
Hung, in welcher wir alle feine Theilchen übereinſtimmend bewegt 
vorausfegen müflen? Auch diefe Formlofigkeit war mithin doch 
nicht der Anfang der Welt; fie war nur einer jener mittleren 
Punkte, in welchen frühere Formen der Ereignifie flr die An- 
ſchauung fih in eine unſcheinbare Einfachheit zufammengezogen 
haben; aber durch dieſen Punkt hindurch gehen die Stoffe, die 
Kräfte und Bewegungen der Wirklichkeit unverloren und unab⸗ 
gebrochen fort, um jenfeitS wieder in die Mannigfaltigfeit einer 
neuen Entwidlung fi) auszubreiten. So liegt fir alle Ordnung 
der Ereigniffe der Grund immer in einer früheren Ordnung, und 
wie mannigfach dieſe Melodie des Werdens bald in größeren 
Reichthum anfchwillt, bald in unſcheinbare Keimgeftalt fich zuſam⸗ 
menzicht: fie bat doc fir und nicht Anfang noch Ende, und alle 
unfere Wiſſenſchaft klimmt nur auf und ab an dieſem Unend⸗ 
fihen, ben inneren Zufammenhang einzelner Streden nad all- 
gemeinen Geſetzen begreifend, aber überall unfähig, den erften 
Urfprung des Ganzen oder das Ziel zu fehen, dem feine Ent- 
wicklung zuftrebt. 

Und melde Lehre ziehen wir aus dem Bewußtfein dieſer 
Beichränttheit? Keine andere gewiß, als für ung felbft die Mah⸗ 
nung, mit unparteitifher Geduld zu erwarten, wie weit und die 
Fortſchritte der Wiſſenſchaft in Vergangenheit und Zukunft führen 

27° 


420 


werben; für die Wiffenfcheft jelbft aber den Wunſch, daß fie mit 
unbefangener Genauigkeit fortarbeiten möge, ohne durch Vorliebe 
für ein beſtimmtes Exrgebniß ihrer Unterfuchungen ſich mißleiten 
zu Iaffen. Denn was fie uns auch Iehren möge: an das Ende 
der Tinge wird fie uns doch nicht führen, und die Berirfnifie 
unſeres Gemüthes werden nie durch die Enthullung einer zeit: 
lichen Borgefchichte unfere8 Dafeins, fondern nur durch Die Er: 
kenntniß der ewigen Verknüpfung befriedigt werden, die zu allen 
Zeiten die veränderlihe Welt der Erſcheinungen mit ver Welt 
des wahrhaft Seienden zuſammenhält. Beſäßen wir dieſe Er- 
kenntniß, wie wenig würden wir gewinnen, wenn es uns nun 
gelänge, jene Fragen nad der erften Entſtehung des menſchlichen 
Gefchlechtes ficher zu beantworten, auf welche wir leidenſchaftlich 
oft fo übergroßen Werth legen! Bielleicht vermehrt eines Tages 
ein unerwartetes Glüd die unzulängliden Ausgangspunkte ber 
Forſchung und befähigt uns zu einer Entjheidung, die Niemand 
jegt zu geben vermag. Gefegt nun, dieſe befjere Kunde ftellte 
für uns die Annahme fiher, an der fo Bieler Herzen hängen, 
die Annahme, Daß mit blinder innerer Nothwendigfeit Das noch 
formloje Chaos des Weltanfanges fih in fletiger Vervollkomm⸗ 
wung bis zur unvermeidlichen Erzeugung der Menfchheit verflärt 
babe: fchlöffe fi dann für die Wiffenfchaft der Ausblid im un- 
endliche Fernen, den fie zu fliehen fchemt? Wenn fie es num 
begreiflich machen Könnte, wie aus dem feurigen Dunftball zuerft 
- die Feſte der Erdrinde und der Himmel des Luftkreiſes fich ſchie⸗ 
den, mie jeder Schritt dieſer Sonderung den Wahlnermanbtichaften 
der Elemente Gelegenheit zu neuen Wirkungen gab, wie daun 
unter den gunſtigen Umſtänden, welche die blinde Nothivendigfeit 
dieſes Naturlaufes herbeiführte, der erfte Keim einer Pflanze, 
eines Thieres entftand, noch einfach und unausgebildet von Um: 
riffen und wenig zu bebeutfamer Entfaltung geſchickt, wie endlich 
unter glücklichen Bedingungen, zu deren Herftellung doch dieſes 
arme Leben ſchon mitthätig war, allmählich das organtiche Da- 
fein ſich verebelte, niedere Gattungen im Laufe ungezählter Iahr- 








421 


hunderte fih in höhere entwidelten, bis zuletzt die Menſchheit, 
nicht nah dem Bilde Gottes, fondern als das letzte Glied in 
dieſer Kette nothwendiger Ereigniffe hervorging: wenn dies Alles 
die Wiſſenſchaft begreiflih machen Könnte, was würde fie Damit 
mehr geleiftet haben, als daß fie das Wunder der unmittelbaren 
Schöpfung auf einen noch früheren Punkt der Vorzeit zurückge⸗ 
fhoben hätte, in welchem die unendliche Weisheit in dies um= 
Icheinbare Chaos die unermeßliche Fähigkeit zu fo geordneter Ent: 
widlung legte? Mit der ganzen Reihenfolge abgeftufter Bil- 
dungsepochen, durch welche hindurch fie den formlofen Urgrund 
ſich auögeftalten Tiefe, witrde fie nur den Glanz und die Man- 
nigfaltigfeit der Scenen vermehren, in deren änßerlihen Pomp 
unſere Phantafie bewundernd ſich vertiefen Könnte; aber fie würde 
das Ganze des wunderbaren Schaufpiele8 nicht zureichender erflärt 
haben, als jener fich ſelbſt beſcheidende Glaube, für welchen bie 
Entftehung der lebendigen Gefchledhter nur aus dem ummittel- 
baren Schöpferwillen Gottes begreiflich ſcheint. Diefe Dinge find 
es, deren Entſcheidung wir, fo weit die Wiffenfchaft fie je wird 
geben können, getroft von ihrer unbefangenen Wahrheitsliebe er- 
werten müffen; welchen Weg der Schöpfung Gott gewählt haben 
mag, feiner wird die Abhängigfeit der Welt von ihm Ioderer wer⸗ 
den Iaffen, feiner fie fefter an ihn knüpfen Tönnen. 

Aber diefe Geduld der Erwartung pflegen wir fehr wenig 
zu befigen; mit dem leidenſchaftlichſten Eifer ftehen vielmehr jene 
Beiden Auffaffungen der Wirklichkeit einander gegenüber, von denen 
Die eine den Weltlauf in. reinen Mechanismus zu verwandeln 
ftrebt, Die andere, indem fie an Die unmittelbare Wirkfamteit einer 
göttlichen regierenden Weisheit glaubt, vielleicht Hinter ihrem eige= 
nen Sinne noch zurüdbleibt. Denn darin finde ih das Halbe 
und Unzulängliche diefer Meinung, daß fie meift erft durch bie 
Betrachtung des Lebendigen und des Scelenlebens fich zu Dem 
Belenntniß einer höheren, die zerftrenten Ereigniffe zu dem Ganzen 
eines Weltlaufes verbindenden Macht aufregen Täßt. Auch ihr 
fcheint es doch möglich, daß die regelmäßige Ordnung der äußern 


412 


und nichts wird darauf ankommen, ob der äußere Reiz, welcher 
8 dazu anregt, dem zu erzeugenden Zuſtande felbft ſchon glich 
oder nicht. Wenn die Begeifterung fir cinen großen Gedanken 
raſch über eine Menge der Menſchen ſich verbreitet, jo geht fie 
nicht fertig von einem zum andern über, wie eine Luftart ober 
ein anftedendes Miasma, welches ber eine Körper ausdünſtet und 
der andere einathmet. Jede Seele muß durch ihre eigene Kraft 
fie von neuem erzeugen und aus ihrem Innern heraus fi für 
den Gegenftand entflammen, deſſen Bild und Vorftellung felbft 
nur durch mannigfache Bermittlungen conventioneller Spradlaute 
und aufllärender Erinnerungen von einem zum andern mittheil- 
bar ift. 

Haben wir daher ſchon längſt die Möglichkeit zugegeben, 
daß in jedem Atom des Nerven ein dem ähnlicher Vorgang fid 
ereigne, welchen unfer eigened Innere in der bewußten Empfin- 
dung erfährt, fo müſſen wir Doch zugleich die andere Behauptung 
wiederholen, die wir Hinzufligten, die nämlich, daß für alle Ent- 
wicklung der Pfychologie dieſe Möglichkeit vollfommen gleichgültig 
if. Für die Erzeugung umferer Empfindung kommen die Nerven 
nur als Boten in Betracht, dazu beftimmt, eine Nachricht an 
ihren Empfänger zu befördern. Vielleicht fennen Die Boten ben 
Inhalt der Nachricht und überdenken ihn während des Weges 
mit gemithlicher Theilnahme; aber in dem Empfänger wird Ber: 
ftändnig und Würdigung des Inhaltes, wenn beides ihm nicht 
aus feinem eigenen Innern quillt, durch das Mitgefühl des Ueber: 
reichenden nicht erzeugt, und nicht dadurch gemindert werben, 
daß eine völlig theilnahmlofe Hand ihm zulegt gleichgültig ihre 
Botſchaft überlieferte. Die Aufgabe, zu welcher fie berufen find, 
erfüllen daher die Nerven ganz ebenfo gut, wenn fie nur Bahnen 
für die Leitung eines rein phnfifchen Vorganges find, der nur ein- 
mal, nur bei feinem Eindrud auf unfere Seele, eine Bermand- 
lung in Empfindung erfährt, und der Wiſſenſchaft ift es, nicht 
ohne großen Bortheil für ihre Sicherheit, erlaubt, jede Rüdficht 
auf die unbekannte geiftige Regſamkeit bei Seite zu Yaffen, mit 











413 


welcher ihrerſeits die Afthetifche Anficht der Natur alles Vorhan⸗ 
dene erfüllen darf. 

In der That nur die Schönheit der lebendigen Geftalt wird 
ung verftändlicher durch dieſe Vorausfegung. Site würde aller- 
dings auch für jene Anficht nicht dazufein aufhören, für melde 
der Körper nur eine Summe unbelebter Theile wäre; fo wie wir 
in dem Faltenwurf des beweglichen Gewandes die Kraft und Größe, 
Anmuth und Zierlichkeit, wie den wechfelnden Reichthum ber 
. Thätigfeiten nachempfinden, durch deren Spuren das geiftige Leben 
den felbftlofen Stoff zu befeclen weiß, fo würde der Körper, als 
eine noch folgfamere Hille und zu mannigfaltigerem Ausdrude 
geſchickt, und die ſchöne und unbedingte Herrſchaft der Seele über 
die finnlichen Mittel der Erſcheinung verratben. Aber gewiß ge- 
winnt die Wärme diefer Schönheit, wenn wir das Ebenmaß der 
menfhlihen Geftalt und die harmonische Lagerung ihrer Theile 
nit nur als die feine Berechnung eines in fi zufammenpaffen- 
den Werkzeuges, wenn wir die anmuthigen Verſchiebungen, durch 
welche im Wechfel der Stellungen jeder Theil, ſich fpannend oder 
erihlaffend, mit den übrigen ein neues Gleichgewicht fucht, nicht 
nur als das Kunftftüd einer ihre eigenen Störungen ausgleichen- 
den Berrihtung zu faffen brauchen; wenn wir vielmehr in jedem 
Punkte der Geftalt ein Gefühl ahnen dürfen, in welchem er das 
Gluck feiner eigenthiimlichen Stellung. und feiner mannigfachen 
Beziehungen zu dem Ganzen genießt, oder wenn wir in jenem 
abgeftuften Nachhall Teifer Dehnungen und Stredungen, mit denen 
jede örtliche Bewegung fich über die Umriffe des Körpers ver- 
breitet, ein Zeichen des feelenoollen Verſtändniſſes erbliden, mit 
welchem alle Theile zu dem gemeinfamen Genuffe ihrer ſchönen 
Berkettung zuſammenſtimmen. 

Es ift das Bild einer gefelligen Ordnung vieler Wefen, 
unter welchem wir jet die lebendige Geftalt und ihr geiftiges 
Leben auffafien. An einen bevorzugten Punkt der Organifation 
geftellt, fammelt die beherrfchende Seele die unzähligen Eindrücke, 
die ihr eine Schaar mefentlich gleichartiger, aber durch die gerin- 


414 


gere Bedeutung ihrer Natur minder begünftigter Genofien zuführt. 
In ihrem Innern begt fie das Empfangene und geftaltet es zu bewe⸗ 
genden Antrieben, welche fie der bereitwilligen Kraft jener Gefähr- 
ten zur Entwidelung geordneter Rückwirkungen mittheilt. Ein allge 
meines Verftändniß und Mitgefühl durchdringt diefe Bereinigung 
und kein Erlebnif des einen Theiles muß nothwendig verloren fein 
für den anderen, nur der eigene Plan des Ganzen kann die alljei- 
tige Verbreitung der Wirkungen hemmen. Ich weiß nicht, in welchen 
Bunte die Befriedigung, die mir diefe Anficht zu gewähren fcheint, 
durch die Annahme überboten werden Tünnte, welche die völlige 
Berichmelzung der Seele mit der leiblichen Organifation verlangt, 
und den mittelbaren Genuß, den die unfere jedem einzelnen Theile 
von den Erlebnifien der übrigen verfchafft, in ein unmittelbares 
Anfammenfallen aller verwandeln möchte. Wenn wir die Seele 
wie einen verſchwommenen Hauch durch den Umfang des Körpers 
ausgebreitet denken, wenn wir fie unmittelbar mitleiden und mit= 
thun laſſen, was er in jedem Augenblide und an jedem einzel- 
nen Buntte feines Baues erfährt und leiftet: gewinnen wir ba= 
durch etwas, was uns die Vorftellung einer mittelbaren Wechiel- 
wirkung nicht gemähren könnte? Werden die Empfindungen un 
weniger deutlich zu Theil, wenn wir ihre Erregung nur von ber 
legten Einwirkung eines phyſiſchen Nervenreizes auf die Natur 
einer untheilbaren Seele abhängig denfen, und werben fie klarer 
dadurch, dag wir jeden einzelnen Schritt der phyſiſchen Vermitt⸗ 
fung, dur welche fie uns überliefert werben, von einer geiftigen 
Thätigfeit begleitet fein Yafjen, die Do nie im Bemußtfein zum 
Vorſchein kommt? Sind unfere Bewegungen vielleiht in höhe— 
rem Sinne unfere eigenen lebendigen Thaten, wenn unfer Wille 
mitläuft bis an das Ende der motorifhen Nerven und vielleicht 
bi8 in die Sofern der Musfeln, und bleiben fie nicht vielmehr 
eben fo wohl unfer Eigenthum, wenn nur einmal eine Negung 
der Seele nöthig war, um den vorbereiteten Zuſammenhang 
bienftbarer Theile zur Thätigkeit aufzurufen? Was überhaupt 
jollte uns bewegen, dieſes Hare Bild einer geordneten Herrſchaft 








415 


des Einen iiber eine organifirte Bielheit in bie trübe Vorſtellung 
jener dumpfen Einheit Aller zu verwandeln, in welcher jede regel- 
mäßige Form der Wechſelwirkung, welche die Beobachtung und 
kennen lehrt, nur nod eine unverftändliche Weitläuftigfeit zu fein 
fhiene? Alles, was wir im Leben fchägen und woraus jeber 
edlere Genuß entipringt, ruht auf diefer Form der Verbindung 
eines Mannigfadhen; in unzähligen Individuen verkörpert, führt 
das menſchliche Gefchlecht dieſes Leben beftändiger Wechſelwirkung 
der gegenfeitigen Theilnahme in Liebe und Haß, des beftändigen 
Bortichritted, der den Gewinn des einen Theile zum Mitgenuſſe 
der übrigen bringt. Jede Verfhmelzung der Vielen zu Einem 
jet nur die Größe des Lebens und des Glüdes herab, denn fie 
vermindert die Anzahl ber Wefen, deren jedes für ſich den Werth 
gegebener Verhältniffe hätte genießen können. Ueberall tft die 
Einheit, in die wir uns fehnen mit einem Andern einzugehen, 
nur die vollftändige Gemeinfchaft der Mittbeilung, der gegenfeitige 
Mitgenuß des fremden Wefens, aber nie jene trübe Vermiſchung, 
in der alle Freude der Vereinigung zu Grunde geht, weil fie mit 
dem Gegenfag auch das Dafein deſſen aufhebt, was feine Ver: 
fühnung empfinden Tonnte. 

Und wie wenig begünftigt endlich doch die unbefangene Be⸗ 
obachtung den Traum von diefer Einheit! Aus zerftreuten Be- 
ftandtheilen der Außenwelt wird allmählich diefer Bau des Kör- 
perd zufammengelefen, und in beftändigem Wechſel gibt er ihr 
Theile zurüd. Was ift alfo das, womit die Seele Eines fein 
Könnte? Verſchmilzt fie abwechjelnd mit dem ankommenden Erfag 
des Leibes und fcheidet fi aus von dem zerfallenden Nefte, worin 
kann dann jene Einheit anders beftehen, als in Wechſelwirkungen, 
die fich entfpinnen und wieder erlöfchen, je nachdem der Naturlauf 
neue Elemente zu der Gefellung der übrigen hinzutveten läßt, 
andere aus ihren Beziehungen verbrängt? Wie das Reiſegewühl 
ber Menſchen ift dieſes Leben der Theile. Wir wiſſen nicht, wo— 
ber fie kommen und nicht wohin fie gehen; fremd gerathen fie 
zufammen und für kurze Zeit bilvet ſich zwifchen ihnen ein ge— 





416 





felliger Verkehr, dem gemeinfamen Zwecke der Reife in allgemei- 
nen Regeln des Verhaltens entſprechend, und jeder ſammelt in 
fi) Die Anregungen, die das mittbeilende Wiffen des Anderen 
ihm gewährte. Sp mögen wir wohl jedes Atom des Körpers 
al8 den Sit einer eigenen geiftigen Regſamkeit denken; aber wir 
fennen fie nicht; wir wiffen nichts von ihrer früheren Gefchichte, 
und nichts von der Entfaltung, die ihr vielleicht Die Zukunft bringt; 
für einen voriibergehenden Zeitraum in den regelmäßigen Strubel 
unfere® Tebendigen Körpers bineingezogen, mag jedes Element 
feine eigenen inneren Zuftände durch neue Erfahrungen bereichern 
und unferer Entwidlung durch die vermittelnde Fortpflanzung ber 
Erregungen dienen, welche die Außenwelt ihm mittheilt; aber fein 
inneres Leben ift doch nie das unfere, und wenn dieſe Vereini⸗ 
gung der verjchiedenen Wefen zu Grunde gebt, auf Denen unfere 
lebendige Geftalt beruht, dann haben wir wohl alle zufammen 
etwas Gemeinfames erlebt, aber doch nur als urſprünglich ver- 
ſchiedene Wefen, die aus einer vorlibergehenden Berührung fid 
wieder trennen. 


Fünftes Kapitel. 


Bon den erften und legten Dingen des Seelenlebens. 





Beichränttheit der Erkenntniß. — Fragen über die Urgeſchichte. — Unſelbſtändigkeit 
alleg Mechanismus. — Die Naturnothwendigkeit und bie unendliche Subſtanz. — 
Möglichkeit des Wirkens überhaupt, — Urfprung beftimmter Geſetze bes Wirkens. 
— TUnfterblifeit. — Entftehfung ber Seelen. 


Aber woher kamen am Anfang der Gefchichte zu dieſem 
Spiele des befeelten Lebens jene Wefen zufammen, um in folder 
Bereinigung zu Trägern fo fchöner Entwidlungen zu werden? 
Und wie wiederholt fi in der Fortpflanzung der Geſchlechter 
dieſes Wunder, welches jede Seele ihren Körper finden, jede be 
ginnende leibliche Organifation den belebenden Hauch ihres Geiſtes 


417 


empfangen läßt? Welche Schickſale endlich fiehen nach der Auf- 
löſung diefer Gemeinfhaft den einzelnen Wefen bevor, und am 
meiften jener einen Seele, deren Beftimmung zu unenblicher Ent- 
foltung durch die Bedeutung deffen verbürgt fcheint, was fie in 
dieſem leiblihen Leben begonnen und errungen hat? 

Bu diefen Fragen führt unvermeidlich unfere Betrachtung 
und zulegt zurüd; und je ſchärfer wir das Bild der gegenfeitigen 
Beziehungen zwifhen Körper und Seele zu zeichnen verjucht haben, 
um jo mehr müfjen wir uns aufgefordert fühlen, durch eine Auf⸗ 
Hörung über den Urfprung dieſes Zuſammenhanges und den Sinn 
feiner endlichen Aufldfung einen Abſchluß unferer Auffafjungen 
zu ſuchen. Aber follen wir und gegenfeitig täufhen? Ich, in- 
dem ich vorgäbe, eine Löſung diefer Näthfel zu kennen, und wer 
mir bis hierher gefolgt, dadurch, daß er ſich ftellte fie mir zuzu— 
trauen? Nicht einmal des Rückblickes auf die erfolglofen An- 
firengungen von Jahrhunderten bedarf e8, fondern nur einer ein: 
fachen Erinnerung an die Mittel, die menfchlicher Erkenntniß ger 
geben find, um die Hoffnungslofigfeit jedes Unternehmens zu 


' empfinden, das über diefe erften und Ietten Dinge die Klarheit 


anſchaulicher Erkenntniß zu verbreiten fuchte. Keinen Augenblid 
mögen wir und daher dem trügerifhen Traume bingeben, als 
fönne es je gelingen, in fichere Erkenntniß zu verwandeln, mas 
nur als gläubige Ahnung das Gebiet menſchlicher Erfahrung zu 
umgeben beftunmt if. Aber eine Aufgabe bleibt und dennoch. 
Denn fo ſehr wir uns verfagen, Bilder deſſen zu entwerfen, mas 
über die Grenzen Diefes Gebietes hinausliegt, fo müſſen wir doc) 
zujehen, ob die Betrachtungen, die wir innerhalb deſſelben an- 
gefnüpft haben, wenigftend die Möglichfeit eines befriedigenden 
Abſchluſſes in unerreihbarer Ferne übrig laffen, oder ob das, 
wos wir zu wiflen überzeugt find, felbft die Hoffnung einer fol- 
hen Ergänzung abſchneidet. Wohl werben der menſchlichen Ein- 
ſicht unausfüllbare Läden übrig bleiben, aber fie kann nicht, ohne 
fh jelbft aufzugeben, on das glauben wollen, deſſen Unverein- 
Lotze J. 3. Aufl 27 


418 


barkeit mit der nothwendigen Geltung ihrer eigenen Grundſaͤtze 
fle begreift. 

Zur Erwägung diefer Tegten Fragen finden wir die Bor: 
ftellungsweifen unzulängli, in denen wir uns bisher bewegt 
haben. Denn fie alle fegten den Zufammenhang der Wirklichleit 
als eine fertige, gegebene Thatfache voraus und bemühten ſich 
nur um die Auffindung der allgemeinen Gefege, nach denen bie 
fer vorhandene Weltlauf feine einzelnen Creigniffe auseinander 
entwidelt. So galten fie alle nur der Erhaltung und der dort⸗ 
ſetzung eined Erſcheinungskreiſes, deſſen erfte Entftehung und enb- 
liches Ziel fie abſichtlich aus dem Bereiche ihrer Unterſuchungen 
ausichloffen. Und in der That, fo wie wir aus dem fichtbaren 
Bau der fertigen Mafchine die Wirkungen, welche fie Leiften fann, 
und die Reihenfolge derſelben berechnen, ohne in biefer Beur⸗ 
theilung weſentlich gefördert zu werden burd Die Kenntniß ihres 
Urfprunges und des Herganges ihrer Erbauung: ebenfo vermögen 
wir die Erhaltung der Welt und den Rhythmus ihrer Ereignife 
and ihrem gegenwärtigen Beftande zu verftchen, auch ohne die 
Geſchichte der Schöpfung zu kennen, aus der fie entfprang. Aber 
allerdings nur um den Preis, daß wir für jeden einzelnen Augen 
bli den Grund der beftimmten Geftalt, mit welcher die Ereig- 
niffe ihn füllen, in dem vorhergehenden Augenblid als vorhan⸗ 
bene Thatſache vorausfegen. So ſchieben wir nur das Raͤthſel 
Schritt für Schritt zurüd, um endlich bei dem Geftändniß am 
zulangen, daß ber erfte Urfprung von Allem uns unverftändlid 
bleibt, und daß wir in allem Weltlauf höchſtens Abwechſelungen 
der Entwidelung, aber nie die Entftehung jener erften Anord⸗ 
nung begreifen, auf welcher die Möglichkeit all dieſes Mechfeld 
auf einmal berubt. 

Man täufcht fih, wenn man glaubt, die Wiffenfchaft ver- 
möge irgendwo diefe Schranken zu überfchreiten. Nachdem die 
Borftellung von der Bildung des Planetenfuftens aus einem feu⸗ 
rigen Nebel, eine geniale Anficht über Exeigniffe einer ‚Vorzeit, 
die aller Erfahrung entzogen ift, in den Beftand der allgemeinen 


419 


Bildung übergegangen ift, fo meint man wohl, nun doch einmal 
endlich eine fhöne Ordnung der Erfeheinungen, zwar nicht aus 
Nichts, aber Doch wenigftend aus einem formlofen Urgrunde über- 
zeugend entwidelt zu haben. Aber man. vergißt, daß die Ger 
ſchichte dieſes Feuerballs, den man fo fharffinnig in feine fpä= 
teren Geftaltungen verfolgt, nothwendig auch rückwärts ſich in eine 
unendliche Vergangenheit verlängert. ‘Der allmählich erfaltende 
und ſich verdichtende muß eine Zeit erlebt haben, da feine Tem- 
peratur noch höher, feine Ausbehnung größer war; mo liegt num 
der Anfangsaugenblid der Verdichtungsbewegung, in deren Forts 
fegung begriffen jene Vermuthung ihn aufgreift? Und woher 
ſtammt die urfprüngliche Richtung und Gefhwindigfeit der Dre⸗ 
bung, in welcher wir alle feine Theilchen übereinftimmend bewegt 
vorausſetzen müſſen? Auch diefe Formloſigkeit war mithin doch 
nicht der Anfang der Welt; fie war nur einer jener mittleren 
Punkte, in welchen frühere Formen der Ereigniffe für die An- 
fhauung fih im eine unfheinbare Einfachheit zufammengezogen 
Haben; aber durch diefen Punkt hindurch gehen die Stoffe, die 
Kräfte und Bewegungen der Wirflicleit unverloven und unab- 
gebrochen fort, um jenfeit8 wieder in die Mannigfaltigfeit einer 
neuen Entwillung fi auszubreiten. So liegt für alle Ordnung 
der Ereignifje der Grund immer in einer früheren Ordnung, und 
wie mannigfach diefe Melodie des Werdens bald in größeren 
Reichthum anſchwillt, bald in unfcheinbare Keimgeftalt fi zufam- 
menzieht: fie hat doch für und nicht Anfang noch Ende, und alle 
unfere Wiffenfhaft klimmt nur auf und ab an dieſem Unenb- 
lichen, den inneren Zuſammenhang einzelner Streden nad all- 
gemeinen Geſetzen begreifend, aber überall unfähig, den erften 
Urfprung des Ganzen oder das Biel zu fehen, dem feine Ent- 
wicklung zuftrebt. 

Und welche Lehre ziehen wir aus dem Bewußtfein dieſer 
Beihränftheit? Keine andere gewiß, als für uns ſelbſt die Mah⸗ 
nung, mit unpartetifher Geduld zu erwarten, wie weit ung die _ 
Fortſchritte der Wiffenfhaft in Vergangenheit und Zukunft führen 

27* 








420 


werben; für die Wiſſenſchaft felbft aber den Wunſch, daß fie mit 
unbefangener Genauigkeit fortarbeiten möge, ohne Durch Vorliebe 
für ein beſtimmtes Exrgebniß ihrer Unterfuhungen ſich mißleiten 
zu Yaffen. Denn was fie uns aud lehren möge: an das Ende 
der Tinge wird fie und doch nicht führen, und die Bedürfuiſſe 
unſeres Gemüthes werden nie dur die Enthüllung einer zeit: 
lichen Vorgeſchichte unſeres Dofeins, fondern nur durch die Er- 
kenntniß der ewigen Verknüpfung befriedigt werden, die zu allen 
Zeiten die veränderliche Welt der Erſcheinungen mit der Welt 
des wahrhaft Seienden zuſammenhält. Beſäßen wir dieſe Er⸗ 
kenntniß, wie wenig wuürden wir gewinnen, wenn es und mn 
gelänge, jene Fragen nad) der erften Entftehung des menjchlichen 
Gefchlechtes ficher zu beantworten, auf melde wir Teidenfchaftlid 
oft jo übergroßen Werth legen! Bielleicht vermehrt eines Tages 
ein unerwartetes Glüd die unzulänglichen Ausgangspunfte der 
Forſchung und befähigt und zu einer Entjcheidung, die Niemand 
jegt zu geben vermag. Gefegt nun, dieſe beſſere Kunde: ftellte 
für uns die Annahme fiher, an der fo Bieler Herzen hängen, 
bie Annahme, daß mit blinder innerer Nothwendigfeit Das noch 
formlojfe Chaos des Weltanfanges fih in ftetiger Vervollkomm⸗ 
nung bis zur unvermeibliden Erzeugung der Menfchheit verflärt 
Habe: fchlöffe fih dann für die Wiffenfchaft der Ausblid m un- 
endliche Fernen, den fie zu fliehen ſcheint? Wenn ſie es num 
begreiflich machen könnte, wie aus dem feurigen Dunftball zuerft 
- Die Fefte der Erbrinde und der Himmel bes Luftfreifes fich ſchie⸗ 
den, mie jeder Schritt dieſer Sonderung den Wahlverwandtſchaften 
der Elemente Gelegenheit zu neuen Wirkungen gab, wie dam 
unter den günftigen Ummftänden, welche die blinde Nothwendigleit 
dieſes Naturlaufes herbeiführte, der erfte Keim einer Pflanze, 
eines Thieres entftand, noch einfach und unausgebifvet von Um—⸗ 
riffen und wenig zu bedeutſamer Entfaltung geſchickt, wie endlich 
unter glücklichen Bedingungen, zu deren Herftellung duch dieſes 
arme Reben fon mitihätig war, allmählich das organiſche Da⸗ 
fein ſich veredelte, niedere Gattungen im Laufe ungezählter Jahr⸗ 








421 


hunderte ſich in höhere entwidelten, bis zulegt die Menſchheit, 
nit nach Dem Bilde Gottes, fondern als das legte Glied in 
diefer Kette nothmendiger Ereignifie hervorging: wenn dies Alles 
die Wiſſenſchaft begreiflich machen Könnte, was würde fie Damit 
mehr geleiftet haben, als daß fie das Wunder der unmittelbaren 
Schöpfung auf einen noch früheren Punkt der Vorzeit zurückge⸗ 
fhoben hätte, in welchem bie unendliche Weisheit in Died un: 
fheinbare Chaos die unermeßliche Fähigkeit zu fo georbneter Ent- 
widlung legte? Mit der ganzen Reihenfolge abgeftufter Bil- 
dungsepochen, durch welche hindurch fie den formlofen Urgrund 
ſich ausgeftalten Tiefe, wilrde fie nur den Glanz und die Man- 
wigfaltigfeit der Scenen vermehren, in deren äufßerlichen Pomp 
unſere Phantafle bewundernd ſich vertiefen könnte; aber fie würde 
das Ganze des wunderbaren Schauſpieles nicht zureichender erklärt 
haben, als jener ſich ſelbſt beſcheidende Glaube, für welchen die 
Entſtehung der lebendigen Geſchlechter nur aus dem unmittel⸗ 
baren Schöpferwillen Gottes begreiflich ſcheint. Dieſe Dinge ſind 
es, deren Entſcheidung wir, ſo weit die Wiſſenſchaft ſie je wird 
geben können, getroſt von ihrer unbefangenen Wahrheitsliebe er- 
warten müſſen; welchen Weg der Schöpfung Gott gewählt haben 
mag, keiner wird die Abhängigkeit der Welt von ihm lockerer wer⸗ 
den laſſen, keiner ſie feſter an ihn knüpfen können. 

Aber dieſe Geduld der Erwartung pflegen wir ſehr wenig 
zu beſitzen; mit dem leidenſchaftlichſten Eifer ſtehen vielmehr jene 
beiden Auffaſſungen der Wirklichkeit einander gegenüber, von denen 
Die eine den Weltlauf in. reinen Mechanismus zu verwandeln 
firebt, die andere, indem fie an Die unmittelbare Wirkſamkeit einer 
göttlichen regierenden Weisheit glaubt, vielleicht hinter ihrem eige- 
nen Sinne noch zurücbleibt. Denn darin finde ih Das Halbe 
und Unzulängliche biefer Meinung, daß fie meift erft burch Die 
Betrahtung des Lebendigen und des Seelenlebens ſich zu dem 
Bekenntniß einer höheren, die zerftrenten Ereigniffe zu bem Ganzen 
eines Weltlaufes verbindenden Macht aufregen läßt. Auch ihr 
fcheint e8 doch möglich, daß die regelmäßige Orbnung ber äußern 


422 


Welt auf der blinden Notwendigkeit eines fich ſelbſt genügenden 
Mechanismus berube: nur bie befondere Vortrefflicleit des Leben⸗ 
digen und die zwedinäßige Harmonie feines Daſeins nöthige ung, 
hier über die gewohnten Erflärungsgründe hinaus zu der An— 
nahme einer fchöpferifchen und erhaltenden Weisheit zu flüchten. 
Diefes Zugeſtändniß kommt mir zu fpät; nicht dadurch gewinnen 
wir etwas, daß wir einen Theil der Wirklichkeit, als zu erhaben 
für eine Entftehung durch mechaniſche Eaufalität, dem Gebote der 
allgemeinen Naturorbnung entziehen; vielmehr unter diefen anderen 
Gedanken müfjen wir uns beugen, daß alle jene unerfchlitterliche 
Nothwendigkeit, mit welcher das Ganze des mechaniſchen Welt- 
Yaufes felbftändig für fich feftzuftchen ſcheint, ein ganz eitler Traum 
ift, und daß Feine einzige Wechſelwirkung zu Stande kommt ohne 
die Mitwirfung jenes höheren Grundes, den wir übel beratben 
nur für die Entftehung einzelner bevorzugter Erſcheinungen zu 
bebürfen meinen. 


Es ift ein feltiamer und doch begreiflicher Stolz unferer natur- 
wiſſenſchaftlichen Aufklärung, zur erflävenden Naderzeugung der 
Wirklichkeit Feine anderen Borausfegungen nöthig zu haben, als 
irgend einen urfprünglihen Thatbeftand an Stoffen und Kräften 
und die unverrädte Geltung eines Kreifes allgemeiner, in ihren 
Geboten ſich ſtets gleicher Naturgefege. Seltſam, weil e8 zulegt 
doch in der That gar Vieles ift, was auf diefen Wege voraus⸗ 
gejegt werden muß, und weil man erwarten konnte, daß e8 dem 
zufammenfafjenden Geifte der menſchlichen Bernunft zufagender 
fein müßte, die Einheit eines fchaffenden Grundes anzuerkennen, 
als ſich die zerftreute Mannigfaltigfeit nur thatfächlich vorhandener 
Dinge und Bewegungen zum Ausgangspunkt aller Erklärung auf 
drängen zu Yaflen. Aber begreiflich dennoch; denn um den Preis 
dieſes einmaligen Opfers würde ja nun der enbliche Verſtand bie 
Befriedigung geniehen, ſich nie mehr durch die übermächtige Be⸗ 








423 


deutung und Schönheit irgend einer einzelnen Erfheinung umpo- 
niren zu laſſen; wie wunderbar und tieffinnig ihn irgend ein 
Gebilde der Natur anbliden möchte, in jenen allgemeinen Geſetzen, 
welche er völlig zu durchſchauen vermag, beſäße er das Mittel, 
ſich eines unbequemen Eindrudes zu erwehren, und indem ex nadı= 
wieſe, wie für ihn ganz und gar verftänblich auch diefe Erſchei— 
nung nur eine beiläufige Folge eines wohlbefannten Natırrlaufes 
fei, würde e8 ihm gelungen fein, das zu feiner eigenen Endlich⸗ 
keit berabzuziehen, mas dem unbefangenen Gemüth freilich ſtets 
nur als das Erzeugniß einer unendlihen Weisheit denkbar ift. 

In diefen Neigungen und Gewohnheiten wird die natur: 
wiſſenſchaftliche Bildung ſchwer zu erjehlittern fein, und am menig« 
ften durch die Gründe, welche ihr gewöhnlich der Glaube an ein 
höheres zwedmäßiges Walten in dem Naturlaufe entgegenzufegen 
pflegt. Denn wie lebhaft aud eine unbefangene Beobachtung 
diefen Glauben erweden mag, jo daß es gleich thöricht und laug— 
weilig ſcheinen Tann, ohne ihn die Orbnung der Natur verfichen 
zu wollen, fo wird ſtets jene mechaniſche Auffaffung mit Recht 
einmwenden, daß doch auf ihren Weg immer in der Erflärung des 
Einzelnen auch diejenigen einlenten, denen im Ganzen und Großen 
die Herrichaft einer zweckmäßig wirkenden Macht außer Trage ſteht. 
Befriedigt werben doch auch fie erft dann fein, wenn fie für jeden 
“ Erfolg, welchen jene Macht gebietet, aud Schritt fir Schritt Die 
vollziehenden Mittel gefunden haben, durch deren nothmwendigen 
und blinden Cauſalzuſammenhang die verlangte Wirkung entftehen 
muß. Nie werben auch fie im Exnfte glauben, daß innerhalb 
des Naturlaufes, wie er vor unferen Sinnen liegt, jene zwed= 
mäßige Kraft neue Anfänge des Wirkens fchaffe, die nicht rüd- 
wärts weiter verfolgt, fi immer wieder als Die nothwendigen 
Folgen eines früheren Zuftandes der Dinge erfennen ließen. Ber: 
wandelt fih nun fo aud fir jene gläubigere Anficht der Lauf 
der. Begebenheiten doch wieder. in den ununterbrodenen Zuſam⸗ 
menhang eines Mechanismus, fo hebt die naturwiſſenſchaftliche 
Betrachtung den Vegtern allein herogr und läßt den Gedanken an 


424 


die freie Wirkſamkeit der zweckſetzenden Kraft fallen, fir melde fie 
einen angebbaren Wirkungsfreis nicht zu finden wüßte. Ste 
witrde zugeben können, daß ber erfte Urfprung des Ganzen, deffen 
inmere Verhältniſſe allein fie unterfucht, anf eine göttliche Weis- 
beit zurüdführen möge, aber fie würde bie Thatſachen vermifien, 
welche innerhalb des Gebietes der Erfahrung eine fortdauernde 
Abhängigkeit des Gefchaffenen von der erhaltenden Vorſicht feines 
Urbeberd zu einer nothwendigen Vorausfegung der Erflärung 
machten. Zu unbefangen und felbfivertrauend hebt der Glaube 
an dieſes Lebendige Eingreifen der zweckmäßig wirkenden Vernunft 
nur bie fchönen Seiten des Dafeind hervor und vergißt einft- 
weilen die Schatten; indem er die unendliche Harmonie der or= 
ganiſchen Körper und ihren forgfältigen Bau für die Zwecke des 
geiftigen Lebens bewundert, gedenft ex micht der bitteren Confe- 
quenz, mit welder baffelbe organifche Leben Häßlichfeit und 
Krankheit von Geſchlecht zu Gefchlecht überliefert, nicht der man= 
nigfaltigen Störungen, welche die Erreichung felbft befcheidener 
menfchlicher Ziele hindern. Wie wenig kann daher dieje Auf- 
fafjung der Welt, fire welche Die Gegenwart des Uebels ein viel- 
leicht nicht unlösbares, aber ungelöftes Räthſel ift, durch ihren 
Angriff eine Gewohnheit der Betrachtung zu tberwältigen hoffen, 
die in der Beobachtung unzählige einzelne Beftätigungen findet 
und unzugänglic ift für das Gefühl des allgemeinen Mangels, 
von bem wir fie gebrüdt glauben! 
Und jelbft jenes Zugeſtändniß, welches fie und vielleicht 
Machen wird, daß Diefe Welt blinder Nothwendigkeit aus ber 
Weisheit eines höchſten Urhebers einft wenigftens entfprang, ift 
fie gendtbigt e8 zu machen? Ohne Zweifel‘ kann fie ung ein- 
wenden, Daß jelbft die beftehende Zweckmäßigleit der vorhandenen 
Bildung ſich unter der Herrſchaft der allgemeinen Gefege aus 
dem ungeordneten Zuftand eines urfprimglichen Chaos mußte ent- 
wideln köͤnnen. Denn Alles, was ein principlofer Wirbel zu- 
fommenführte in unzweckmäßiger Zufemmenfegung und ohne jene® 
‚Innere Gleichgewicht der Beftandtheile und Kräfte, welches dem 








425 


Gewordenen ein längeres Beftehen im Rampfe mit dem fortimo- 
genden äußeren Naturlaufe hätte fihern können: alles das ift 
eben längft zu Grunde gegangen. Neben und nad unzähligen 
mißglüdten Bildungen, welche vielleiht die Vorzeit in rafchem 
Wechſel des Entſtehens und Vergehen gefüllt haben, ift allmählich 
der Naturlauf in ein engered Bett zufammengegangen und gerettet 
bat fi nur jene Auswahl der Gefchöpfe, denen eine glüdliche 
Zujammenfügung ihrer Beftandtheile die Möglichkeit eines Be: 
fiehens gegen den Andrang der umgebenden Reize und die Fähig- 
feit der Fortpflanzung auf unbekannte Zeit hinaus verliehen hat. 
Für wie wenig wahrſcheinlich wir nun immer diefe Anficht hal⸗ 
ten mögen, wir würden fte doch kaum dem entreißen können, dem 
fie genügt, und wir können felbft den Reiz nicht hinwegläugnen, 
welchen für den wifjenfchaftlihen Scharffinn immer der Berſuch 
haben wird, aus dem formlofen Chaos durcheinandergährender 
Bewegungen die Nothwendigkeit einer allmählichen Sichtung und 
bie won felbft erfolgende Bildung beftändiger Ablaufsformen ber 
Ericheinungen zu entwideln. 

Aber jeder ſolche Verſuch beruht auf der einen Vorausſetzung, 
daß eine allgemeine Gefeglichfeit mit immer gleichem Gebote den 
einzelnen Stoffen jener urfprünglichen Unordnung Yorm und Größe 
ihrer Wechſelwirkungen vorzeihne und fie dadurch zwinge, Ber: 
bindungen aufzugeben, denen fein Gleichgewicht möglich ift, und 
andere einzugehen, in denen fie ruhen oder eine beftändige Form 
der Bewegung bewahren fünnen. Und diefe Borausfegung ift es 
nun, deren Zuläffigfeit wir prüfen müffen; mit ihr allein ſteht 
und fällt die ſtolze Sicherheit diefer mechaniſchen Weltauffaffung. 
Diefe Verehrung eined allmaltenden Naturgefeges, als des ein- 
zigen Bandes, welches alle zerftreüten Elemente des Weltlaufes 
zu wechſelſeitigen Wirkungen zufammendränge und die Geftalt 
ihrer Erfolge beftimme, ift fie felbft ein möglicher Gedanke und 
foan fie den legten Abſchluß für unſere Naturanficht gewähren, 
für deren Ausbildung im Einzelnen wir ſelbſt ihr überall ge⸗ 


huldigt haben? 


426 


Nehmen wir an, daß zwei Elemente urfprünglich vorhanden 
find, nicht erzengt von irgendwem, nicht aus irgend einer gemein- 
famen Duelle hervorgegangen, fondern in unvorvenflider Wirk- 
Tichfeit von Ewigkeit beftehend, aber fo beftehend, daß Teine an- 
dere Gemeinſamkeit als die des gleichzeitigen Dafeind fie um- 
ſchließt: wie vermöchte überhaupt der Einfluß des einen überzugehen 
- auf da8 andere, da jedes wie in einer Welt für fi ift, und 
zwifchen ihnen Nichte? Wie wird durch Diefes Nichts hindurch, 
in welchem feine Wege der Vermittlung laufen, die Wirkſamkeit 
des einen fih Hinfinden zu dem andern? Und wenn wir nın 
annähmen, daß durch einen gemeinfomen Raum hindurch die Thä- 
tigfeit jedes Elemente8 wie eine ablösbare Atmofphäre ſich be= 
ftändig ausbreitete, gleich dem ausftrahlenden Lichte wirkſam, wo 
fie fände, worauf fie wirken Könnte, und erfolglos ins Leere ver⸗ 
ſchwimmend, wo Nichts fi ihr darböte; was würden wir ge= 
wonnen haben? Wir würden unfere eigene Vorftellung nicht 
verftehen, weder wie die Wirkung die Grenzen deſſen verlafien 
könnte, welches fle hervorbringt, noch wie fie eine Beit lang 
ſchwebend zwiſchen ihrem Urheber und dem, was fie treffen fol, 
im Leeren ſich aufhielte, noch endlich, wie fle jenes zulegt errei= 
hend, eine umgeflaltende Kraft auf feine Zuflände auszuüben 
vermöcdte. Denn fo wenig der Raum ein Hinderniß des gegen- 
feitigen Wirkens für das fein wirbe, was in ihm von einander 
entfernt doch durch eine innere Beziehung verbunden wäre, fo 
wenig wird die räumliche Berührung die Nothwendigkeit einer 
Wechſelwirkung herbeiführen, oder ihre Möglichleit erklären zwiſchen 
Weſen, deren jedes nur auf fich felbft berubend durch die unauss- 
fullbare Kluft innerlicher Gleichgitltigfeit auch dann noch von dem 
andern geſchieden bliebe. Nur der gedankenloſen alltäglichen Mei- 
nung ſcheint der Hebergang der Wirkungen von einem zum andern 
Elemente Mar; fie glaubt ihn mit völliger Anfchaulichfeit in ben 
äußeren Bewegungen wahrzunehmen, die ihn begleiten; fiir jebe 
tiefer gehende Forſchung wird es mehr und mehr zum Raͤthſel, 
wie der Zuftand des einen Weſens eine verbindliche Nöthigung 


427 


für ein anderes enthalten könne, nun auch feine eigenen inneren 
Zuftände abzuändern. So wie wir früher unfern Willen nicht 
in feiner Strömung in die beweglichen Glieder verfolgen konnten, 
fondern zugeben mußten, daß alles Wollen eingefchloffen in den 
wollenden Geift bleibe und daß eine unbegreifliche Macht ihm 
das Bollbringen folgen laſſe: eben fo werden alle Kräfte, die wir 
in irgend einer Form dem einen Element inwohnend denken, un- 
zureichend fein, die Ausübung eines Einfluffes über das zu be=. 
gründen, in welchen fie nicht wohnen. Kann nun jener Gedanke 
des allgemeinen Naturlaufes, den unjere früheren Betrachtungen 
bier berbeizogen, kann die Borftellung eines Reiches ewig und 
allgemein geltender Geſetze dieſe Lücke füllen und die ſpröde Ver⸗ 
eingelung der gefchiedenen Elemente zu dem gediegenen Ganzen 
einer wechſelwirkenden Welt verſchmelzen? 

Sie kann c8 ohne Zweifel nicht; denn wie vermöcten Ges 
fee, wie eine Nothwendigkeit, die für beftimmte Fälle beftimmte 
Erfolge vorſchriebe, überhaupt für fich felbft zu exiftiren? Nichts 
kann fein außer dem Seienden und feinen inneren Zuftänden, 
und nicht zwiſchen den Wefen kann als ein fitr fich beftebenver 
fie verbindender Hintergrund, als eine wirkjame fie leitende Macht 
eine allgemeine Orbnung ausgegoflen fein, dem vorangehend was 
fle ordnen fol. Bliden wir auf unfer menſchliches Leben zurüd, 
fo finden wir die Gefege unſeres gefelligen Dafeind nicht neben 
uns und nicht zwifchen uns in einer unabhängigen Wirklichkeit 
beftehen, nicht als Mächte, Die durch ihr Dafein von außen uns 
zwingen und leiten könnten; fie exifliren nur in dem Bewußtſein 
der Einzelnen, die ſich ihnen unterworfen fühlen; fie fommen zur: 
Geltung und Berwirflihung nur dur die Handlungen der Ieben- 
digen Individuen; fie find Nichts als die in dem Innern vieler 
Weſen übereinftimmend entwidelte Richtung ihres Wollens, die 
‚ dem fpäteren zufammenfafjenden Blide der Beobachtung als eine 
böhere von außen leitende Macht erfcheint, weil fie in ihrer ge⸗ 
meinfamen Geltung für viele Einzelne nicht mehr ausſchließlich 
als das Erzeugniß eines Einzigen ſich darſtellt. Die Geſetze der: 


428 


Natur mögen den Einrichtungen des menſchlichen Geiftes über- 
legen fein; können diefe Widerfprud und Unfolgfamteit erfahren, 
fo gebieten: jene uneingefhräntt und ungehemmt; dennoch wird bie 
Natur nicht das an ſich Wiberfprechende vermögen und dem eine 
felbftändige Eriftenz verleihen, mas nur an dem Seienden und in 
ihm zu fein im Stande ift. Cine weitverbreitete Gewöhnung der 
. Borftelung und bes Sprachgebraudes, unjchäblic für Die Beur- 
theilung der gewöhnlichen Vorkommnifle des Lebens, auf deren 
Beranlaffung fie entftanden ift, pflegt uns in dieſen Ueberlegungen 
zu täuſchen. Wir ſprechen num einmal von Beziehungen, die 
zwifchen den Dingen obwalten, von Berhältniffen, in melde fie 
eintreten, von einer Ordnung, die fie umfaßt, von Gefegen end: 
lich, deren Wirkfamfeit zwiſchen ihnen hin und ber fpielt, und 
wir bemerfen wenig mehr, welchen Widerſpruch diefe Begriffe ein- 
fließen von Verhältniffen, die für fi) bereit lägen, bevor bie 
Dinge kämen, um in fie einzutreten, von einer Ordnung, die vor 
dem Georbneten beftände, um es aufzunehmen, von Beziehnngen 
enblich, die wie baltbare Fäden, deren Stoff wir doch nicht an⸗ 
zugeben wißten, über den Abgrund binweggefpannt wären, der 
ein Wefen vom andern trennt. Wir bedenken nicht, daß alle 
Berhältniffe und Beziehungen wahrhaftes Dafein zunächft nur in 
ber Einheit des beobachtenden Bewußtſeins haben, das von einem 
Element zum andern übergehend, Die getrennten durch feine zu⸗ 
ſammenfaſſende Thätigkeit umfpinnt, und daß jede wirkſame Ord- 
nung, jedes Geſetz, welches wir unabhängig non unferem Wiſſen 
zwifchen den Dingen uns vorſtellen möchten, in ganz gleicher Weile 
nur Dafein haben kann in der Einheit des Einen, melde fie 
Alle verbindet. Nicht der nichtige Schatten einer Naturordnung, 
fondern nur die volle Wirklichkeit eines unendlichen Tebendigen 
Weſens, deſſen innerlich gehegte Theile alle endlichen Dinge find, 
kann die Mannigfaltigfeit der Welt fo verknüpfen, daß die Wech⸗ 
felmirkungen über die Kluft hinüberreichen, welche die einzelnen 
jelbftändigen Elemente von einander ewig fcheiven würde. Dem 
von dem einen ausgehend, verfinkt nun die Wirkung nicht in ein 








429 


Richts, das zwifhen ihm und dem andern läge, jondern wie in 
allem Sein das wahrhaft Seiende dafjelbe Eine ift, jo wirkt im 
aller Wechſelwirkung das unendliche Wefen nur auf fidh felbft, 
and feine Thätigkeit verläßt nie den ftetigen Boden des Seins, 
Was in dem einen feiner Theile ſich regt, ift nicht abgefchloffen 
in diefem und fremd für die übrigen; der einzelne Zuftand hat 
nicht einen unfagbaren Weg zurüdzulegen, um ein anderes Ele⸗ 
ment zu ſuchen, dem er ſich mittheile, und hat nit cine gleich 
umbegreiflihe Gewalt auszuüben, um dies gleichgältige Andere zu 
nöthigen, an ihm Theil zu nehmen; jede Erregung ded Einzelnen“ 
ift zugleich eine Erregumg des ganzen Unendlichen, das auch im 
ihm den lebendigen Grund feines Weſens bildet, und jedes ver: 
mag deshalb mit feiner Wirkung überzugreifen in Anderes, tm 
welchem derſelbe Grund Yebt; er ift es, welcher aus der Einheit 
feiner eigenen Natur dem endlichen Ereignig bier feinen Nach: 
Hong dort nachfolgen läßt. Nicht ein Endliches überhaupt wirkt 
aus fih, als aus dieſem Endlichen heraus, auf Das andere; jede 
Erregung des Einzelnen vielmehr, indem fie den ewigen Grund 
bewegt, der in ihm, wie in allen, das Weſen ſeines endlichen 
Scheines ift, vermag nur durch diefe Stetigfeit der Weſensgemein⸗ 
Schaft hindurch auf das ſcheinbar Entfernte überzumirken. 

Zu diefer Anerkennung einer unendlihen Subftanz, die an 
der Stelle eines weſenloſen und unmirflichen Gefeges durch ihre 
weſenhafte Wirklichkeit die Dinge verbindet, nöthigt uns nicht 
allein die Bewunderung einzelner Ereignißfreife, deren bejondere 
Bedeutung uns Aberwältigt, fondern jedes noch fo ärmliche Bei⸗ 
fpiel irgend einer Wechfelmirkung, jeder einzelne Ball von Cau⸗ 
falität zwingt uns, um die Möglichfeit eines Ueberganges dei 
Einfluſſes zu begreifen, au die Stelle eines bloßen Naturzujam- 
menhanges ein felbft ſubſtantielles Unendliche zu jegen, in welchem 
das in der Erſcheinung geſchiedene Mannigfache nicht mehr ge- 
ſchieden ift. Nicht zwiſchen den Beftanbtheilen des lebendigen 
Körpers allein, nicht zwischen Körper und Geele vorzugsweis Tonn- 
ten wir ein ſolches Band fuchen, als bebürften wir deſſelben nicht 





430 


überall; indem wir vielmehr alles Gefchehen, welchen Namen es 
tragen mag, nur als die innerlihe Regfamleit eines einzigen Uns 
endlichen betrachten, wird uns der weitere Berlauf unferer An- 
fiht von jener wiederauflebenden Mythologie entfernen, welche, 
wie die alten Sagen, einigen vornehmen Erfheinungen ihre be: 
fonderen Genien zuerfennt und die übrige gemeine Wirklichkeit fir 
fich ſelbſt forgen läßt. 

Denn nit nur ein Band ift dies allgemeine Wefen, nicht 
nur eine gleichgültige Brüde, weldhe dem Uebergang der Wir 
ungen von einem Element zum andern nur überhaupt den gang- 
baren Weg bereitet: fondern die beſtimmende Macht ift e8 zu: 
gleich, die jedem Vorangang die Geftalt und Größe feiner Folge, 
jedem einzelnen Wefen den Umkreis feiner möglichen Thätigfeit, 
jeder einzelnen Aeußerung derfelben ihre befondere Form vorzeid- 
net. Man täufcht ſich darin, daß man die Wirkungsweiſen, melde 
die Dinge gegen einander beobachten, als ganz ſelbſtverſtändliche 
Folgen aus den beftimmten Eigenfchaften, welche num einmal ihre 
Natur ausmachen, und aus dem Miteinfiuß der jedesmal gege- 
benen Umftände ableiten zu können glaubt. Eine aufrichtige Bes 
trachtung führt uns vielmehr zu dem Geftänpniß, daß aus dieſen 
Borderfägen allein, wie wir auch ihren Inhalt zergliedern und 
wieder verfnitpfen, die Wirkungen, welche die Erfahrung und that- 
ſächlich zeigt, als nothwendige Schlußfäge nicht hervorgehen, ſon⸗ 
bern daß eine unbekannte Macht, wie NRüdficht nehmend auf 
Etwas, mas wir in jenen Vorbedingungen nicht antreffen, am 
ihre Geftalt die beftimmte Geftalt der Folge gefnüpft hat. Das 
Unendliche ift diefe verborgene Macht, und das, worauf es Riüd- 
fiht nimmt in diefer Beftimmung der Folgen, ift feine eigene 
gemeinfame Gegenwart in allen endlichen Elementen, durch melde 
die Welt zur Einheit eines Weſens verbunden tft, und um beren 
willen der Lauf ihrer Ereigniffe zur Einheit eines zuſammen⸗ 
hängenden Ausbrudes für den Inhalt diefes Wefens verknüpft 
werden muß. Nur fo viel und nur eine ſolche Fähigkeit des 
Wirkens wird deshalb jedes Endliche befigen, wie viel und welde 





431 


das Unendliche ihm als feinen Beitrag zu der Verwirflihung des 
Ganzen zugefteht. 


Aber wir müſſen weitläufiger fein und uns erlauben, ben 
wiberfpruchlofen Zufammenhang der Anficht, in deren Darftellung 
wir begriffen find, mit den ſcheinbar entgegengefegten Voraus: 
fegungen zu erläutern, denen unfere eigene Betrachtung der einzel- 
nen Erſcheinungen früher gefolgt ift. 

In jedem endlichen Dinge, fofern wir e8 als Erzeugniß des 
unendlichen Einen fafjen, werden wir einen gewifien Thatbeftand 
von Merkmalen als die eigenthiimliche Form bezeichnen können, 
in welche in ihm zum Unterſchiede von anderem Endlichen jenes 
Eine ausgeprägt if. Wir können nicht meinen, daß in irgend 
einer diefer beftimmten Formen, durch melde das eine Endliche 
dieſes, das andere ein anderes ift, fi das volle Weſen des Un- 
endlichen erichöpfe, welches ihnen allen der gemeinfame Grund 
ihres Dafeins ift; aber chenfo wenig dürfen wir doch glauben, 
daß der untheilbare Inhalt deſſelben, in unzählige Bruchftüde zer⸗ 
fallend, in jedem einzelnen Dinge nur mit einem Theile feiner 
Fülle gegenwärtig fei. Als wir die lebendige Thätigfeit der menfch- 
lichen Seele überlegten, führte unfere Betrachtung und zu einer 
ähnlichen Forderung, wie diefe ift, welche wir uns bier ftellen 
müfjen, und die Erinnerung an die leichtere Faßlichkeit jenes einzel- 
nen Beiſpiels kann ung jegt in der allgemeineren Auffaffung def- 
ſelben Verhältniffes unterftügen. Wenn die Scele Borftellungen 
bildet, ohne noch eine Spur des Gefühleg oder des Wollens zu 
entfalten, glauben wir fie doch ſchon in diefer einfeitigen Weife 
ihrer Thätigkeit nicht nur mit einem Theile ihres Weſens gegen- 
wärtig, während ihre übrigen Fähigfeiten in gleichgültiger Theil- 
nahmlofigfeit ſchlummerten. Diefelbe ganze Natur vielmehr, die 
unter dem Einfluffe anderer Anregungen Gefühle der Luft und 
Unluft, begehrende und abftoßende Strebungen entwideln witrbe, 


432 


meinten wir mit der vollen Fülle ihres Weſens ſchon an der Ere 
zeugung der Borftellungen mitbetheiligt. Aber fie erihöpft fi im 
Vorftellen fo wenig al8 in irgend einer andern einzelnen Form 
ihrer Aeußerung; in allen voll vorhanden und mitthätig, findet 
fie doch in jeder nur einen einfeitigen und partiellen Ausdruck, 
und hinter jedem Thun, das fie in einem einzelnen Augenblide 
entmwidelt, bleibt überall ein reichere® und umfaſſenderes Vermögen 
unaufgejchloffen und verborgen zurüd. ber eben dieſes ganze 
Weſen der Seele, durch alle mannigfachen Formen ihres Aeußerns 
gemeinfam und gleihmäßig fi) hindurchziehend, ift das vermit- 
telnde Glied, Durch welches die Wechſelwirkung der verfchiedenen 
inneren Zuftände möglich und die Geftalt ihres Erfolges beftimmt 
wird. Nicht aus irgend einer Bermidlung der Vorftellungen fahen 
wir an ſich ſchon das Gefühl als nothmendige und felbftverftänd- 
liche Folge hervorquellen, fondern e8 eutftand, weil fchon in der vor- 
ftellenden Thätigfeit jene ganze Secle lebendig wirkſam war, inderen 
Natur auch das Gefühl begründet Tag, unangeregt damals, aber 
vorbereitet zum Hervortreten unter Bedingungen, deren einige der 
Lauf der Borftellungen felbft herbeifährt. 

Mit diefem untheilbaren Wefen der Seele nun vergleichen 
wir jenes Unendliche, die Subftanz aller Dinge; mit den eingel- 
nen Formen des geiftigen Thuns diefe endlichen Dinge felbft, die 
fheinbaren Elemente der Welt, in deren verfchiedenartige Geftaf- 
ten jenes fi ausgeprägt hat. Dann wird, wie in ber Seele 
die Wechſelwirkung der inneren Zuftände, fo in dem Weltlauf 
die Wechfelmirfung der Dinge nicht nur in ihrer Möglichkeit über⸗ 
haupt, ſondern aud in der Geftalt ihres Exfolges von diefer We— 
fenögemeinfchaft abhängen, welche fie alle verknüpft. Was jedes 
einzelne Element leiſtet, das vermag es nicht, fofern es dieſes 
Einzelne iſt, ſondern nur ſofern es dies Einzelne als Erſcheinung 
dieſes Allgemeinen iſt; nicht ſchon deshalb, weil es ſo und nicht 
anders geformt iſt und dieſe, leine andern Merkmale einſchließt, 
bringt es ſelbſtverſtändlich dieſe und keine andere Wirkung hervor, 
ſondern nur weil in dieſer ſeiner Form dieſes Unendliche ruht, 


433 


Defien inhaltvolle Natur die Merkmale zufammenhält, bereit, durch 
feine Kraft fie zu vertheibigen oder ihrer Veränderung eine Folge 
zu geben. So wirkt alles Endliche im Grunde nur durch Das, 
was es im Berborgenen Beſſeres ift, als es fcheint, Durch dic 
weſenhafte Macht des Unendlichen, die auch in ihm Liegt; nicht 
jener Hülle beftimmter einzelner Eigenfchaften, fonbern nur diefem 
Kerne, ſofern er in fie fih Hält, gehört alle Kraft und Fähig- 
feit des Wirkens. Bezeichnen wir nun mit dem Namen der Na- 
tur eines Dinges diefe verfhmolzene und in Eins gebilbete Zwei⸗— 
beit des unendlichen Wefens, welches in ihm dieſe einzelne Form 
des Dafeind angenommen hat, oder der endlichen Form, die mit 
dem Unendlichen fi erfüllt bat: jo werden wir Hecht haben, 
von diefer Natur des Dinges alle Weifen feines Verhaltens als 
nun nothwendige Bolgen abzuleiten. Denn die eigene innere 
Wahrheit und Folgerichtigkeit wird das Unendliche nöthigen, mit 
jeder beftimmten endlichen Form, welche es fi) gibt, auch die un: 
veränderlihe Wirkungsweiſe fich feftzufegen, die e8 in ihr aus- 
üben will, entfprehend dem Sinne, in. welchem es überhaupt 
diefe einzelne Form als weſentlichen Theil feiner Erſcheinung 
ſchöpferiſch geftaltete. Aber der gewöhnliche Hang der Wiſſenſchaft 
drängt zu einem andern Sprachgebrauch; eben jenen Thatbeftand 
der Merkmale, die alle machtlos find ohne das Lebendige Wefen, 
welches hinter ihnen ſteht, dieſe endliche Hülle des mahrbaft 
Seienden pflegt man am meiften al8 die Natur eines Dinges zu 
bezeichnen und wenig mehr tft von dem die Rede, was wir allein 
als den haltbaren und wirktungsfähigen Kern dieſes Scheines be- 
trachten können. Aus diefer nur halben Natur der Dinge glaubt 
man ihr Verhalten als nothmwendige Folge entwideln zu können; 
nicht nur die Möglichkeit eines übergehenden Einflufjes überhaupt 
meint man zu verftehen, fondern in einem Kreiſe allgemeiner fich 
von felbft verftehender Wahrheiten auch das Mittel zur befiten, 
die jedesmalige ©eftalt eines Erfolges aus den gegebenen Um— 
ftänden und den beftändigen Eigenfhaften der Dinge zu ent- 
wickeln. | 
Loge I. 3. Aufl. - 28 


434 


Und hierbei überfieht man eben, daß der Eindruck von Selbft- 
verftändlichkeit, welchen fo viele Zufammenhänge von Urſache und 
Wirkung und erweden, doch nicht von einer und begreiflichen 
inneren Notbwendigfeit, jondern nur von der allgemeinen und 
übermwältigenden Wirklichkeit diefer Verknüpfungen herrührt, die 
als überall wiederkehrende thatfächliche Welteinrihtungen und mit 
dem Scheine täufchen, nicht blos Thatfachen der Erfahrung, ſon⸗ 
dern denknothwendige Berhältniffe zu fein. 

Nachdem wir durch Erfahrung belehrt find, daß die wäg⸗ 
bare Menge des Stoffes in allen feinen Verwandlungen unver- 
ändert bleibt, wächft dieſe überraſchende Beobachtung für uns bie 
zu dem erhabenen Eindruck einer unvorvenklichen Nothwendigkeit 
an, und wir bilden uns nun ein, daß ein nothwendiger Vernunft- 
fa von der Beharrlichfeit der Subftanz uns diefe Thatfache auch 
vor der Erfahrung hätte Ichren können. Nachdem wir beobad- 
tet haben, daß die einmal angefangene Bewegung um fo länger 
fortdauert, je gründlicher man ihre Hinverniffe Hinwegräumt: num 
plötzlich uberkommt uns die Ahnung, daß ihre ewige Fortdauer, 
wo fie nicht gehemmt werbe, das nothwendige Verhalten fei, und 
doch jcheitern wir immer, wenn wir dieſe vorgeblich denknothwen⸗ 
dige Wahrheit aus Gründen des reinen Denkens beweifen wollen. 
Nachdem wir endlich gefehen haben, daß ber ftoßende Körper den 
geftopenen in Bewegung feßt, feheint uns wohl die Vertheilung 
der Geſchwindigkeiten und die Mitteilung der Bewegung über 
baupt ein ganz natürlich zu erwartendes Ereigniß, und erſt bei 
dem Verſuche, den Grund diefer Erwartung beftimmt auszufpres 
hen, finden wir, daß wir feinen willen. Daß jede phyſiſche 
Kraft mit der wachſenden Entfernung der wirkenden Wefen von 
einander abnimmt: wir glauben gar nicht mehr, es anders den⸗ 
fen zu können, und doch wiffen wir, wenn wir aufrichtig fein 
wollen, feinen Grund, warum nicht im Gegentheil die Anziehung 
in größerer Nähe geringer fein follte, da fie ja leicht in demſel⸗ 
ben Maße abnehmen könnte, in welchem fie bereits befrichigt 
if. Und zulegt, wie naiv legen wir Doch den Körpern, wenn 


435 


ihre chemische Gegenwirkung zu erflären ift, eine Verwandtſchaft 
bei, nicht al8 wenn wir fie aus der übrigen Natur der Körper 
ableiten könnten, fondern bier recht eigentlich als die Fähigkeit zu 
einer Leiftung, welche zu ihrer Natur nur hinzukommt. Aller 
dings werden wir in dieſem Falle die Unfertigfeit unferer Erfah— 
rungserfenntniß anflagen; nicht völlig bekannt fei uns eben die 
Natur der verjhiedenen Elemente; wäre fie es, jo wiirde man in 
ihr au die Erklärung für ihre chemiſchen Verwandtſchaften fin- 
ben. Died mag vielleicht möglich fein, aber gewiß nur fo, daß 
die allgemeinen Regeln, nach denen wir aus ber beffer befannten 
Natur der Elemente auf ihren Chemismus fchlöffen, felbft ſchon 
eine Menge jener Caufalzufammenhänge vorausfegten, die uns 
nur als unmibderrufene Thatſachen der wirklichen Welteinrichtung 
erweislich, aber nicht als Nothwendigkeiten begreiflich find. 
Aus ſolchen Urthatjachen, nachdem wir ihre Bedeutung und 
ben Sinn, in welchem fie ſich entmwideln wollen, fennen gelernt 
haben, vermögen wir dann allerdings die Mannigfaltigkeit ihrer 
einzelnen Folgen abzuleiten, aber fie felbft jehen wir nicht aus 
der bloßen Betrachtung der gegebenen Dinge ein, fondern würden 
fie erft begreifen, wenn wir wüßten, was das Unendliche mit 
diefen Dingen im Sinne hatte, da es fie ſchuf. Wer fi ver: 
mißt, aus jener unvollftändigen Natur des Endlichen allein bie 
Gefeglichfeit der Ereigniffe aufzuweisen, unternimmt die hoffnungs- 
Iofe Arbeit, eine Theorie über Bewegungen von Schatten zu 
gründen ohne Rückſicht auf die Bewegung der Körper, von Denen 
biefe geworfen merden. Denn in der That, fo wie wir nicht aus 
. der Geſchwindigkeit, mit der zwei Schatten aufeinander zuftreben, 
fondern nur aus der Elafticttät der Körper, denen fie entfprechen, 
bie Schnelligkeit ermitteln können, mit welcher ſie aus ihrer Bes 
rührung zurüdzuprallen fcheinen werden: fo hängt alles das, mas 
die Dinge Yeiften, nicht von ihren erfennbaren Eigenſchaften allein, 
fondern von der Elafticität und Xebendigfeit Des Unbedingten ab, 
welches als einziges zufammenfafjendes und wirkungsfähiges We⸗ 


fen diefen Schein der Eigenſchaften um ſich wirft. Nur dann, 
28* 


436 


wenn wir auch diefe innere Natur der Dinge durchichauen und 
jagen könnten, was eigentlih das Unenbliche mit dieſer Manntg- 
faltigleit der Exfheinungen und ihrer unermeßlichen Verwicklung 
beabfihtigt, nur dann würden wir aus biefem Zwede heraus 
auch die allgemeinen Geſetze des Wirkens verftehen, die es im 
diefem Erſcheinen fig vorgefchrieben bat, und würden im Stande 
fein, fie nicht blos als Thatſachen binzunehmen, fondern al8 Die 
eigene Yolgerichtigfeit des Unendlichen zu begreifen. 

Da dies nun nicht ift, mögen wir den Sprachgebraud ber 
Naturwiſſenſchaft nicht tabeln, jo lange er nur Sprachgebrauch 
für die laufende Unterſuchung, nicht Ausdrud für den Siun der 
vollendeten fein fol. Denn verwerten fönnen wir allerdings die 
Mitwirkung des Unendlichen für die Durchführung der Erflärun- 
gen im Einzelnen nit. Eben fo wie wir im Leben das ftikfe 
Bewußtſein ftetig fefthalten, daß jeder unferer Augenblide in der 
Hand Gottes fteht, ohne daß wir doc feinen Namen in der Be- 
urtheilung jedes Fleinen Ereignifjes mißbraugen möchten, deffen 
befondere Abhängigkeit von feinem Willen wir ja nicht verfichen: 
eben fo werden wir einmal und bleibend die Ueberzeugung faflen, 
daß jeder Schritt des Naturlaufes nur gethan wird durch die 
wirkende und geftaltenve Kraft des Unendlichen; aber in der Er- 
läuterung der einzelnen Erfheinungen werden wir dieſe Ueber— 
zeugung nicht beftändig wiederholen. Denn eben in biefem Ein- 
zelnen diſt das Unendliche nur noch in Geftalt jener abgeleiteten 
Principien thätig, in die e8 fich felbft verwandelt bat, in Geftalt 
jener Stoffe Kräfte und Wirkungen, die es gefhaffen, denen es 
ihre Form und ihre Gefege vorgezeichnet, die es endlich zu dem. 
zufammenhängenden Ganzen eines mechanischen Naturlaufes ver- 
flohten bat. Führen wir in diefem Sinne alles Geſchehen ber 
Natur auf mechanifche Berkettung zurid, jo handeln wir nun iu 
dem eigenen Sinne des Unendlihen und ehren fein Gebot; nicht 
ihm gegenüber ftellen wir als eine unabhängige, feindliche, von 
ibm zu überwindende Macht ven Mechanismus, fondern wir fehen 
in dieſem nur die eigene Wirkſamkeit des Unenblichen, die, melde 





437 


e8 in der Welt der Erjheinungen überall als die verwirflichende 
Hand zur Erfüllung feiner Zwecke anerfannt wiffen will. So 
kann die Naturwiſſenſchaft allerdings das Unendliche zu entbehren 
fheinen, weil fie nit von ihm fpricht, und die Oberflächlichkeit 
unferer phyſikaliſchen Zeitbildung ‚kann glauben e8 entbehren zu 
können, weil fte, befchäftigt mit den Heinen Mebergängen von End- 
lihem zu Endlichem, die Anfänge des Gemebes aus den Augen 
verliert, in defien Mafchen fie wohnt; in der That aber wird 
jede aufrichtige Meberlegung zu dem ernften Bewußtfein der völli- 
gen Unfelbftändigfeit alles Naturlaufes zurlidgeführt werben, und 
fie wird da, wo fie auf Fragen ftößt, wie die, welche uns zu 
diefer Erläuterung veranlaßten, auch den offenen Ausdrud dieſer 
Ueberzeugung nicht zurüchalten Mönnen. 


Menden wir uns nun zu diefen Tragen zurück, um nit zu 
Yange in dem Gebiete allgemeiner Betrachtungen zu verweilen, jo 
geben uns zunächſt die Zweifel über das endliche Schidfal der 
Seele und die Bemühungen, zu einer Entfcheidung derſelben zu 
gelangen, ein Beifpiel der fruchtlojen Beſtrebungen, welche wir 
tadelten. Auf drei Wegen fucht man das Ziel, die Gewißheit 
der Unfterblichfeit, zu erreihen. Denn außer jenen zahlreichen 
Analogien Bergleihen und Bildern, mit denen fi) Die zweifelnde 
Phantafie immer zunächft zu bebelfen pflegt, und welche wohl die 
Stimmung des Gemüthes für die Aufnahme einer Wahrheit 
glinftig vorbereiten, aber nie diefe ſelbſt beweiſen fünnen, fucht 
man theils aus ber eigenen Natur der Dinge die Unfterblichfeit 
als unvermeidlich, theils aus Gründen der Gerechtigkeit fie als 
nothwendiges Zugeſtändniß der Weltregierung darzuftellen. Es 
ift nicht unfere Abficht, Die zahlreichen Neflertonen der Testen Art 
bier zu wiederholen; nur die Behauptung möchten wir hinzufits 
gen, daß nur aus ihrem reife, niemals dagegen aus jenen ſchein⸗ 
bar ftrengeren Unterfuchungen, melde die Natur der Dinge zum 


438 


Ausgang nehmen, das Gemith die Gründe entlehnen wird, auf 
welche e8 mit einigem Vertrauen zu ihrer Haltbarkeit feinen Glau⸗ 
ben an ewige Fortdauer ftügen möchte. Es gibt nicht eine ſolche 
Natur der Dinge, die wie ein unvordenkliches Schickſal aller 
Wirklichkeit al8 eine unvermeidlich zu befolgende Reihe von Ge⸗ 
fegen voranginge; e8 gibt nicht einen ſolchen Inbegriff des an 
fi Möglichen und Nothwendigen, auf welchen die welterfchaffende 
Kraft Hinbliclen müßte, um zu erfahren, innerhalb welcher Gren- 
zen ihr die Verwirflihung ihrer Abfichten erlaubt fei, und melde 
Berpflichtungen folgerichtiger Entwidlung fie mit jeder Stiftung 
irgend eines Keimes übernehmen müſſe; es gibt endlich nicht ein 
ſolches ewiges und vorweltliches Geburtsrecht der Dinge oder Sub- 
ftangen, auf das fie fih ſtützen Könnten, um zu verlangen, daß 
jede Macht, von welder fie zum Dienfte einer Weltbildung be- 
rufen würden, ihre Privilegien achte und fie nur fo verwende, 
wie ed ihrer angeftammten Würde angemeffen fei. Alles, das 
Dafein jener Dinge, die Eigenthümlichleiten ihrer Natur und bie 
Rechte, die dieſer zuzukommen fheinen, Alles ift auf einmal und 
gleich unbefchränft nur Geſchöpf jener ſchaffenden Kraft ſelbſt; nur 
fo viel und ſolches ift Überhaupt in der Welt, als das Unenbliche 
zur Verwirklichung feines Willens nicht ſowohl bedarf als viel- 
mehr zuläßt; nur die Rechte befigt jedes, die dieſer ſchöpferiſche 
Wille ibm gab, nur innerhalb derjenigen Geſetze fcheinen alle 
feine Wirfungen und alle feine Schickſale fi mit jelbftändiger 
Nothwendigkeit zu bewegen, innerhalb deren die eigene Folgerich⸗ 
tigkeit des ewig Einen jedem einzelnen feiner Erzeugniffe zu blei= 
ben gebot. Nur wenn wir in dem fchöpferifhen Mittelpunkte 
der Welt ftehend, den Gedanken völlig durchſchauten, aus dem fle 
entfprungen ift, fünnten wir rüdwärts aus ihm die Schidfale Des 
Einzelnen vorausfagen, das zu feiner Verwirklichung berufen ift; 
wir können e8 nicht von unferem menſchlichen Standpunkte, der 
und nur dem Gejchaffenen unmittelbar, aber nicht dem Schöpfer 
und feinen Abfichten gegenüberftellt. Beſitzt unfer Geift, mie wir 
mit Recht glauben, einen Schag ihm angeborner denknothwendi⸗ 


439 


ger Wahrheit, jo fündigen wir gewiß gegen den Sinn biefer 
Wahrheit zuerft und am meiften, wenn wir ihr einen andern 
Urſprung zufchreiben, als den, auch ihren Inhalt nur jener fchöpfe- 
riſchen Macht zu verdanken; fie wird uns leiten, das Endliche in 
dem Sinne des Ganzen zu verknüpfen, dem es dient, aber fte 
Tann die letzte Beftimmung aller Dinge nicht unabhängig von ber 
Kenntniß des höchſten Zweckes begreifen wollen, von welchem 
allein doch diefe Beftimmung abhängt. | 

Daß wir die Seele als den fubftantiellen und dauernden 
Träger der Erfheinungen unſers inneren Lebens anfchen müffen, 
davon allein haben unfere Betrachtungen uns überzeugen können. 
Aber dag die Seele darum, weil fie für diefe Erfheinungen die 
bleibende Subftanz fei, auch eine ewige und unvertilgbare Dauer 
als das Vorrecht ihrer Natur befigen müſſe: von der Sicherheit 
dieſes Schluffes wird das unbefangene Gemüth ſich nie überzeugt 
fühlen. PVerlangt man das Zugeſtändniß von uns, daß jede 
Subftanz ihrem Begriffe nach nothmwendig unzerftörbar fei, fo 
mögen wir die Nichtigkeit dieſes Begriffes zugeben, aber wir wer⸗ 
den dann die Seele nicht mehr zu dem rechnen, was in feinen Um: 
fang fällt. Nichts berechtigt uns zu der Annahme, was einmal 
jet, müſſe nothmwendig immer fein, und Entftehen und Vergehen 
bezweifeln wir nur deshalb zumeilen in feiner Möglichkeit, meil 
wir mit der gewohnten Neugierde unferes Denkens eine Anſchau⸗ 
ung ſeines Herganges haben möchten. Sind wir endlich buch 
den Zufammenhang unferer übrigen Anfichten fo ſehr Darauf hin- 
gewieſen, in allem Endlichen nur Gefchöpfe des Ewigen zu jehen, 
fo können noch weniger die Schickſale dieſes Einzelnen andere fein, 
als das Ganze fie ihnen gebietet. Das wird ewig dauern, was 
um feines Werthes und feines Sinnes willen ein beftändiges 
Glied der Weltordnung fein muß; das Alles wird zu Grunde 
gehen, dem diefer erhaltenne Werth gebricht. Kein anderes höch- 
ſtes Geſetz unferer Schickſale können wir auffinden als dieſes, aber 
eben diefes ift unanwendbar in unfern menſchlichen Händen. Wir 
können und nicht vermefien wollen, zu beflimmen und zu richten, 


440 


welche geiftige Entwidlung durch die ewige Bedeutung, zu welder 
fie ſich erhoben hat, die Unfterblichfeit fich erwerbe, welcher an- 
dern fie verfagt bleibe. Weder ob alle Thierfeelen vergänglid, 
noch ob alle Seelen der Menfchen unvergänglich find, dürfen wir 
entfcheiden wollen, fondern müffen uns auf den Glauben zuräd- 
ziehen, daß jedem Weſen gefchehen werde nach jeinem Recht. 
Und eben fo wie die Fortbauer nach dem Tode, iſt das Da— 
fein der Seele vor der Geburt diefes irdiſchen Lebens Fein Ges 
genftand unferer menſchlichen Kenntniß. Wer der Unfterblichkeit 
der Zukunft gegenüber eine unendliche Vorgeſchichte unferer Seele 
zu bebürfen meint, wird ın feinem Glauben und in’ der Phan⸗ 
tafie, mit welcher er diefen in unferex Erinnerung leeren Zeit 
raum ausfüllt, kaum von der Wiffenfchaft beläftigt werben kön⸗ 
nen. Aber die Erfahrung unferes gegenwärtigen Lebens enthält 
nur wenige Spuren, melde ein dazu geneigtes Gemüth auf dieſes 
Bordafein unſeres Weſens zurückdeuten möchte; die Träume der 
Seelenwanderung, zu denen faft unvermeidlich unfere Vorftellung 
genöthigt fein wärbe, find bisher Träume der Einbildungstraft 
geblieben und noch nie hat man erfolgreich ihnen eine höhere 
fittlihe Bedeutung für Die Ordnung der Welt zu geben vermocht: 
endlich zwingt feine Nothwendigfeit unferer Vernunft, ben Ge 
banken einer Entftchung der Seele zu fliehen. Der organiſche 
Leib, in feiner Bildung begriffen, erzeugt fie freilich nicht aus 
ſich jelbft; aber dieſer lebendige Leib ift felbft nicht ein innerlih 
zufammenhanglofes Gewirr von Atomen, das nur ein allgemeined 
Geſetz in einer Übrigens leeren Welt zu heftimmter Entwicklung 
triebe. Wie vielmehr jeder kleinſte phyfiihe Vorgang, melder 
zwiſchen zwei Elementen ſich zu ereignen fcheint, zugleich ein 
Geſchehen in dem Innern des Emwigen ift, auf deſſen beftändiger 
Gegenwart alle Möglichkeit des Wirken beruht: ebenfo ift aud 
dieſe ftillfortichreitende Bildung des organtichen Keimes fein ver- 
einfamtes in fich jelbft abgefchloffenes Ereigniß, fondern eine Ent 
wicklung des Unenblichen felbfl. Bon ihm gehegt, von ihm im 
fein eigenes inneres Wefen aufgenommen, erregt dieſes Ereigniß 


441 


des Naturlaufes dort die ſchöpferiſche Kraft zu neuer Entfaltung, 
und fo, wie unfere menſchliche Seele die äußeren Reize in ſich 
aufnimmt und dur die Erzeugung einer Empfindung beantwor⸗ 
tet, jo läßt Die folgerichtige Einheit des unendlichen Wefens durch 
Died eine innerliche Ereigniß der phyſiſchen Entwidlung dazu fid 
erregen, aus ſich felbft aud die Seele hinzu zu erzeugen, die dem 
werdenden Organismus gebührt. 

Es ift mehr Einheit und Einfachheit in diefem Vorgange, 
als in der Borftellung, die wir von ihm zu geben vermögen. 
Richt wie in dem Beispiel des Verhältniſſes zwiſchen unferer end⸗ 
lichen Seele und den Reizen, die und fremd find, tft aud für 
das Unendliche jenes Ereigniß des Naturlaufes ein von außen 
tommenber Reiz, der einen Weg zurüdzulegen hätte, um den Mit- 
telpunft zu finden, aus welchem er die neue Entwidlung hervor- 
Ioden foll; jeder einzelne Borgang der Natur gefhieht in dem 
Unenblichen, jeder ift Diefem Mittelpunkt glei nahe und nahe zu 
aller Zeit. Und nicht aus diefem Mittelpunkt der fchaffenden 
Kraft entfteht wieder die Seele als ein’ neues, zweites Element, 
das einen Weg zurädzulegen hätte, um äußerlich dem Körper ſich 
zu verbinden, den es auffuchte; ungefchteden der Zeit und bem 
Raume nah entfalten ſich dieſe beiden Schöpfungen, in beren 
gleichzeitiger Entwicklung das Unendliche nur die innere Wahrheit 
feines eigenen Weſens ausdrückt. Weder aus dem Körper entfteht 
bie Seele, noch aus Nichts; aus der Subftanz des Unendlichen 
geht fie mit gleicher Wefenhaftigkeit hervor, wie aus demfelben 
Duelle alle Wirklichkeit der Natur entfprang. Und weder zufällig 
fommt zu diefem Körper diefe Seele, noch ift es das DVerbienft 
des Leibes, durch feine Organifation die Seele fih zu fchaffen, 
bie der möglichen Form feiner Iebendigen Thätigkeit entſpricht; 
auch nicht willkührlich wird das Unendliche vorher fertige Geifter 
an die beginnenden Keime vertheilen; fondern wie es mit felbft- 
gewählter Confequenz jede körperliche Organifation die nothwen- 
dige Folge ihrer Erzeuger fein läßt, jo wird es auch in der 
Schöpfung der Seelen einem jelbftgegebenen Gefege folgen, durch 


442 


welches auch ihre aufeinanderfolgenden Gefchlechter in die Abftu- 
fungen einer innerlihen Verwandtſchaft verflochten werden. Nicht 
durch Theilung wird die Seele der Eltern ſich zerfplittern in die 
Seelen der Kinder, aber die Ahnung bleibt uns, daß die fchaf- 
fende Hand bes Unendlichen das geiftige Bilb der Erzeuger in 
dieſen wiedererzeuge und aud innerlich die Wefen ſich nahe. ftehen 
laſſe, welche fie am nächſten für das äußerliche Leben mit ein- 
ander verkettet hat. 

Nur die Ahnung davon bleibt uns; mit taufend Beifpielen 
belehrt uns auch hier die Erfahrung von der Unerforjchlichkeit die- 
fer Wege Gottes. Mit treuer und befcheidener Beobachtung ge- 
winnen wir vielleicht einen hie und da erweiterten Ausblid auf 
Die Richtung, welche fie nehmen, aber nie werden wir im Stande 
fein, den Lauf diefer geiftigen Weltordnung mit berfelben An- 
näherung an die Wahrheit zu überjehen, die unferer Auffaffung 
der natürlichen Erſcheinungen gewährt if. Und Alles, was wir 
noch hoffen dürfen an Zuwachs ber Erkenntniß zu erreichen, das 
werden wir nur von einem geſammelten Bewußtfein über unfere 
Beftimmung, nicht von der Betrachtung unferer allgemeinen gei- 
ftigen Natur erwarten müffen. Nur die Einfiht in das, mas 
fein fol, wird uns auch die eröffnen in das, was ift; denn feinen 
Thatbeftand, Feine Einrichtung der Dinge, feinen Lauf des Schid- 
fals wird es in der Welt geben können, unabhängig von dem 
Ziele und. dem Sinne des Ganzen, aus welchem jeder Theil nidt - 
allein fein Dafein, jondern auch die wirkungsfähige Natur em⸗ 
pfangen bat, auf welche er ſtolz ifl. 


Schluß. 


Ich möchte nicht ſagen, daß es ein Gipfel von hoher Aus- 
ficht fei, auf weldden unfere Betrachtung durch einen langen und 
doch für die Mannigfaltigfeit der Umgebung vielleicht zu kurzen 
Weg geführt hat; aber die Höhe haben wir jedenfalls erreicht, 
die unfern Kräften verftattet ift, und zurückblickend mögen wir 
jest wohl der Zweifel gedenken, aus deren Mitte wir ausgingen, 
und de3 veränderten Bildes, welches ung jest die durchwandelte 
Gegend gewährt. ALS wir den Streit der verſchiedenen Natur: 
anfichten überdachten, war es befonders jenes Element einer dunk⸗ 
len und ftarren Naturnotbwendigfeit, gegen welches der unab- 
läſſige Kampf des menfchlichen Gemüthes gerichtet war, um end- 
lich in einer blinden Hingabe an die Verehrung dieſes blinden 
Waltens zu endigen, Die mehr aus Entfagung als aus Ueber: 
zeugung heworzugehen ſchien. Haben wir nun einen Weg ge- 
funden, die zwiefpältigen Gedanken, die dort ſich ftritten, zur Ber- 
ſöhnung zu bringen, und welchen Werth müſſen wir auf die 
einzelnen Punkte der Anficht legen, die fih uns allmählich in ber 
Hinwegräumung jener drängenden Schwierigkeiten gebildet hat? 
Diefe Fragen mit aufrichtiger Selbftprifung noch einmal zufam- 
menfafjenb zu beantworten, wird Niemand fi erlaſſen, den bie 
Gewohnheit wiſſenſchaftlicher Unterfuhung gelehrt hat, wie bleich 


444 


nad dem Abſchluß derfelben fo häufig der Glanz der rettenden 
Gedanken fih ausnimmt, die fo blendend waren in dem Augen- 
blick, als fie neu entftanden den Schwierigkeiten entgegenfprangen. 
Sie waren angeftrahlt damals von dem Hoffnungsvollen Feuer 
der Arbeit und glänzten in ihm weit mehr al8 von dem eigenen 
Fichte. Vielleicht entgehen wir auch hier diefem Geſchicke nicht; 
vielleicht aber bleibt uns auch etwas zurüd als ein feſtzuhaltender 
Gewinn, den wir aus diefer allgemeinen Weberftht der Beding— 
ungen alles Lebens zu der befonderen Betrachtung der menſchlichen 
Dinge mit binübernehmen. 

Den Glauben an perfünlide Naturgeifter, in denen die my— 
thifche Weltauffaffung die Schönheit und Bedeutung einzelner Er- 
ſcheinungen zu lebendigem Genuß verdichtete, Haben wir ftillfchrwei- 
gend aufgegeben. Keine Erfahrung beftätigte diefen Traum; aber 
alle Erfahrung war zugleich unfähig, einen anderen Traum zu 
widerlegen, in welchem das Gemüth, nad innerlicher Lebendigkeit 
der Natur begierig, die verlorene Befriedigung in anderer Weiſe 
wieder gewinnen konnte. Denn Nichts hielt und ab und Vieles 
ermahnte uns, in jenen einfachen Wefen, aus deren Zufammen- 
fegung für uns felbft der Schein der lebloſen Materie hervorgeht, 
ein inneres Xeben zu vermutben, fühig, in den mannigfacften 
Formen des Gefühles die Eigenthümlichkeit jeder Lage zu genießen, 
in welche der mechfelnde Naturlauf fie warf, oder eine beftändigere 
Bildung fie fefthielt. Nur verallgemeinert wurde durch Diefe Auf: 
faffung der Selbftgenuß der Natur; nicht ein bevorzugter Theil 
der Wirklichfeit hat feine Genien, während blind und leblos ber 
andere Tiegt, fondern Alles konnte diefe Wärme der Empfindung 
durchdringen. Und nicht beichränft mehr auf die Formen des 
menſchlichen Seelenlebens wiederholt überall diefe innere Regſam⸗ 
feit und das Belannte; völlig andere, uns unfagbare, nur in 
träumerifcher Ahnung uns von fern vorichmebende Arten des Ges 
nuſſes und der Empfindung können wir in diefe Natur verftreut 
denken, den befonderen Lagen der einfachen Wefen fo entfprechend, 

daß Fein Ereigniß des mannigfadden Naturlanfes von diefer Ber 


445 


Härung in Bemwußtfein und Selbftgenuß mehr ausgefchloffen if. 
Aber wir mögen weit weniger die Vortheile diefer Auffaffung 
ſchildern, die bei der geringeren plaſtiſchen Anfchaulichkeit Der get- 
ſtigen Weſen, von denen fie-fpridt, um fo mebr fih dem muſi⸗ 
kaliſchen Hange unferer Bildung empfehlen würde: dies wollen wir 
vielmehr hervorheben, daß fie zwar vielleicht nicht ein leerer Traum 
ift, aber meitab Liegt von den ernften und wichtigen Ueberzeu⸗ 
‚gungen, auf welche wir unjere Betrachtung der menfchlichen Bil- 
dung gründen möchten. Welche Anficht über das innere Leben 
der Natur jedem Zeitalter die herrſchende war, davon hat der 
Vortichritt der menſchlichen Entwicklung nur fo lange abgehangen, 
als es noch fraglich fein konnte, ob regellofe Freiheit und Will- 
führ von Genien und Dämonen oder die unbedingte Folgerichtig- 
feit allgemeiner Gefege die äußere Welt, den Schauplag und ben 
Gegenftand unſeres Handelns, beherrſche. Nachdem diefer Streit 
entfchteden iſt, wird die zartfühlende Phantaſie, mit welcher wir 
die Seele der Natur zu belaufchen fuchen, den Fortichritt unferer 
Eultur weniger begänftigen, als die Härte de8 Gemüthes, welche 
die Dinge der Natur zunächft für das nimmt, wofür fie ſich geben: 
für blinde, ftumme, einer nothwendigen Orbnung unterworfene 
Erzeugnifie, die ihr inneres Leben für fih haben mögen, für ung 
aber ein Reich benugbarer Sachen bilden. Ohne deshalb der 
Einbildungstraft Die Verfolgung jener Gedanken zu verargen, 
müfjen wir doch behaupten, daß nicht in ihmen, fondern in der 
Profa des alltäglichen Scheineß die wichtigere Grundlage unferer 
geiftigen Entwidlung liegt. 

Jenen perfönlihen Raturgeiftern gegenüber fonnte die My— 
thologte niemals den Gedanken einer unnorbenflihen Nothwen⸗ 
digkeit unterdrücken, in deren zielfegenden Schraufen ſich alle 
Lebendigfeit der Götterwelt bewegt. Wber je bereiter wir die All⸗ 
gegenwärtigleit biefer nothwenbigen Orbnung Kberall zugaben, um 
fo entfchtedener haben wir und der Auffaffung widerfegt, melde 
in ihr ein vormeltliches Schickſal fah, im Gegenjak zu der fchöpfe- 
riſchen Kraft, der diefe beftimmte Wirflichkeit ihre Formen ver- 


446 


dankt. Es ift nicht fo, wie die Mythologie in dunklen Bildern 
Ichrte, daß dieſe Lichte Götterwelt, weldye Die Ordnung der vor- 
handenen Welt beherriht, nur die Nachfolgerin einer früheren, 
finfteren und büfteren Gottheit ſei, deren unbegreifliches Walten 
die Grundzüge der Wirklichkeit beftimmt babe, in deren Genuß 
und Berfchönerung jene thätig fei. Dies war vielmehr der feftefte 
Theil unferer Ueberzeugung, daß jedes höchfte, ftarrfte, allgemeinfte 
und nothwendigſte Geſetz, weldes die Welt und irgenbiwo auf: 
zeigte, nur die jelbftgemählte Bedingung fei, die das eine fchöpfe- 
riſche Unenbdliche feiner ewigen Entfaltung zu Grunde gelegt habe. 
So führte und unfere Betrachtung von felbft in das Gebiet jener 
andern Anfichten iiber, welche die belebenden und befeelenden Triebe 
der Erfheinungen nur als unzählig verſchiedene Ausdrücke jenes 
einen Gedankens verehren, der, unausſprechbar an fich, Die Fülle 
der Weltſeele bilvet. 

Inden wir anerkannten, daß nur das ifl, was in dem ver: 
nünftigen Zufammenbange der ewigen Idee feine Stelle hat, 
nur das fich ereignet, was in dem Sinne ihrer Entwidlung Tiegt, 
daß alles Endliche überhaupt den erflärenden Grund des Triebes, 
von dem es bewegt wird, nur in dem Gedanken ber Weltjeele 
befige, den e8 verkörpert: jo haben wir in biefen Behauptungen 
bie wefentlichen Lehren jener Weltanficht uns bewahrt. Und menn 
wir den Begriff der Triebe unzulänglich für die einzelnen Unter: 
fuhungen fanden und für ihn den ununterbrodenen Cauſalzuſam⸗ 
menhang einer mechanifchen Verwirklichung einfegten, fo wiber: 
fprecden wir Damit dem Geifte jener Anficht nicht mehr, ſeitdem 
wir alle Geſetze dieſes Mechanismus nur als den eigenen Willen 
der Weltfeele, alle Verbindungen und Trennungen der wirkſamen 
Mittel nur als ihre eigenen Handlungen, ihre innerlihen Wir 
kungen in fi felbft, erfannt haben. Aber dennoch, melde Be⸗ 
friedigung könnte diefe Anficht gewähren, wenn fie nicht vermöchte, 
die beiden großen Gegenfäge, die zufammen erft die Welt voll- 
enden, die Natur und das Reich des Sittlichen, zu vereinigen? 
Und können wir leugnen, daß alle jene Lehren und an bie Stelle 


— 


447 


der Weltfeele doch nur eine Naturfeele fegen? Ein Wefen, in 
defien Einem unendlihen Geftaltungstriebe fih die unzähligen 
einzelnen Triebe der endlichen Erſcheinungen wie farbige Strahlen 
zur Einheit des meißen Lichtes vereinigen? Wo aber liegt in 
dieſem Wefen der. Grund zur Entwidlung der ſittlichen Welt, wo 
das, woraus der Unterſchied von Gut und Böſe bervorginge? 
Wollen wir nicht, in den alten Gegenfat zurüdfallend, entweder 
auf eine unvorbenklic gegebene Natur die ſittliche Welt äußerlich 
gründen, oder in einem höchſten Weſen, das wir Eines nennen, 
doch unvermittelt neben einander die zwei gefchiedenen Wurzeln 
beider vorausfegen, fo bleibt feine andere Wahl, als entweder 
das Gute mit in den Kreis der Naturerfheinungen, oder die 
Natur in die Verwirflihung des Guten einzufchliegen. Keinen 
Augenblid kann e8 mir zweifelhaft feinen, daß nur die Tettere 
Wahl uns erlaubt ift: alles Sein, alles, was Form und Geftalt, 
Ding und Ereigniß heißt, Diefer ganze Inbegriff der Natur kann 
nur als die Borbedingung für die Wirklichkeit des Guten gelten, 
kann, fo wie er ift, nur deshalb fein, meil nur fo fih in ihm 
der unendliche Werth des Guten feine Erfheinung gab. Aber 
dieſe entjchievene Ueberzeugung bezeichnet nur ein letztes und 
aͤußerſtes Ziel, welches unferen Gedanken ihre Richtung geben: 
mag; fie bezeichnet nicht eine Erkenntniß, die deswegen, weil fie 
in eine beweisbare Lehre fich ausführen ließe, den Namen einer 
Wiffenfhaft verdiente. Eine unausfällbare ober bisher menig- 
ſtens niemald ausgefüllte Kluft fcheidet für unfere menfchliche 
Bernunft die Welt der Werthe von der Welt der Geftal- 
ten, und wie lebhaft unfer empfängliches Gemüth mit zurüd- 
gehender Bewegung des Denkens aus den vorhandenen Formen 
der Natur den Werth ihrer fittlihen Bedeutung herausfühlen mag: 
eben jo wenig vermögen wir vorwärts fchreitend aus dem Be— 
wußtjein der höchften Werthe die Nothwendigkeit zu erweifen, mit 
welcher fte in diefe und in Feine anderen Formen der Natur fid 
geftalten mußten. Mit der fefteften Ueberzeugung von dem 
Borbandenfein diefer ungefchiedenen Einheit zwifchen beiden ver- 





448 


einigen wir den bemwußteften Glauben an bie Unmöglichkeit ihrer 
Erfenntniß. 

Wie leicht könnten wir dieſes Zugeſtändniß durch Verhüllung 
des Thatbeftande® umgehen! Denn mie fruchtbar ift doch darin 
unfere fpeculative Wiffenfchaft gemefen, durch immer neue Namen 
und Bilder ſich die Bitterkeit des Belenntniffes zu erfparen, daß 
auch fie doch bier nur die Aufgabe Fennt, die dem unbefangenen 
menſchlichen Gemüth nie unbefannt war, daß aber die Löſung 
ihr fo unmöglich ift, wie jenem. Wenn es fidh fragt, wie aus 
der Hand deſſelben Gottes, der die innerliche Heiligkeit der fitt- 
lihen Welt gründete, dieſes Spiel der Planeten, dieſe Schönheit 
der Erde mit der fröhlichen Formenfülle ihrer Pflanzen und Thiere 
und mit der flarren Nothwendigfeit des darunter verbüllten Me- 
hanismus hervorgehen konnte: wie leicht ift e8 doch dann und 
zugleih wie ärmlich, von einem realen und idealen Factor in 
Gott, von einem Weberwiegen des blinden oder des bewußten 
Wirkens in feiner Thätigfeit zu ſprechen und jenem die nod immer 
in ihren Formen unerflärte Natur, diefem die gleich flüchtig ges 
gezeichneten Umriſſe des geiftigen Dafeins zuzurechnen. Wie Leicht, 
in Gott etwas zu fehen, was noch nicht Gott ſelbſt ift, einen 
dunklen Grund in ihm, der zu dem ftoffartigen Stamme der 
Natur auswachſe, überwölbt von ber lichteren Entwicklung des 
Anderen, was in Gott mehr Er felbft wäre. Mit jo kümmer⸗ 
lihen Behelfen täuſcht man den Ernft der Frage hinweg und 
fagt weniger, als der beſcheidene Ausdruck des natürlichen Ge: 
müthes, welches einfach in einer unerforichlichen Weisheit Gottes 
den Grund aller endlichen Geftaltungen fieht. 

Daſſelbe Bekenntniß der wiffenfchaftlihen Undurchführbarkeit 
eines darum nicht minder ſicheren Glanbens haben mir, in un⸗ 
ferer Beziehung zu der legten großen Naturanficht, dev mechani⸗ 
ſchen, abzulegen. Wir haben fie rückhaltlos zugegeben, jo weit 
irgend es fidh um die Unterfuchung der Verhältnifſe von Endlichem 
zu Endlichem, um die Entftehung und Verwirklichung irgend 
welcher Wechſelwirkungen handelte; mir haben ebenſo entſchieden 








449 


ihre Berechtigung geleugnet, wo fie nicht als formelles Mittel 
der Unterfuhung, fondern als abſchließende Weltanficht fich gel- 
ten zu machen verfuchte. Aber indem wir die felbftändige Wirk— 
lichkeit eines mechanischen Naturlaufes leugneten, können wir doch 
bie Ableitung feiner einzelnen Gefege aus dem höchſten Zwecke 
ber Welt nicht vollziehen, ſondern müffen c8 dem langſamen Yort- 


Schritte der Wiffenfehaft überlaffen zu zeigen, was in diefem Ver: 


fuche ausführbar fein mag, und was der menschlichen Erfenntnif 
ftet8 verfagt bleiben wird. Nur dies war und möglich anzubeu= 
ten, wie wenig jener Charakter der Aeußerlichkeit, den man fo 
oft der mechanischen Auffaflung zum Vorwurfe macht, mit dem 
Geiſte dieſer Anficht nothmwendig zufammenhängt. Es ift ihr nicht 
verfagt, in den wirkſamen Elementen, aus deren veränderlicher 
Zufammenfegung ſie den Wechfel der Naturericheinungen begrün- 
det, innere Zuftände und eine verborgene Regſamkeit ihres Lebens 
anzunehmen, die fie fteigern mag bi8 zu dem Glauben an cin 


- dem unferigen verwandted Spiel geiftiger Eriegungen. Nicht 


nothwendig muß für fie die bunte Fülle der Erfcheinungen zu 
dem geiftlofen Spiel eined Austauſches von Berwegungen, einer 
immer neuen und immer gleich beveutungslofen Bertheilung von 
Geſchwindigkeiten, einer raftlofen Veränderung der Tage und Ver— 
bindung der Theilchen verarmen: alle dieſe Wechfelfälle des Aufe- 
ven Naturlaufes kann auch fie nur für die Summe der Veran: 
Yaffungen anfeben, dur melde nad unmandelbaren Gefegen ein 
innerer Naturlauf, die unermeßlihe Mannigfaltigfeit der Gefühle 
in dem Innern der Wefen erweckt wird. Nur diefe äußere Ge— 
ſchichte freilich zieht Die mechaniſche Naturwiſſenſchaft in Betracht 
und überläßt die innere, welde fie erfahrungsmäßig nicht ver- 
folgen Tann, der Geſchäftigkeit unferer Phantafie. Aber fie glaubt 
dafiir au in jener Welt der Bewegungen nicht die wahrhafte 
Wirklichkeit, nicht jenes Kette zu befigen, worauf e8 in allem Da- 
fein ankam, in aller Schöpfung es abgejeben war, fondern aller 
Mechanismus gilt auch ihr für nichts weiter als für die Samm- 
lung aller VBermittlungsformen, in denen Gottes Wille befchloffen 
Loge I. 3. Aufl. 29 


450 


bat, das unbefannte Innere der gefchaffenen Wefen auf einander 
wirken zu laffen und alle ihre Zuftände zu dem unüberjehbaren 
Zuſammenhange einer Weltgeſchichte zu verbinden. Es ift das 
Reich der Mittel, deſſen Organifation diefe Anficht zu verftehen 
glaubt, nicht das Reich der Zwecke, denen fie dienen. Wie wir 
in unferem eigenen Leben die phyſiſchen Bewegungen der äußeren 
Natur dazu verwendet fehen, als anregende Reize das viel Höhere 
in uns ſelbſt, die bewußte Empfindung, zu erregen, fo, meinen 
wir, fer in aller Welt all jenes mechanifche Geſchehen nur das 
änferliche Gewebe geſetzlich einanderburchkreuzender Reize, be— 
ftimmt, in unzähligen Bunften, in dem Inneren zahllofer Wefen, 
das mahre Gefchehen eines geiftigeren Lebens zu entzünden. 
Legen wir aber Gewicht auf diefe Unfelbftändigfeit des Na— 
turlaufes, fo daß die Vergötterung des Mechanismus, die man 
dennoch vielleicht und vorwirft, nur darin befteht, daß wir ihn 
nicht als ein auf ſich beruhendes Schidfal, fondern nur als Er- 
zeugniß der göttlichen Weisheit begreifen: jo müflen wir ander: 
ſeits für ihn aud die Anerkennung feiner ſchrankenloſen Gültigkeit 
verlangen. Wir glauben gezeigt zu haben, mie in den meiften 
der Fälle, in melden cine mehr gefühlwolle als Hare Naturans 
fiht, von. feiner Starrheit bedrückt, zu anderen höheren Kräften 
und Potenzen flüchtet, uns theils die Erfahrung die Fortdauer 
der mechanifchen Bedingtheit oft auf das Bitterfte eindringlich 
macht, theils unfer Gefühl jelbft feinen wahren Vortheil von den 
Annahmen haben würde, die e3 mit dem heimlichen Bemußtfein 
ihrer Nichtübereinftimmung mit dem Gegebenen wagen fünnte. 
Wir haben mit der Stetigfeit und dem feften Zufammenhange 
des mechaniſchen Weltbaues felbft die Freiheit formell nicht un: 
vereinbar gefunden, welche wir uns zu erhalten füglih wünſchen 
fönnen; nur die Unentjchiedenbeit dariiber, ob auch nur in dieſem 
Valle das, was wir annähmen, dem richtig verftandenen Zwecke 
feiner Annahme entſprechen möge, hat uns zögern Yaffen, neben 
der Möglichkeit der Freiheit von ihrer Wirklichkeit zu Sprechen und 
auch ihrem Begriffe feine beftimmte Stelle in dem Ganzen bes 








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mechaniſchen Univerfum zu geben. Je weiter wir jedoch auf die⸗ 
fem Wege uns von ber kümmerlichen Engherzigfeit jener Anfichten 
früherer Zeiten entfernen, denen Mechanismus nichts mar, als 
eine endloſe Mittbeilung gegenfeitiger Stöße, um fo mehr müffen 
wir jeden Berfuch zurückweiſen, nun dennoch diefem allgemeinen 
Geſetze aller Vermittlung des endlichen Geſchehens einzelne Theile 
der endlichen Wirklichkeit entziehen zu wollen. Nirgends ift ber 
Mechanismus das Wefen der Sache; aber nirgends gibt fi das 
Weſen eine andere Form des endlichen Dafeins, als dur ihn; 
jo wie wir nicht andere Götter haben neben Gott, fo bedürfen wir 
außer diefer allgemeinen Wirkungsform der Natur nicht anderer. 

Wir verftehen.. wohl den Grund jener geringfhägigen Ab- 
neigung, mit welcher fo viele Gemüther fi gegen dieſe Aner- 
fennung fträuben. Uns allen fcheint zuweilen die Welt der Ge- 
ftalten zu fehr die Welt der Werthe, das Reich der Mittel zu 
ſehr das Reich der Zwecke zu verhilllen; wir fehnen uns nad 
jener Einheit des wahrhafteften Seins, in welcher Ideen Wirk: 
lichkeit haben, ohne an Die Vermittlung der Werkzeuge, das höchſte 
Glück Beftand hat, ohne an die taufend Bedingungen beftimmter 
Lagen gebunden zu fein, in mwelder ein unmittelbares Berftänd- 
niß der Geifter alle äußerliden Wege der Wechſelwirkung itber- 
flüffig macht, in welcher endlich Schöpfer und Gefchaffenes in eine 
Gemeinjamteit des Lebens verfhmelzen, für deren ahnungsvolle 


Tiefe kaum die edelſte Myſtik genügende Ausdrücke darböte. Im 


Aufblick zu ſolchem Legten und Höchſten peinigt uns diefe Welt - 
des Widerftandes, der Mittelbarfeit, der bedingenden Umftänbe, 
der Verzögerung; es beunruhigt und, die Schönheit der natür- 
lihen Geftalten nicht aus Einem Hauche ſchöpferiſcher Lebenskraft 
begreifen zu follen, fondern fie auf dem Umwege zahlloſer Wechfel- 
wirfungen des Vielen beruhend zu denken; e8 quält und endlich, 
jelbft in unferer geiftigen Entwidlung und gebunden zu wiffen 
an das Imeinandergreifen von Kräften, deren allgemeine Gefet- 
mäßigfett frembartig der Wärme unferer Beftrebungen gegenüber 
ftebt. Aber fo wenig wir die Wahrheit der Einheit leugnen 
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wollen, welche jene myſtiſche Entzüdung des Gemüthes zu ſchauen 
glaubt, eben fo gewiß liegt Dies unfer irdiſches Leben nicht in 
ihrem Gebiete, fondern in dem Bereiche der Zweiheit umd, des 
Gegenſatzes. Weder mit unferem Erkennen noch mit unjerem 
Handeln ftehen wir in jenem ftillen Mittelpunfte der Welt, fon- 
dern in den äußerften Verzweigungen ihres Baues, die laut find 
von dem Getriebe der Bermittlungen; und die ungebuldige Sehn- 
fucht, die in jenen zurüdtrebt, möge ſich hüten, daß fie nicht den 
Eruſt und die Schwere der Bedingungen geringfehäge, unter deren 
Gebot ein unwiderruflicher Rathſchluß unfer endliches Leben ge- 
ftellt hat. Sind e8 höhere Anfichten der Dinge, von denen dieſe 
Sehnſucht ausgeht, fo ſchweben fie eben wie entfernte Wolfen, glän- 
zend allerdings von edlen Ahnungen beleuchtet, in einer fiheren 
Höhe Aber al den dornigen Verwidlungen, welche unfere Stellung 
hier unten darbietet; einen Weg durch das Geftrüpp hindurch zeigen 
fie nicht, fondern nur einen: der Refignation darüber hinaus. 
Aber das Leben des menfchlichen Gefchlechtes befteht nicht allein 
im der Sehnfucht nach dem Ziel und in dem ſchwärmeriſchen Vor—⸗ 
traum feiner Anfchauung, jondern in der Arbeit der Wanderung zu 
ihm. Wollen wir diefe Aufgabe mit felbftbemußter Befonnenheit 
löfen, jo können wir nie zu eifrig fein in der Erforſchung der Be— 
dingungen, die auch der Entfaltung unferes geiftigen Lebens in der 
Natur des Schauplages geftellt find, der uns einfchließt, und in 
dem Zufammenhang der Gefchichte, von dem wir dahingezogen 
werben. Wie in dem großen Weltbau der fchöpferifhe Geift fich 
unverrüdbare Gejege gab, nad denen er das Reich der Erſchei⸗ 
nungen bewegt, die File des höchſten Gutes in die Unzählbar- 
feit der Geſtalten und Creigniffe zerftreuend und aus ihnen fie 
wieder zu dem Glüde des Bewußtſeins und des Genuſſes ver- 
dichtend: fo wird der Menſch, diefelben Gefege anerfennend, Die 
gegebene Wirklichkeit in Erkenntniß ihres Werthes, den Werth 
feiner Ideale in eine von ihm ausgehende Reihe äußerliher Ge- 
ftaltungen entwideln müſſen. Zu diefer Arbeit find wir beftimmt, 
und der chrwiirdigfte Zug in der Geſchichte unferes Gefchlechtes 











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ift die unverfiegbare Ausdauer, mit welcher die hervorragendften 
Geifter aller Zeiten ſich der Vervolllommnung der äußerlichen 
Lebensverhältniffe, der Ueberwindung der Natur, dem Fortfchritte 
jeder nüglichen Kunſt, der Veredlung der gefelligen Formen wid- 
meten, obwohl fie e8 wußten, ‘daß der wahre Genuß des Dafeins 
doch nur in jenen ftillen Augenbliden des Alleinfeins mit Gott 
Tiegt, in denen jedes. menfhliche Tagwerk, alle Eultur und Civili- 
fation, der Exrnft und die Laft des lauten Lebens zu dem Bilde 
einer nur vorläufigen Uebung von Kräften ohne bleibendes Er- 
gebniß zuſammenſchwinden. Im diefer Regſamkeit einer nicht ins 
Unbeftimmte irrenden Breiheit, welche die Frucht wollte ohne das 
langfame Wahsthum der Pflanze, fondern mit Bewußtfein an 
die feften Schranken einer ihm heiligen Nothwendigkeit ſich bin- 
dend und den Spuren folgend, die fie ihm worzeichnet, wird der 
Menſch das fein, was eine alte Ahnung ihn vor allen Gefchöpfen 
fein läßt: das vollfommene Abbild der großen Wirflichfeit, die 
Meine Welt, der Mikrokosmus. 


Ende 


m. 


Drud von I. 2. Hirſchfeld in Leipzig. 














J * 


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