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Mikrokosmus.
Ideen zur Naturgeſchichte und Geſchichte
der Menſchheit.
Verſuch einer Anthropologie
von
Hermann Lotze.
Ersier Vand.
1. Der Leib. 2. Die Seele. 3. Das Leben.
Dritte Auflage,
Leipzig
Verlag von S. Hirzel.
1876,
Das Recht ‚ber Ueberjegung ift vorbehalten.
Dem treuen Freunde
Bilhbelm Baum
und dem Andenken
Heinrich Ritters
Zwiſchen den Bedürfniſſen des Gemüthes und den Er⸗
gebniſſen menſchlicher Wiſſenſchaft iſt ein alter nie gefchlich-
teter Zwiſt. Jene hohen Träume des Herzens aufzugeben,
die den Zuſammenhang der Welt anders und ſchöner geſtal⸗
tet wiſſen möchten, als der unbefangene Blick der Beobach⸗
tung ihn zu ſehen vermag: dieſe Entſagung iſt zu allen Zei⸗
ten als der Anfang jeglicher Einficht gefordert worven. Und
gewiß ift das, was man fo gern als höhere Anficht der Dinge
dem gemeinen Erfennen gegenüberftellt, am bäufigften doch
nur eine jehnfüchtige Ahnung, wohl kundig der Schranken,
denen fie entfliehen, aber nur wenig des Zieles, das fie er-
reichen möchte. Denn aus dem beten Theile unjeres Wejens
entfprungen, empfangen doch jene Anfichten ihre beftimmtere
Färbung von fehr verfchievenartigen Einflüffen. Genährt an
mancherlei Zweifeln und Nachgedanken über die Schielfale des
Lebens und über den Inhalt eines doch immer beſchränkten
Erfahrungsfreifes, verleugnen fie weder die Eindrücke überlie-
ferter Bildung und augenbliclicher Zeitrichfungen, noch find
fie jelbft unabhängig von dem natürlichen Wechjel der Stim-
mungen, die andere find in der Jugend, andere nach der Auf»
jammlung mannigfaltiger Erfahrungen. Man Tann nicht
ernftlich Hoffen, daß eine ſo unklare und unruhige. Bewe⸗
VIII
auflöſen wird, ohne die neuen Verwirrungen zu verſchulden,
in welche Die vereinzelten Beantwortungen zudringlicher Zwei⸗
fel uns ſtets zu verwickeln pflegen. Aber das Ganze der
Wahrheit dürfen wir nicht als eine abgeſchloſſene Glorie für
ſich betrachten, von der keine nothwendige Beziehung mehr zu
den Bewegungen des Gemüthes hinüberliefe, aus denen doch
ſtets der erſte Antrieb zu ihrer Entdeckung hervorging. So
oft vielmehr ein Ummwälzung ver Wiſſenſchaft alte Auffaffungs-
weifen verdrängt bat, wird die neue Geftaltung der Anfichten
fi) durch die bleibende oder wachſende Befriedigung rechtfer-
tigen müfjen, die fie den unabweisbaren Anforderungen unfes
re8 Gemüthes zu gewähren vermag.
Ihre eigenen Zwede müſſen jedoch die Wiffenfchaft nicht
minder beftimmen, eine folche Verjtändigung zu fuchen. Denn
fie jelbft, welchen andern Ort des Dafeins hätte fie, als die
Ueberzeugung derer, die von ihrer Wahrheit durchdrungen
find? Aber fie wird nie dieſe Meberzeugung bewirken, wenn
fie vergißt, daß alle Bereiche ihrer Forſchung, alle Gebiete der
geiftigen und natürlichen Welt, vor jedem Anfange einer geord-
neten Unterfuhung längjt von unjern Hoffnungen Ahnun⸗
gen und Wünfchen überzogen und in Beli genommen find.
Ueberall zu fpät kommend, findet fie nirgends eine völlig un-
befangene Empfänglichfeit; fie findet überall vielmehr bereits
befeftigt jene Weltanficht des Gemüthes vor, die mit dem gan⸗
zen Gewicht, welches fie ihrem Urfprunge aus der lebendigften
Sehnſucht des Geiftes verdankt, ſich hemmend an den Gang
ihrer Beweife hängen wird. Und wo eine wiberwillige Ueber-
zeugung im Einzelnen dennoch erzwungen wird, ba wird ſie
ebenfo leicht wieder im Ganzen durch die Erinnerung vereitelt,
Daß ja die Macht jener erften Grundſätze, durch deren Folgen
die Wilfenichaft uns bezwingen will, zuletzt auch nur auf
einem unmittelbaren Ölauben an ihre Wahrheit beruht. Mit
demjelben Glauben meint man viel richtiger fogleich jenes
Weltbild ſelbſt fefthalten zu müflen, veffen Zuſammenklang mit
IX
der Stimme unferer Wünfche feine Wahrheit zu befräftigen
jcheint. Und fo läßt mar das Ganze der Wiffenfchaft als ein
Irrſal dahingeſtellt fein, in welches die Erfenntniß, abgelöft
von ihrem Zufammenbange mit dem ganzen lebendigen Geiſte,
auf nicht weiter angebbare Weiſe fich verwidelt habe.
Man kann im Olauben an die Welt des Gemüthes nicht
Ihwärmen, ohne bei jevem Schritte des wirklichen Lebens bie
Bortheile der Wiffenfchaft zu benugen und ihre Wahrheit ftill-
ſchweigend dadurch anzuerkennen; man kann ebenjo wenig der
Wiffenjchaft Ieben, ohne Luft und Laft des Dafeind zu em-
pfinden und fich von einer Weltordnung anderer Art überall
umfpannt zu fühlen, über welche jene faum kärgliche Erläu-
terungen gibt. Was liegt näher als die Ausflucht,. fih an
beide Welten zu vertheilen, beiden angehören zu wollen, ohne
fie Doch zu vereinigen? in der Wiffenfchaft den Grundſätzen
bes Erfennens bis in ihre Außerften Ergebniffe zu folgen und
im Leben fi) von den hergebraditen Gewöhnungen des Glau⸗
bens und Handelns nach ganz anderen Richtungen treiben zu
laſſen?
Daß dieſe Zwieſpältigkeit der Ueberzeugung häufig die
einzige Löſung iſt, die man findet, iſt nicht befremdlich; trau-
tiger, wenn fie als die wahre Faſſung unferer Stellung zur
Welt empfohlen würde. Die Unvollkommenheit menfchlichen
Wiffens kann ung wohl am Ende unferer Bemühungen zu
dem Geftänpniffe nöthigen, daß die Ergebnifje des Erkennens
und des Glaubens fich zu feinem lücdenlofen Weltbaue ver-
einigen; aber nie können wir theilnahmlos zufehen, wie das
Erfennen durch feinen Widerſpruch die Grundlagen des Glau⸗
bens unterhöhlt, over dieſer fühl im Ganzen das ablehnt,
was die Wiflenfchaft eifrig im Einzelnen geftaltet hat. Im⸗
mer von neuem müflen wir vielmehr den ausdrüdlichen Ver⸗
fuch wiederholen, beiden ihre Nechte zu wahren und zu zeigen,
wie wenig unauflöslich der Widerſpruch ift, in welchen fie
unentwirrbar verwidelt erjcheinen. |
VIII
auflöſen wird, ohne die neuen Verwirrungen zu verſchulden,
in welche die vereinzelten Beantwortungen zudringlicher Zwei⸗
fel uns ſtets zu verwickeln pflegen. Aber das Ganze der
Wahrheit dürfen wir nicht als eine abgeſchloſſene Glorie für
ſich betrachten, von der feine nothwendige Beziehung mehr zu
ven Bewegungen des Gemüthes hinüberliefe, aus denen doc
jtet8 der erſte Antrieb zu ihrer Entvedung hervorging. So
oft vielmehr ein Umwälzung der Wiſſenſchaft alte Auffaſſungs⸗
weifen verdrängt hat, wird Die neue Geftaltung der Anfichten
ſich durch die bleibende oder wachjende Befriedigung vechtfer-
tigen müfjen, die fie den unabweisbaren Anforderungen unſe⸗
re8 Gemüthes zu gewähren vermag.
Ihre eigenen Zwecke müffen jedoch die Wiffenfchaft nicht
minder bejtimmen, eine folche Verftändigung zu juchen. Denn
fie jelbft, welchen andern Ort des Dafeins hätte fie, als Die
Veberzeugung derer, die von ihrer Wahrheit durchdrungen
find? Aber fie wird nie Diefe Meberzeugung bewirken, wenn
fie vergißt, daß alle Bereiche ihrer Forſchung, alle Gebiete der
geijtigen und natürlichen Welt, vor jedem Anfange einer geord-
neten Unterfuchung längjt von unfern Hoffnungen Ahnun⸗
gen und Wünfchen überzogen und in Beſitz genommen find.
Ueberall zu ſpät kommend, findet fie nirgends eine völlig‘ un-
befangene Empfänglichfeit; fie findet überall vielmehr bereit$
befeitigt jene Weltanficht des Gemüthes vor, die mit dem gan⸗
zen Gewicht, welches fie ihrem Urfprunge aus der lebendigften _
Sehnfucht des Geiftes verbanft, ſich hemmend an ven Gang
ihrer Beweife hängen wird. Und wo eine widerwillige Ueber-
zeugung im Einzelnen dennoch erzwungen wird, ba wird fie:
ebenso leicht wieder im Ganzen durch bie Erinnerung vereitelt,
daß ja die Macht jener erjten Grundfäge, durch deren Folgen
die Wiſſenſchaft ung bezwingen will, zulest auch nur auf
einem unmittelbaren Glauben an ihre Wahrheit beruft. Mit
demfelben Glauben meint man viel richtiger fogleich jenes
Weltbild ſelbſt fefthalten zu müflen, deſſen Zuſammenklang mit
IX
der Stimme unferer Wünfche feine Wahrheit zu befräftigen
ſcheint. Und fo laßt man das Ganze der Wiſſenſchaft als ein
Irrſal dahingeftellt fein, in welches die Erfenntniß, abgelöft
von ihrem Zufammenhange mit dem ganzen lebendigen Geifte,
auf nicht weiter angebbare Weife fich verwidelt habe.
Man fann im Glauben an die Welt des Gemüthes nicht
ſchwärmen, ohne bei jedem Schritte des wirklichen Lebens die
Vortheile der Wiffenfchaft zu benugen und ihre Wahrheit ftill-
ſchweigend dadurch anzuerfennen; man fann ebenjo wenig der
Wiſſenſchaft leben, ohne Luft und Laſt des Dafeins zu em-
pfinden und fich von einer Weltorpnung anderer Art überall
umfpannt zu fühlen, über welche jene kaum färgliche Erläu-
terungen gibt. Was liegt näher als die Ausflucht, fih an
beide Welten zu vertheilen, beiden angehören zu wollen, ohne
fie Doch zu vereinigen? in der Wiſſenſchaft den Grundjägen
des Erfennens bis in ihre Außerften Ergebniffe zu folgen und
im Leben fich von den hergebraditen Gewähnungen des Glau⸗
bens und Handelns nach ganz anderen Richtungen treiben zu
laſſen?
Daß dieſe Zwieſpältigkeit der ueberzeugung häufig die
einzige Löſung iſt, die man findet, iſt nicht befremdlich; trau⸗
riger, wenn ſie als die wahre Faſſung unſerer Stellung zur
Welt empfohlen würde. Die Unvollkommenheit menſchlichen
Wiſſens kann uns wohl am Ende unſerer Bemühungen zu
dem Geſtändniſſe nöthigen, daß die Ergebniſſe des Erkennens
und des Glaubens ſich zu feinem lückenloſen Weltbaue ver⸗
einigen; aber nie können wir theilnahmlos zuſehen, wie das
Erkennen durch feinen Widerſpruch die Grundlagen des Glau⸗
bens unterböhlt, ober viefer fühl im Ganzen das ablehnt,
was die Wiffenfhaft eifrig im Einzelnen geftaltet hat. Im⸗
mer von neuem müſſen wir vielmehr den ausprüdlichen Ver⸗
juch wiederholen, beiden ihre Rechte zu wahren und zu zeigen,
wie wenig unauflöslicd der Widerfpruch ift, in welchen fie
unentwirrbar verwidelt erfcheinen.
x
- Der Mebermuth der philoſophiſchen Forſchung und bie
raftlofen Fortſchritte ver Naturwiſſenſchaft Haben von verjchie-
denen Seiten ber jenes Weltbild zu zerftören gejucht, in wel-
hem das menfchliche Gemüth die Befriedigung feiner Sehn-
fucht fand. Die Beunrubigungen jedoch, welche die Angriffe
der Philofophie erzeugten, bat unfere Zeit durch das wirf-
famfte Mittel überwunden, durch die völfige Theilnahmlofig-
fett, mit der fie fi von den faum mehr beachteten Anjtren-
gungen der Speculation abwendet. Sie hat fich nicht chen
‚jo leicht der weit zubringlicheren DBerebtjamfeit der Natur-
wiſſenſchaften entziehen Finnen, deren Behauptungen jeden
Augenblid die Erfahrungen des alltäglichften Lebens bejtä-
tigten. Diefer übermächtige Einfluß, den die wahrhaft
großartige Entwidlung der Naturfenntnig auf alle Beſtre⸗
bungen unſeres Iahrhunderts äußert, ruft unfehlbar einen
ebenjo anwachſenden Widerſtand gegen die Beeinträchtigungen
hervor, die man von ihm für das Höchfte der menjchlichen
Bildung erwartet. Und fo ftehen wieder die alten Gegenfäte
zum Kampfe auf: hier die Erfenntniß der Sinnenwelt mit
ihrem täglich fich mehrenden Reichthum des bejtimmteften
Wiſſens und der Veberredungsfraft anſchaulicher Thatſachen,
Dort die Ahnungen des Meberfinnlichen, kaum ihres eigenen
Inhaltes recht ficher, jeder Beweisführung ſchwer zugänglich,
aber durch ein ſtets wiederfehrendes Bewußtjein ihrer dennoch
nothwendigen Wahrheit noch unzugänglicher für jede Wider-
legung. Daß der Streit zwifchen biejen beiden eine unnöthige
Dual ift, die wir Durch zu frühes Abbrechen ver Unterfuchung
uns jelbft zufügen, dies ift Die Meberzeugung, bie wir be-
feftigen möchten.
Gewiß mit Unrecht wendet fi) die Naturwiſſenſchaft ganz
von den äfthetifchen und religiöfen Gedankenkreiſen ab, vie
man ihr als eine höhere Auffafjung der Dinge überzuoronen
liebt; fie fürchtet ohne Grund, ihre fcharfbegrenzten Begriffe
und die feite Fügung ihrer Methoden durch die Aufnahme von
XI
Elementen zerrüttet zu ſehen, die aller Berechnung unfähig,
ihre eigene Unbeſtimmtheit und Nebelhaftigkeit Allem mitthei⸗
len zu müſſen ſcheinen, was mit ihnen in Berührung kommt;
fie vergißt endlich, daß ihre eigenen Grundlagen, unſere Vor⸗
ſtellungen von Kräften und Naturgeſetzen, noch nicht die Schluß-
gewebe der Fäden find, die fich in der Wirklichkeit verfchlin-
gen. Auch fie laufen vielmehr für einen fchärferen Blick in
daffelbe Gebiet des Meberfinnlichen zurück, deſſen Grenzen man
umgehen möchte.
Nicht minder unbegründet aber ift, was anderſeits der
Anerfennung der mechaniſchen Naturauffaflung jo hemmend
entgegenjtebt: die ängftliche Furcht, vor ihren Folgerungen alle
Lebendigkeit, Freiheit und Poefie aus der Welt verjchwinden
zu ſehen. Wie oft ift diefe Furcht ſchon geäußert worben,
und wie oft hat der unaufhaltfame Fortſchritt der Entvedun-
gen neue Quellen der Poeſie eröffnet für die alten, die er
verjhütten mußte! Jenes Gefühl der Heimatlichkeit, mit dem
ein abgefchloffenes Volk, unkundig des unermeßlichen menjch-
lichen Lebens auch außerhalb feiner Grenzen, fich felbft als die
ganze Menjchheit, und jeven Hügel, jede Quelle feines Landes in
der pflegenden Obhut einer befonveren Gottheit fühlen durfte:
diefe Einigkeit des Göttlichen und Menſchlichen ift überall zu
Grunde gegangen in dem Fortfchritte der geographiichen Kennt⸗
niß, den der wachfende Völferverfehr berbeiführte. Aber dieſe
erweiterte Ausjicht verdarb nicht, ſondern veränderte nur und
erhöhte den poetifchen Reiz der Welt. Die Entvedungen der
Altronomie zerjtörten den Begriff des Himmels, wie ben ber
Erde; fie löſten jenen, ven anfchaulichen Wohnfit der Götter,
in die Unermeßlichkeit eines Luftkreiſes auf, in welchem vie
Bhantafie feine Heimat des Ueberſinnlichen mehr zu finden
wußte; fie wandelten Die Erde, die einzige Stätte des Lebens
und der Gefchichte, in einen der Heinften Theile des grenzen-
Iofen Weltalis um. Und Schritt für Schritt nahm dieſe Zer-
ftörung altgemohnter Anjchauungen ihren weiteren Verlauf.
Xu
Aus einem ruhenden Mittelpunfte ward die Erde ein verloren
wandelnder Planet, um eine Sonne freifend, die vorher nur
zu ihrem Schmud und Dienft vorhanden fchien; felbjt vie
Harmonie der Sphären jchwieg, und Alle haben wir ung
barein gefunden, daß ein ftummer, allgemeinen ®ejeken ge»
borchenvder Umfchwung unzähliger Himmelsförper die um:
fafjende Welt ift, in der wir mit allen unferen Hoffnungen,
Wünſchen und Beitrebungen wohnen.
Daß diefe Umbildung der kosmographiſchen Anſchauun⸗
gen auf das Bedeutſamſte im Laufe ver Gefchichte die Phan⸗
tafie der Bölfer umgeftimmt hat, wer möchte dies leugnen?
Anders lebt e8 fich gewiß auf ver Scheibe der Erbe, wenn die -
fihtbaren Gipfel des Olymp und in erreichbarer Ferne die
Zugänge der Unterwelt alle höchſten und tiefiten Geheimniſſe
des Weltbaues in die vertrauten Grenzen ver anfchaulichen
Heimat einjchließen; anders auf der vollenden Kugel, die we-
der im Innern noch um fich in der öden Unermeßlichfeit des
Luftkreiſes Plat für jenes Verborgene zu haben fcheint, durch
veffen Ahnung allein das menfchliche Leben zur Entfaltung
feiner höchſten Blüthen befruchtet wird. An dem Faden einer
heiligen Weberlieferung mochte die Vorzeit das Gewirr der
Bölfer, das den bunten Markt des Lebens füllt, in die ftille
Heimlichteit des Paradiefes zurüdleiten, in deſſen Schatten
die Mannigfaltigfeit der menfchlichen Gefchlechter das verbin-
dende Bewußtfein eines gemeinfamen Urfprunges wiederfand;
die Entvedung neuer Erbtbeile erjchütterte auch dieſen Glau⸗
ben; andere Völker traten in den Gefichtöfreis ein, unfundig
der alten Sagen, und die gemeinjame Heimat der Menjchheit
wurde weit über die äußerſten Grenzen gejchichtlicher Erinne-
rung binausgerüdt. Enblich that die ftarre Rinde des Pla-
neten felbft, ven das menfchliche Gefchlecht feit vem Tage fei-
ner Entjtehung zu befigen wähnte, ihren verfchloffenen Mund
auf.und erzählte von unmeßbaren Zeiträumen des Dafeins,
in denen dies menfchliche Leben mit feinem Trotz und jeiner
d
XIII
Verzagtheit noch nicht war und die ſchöpferiſche Natur, auch
ſo ſich genügend, zahlreiche Gattungen des Lebendigen wech—
ſelnd entſtehen und vergehen ließ.
So ſind alle die freundlichen Begrenzungen zerfallen,
durch die unſer Daſein in eine ſchöne Sicherheit eingefriedigt
lag; unermeßlich, frei und kühl iſt die Ausficht um uns her
geworden. Aber alle dieſe Erweiterungen unferer Kenntniffe
haben weber die Poefie aus der Welt vertrieben, noch unfere
religiöfen Weberzeugungen anders als förberlich berührt; fie
haben uns genöthigt, was in anfchaulicher Nähe uns verloren
war, mit größerer geiftiger Anftrengung in einer überfinnlichen
Welt wiederzufinden. Die Befriedigung, die unſer Gemüth
in Lieblingsanfichten fand, ift ftet8, wenn diefe dem Fort-
ſchritte der Wiffenfchaft geopfert werden mußten, in anbe-
zen neuen Formen wieder möglich geworden. Wie dem Ein-
zelnen im Verlaufe feiner Lebensalter, fo verwandeln fich auch
unvermeidlich in. der Gefchichte des menſchlichen Gefchlechtes
die beftimmten Umriſſe des Bildes, in dem es den Inhalt
feiner böchften und unverlierbaren Ahnungen ausprägt. Nutz⸗
los ift jede Anftrengung, der Haren Erfenntniß der Wiſſen—
ſchaft zu wiberjtreben und ein Bild fefthalten zu wollen, von
dem uns doch das heimliche Bewußtfein verfolgt, daß es ein
gebrechlicher Traum ſei; gleich übel berathen aber ift die Ver-
zweiflung, die das aufgibt, was bei allem Wechjel feiner For-
men doch der unerfchütterliche Zielpunkt menfchlicher Bildung
fein muß. Geſtehen wir vielmehr zu, daß jene höhere Auf-
faffung der Dinge, deren wir uns bald rühmen, bald gänzlich
unfähig fühlen, in ihrem dunklen Drange ſich des rechten We⸗
ges wohl bewußt ift, und daß jede beachtete Einrede der Wiffen-
ſchaft nur eine der täufchenden Beleuchtungen zerftreut, welche
die wechfelnden Standpunkte unferer veränverlichen Erfahrung
auf das beftändig gleiche Ziel unferer Sehnſucht werfen.
Jene Entgötterung des gefammten Weltbaues, welche bie
fosmograpbifchen Entdeckungen der Vorzeit unwiderruflich voll⸗
XII
Aus einem ruhenden Mittelpunkte ward die Erde ein verloren
wandelnder Planet, um eine Sonne kreiſend, die vorher nur
zu ihrem Schmuck und Dienſt vorhanden ſchien; ſelbſt die
Harmonie der Sphären ſchwieg, und Alle haben wir uns
darein gefunden, daß ein ſtummer, allgemeinen Geſetzen ge-
horchender Umſchwung unzähliger Himmelskörper die um—
faſſende Welt iſt, in der wir mit allen unſeren Hoffnungen,
Wünſchen und Beſtrebungen wohnen.
Daß dieſe Umbildung der kosmographiſchen Anſchauun⸗
gen auf das Bedeutſamſte im Laufe der Geſchichte die Phan⸗
taſie der Volker umgeſtimmt hat, wer möchte dies leugnen?
Anders lebt e8 fich gewiß auf der Scheibe der Erde, wenn die -
fihtbaren Gipfel des Olymp und in erreichbarer Ferne bie
Zugänge der Unterwelt alle höchſten und tiefſten Geheimniſſe
des Weltbaues in die vertrauten Grenzen der anfchaulichen
Heimat einjchließen; anders auf der vollenden Kugel, die wer
der im Innern noch um fich in der öden Unermeßlichkeit des
Zuftfreifes Pla für jenes Verborgene zu haben jcheint, durch
beffen Ahnung allein das menfchliche Leben zur Entfaltung
jeiner höchſten Blüthen- befruchtet wird. An dem Faden einer
heiligen Weberlieferung mochte die Vorzeit das Gewirr ber
Völker, das den bunten Marft des Lebens füllt, in die ftille
Heimlichkeit des Paradieſes zurüdleiten, in deſſen Schatten
die Mannigfaltigfeit der menschlichen Gefchlechter das verbin-
dende Bewußtfein eines gemeinjamen Urjprunges wiederfand;
die Entdedung neuer Erdtheile erjchütterte auch dieſen Glau⸗
ben; andere Völker traten in den Gefichtöfreis ein, unkundig
ber alten Sagen, und die gemeinfame Heimat der Menfchheit
wurbe weit über die äußerten Grenzen gefchichtlicher Erinne-
rung binausgerücdt. Endlich that die ftarre Rinde des Pla-
neten felbft, ven das menfchliche Gefchlecht feit dem Tage fei-
ner Entjtehung zu befigen wähnte, ihren verfchloffenen Mund
auf.und erzählte von unmeRbaren Zeiträumen des Dafeing,
in denen dies menfchliche Leben mit feinem Trotz und jeiner
—
XII
Verzagtbeit noch nicht war und Die fchöpferifche Natur, auch
jo fich genügend, zahlreiche Gattungen des Lebendigen wech-
ſelnd entjtehen und vergehen Tief.
So find alle die ‚freundlichen Begrenzungen zerfallen,
durch die unſer ‘Dafein in eine fchöne Sicherheit eingefriedigt
lag; unermeßlich, frei und fühl ift die Ausficht um uns ber
geworden. Aber alle diefe Erweiterungen unferer Kenntniffe
haben weder die Poefie aus der Welt vertrieben, noch unfere
religiöfen Veberzeugungen anders als förderlich berührt; fie
haben uns gendthigt, was in anfchaulicher Nähe uns verloren
> war, mit größerer geiftiger Anftrengung in einer überfinnlichen
Welt wiederzufinden. Die Befriedigung, bie unfer Gemüth
in Lieblingsanfickten fand, ift ftetS, wenn dieſe dem Fort-
ichritte der Wiffenfchaft geopfert werden mußten, in ande—
ren neuen Formen wieder möglich geworden. Wie dem Ein-
zelnen im Verlaufe feiner Lebensalter, jo verwandeln fich auch
unvermeidlich in. der Gefchichte des menfchlichen Geſchlechtes
die beitimmten Umriffe des Bildes, in dem es den Inhalt
feiner höchiten und unverlierbaren Ahnungen ausprägt. Nub-
los ift jede Anftrengung, der Haren Erfenntniß der Wiffen-
haft zu widerftreben und ein Bild fefthalten zu wollen, von
dem uns doch das heimliche Bemwußtjein verfolgt, Daß e8 ein
gebrechlicher Traum ſei; gleich übel berathen aber ift die Ver-
jweiflung, die das aufgibt, was bei allem Wechſel feiner For-
men Doch der unerjchütterliche Zielpunkt menſchlicher Bildung
fein muß. Geſtehen wir vielmehr zu, daß jene höhere Auf-
faffung der Dinge, deren wir uns bald rühmen, bald gänzlich
unfähig fühlen, in ihrem dunklen Drange fich des rechten We-
ges wohl bewußt ift, und daß jede beachtete Einrede der Wiffen-
ſchaft nur eine der täufchenden Beleuchtungen zerftreut, welche
die wechfelnden Standpunkte unferer veränderlichen Erfahrung
auf Das beſtändig gleiche Ziel unferer Sehnjucht werfen.
Jene Entgötterung des gefammten Weltbaues, welche die
fosmograpbifchen Entvedungen ver Vorzeit unwiderruflich voll-
xIV
zogen haben, den Umſturz der Mythologie, dürfen wir als
verjchmerzt anſehen, und ver legten Klage, die in Schillers
Göttern Griechenlands fich ergoß, wird nie ein Verſuch fol-
gen, im Wiberfireit mit den Lehren der Wiflenfchaft den Slau-
ben an diejes Vergangene wieberberzuftellen. Große Umwäl⸗
zungen ber religiöfen Anfichten haben über dieſen Verluſt
hinausgeführt und längſt ven überreichen Erfat dargeboten.
Aber wie die wachfende Fernficht der Ajtronomie den großen
Schauplat des menfchlichen Lebens aus feiner unmittelbaren
Berfchmelzung mit dem Göttlichen löſte, fo beginnt Das wei⸗
tere Vorbringen der mechanischen Wiſſenſchaft auch die kleinere
Welt, ven Mikrokosmus des menſchlichen Wejens,
mit gleicher Zerjeßung zu bedrohen. Sch denke nur flüchtig
hierbei an bie überhandnehmende Verbreitung materialiftifcher
Auffaffungen, die alles geiftige Leben auf das blinde Wirken
eines körperlichen Mechanismus zurüdführen möchten. So
breit und zuwerfichtlich ver Strom dieſer Anfichten fließt, hat
er feine Quelle doch Teineswegs in unabweisbaren Annahmen,
die mit dem Geifte der mechanischen Naturforfhung unzer-
trennlich zufammenbingen. Aber auch innerhalb der Grenzen,
in denen fie fich mit befjerem Nechte bewegt, ift die zerſetzende
und zeritörende Thätigkeit diefer Forſchung fichtbar genug und
beginnt alle jene durchdringende Einheit des Körpers und ber
Seele zu beftreiten, auf der jede Schönheit und Lebendigkeit
der ©eftalten, jeve Bedeutſamkeit und jeder Werth ihres Wech-
jelverfehrs mit der äußeren Welt zu beruhen fchien. Gegen
die Wahrheit der finnlihen Erfenntniß, gegen die freie Will-
führlichfeit der Bewegungen, gegen die fchöpferifche, aus fich
- jelbft quellende Entwidelung des förperlichen Dafeins überhaupt
find die Angriffe ver phyſiologiſchen Wiſſenſchaft gerichtet ge⸗
wejen. und haben fo alle jene Züge in Trage geftellt, in de-
nen das unbefangene Gefühl den Kern aller Boefie des leben-
digen Dafeins zu befigen glaubt.” Befremdlich kann daher bie
Stanphaftigfeit nicht fein, mit welcher die Weltanficht des Ge⸗
XV
müthes als höhere Auffaffung der Dinge den überzeugenden
Darftellungen der mechaniichen Naturbetrachtung bier zu wi⸗
beritreben jucht; um fo nöthiger dagegen der Verſuch, Die
Harmlofigfeit diefer Anficht nachzuweifen, die, wo fie ung
zwingt, Anfichten zu opfern, mit denen wir einen Theil un-
jeres Selbft hinzugeben glauben, doch durch dag, was fie ung
zurüdgibt, die verlorene Befriedigung wieder möglich macht.
Und je mehr ich ſelbſt bemüht gewefen bin, den Grund⸗
lägen der mechanifchert Naturbetrachtung Eingang in das Ge⸗
biet des organischen Lebens zu bereiten, das fie zaghafter zu
"betreten fchien, als das Wefen der Sache e8 gebot: um fo
mehr fühle ich den Antrieb, nun auch jene andere Seite her-
porzufehren, die während aller jener Beftrebungen mir, gleich
ſehr am Herzen lag. Ich darf kaum Hoffen, ein jehr günjti-
ges Vorurtheil für den Erfolg diefer Bemühung anzutreffen;
denn was jene früheren Darftellungen an Zuftimmung etwa
gefunden haben mögen, das dürften fie amt meiftern der Leich-
tigfeit verdanken, mit der jede vermittelnde Anficht fich dahin
ummbeuten läßt, daß fie Doch wieder einer der einfeitigen äufßer-
jten Meinungen günftig erjcheint, welche fie vermeiden wollte.
Sleihwohl Liegt in diefer Vermittlung allein der wahre Xe-
benspunft der Wiffenihaft; nicht darin freilich, daß wir. bald.
der einen bald der andern Anficht zerftücelte Zugeſtändniſſe
macen, fondern darin, daß wir nachweilen, wie ausnahms-
108 univerjell die Ausdehnung, und zugleich wie
völlig untergeordnet Die Bedeutung der Sendung
ift, welde ver Webanismus in vem Baue der Welt
zu erfüllen hat.
Es ift nicht der umfaſſende Kosmos des Weltganzen,
deſſen Bejchreibung wir nach dem Mufter, das unferem Volke
gegeben ift, auch nur in dem bejchräntteren Sinne dieſer aus-
geiprochenen Aufgabe zu wiederholen wagen möchten. Je mehr
die Züge jenes großen Weltbilves in das allgemeine Bewußt⸗
jein dringen, deſto lebhafter werden fie uns auf ung ſelbſt zu-
xVI
rüdlenfen und die Fragen von neuem anregen, welche Be-
deutung nun der Menfch und das menfchliche Leben mit fet-
nen bejtändigen Erjcheinungen und dem veränderlichen Laufe
feiner Gejchichte in dem großen Ganzen der Natur bat, deren
bejtändigem Einfluffe wir uns nach den Ergebnifjen der neue-
ren Wiffenichaft mehr als je unterworfen fühlen. Indem wir
hierüber die Reflexionen zu fammeln fuchen, die nicht allein
innerhalb der Grenzen ver Schule, fonvdern überall im Leben
ſich dem nachdenklichen Gemüthe aufprängen, wiederholen wir
unter den veränderten Anfchauungen, welche die Gegenwart
gewonnen, das Unternehmen, das in Herders Ideen zur‘
Geſchichte der Menjchheit feinen glänzenden Beginn gefun-
den bat.
Vorwort zur zweiten und dritten Anflage.
Keine wejentliche Umgeftaltung der Anficht oder ver Dar-
jtellung unterjcheidet Diefe neue Auflage des erften Bandes
meines Buches von der früheren. Zahlreiche Aenderungen im
Einzelnen find zum Vortheil der Klarheit verfucht worben; fie
find nicht von der Bedeutung, daß es nöthig fchiene, auf fie
im Voraus die Aufmerffamfeit zu lenken. Ich Tann dagegen
meine Arbeit nicht von neuem veröffentlichen, ohne den auf-
richtigſten Dank für die ausgebreitete, noch mehr für bie herz.
liche Theilnahme auszufprechen, die fie in ihrer früheren Ge⸗
ftalt gefunden bat; möge gleiches Wohlwollen fie in ihrer
neuen begleiten!
Göttingen, 22. Nov. 1868. — 7. Juni 1876.
9. Lotze.
Iuhalt.
IErſtes Bud.
Der Leib.
@rfted Kapitel.
Der Streit der Naturanfichten.
Die Mythologie und die gemeine Wirklichkeit. — Perfönlihe Naturgeifter und
das Rei ber Sachen. — Die Weltfeele und bie pefeetenben Triebe. —
Die Kräfte und ihre allgemeinen Gefeke .. ...
Zweites Kapitel.
Die mechaniſche Natur.
Allgemeinheit der Geſetze. — Beſtimmung des Wirkſamen. — Die Atome und
der Sinn ihrer Annahme. — Die phyſiſchen Kräfte. — Geſetze der Wirkun⸗
gen und ihrer Zuammenſeduns—. — Altzemeine weigen für die Eratuns der
Naturerfheinungen. . . . 0.
Drittes Kapitel.
Der Grund des Lebens.
Die chemiſche Vergänglichleit des Körperd. — Wechſel feiner Beftandtheil.e —
Fortpflanzung und Erhaltung feiner Kraft. — Die Harmonie feiner Wirkun-
gen. — Die wirkfane Idee. — Zwedmäßige Sernferbaltırp. — Reigbartell, —
Die Mafchinen der menfhlihen Kunft . .
Bierted Kapitel.
Der Mechanisntus des Leben.
Beftändige und periodiſche Verrichtungen. — ortfchreitende Entwicklung. —
Geſetzloſe Störungen. — Die Anwendung der chemiſchen Kräfte und ihre
Folgen für das Leben. — Geftaltb ldung aus fermloſem Keime. — Sof
wechfel; feine Bedeutung, feine Form und feine Organe . .
Seite
31
57
84
XX
Seite
Fünftes Kapitel.
Der Bau des thieriſchen Körpers.
Das Knochengeruſt. — Die Muskeln und bie motoriſchen Nerven. — Das
Gefäßſyſtem und ber Rreleauf bes Blutes, — Athmung und Ernhruns.
— Ausſcheidungen.. . 1. 112
Sechſtes Kapitel.
Die Erhaltung des Lebens.
Phyſiſche, organiſche, pſychiſche Ausgleichung der Störungen. — Beifpiele ver Her:
ftelung des Gleichgewichtes. — Das ſympathiſche Nervenfoften. — Beſcandige
Unruhe alles Organiſchen. — Allgemeines Bild des Lebens. 136
weites Bud.
Die Seele,
Erfied Kapitel.
Das Daſein der Seele.
Die Gründe für bie Annahme der Seele. — Freiheit des Willens. — Unvergleich-
barfeit ber phofifchen und ber pſychiſchen Vorgänge. — Nothwendigkeit zweier
verfhiedenen Erflärungdgründe — Annahme ihrer Bereinigung in bemfelben
Weſen. — Die Einheit des Bewußtſeins. — Was fie nicht iſt, und worin fie
wirklich beſteht. — Unmöglichkeit, fie aus der Zuſammenſetzung vieler Wirkungen
zu erklären. — Das beziehende Wiſſen im Gegenſatz zu phofiſcher Reſultanten⸗
bildung. — Ueberſinnliche Natur ber Seele . . 159
Zweites Kapitel.
Natur und Vermögen der Seele.
Die Mehrheit der Seelenvermögen. — Mängel ihrer Annahme — Ihre Verein:
barkeit mit der Einheit ber Seele. — Unmittelbare und erworbene Vermögen.
— Unmöglichkeit eines einzigen Urvermögend. — Borftellen, Fühlen und Wollen.
— — PLBeſtändige Thätigkeit des ganzen Wefend ber Seele. — Niedere und höhere
Rüdwirkungen. — Veränberlichleit der Seele und ihre Grenzen. — Das bekannte
188
und das unbekannte Weſen ber Sede . . . a .
Dritted Kapitel,
Bon dem Verlaufe der Borftellungen.
Das Beharren ber Vorftelungen und ihr Vergeflenwerden. — Ihr gegenfeitiger
Drud und die Enge bed Bewußtfeind. — Die verſchiedene Stärke ber Empfin-
dungen. — Klarheitägrabe ber Erinnerungsbilder. — Der Gegenfab ber Bor:
ftelungen. — Der innere Sinn. — Leitung des Dorfeitungeiaufes durch die
Geſetze der Affociation und NReprobudion . . . 0.0... 216
XXI
Bierted Kapitel.
Die Formen des beziebenden Wiſſens.
Die Verhältniffe zwifchen ben einzelnen Borftelungen als Gegenftände neuer Vor⸗
ftellungen. — Wechſel des MWiffend und Wiflen vom Wechſel. — Ungeborene
Ideen. — Die räumlich zeitliche Weltauffaffung der Sinnlichkeit. — Die den:
kende Weltauffaffung des Verſtandes. — Der Begriff, dag Urthel der ab
— Das zufammenfafjende Beftreben ber Vernunft . . ..
Fünftes Kapitel.
Bon den Gefühlen, dem Selbftbewußtjein und dem Willen.
Eniftehung und Formen der Gefühle. — Ihr Zufammenhang mit ber Erfenntniß.
— Die Werthbeftimmungen ber Bernunft. — Selbftbewußtfein; empirifched und
reine Ih. — Triebe und Streöungen, — Der Wille und ‚fine grelheit —
Schlußbemerkung... .. ..
Driftes Bud.
Das Leben.
Erſtes Kapitel.
Der Zuſammenhang zwifchen Leib und Seele.
Verſchiedene Stufen ber Weltauffaffung; die wahren und bie abgeleiteten Stand⸗
punkte. — Das allgemeine Band zwifchen Geift und Körper. — Die Möglich:
feit und die Unerflärlichleit der Wechſelwirkungen zwifchen Gleichartigem und
Ungleichartigem. — Die Entftehung der Empfindungen. Die Lenkung der
Bewegungen. — Der geſtaltbildende Einfluß der Seele .
Zweites Kapitel.
Bon dem Site der Seele.
Bebeutung ber Frage. — Beihränkter Wirfungsfreis der Seele. — Gehirnbau, —
Art der Entftehung von Bewegungen. — Bedingungen der räumlichen Ans
fhauung. — Bebeutung der unverzweigten Nervenfafern. — Augegenwart der
Seele im Körper— en .
.DSDrittes Kapitel. ’
Formen der Wechſelwirkung zwilchen Leib und Seele,
Drgan ber Seele. — Organ ber Raumanſchauung. — Körperliche Begründung ber
Gefühle. — Höhere Intelligenz, fittliched und äfthetifches Urtheil. — Organ bes
Gedächtniſſes. — Schlaf und Bewußtloſigkeit. — Einfluß körperlicher Zuftände auf
den Borftellungslauf. — Centralorgan ber Bewegung. — Reflerbewegungen. —
Angeübte NRüdwirkungsformen. — Xheilbarkeit der Seele. — Phrenologie.
— Hemmung bed Geiſtes durch die Verbindung mit dem Körper
246
269
299
354
XXI
Seite
Biertes Kapitel.
Das Leben der Materie.
Die beftänbige Täuſchung ber Sinnlichfeit. — Unmöglichkeit bes Abbildes ber Dinge
in unferer Wahrnehmung. — Eigner und höherer Werth ber Sinnlichkeit. —
Die innere Regſamkelt der Dinge. — Die Materie Erſcheinung eine Weber:
finnlicden. — Ueber bie Möglichlelt außgebehnter Weſen. — Die allgemeine Be
feelung ber Welt. — Der Gegenſatz zwiſchen Körper und Seele nicht zuruche⸗
nommen. — Berechtigung ber Vielheit gegen bie Einheit . 386
Fünftes Kapitel. |
Bon den erften und ben letten Dingen bes Seelenlebens.
Beihränftheit der Erkenntniß. — Fragen über bie Urgeſchichte. — Unſelbſtändigkeit
alles Mechanismus. — Die Naturnothwendigkeit und bie unendliche Subftanz.
— Möglichkeit des Wirkens Überhaupt, — Urfprung beftimmter Belege bes
Wirkens. — Unfterblichleit. — Entjtehung ber Selen . . -» . . 416
leer. 48
Loge I. 3. Aufl.
Erfies Bud.
Der Leib,
Erftes Kapitel.
Der Streit der Naturanficdten.
Die Mythologie und die gemeine Wirklichkeit. — Perfönliche Naturgeifter und das
Reich der Sachen. — Die Weltfeele und bie befeelenden Triebe — Die Kräfte
und ihre allgemeinen Geſetze.
Nach der früheſten Vorzeit unſeres Geſchlechtes wenden wir
zuweilen, ein verlornes Gut beklagend, unſere Gedanken zurück.
Damals, in der ſchönen Jugend der Menſchheit, habe gegenſeitiges
Verſtehen die Natur dem Geiſte genähert und freiwillig habe ſie
vor ihm das verwandte Leben ihres Innern entfaltet, das fie
jeßt dem Angriffe unferer Unterfuhung verberge. Um die Außen-
feite der Erfcheinungen irrend treffe der ermattete Blick der
Gegenwart nur auf den Umtrieb felbftlofer Stoffe, auf das blinde
Ringen bewußtlofer Kräfte, "auf die freudlofe Nothwendigkeit
unvermeiblicder Borherbeftimmung; unmittelbar in die Tiefen. _
dringend babe das hellere Auge des jugenblihen Menfchen-
geſchlechts Nichts von diefen Schreden geſehen: mitwiffend habe
damals der Geift die ewigen Ideen erkannt, die ihrer felbft be=-
wußt das Iebendige Wefen der Dinge find, mitgefühlt die ver-
ſtändlichen Regungen der Sehnfucht, weldhe Die Beweggründe ihres
Wirkens bilden; nicht als thatfächliche Gefeglichkeit von unbegreif-
licher Herkunft fei der Zufammenhang der Wirklichkeit ihm gegen-
übergeftanden, denn in ſich felbft habe er die ſchöpferiſche Abficht
1*
4
nacherlebt, aus deren feliger Einheit heraus die Natur, unbeengt
dutch ihr vorangehende Schranken, die Fülle ihrer Erſcheinungen
heroortreibt.
Ich laſſe nahingeftellt, ob. jene Anklage der Gegenwart ge-
recht ift; aber ich will zeigen, daß die Vorftellung von einer fo
veftlofen Befeelung der Natur, wie diefe leidenſchaftlichen Aus-
drücke fie preifen, zu feiner Zeit die menjchliche Weltanficht aus-
ſchließlich hat beherrſchen können. Alle jene Regſamkeit freilich,
die unſer eigenes Gemüth füllt, den vielgeſtaltigen Lauf der Ge—
banken, das heimliche Spiel der Gefühle, die Lebendige Kraft des
Strebens, in deren gejeglofer Freiheit uns das ſchönſte Gut unfers
Dafeins gegeben fcheint: Das alles glaubt die Kindheit des Ein-
zelnen und glaubte die Jugend der Erfenntniß auch unter den
fremdartigften Formen der Außenwelt miederzuerfennen. Doch
nur dem Rinde mag der geringe Umfang feiner Erfahrungen und
der geringe Ernft ihrer Verknüpfung den Genuß diefer Täuſchung
friften. Die Jugend des menſchlichen Geſchlechtes dagegen umfaßt
das Altern vieler Einzelnen; ſchon früb mußte fie deshalb die
volle Mannigfaltigfeit der Erfahrungen, die ein ganzes menjd-
liches Leben füllen, und mit ihr ein binlängliches Maß verftändiger
Einfiht befigen, um jenen Gedanken einer ſchrankenlos befeelten
Natur nur wie einen Fefttagstraum zu hegen, der am Werktag
unverftändli wird.
Denn nur ein thatlos beſchauliches Träumen Könnte ſich
ungeftört an der Vorftellung einer Lebendigkeit erfreuen, die mit
freier willführlicher Regung alle Gebiete der Natur durchdränge.
Das thätige Xeben Dagegen muß für die Befriedigung feiner Be-
dürfniſſe und für alle Zwecke feines Handelns auf Beſtändigkeit
und Berechenbarfeit der Ereigniffe und auf voraus erkennbare
Nothwendigkeit ihres Zufammenhangs bauen dürfen. Die all-
täglicgften Erſcheinungen reihen Hin, und von dem Borhanven-
fein dieſer willenlofen Zuverläffigfeit in den Dingen zu über-
zeugen, und fie mußten früh ſchon das Gemüth gewöhnen, bie
Welt, in der die menſchliche Thätigfeit fih bewegt, als ein Reid)
5
benugbarer Sachen zu behandeln, in welchem alle Wechſelwirkungen
an die Ieblofe Regelmäßigkeit allgemeiner Gefege gebunden find.
Die gewöhnlichften Vorkommniſſe des Lebens lehrten unver:
meidlich die Wirkungen der Schwere fennen; der rohefte Verſuch
zum Bau eines Obdachs erregte Vorftellungen vom Gleichgewicht
der Maffen, von der Vertheilung des Drudes, von den Bor-
theilen des Hebels; Erfahrungen, die wir in der That ſchon die
mindeft gebildeten Völker zur dem mannigfadhften Gebraude an-
wenden jehen. Pfeil und Bogen benugend mußte die frübefte
Jagdkunſt auf die Schnellfraft der gefpannten Saite rechnen; ja
fie mußte ftillfchweigend auf die Regelmäßigfeit vertrauen, mit ber
dieſe Eigenſchaft unter wechjelnden Bedingungen wächſt und ab-
nimmt. Selbit die nod einfachere Fertigkeit, durch den gefchleu-
derten Stein das Wild zu erlegen, wäre nie geübt worden, hätte
nit wie eine unmittelbare Gewißheit gleihfam in Fleiſch und
Blut des Armes die Borausficht gelebt, Richtung und Geſchwindig⸗
feit des geworfenen Körper8 werde durch die fühlbaren Unter-
ſchiede in der Art und Größe unferer Anftrengung vollftändig
beftimmt fein.
Keine Mythologie hat diefe Erfeheinungen und das in ihnen
fihtbare Band einer allgemeingefeglihen Verknüpfung abfichtlich
in da8 Ganze ihres Weltbildes aufgenommen. Und doch lagen
alle diefe Dinge, Schwere Gleichgewicht der Maflen Stoß und
Mittheilung der Bewegung, täglih vor Aller Augen; Doch find
fie e8, durch deren abfichtliche Benugung der Menfh um fi her
jenen fünftlichen Verlauf der Dinge, jene technifche und wöhnliche
Natur begründet, auf die mit dem Anwachſen der Bildung fein
Leben bald ungleich mehr al8 auf die urſprüngliche wilde Kraft
und Schönheit der Schöpfung bezogen ifl. Aber mie viel zu
nahe dieſe Thatſachen auch Tiegen mochten, um unbemerkt zu
bleiben, dennoch befremdet uns nicht, daß die mythologiſche Phan-
tafte fich Der Gedanken gänzlich entichlug, welche fie erregen mußten.
Denn nicht nur den Neger fehen wir abwechſelnd feinen Fetiſch
prügeln und anbeten; auch unfere Bildung wiederholt zuweilen,
6
obwohl mit mehr Geſchmack, dieſe Wunderlichkeit. Nur allzu=
leicht wohnen in derfelben menſchlichen Secle die verfchiebenften
Gedanken friedlich neben einander, ohne daß ihr Widerſpruch bis
zur Nothmendigfeit einer Ausgleichung empfunden wird. Mit
weitfichtigem Blick konnte daher die dichtende Phantafie iiber das
hinmwegfeben, was ihr vor den Füßen lag, und das blendende
Bild einer lebendig befeelten Natur entwerfen, während das han-
delnde Leben unbefangen fortfuhr, für feine Abſichten die Leblofig-
feit der gemeinen Natur voranszufegen und auszubeuten. Mit
der Blindheit deffen, der nicht fehen will, 309 fi die mythologiſche
Naturauffaffung frühzeitig von allen den Erſcheinungen zurüd,
die wir entweder felbft fünftlich erzeugen, oder deren Verhalten
zu augenſcheinlich von Maßbeftimmungen äußerer Anläffe geregelt
wird. Sie beſchränkte ihre poetifhe Deutung auf Vorgänge, die
entweder in wandelloſer Regelmäßigfeit, wie Die Bewegung ber
Geftirne, die Jahreszeiten und der Kreislauf des Pflanzenlebeng,
ober in unberechenbarer Unorbnung, wie die Iaunenhaften Ber:
änderungen des Luftkreiſes, allen umgejtaltenben Einflüffen unferer
Willkühr ‚entzogen find. In diefen Auszug einer auserwählten
Natur vertiefte ſich die Phantaſie jener Geſchlechter und in feiner
Berberrlihung wurde fie durch Feine Erinnerung an die gemeine.
Wirklichkeit geftört, Die doch täglih vor ihren Augen ald ein
mafjenhaftes Zeugniß für die blinde Nothwendigfeit im Zuſammen⸗
hange der Dinge dalag.
Es iſt anziehend, im Einzelnen hier vorübergehend zu be⸗
merken, was wir int Allgemeinen erwarten fonnten: auch dieſe
Scheidung einer vornehmen und einer gemeinen Natur war völlig
undurhführbar; auch auf dem engeren Gebiete, welches fie fich
gewählt hatte, gelang es ber Mythologie keineswegs, Die äußere
finnlihe Wirklichkeit gänzlich zu vergeiftigen; auch hier vermochte
fie den dunklen und ſpröden Kern der Sachlichkeit und des blind-
gefeglihen Zufammenhanges, den fie floh, nur zuridzudrängen
und zu verhiüllen, ohne ihn auflöfen oder auch nur entbehren zu
können.
—— —
Denn zuerſt: in anderer Geſtalt als in der des menſch⸗
hen und des verwandten thierifchen Lebens hat geiftige Neg-
famfeit nicht jene überredende Anfchanlichkeit für uns, die den
vollen unbefangenen Glauben erzeugt. Mochten die Germanen
Die Feimende Saatfpige, indem fie den Boden durchbohrt, als ein
lebendiges Wefen feiern, fo hatte doch der mythiſche Ausprud
diefer zierlihen Naturbeobachtung kaum einen andern Sinn als
ben eines Bildes, das im Stillen doch wieder von dem Bezeich-
neten unterfchieden wird. Auch dem Griechen konnte Demeter
nicht das ſproſſende Grün, nicht die Seele der Feldfrucht felbft
fein; fie blieb die menſchlich geftaltete Göttin, die beſchützend und
fördernd fih um das Gebeihen eines Keimes bemüht, deſſen Ent-
wicklungskraft zulegt Doch nur in dem Dunkel feines eignen Innern
lag. Jeder Fortichritt des Yeldbaus mußte die Kenntniß der
Bedingungen erweitern, die diefe Entwidlung begünftigen, und der
gläubigen Verehrung blieb Nicht der Göttin zu danken übrig,
als die erfte unbegreiflihe Schöpfung des Keimes, während den
einmal entftandenen die Wechfelfälle des Naturlaufs entfalteten.
Mag die dichterifche Sprache den Flußgott felbft pahinfließen laffen,
immer zieht fi doch fühlbar die Phantaſie auf die Vorftellung
zurüd, ihn in menſchlicher Geftalt als die beberrichende Perſön⸗
lichkeit zu faflen, der das flüffige Element zwar als nächftes
Eigenthum, aber doch ftetS als ein fremdes und Anderes gegen:
über bleibt. Nur ein Werkgeug in ber Hand Juppiter find die
-Blige; die Winde werben eingefangen und entlaflen von ihren
göttlichen Gebietern: überall tritt die elementare Welt in den
alten Gegenſatz zu dem Reiche der Geifter zurüd, ein geftaltbarer
Stoff für ihre Herrſchaft, aber nie felbft zu eignem geiftigen Leben
erwachend. Es mag eine poetifche Naturauffaffung gemefen fein,
für die nach den Worten des Dichterd aus dem Schilfe Die Klage
der Syrinx tönte, oder die Tochter des Tantalus in dem Steine
ſchwieg; aber dieſe und wie wiele Ähnliche Sagen überzeugen uns
doch nur, daß der Mythologie die einpringende und eigenthüm-⸗
liche Befeelung der Natur mißlang. Denn nur dadurch mußte
8
fie ja Stein und Schilf zu befeelen, daß fie beide als verwandel-
te8 menſchliches Leben faßte, und e8 num der Anftrengung der
Phantafie überließ, die Erinnerung an dies verftänbliche vor-
malige Dafein an die ſpröde Unverſtändlichkeit der verwandelten
Form zu knüpfen.
Die trügerifche Farbenpracht des Herbſtes, der jedes Blatt
zur Blüthe zu veredeln ſcheint, vergleicht ein reizendes Gedicht
Rückerts mit der gediegenen Lebenskraft des Frühlings, die unter
allem Blühen niemals ven vollen dunflen grünen Trieb ver-
Yeugnet. Dies berbftlihe Beginnen mar das zweite, worin bie
Mythologie fcheiterte; wie fie den Stoff nicht zu vergeiftigen
vermocht hatte, fo mißlang ihr auch, die Ereigniffe in lauter
blühende Freiheit zu verflären: unüberwindlich trat der dunkle
Trieb einer urſprünglichen, unausdenkbaren Nothwendigkeit wieder
zu Tage Es half ihr nicht, daß fie feinen Anblick floh und
allein dem Glanze der Götterwelt und ihrer Herrichaft über das
Reich der Stoffe ſich zuwandte. Denn auch hier mußte fie, um
nur diefe Herrihaft möglich zu finden, einen Kreid ewiger und
allgemeiner Gefege befennen, unter deren Zuftimmung allein jeg=
liher Wille Macht gewinnt über die ZJuftände der Dinge. In
der Verehrung eines unergrünblihen Schickſals, das auch die
Götter binde, ſprach fie dieſen Gedanken in feiner Beziehung zu.
dem Gange der fittlihen Welt aus; minder ausbrüdlic aber
doch erkennbar genug wiederholt ihn jede Schilderung des Wech—
ſelverkehrs zwifchen den göttlichen Weſen und den Elementen ver
Natur. - Wo jegt der feelenlofe Feuerball fi dreht, mochte da⸗
mals in ftiller Majeſtät Helios den goldnen Wagen lenken; aber
das Rad dieſes göttlichen Wagens vollendete feinen Umſchwung
nit nach anderen Gefegen, und nicht nach anderen übte und
litt die Are Drud, als nad welchen allezeit auf Erden fich die
Räder jegliches Wagens um ihre belaftete Are Drehen werben.
Nur der mühſeligen Anftrengung bes eignen Handanlegens konnte
die Poefie die Götter überheben, aber nie hat fie ganz die Vor-
ftellung einer allgemeinen Ordnung der Dinge entbehren können,
9
nach deren Gefegen allein der lebendige Wille die Welt der Stoffe
bewegt. Während Kronion den Blitz noch durch die Anftrengung
feiner Hände fchleudert, bewegt allerdings das Zuden feiner Augen-
brauen mühelos die Tiefen des Olymp; aber dies ergreifende
zweite Bild der göttlichen Macht wiederholt doch nur verhüllter
denfelben Hergang einer mittelbaren Wirkſamkeit, den jenes erfte
in anſchaulicher Ausführlichleit ausfpriht. Selbft die moſaiſche
Schöpfungsgefchichte, erhabener als andere, weil fie unmittelbar
daſtehen Täßt, was der göttliche Wille befahl, ohne durch Schilde:
rung phyſiſcher Vermittlungen den Eindrud der Allmacht zu
ſchwächen, auch fie hält doch den ſchweigenden Gedanken noch nicht
für den genügenden Anfang der Schöpfung. Sie läßt Gott wenig-
ſtens das Wort ausſprechen, die zartefte allerdings, aber doch
immer eine deutliche Borbedingung, Die hergeftellt fein zu müſſen
ſchien, damit durch fie angeregt die ewige Nothmendigfeit der
Dinge das gebotene Werden vollbrädhte.
So bleibt denn in Wahrheit die Mythologie weit hinter
dem zurüd, was fie zu verfprechen ſchien; den Zwieſpalt der
MWeltanfänge, den fie ſchlichten wollte, hat fie kaum verdedt. Nicht
die Welt der Sachen wußte fie zu befeelen: nur eine zweite
Welt konnte fie zu ihr hinzudichten, jene göttlichen Seelen, die
um den dunklen Kern der Dinge oder über ihm ſchwebend jeden
Zufall des blinden Naturlaufs in ihrem eignen Innern zu Be—
wußtfein und Genuß verflären; aber fie find das Reale nicht,
das fie genießen. Sie konnte chenfowenig das unvordenkliche
Recht der Sachen, die geſetzliche Nothmwendigfeit in dem Zu:
fammenhange der Dinge, verflüchtigen; nur hinzugedichtet hat fie
die felige Willführ eines himmlischen Lebens, deſſen Freiheit fid
farbig von Diefem dunklen Grunde abhebt; aber doch nur in
dieſem Grunde findet jeder Schritt dieſes Lebens den feften Boden
für feinen Auftritt.
10
Einer andern Richtung der Gedanken blich die Erneuerung
des mißlungenen Verſuchs überlaffen. Käme es darauf an, den
Hergang diefer Wandelungen der Anfichten gefhichtlich zu ſchildern,
fo dürften wir allerdings fo nicht ſprechen. Denn mit grübeln-
der Reflerion fcheint vielmehr meit früher die Menfchheit dem
Gedanken eines allgemeinen Naturlebens nachgehangen und ihn
bi8 in die fremdartigften Formen des Daſeins Hinein- verfolgt zu
baben; von ihnen zog ſich fpäter erft.die Phantafie auf einen
engern Kreis anfchaulicher Geftalten zurüd, deren ideale Schön=
heit verftändlich blieb, als Yängft die Erinnerung an ihre urfpräing-
liche Bedeutung verloren war. Aber als ein völlig abgethaner
Traum tritt doch fir und die mythologiſche Weltanficht in größere
Ferne zurüd; jene andere Auffaffung dagegen, deren wir bier
an zweiter Stelle gedenken mollen, wie fie vielleicht die frühefte
Blüthe des forfchenden Geiſtes war, ift zu allen Zeiten lebenbig
geblieben, und gilt der Gegemmart kaum geringer als der Vorzeit.
Es ſchien Fein Berluft, daß die wachſende Erfahrung den
Glauben an anfchauliche Gdöttergeftalten zerftört hatte, indem fie
nie eine Anfchauung berfelben gewährte. Denn eben dies ver-
langte der neue Gedanke nicht mehr, Die belebenden Naturgeifter
al8 gefonderte Wefen neben den todten Stoffen zu‘erbliden; ver-
einigen wollte er vielmehr, was die Mythologie unter. ihren
Händen ftet8 wieder in zwei getrennte Welten zerfallen ſah;
unmittelbar in fich felbft lebendig follte der Körper der natür-
lichen Gebilde die feelenvolle Kraft feiner Entwidlung im eignen
Innern tragen. Aber als man in diefer Abficht Tebendige Reg-
famfeit über das Reich der organifchen Geſchöpfe hinaus bis in
die formlofeften Beftandtheile der Außenwelt zu verfolgen ftrebte,
da mußte, wie der Umrif der menſchlichen Geftalt, fo noch weiter
auch das Bild des menfchlihen Seelenlebend unzureihend zur
Bezeihnung der gefuchten Xebendigfeit werden. Denn nur wenige
Erzeugniffe der Natur ftellen fih fo als abgefchloffene Ganze dar,
daß e8 Leicht ift, ſie als Wohnftätten perjönlicher Geifter zu deuten.
Man mag au andern noch die Fähigkeit zufchreiben, Eindrücke
11
in fih aufzunehmen und von ihnen zu leiden; aber Die Abweſen⸗
heit jener Gliederung, an welche nad unferer Erfahrung die
Möglichkeit finnliher Anfhauungen, ihre Verknüpfung zu einer
georoneten Weltanfhauung und die Rückwirkung des Willens gg=
bunden ift, verhindert uns, in ihnen eine Form des Seelenlebens
zu vermutben, die ihnen geftattet, fih auf gleichem Wege mit uns
zum Selbfibemußtfein zu entwideln. Je mehr wir endlich von
zufammengefegten Gebilden zu den einfadhen Elementen zurld-
gehen, um fo mehr verfhmwindet der Schein einer unberechenbaren
Freiheit des Handelns; um fo deutlicher zeigt fi jede Natur
auf eine einförmige und unter ähnlichen Bedingungen ftet8 ähnlich
wiederkehrende Weife des Wirkens beſchränkt, ohne Anzeichen einer
inneren Fortbildung und ohne jene Auffammlung und Verarbeitung
der Eindrüde, durch melde jede einzelne Seele im Laufe ihres
Lebens zu einer unvergleichlichen Eigenthumlichkeit vertieft wird.
Durch folde Beobachtungen geleitet fpricht die neue Auffaflung,
die wir der mythologiſchen Weltanficht gegenüberftellen, nicht mehr
von Seelen, welde die Dinge treiben, fondern von Trieben,
welche fie befeelen. Aber mit der neuen Wendung des Ge:
dankens, deren Furze Bezeihnung ich vorläufig durch dieſen Gegen-
fag verfuchte, ſcheinen wir doch mehr einzubüßen, als wir zunächft
wiederzuerfegen im Stande find.
Denn vor allem: völlig verftändlih iſt uns doch nur das
volle bewußte geiftige Leben, das wir in uns felbft erfahren.
Müffen wir auf feine Allgegenwart in der Natur verzichten, fo
mag für verftändlich auch der entgegengeſetzte Gedanke einer völlig
blinden Notbwendigfeit des Wirkens gelten, für verftändlich wenig-
ſtens infofern, al8 wir den Anfpruch nit mehr machen, uns in
dies vollkommene Gegentheil unfers eignen Weſens hineinzuempfin=
den. Aber eben darum Tann freilich dieſe Vorftellung und nur
genügen, fo lange wir uns bejcheiden, die Ereigniffe der Natur
nur berechnen und zur Befriedigung unferer Bebitrfniffe beberr-
[hen zu können; der fortbeftehenden Sehnſucht, und in das
Innere der Dinge hineinzuverfegen, gewährt fie Nichts. Deshalb,
12
um diefer drohenden Selbftlofigkeit aller Dinge zu entgehen, ſchaffen
wir den Begriff des Triebes; denn nicht dies allein meinen
wir in dieſem Namen auszudrüden, daß fein fremder Zwang
mit grundlofer Nothwendigkeit die Dinge zu ihren Wirkungen
dränge; auch in ihrer eigenen Natur fol diefer Drang nit nur
vorhanden fein, er fol von ihnen auch als der ihrige gemußt,
genofjen, von ihnen gewollt und von ihnen beftändig in fich felbft
wiebdererzeugt werden, oder auf welche Weife man fonft das Ber-
langen ausdrücken will, ihn als die eigene, lebendige Natur
der Dinge, als ihre Selbftheit zu erfaflen. Anftatt der Haren
Sonne des perfönlihen Bewußtſeins, die in den Geftalten der
mythiſchen Welt glänzte, hat man baber ſtets wenigftens das
Mondliht einer unbewußten Vernunft in den Dingen wieder
aufgehen laffen, damit das, was fie leiften, nicht nur von ihnen
auszugehen heine, fondern in irgend einer Weife auch für fie
jelbft vorhanden fei und von ihnen als ihr eigned Thun und
Dafein erlebt werde.
Die Menge der Umfchreibungen und Bilder, die ich bedurfte,
und die man wohl immer bebirfen wird, um empfindbar zu
machen, was wir hier fuchen, macht von jelbft ſchon bemerflich,
wie zwijchen jene beiden Extreme, den Glauben an perfünliche
Naturgeifter und den Gedanken einer blinden Nothmendigfeit des
Wirkens, diefe VBorftellung von einer unbemwußten Vernunft
höchſt unflar in Die Mitte tritt. Aber eine entfchievene Vorliebe
pflegt doch das menfchlihe Gemüth in den mannigfachften Wen-
dungen immer wieder zu dieſer Vorftellung zurückzuführen, bie
aljo Doch wohl einem tieferen Bedürfniſſe des Geiftes entſprechen
muß. Und in der That, ſuchen wir uns hierüber Rechenfchaft
zu geben, fo begegnen wir fhon in unferem gewöhnlichen Em—
pfinden mander Spur einer Neigung, dem vollen Xicht bes
geiftigen Lebens cin gedämpftere8 Zwielicht vorzuziehen und bie
Grenzen zwiſchen bewußtem Handeln und unbewußtem Wirken zu
verwiſchen.
Wohl wiſſen wir als die beiden weſentlichen Züge, durch
13
bie der Geift fi von den Dingen fcheidet, das befonnene Denken
zu fhägen, das unfere innern Zuftände verknüpft und die Will-
führ, die ihre Entjchlüffe fich felbft zurechnet; aber das Schönfte
des geiftigen Lebens ſcheint uns nicht immer in dieſen beiden
zu liegen. Nicht jedes Wort der Aeußerung fol als Ergebniß
eines nachrechenbaren Gedankenganges erſcheinen; wir freuen ung
vielmehr der Unmittelbarfeit, mit der aus unbewußten Tiefen
der Seele der Ausdruck ihres Lebens unaufflärbar und doch ver-
ftändlich hervorbricht. Wir bemundern die durchſichtige Confequenz,
mit der eine lüdenlofe Kette von Folgerungen vom Anfangspımlt
einer Unterfuhung zu ihrem Ergebniß führt, aber viel höher gilt
und Doch oft jene andere Folgerichtigkeit, welche in Werken der
Kunft Gedanken aus Gedanken feimen läßt, ohne daß Die ver⸗
mittelnden Glieder nachweisbar würden, deren verfnüpfende Wirk⸗
ſamkeit wir empfinden. Und ebenfo mögen wir uns als Gefchöpfe
unjer eignen Willens nur da betrachten, wo wir in fittlicher
Selbftbeurtheilung Werth oder Unwerth einer einzelnen Handlung
auf uns zu nehmen haben; aber es gilt und zugleih als Auf-
gabe her Erziehung, daß nicht nur die geringfügigen Bewegungen,
zu denen die Vorkommniſſe des täglichen Lebens anregen, fondern
daß auch unſere ganze fittlihe Haltung als unmillführliche
Aeußerung einer fhönen Natur erfcheine, ohne den ſchwerfälligen
Ernft der Abfichtlichkeit und darum auch ohne alle Erinnerung
an die Möglichkeit ihres Andersſeins. Auch die Mythologie
verftand Dies nicht anders, wenn fie die Erſcheinungen der Natur
aus geiftigen Bemweggründen deutete. Nicht jedem Sonnenaufgange
gebt ein ermeuerter Entſchluß des Gotte8 voraus; Der urfpräng-
lihe Wille wirkt, wie in dämmernde Entfernung zurüdgetreten,
mit der unbewußten Macht einer anmuthigen Gewohnheit fort.
Dadurch eben gibt die Natur fih als Natur, daß fie unter dem
Einfluß von Beweggründen ſich zu regen ſcheint, deren Bewußt⸗
fein in ihr felbft verflungen tft, und deren Macht nur noch traum:
haft als ein zurücdgebliebener unmillfübhrliher Zug empfunden
wird. Und in diefe Dämmerung Tieben wir auch unjer eigenes
14
Sein zu verfenten; wie hoch wir aud die Helligkeit des Denkens
und die Freiheit unferes Wollens fhägen mögen: Die Gegemmart
einer unbewußt und unwillkührlich wirkenden Natur aud in uns
ſelbſt Teugnen wir nicht, fondern heben mit Vorliebe ihre be=
ftändige ftile Thätigkeit hervor.
Kaum find wir und über die Grlinde Mar, die und in diefer
Neigung beftärken, und ich hoffe nicht, fie hier zu erſchöpfen. Aber
e8 ſcheint mir zuerft, al8 übermältigte ung zumeilen die Eınpfindung,
wie fehr alle Unterfuchung und Bemweisführung alle Erwägung
und Entſchließung zu dem mühfeligen Verfahren desjenigen Lebens
gehört, das noch auf dem arbeitvollen Wege nach einem entfern⸗
ten höchſten Gute begriffen if. Dann fühlen wir die Verlodung
nah, die in fo vielen fhärmerifhen Seelen die Sehnſucht nad
der Austilgung ihres perfünlichen Lebens in der umfaffenden Flut
eines allgemeinen Geiftes erzeugte: jene in ſich verſunkene Be-
ſchaulichkeit, fire welche alle ftraffen Bänder eines georpneten Ges
danfenzufammenhanges fi löſen und die Grenzen zwifchen dem
Ich und feinem Gegenftand in träumeriſcher Identität verſchwim⸗
men, jene® pflanzenartige Leben, das jeden Willen und jeded
Streben nad) Entferntem aufgegeben hat: Diefe fheinen und in dem
ungegliederten allgemeinen Gefühl, mit dem fie uns ausfüllen,
in wirklicher Gegenwart jenes höchſte wahrhafte Gut zur befigen,
deſſen fernes Abbild der rubelofen Arbeit unferer Gedanken und
unſers Willens vorſchwebt. Den Frieden diefer endlichen Er-
füllung ziehen wir der unendlichen Raftlofigfeit der Sehnſucht
vor. Aber vielleicht eben fo fehr reizt ung die Ausficht in ein
Unendliches, die un® gleichzeitig durch jene Beobachtung einer
bewußtlos in und wirkenden Natur aufgeht. Ein gemifchtes
Glück des Selbſtgefuhls und der Demuth fcheint in der That
für und von der Wahrnehmung auszugehen, daß unfer eigenes
Innere eine Welt verbirgt, deren Geftalt wir nur uwollkommen
ergründen, und deren Wirken, mo e8 in einzelnen Zügen in unfere
Beobachtung fällt, und mit Ahnungen unbelannter Tiefen unfers
eignen Weſens überraſcht. Wer fich felbft ganz durchſichtig märe,
15
fhiene uns mit ſich fertig zu fein; nur wer ſich felbft allmählich
findet, bat Grund für fein eignes Daſein Theilnahme zu empfinden.
Darum möchten wir jenen dunklen Kern unſers Innern nicht
miffen; wir zählen ihn ebenfo fehr zu unferer eigenen Perjünlid-
feit, die fi fo für uns bis zu der Größe einer Welt erweitert,
in der uns felbft noch Entdedungen zu machen find, und eben-
ſowohl erkennen wir ihn als Etwas, das in uns felbft doch nicht
wir jelbft if. Dann treten wir befangen vor dieſem geheimniß-
vollen Rüdhalt unferes Weſens zurüd, und glauben in ihm nun
jenes Unendliche zu ſehen, das aller endlichen Erfcheinungen ewige
Grundlage bilbet. | —
Ih füge nur flüchtig noch das legte hinzu. Wie wir in
unferem Innern die Grenzen des Bewußten und des Unbewußten
zu verwifchen lieben, fo pflegen wir auch dies Innere felbft nicht
in ſcharfen Gegenfag zu feiner leiblihen Außengeftalt zu fegen.
Faft nur, wo die VBorftellung des Todes Gedanken an eine fernere
Zulunft vege macht, denken wir daran, den Körper nur als Die
wieder abzubrechende Hülle zu betrachten, "in die der Geift fid
nur einmwohnt, ohne mit ihr zu verſchmelzen. Aber das unbefangne
Leben kennt dieſe Auffaffung ſehr wenig, und felbft wo unfer
Nachdenken fie fefthält, gelingt e8 uns doch nie, fic aus einer
mittelbaren Meberzeugung bis zur Klarheit eines unmittelbaren
Lebensgefühls zu fteigern. Immer wird Hand und Fuß, immer
bie drudempfindende Oberfläche unſers Körpers uns als ein Theil
unſers eignen Selbft erfcheinen, und feineswegs als cin benach⸗
bartes Gebiet der Außenwelt, über welches die Herrſchaft der
Seele ſich nur unbedingter als über entlegenere Theile derfelben
erftredte. Ueberall fträubt fi unfer Gemüth, jene innige Ein—
beit zwifchen Leib und Seele aufzugeben, deren Gefühl aus ber
Berfettung unferer Organtfation uns allen als eine freundliche
Zäufhung entfpringt. Dann erxft ſcheint der Geift feine Be-
fimmung zu erfüllen, wenn er nicht eine fremde Maſſe von
außen bewegt, fondern in fie hinein thätig fich fortfeßt; dann
erft jcheint auch der Stoff volle Berechtigung feines Dafeins zu
18
Ausubung einer Geberde, ohne das Größere in ſich zu erleben,
als deſſen Ausdruck allein dieſe gerechtfertigt wäre. Die gegen-
feitige Anziehung der Stoffe würde die Mythologie ebenſo wie fie
die Wendung der Blume nic der Sonne erklärt, auf eine ver-
ftändliche Sehnfucht zurüdgeführt und dieſe Sehnſucht jelbft aus
ber Gefchichte vergangener Schidfale begründet haben. Die räum⸗
lihe Bewegung wilde ihr fo als der augenblidlide Ausdruck
eines mannigfachen und in feiner Mannigfaltigfeit uns noch
empfindbaren geiftigen Lebens gegolten haben, dad mit dem Reid-
thum feines Inhalts weit über dieſe einzelne Aeußerung hinaus:
reicht und eben deshalb diefe einzelne wahrhaft aus fidh zu moti-
viren vermag. Ein Trieb der Anziehung dagegen, den wir in
der Natur der Stoffe zu finden meinen, wiederholt uns eigent-
ih nur die unverftandene Thatfadhe der Bewegung und fügt
anftatt des crflärenden Beweggrundes nur den Gedanken einer
gleich unverftändlihen Nothwendigfeit hinzu, welche die Dinge
nöthige, fie auszuführen. In der That, jo erfheinen uns die
Naturereigniffe nur snod mie die ſtummen Gefticulationen von
Geftalten, deren Bilder ſich gegen den Horizont abgrenzen, während
ihre Worte die Entfernung verfchlingt.
Das war e8 nun doch nicht, was dieſe ganze Beltonficht
wollte, zu allen Zeiten finden wir fie daher bemüht, durch eine
weitere Ausbildung ihrer Gedanken diefer Verkümmerung ber
Naturauffaffung wieder zu begegnen. Auf einen zufammenfaffen-
den Weltgrund, auf Eine unendlide Vernunft führte fie vor
allem die zeriplitterte Vielheit der Erſcheinungen zurüd; in das
Innere biefer träumenden und ſchaffenden Weltfeele verlegte- fie
finnvolle Urtriebe, die in unerfchöpflider Mannigfaltigleit der
Tormen fih ausgeftaltend diefe Wirklichkeit begründen. In ein=
zelnen Geſchöpfen zu vollem Selbftbemußtfein hindurchdringend,
wird dieſe ewige Kraft doch auch in jenen Gebilvden, in denen fie
nur träumend und unbewußt fi) regt, von denſelben Beweg⸗
gründen ihres Handelns geleitet, und jedes einzelne Erzeugniß
der Natur drückt in anſchaulicher Berförperung einen jener Ge—
19
danken aus, in welche der lebendige Inhalt des Höchſten fi aus-
einanderlegt. Dieje Gedanken, aus demfelben Urgrunde entiprungen
und in ihm zu dem Ganzen einer unerichöpflichen Idee zuſam⸗
menftimmend, ftiften zwifchen ven Dingen, deren befeelende Triebe
fie find, eine durchdringende Verknüpfung des Sinnes und ber
Weſensgemeinſchaft. Und an diefer Gemeinfchaft ihres Grundes
und ihres Zieles, von welcher vielleicht eine dunkle Erinnerung
ihnen geblieben ift, gewinnen die Dinge jenen tieferen Rüdhalt
ihres Wefens wieder, den wir vermißten. Die Weußerungen,
denen das Einzelne nad der Nothwendigfeit feines Triebes fich
überläßt, geſchehen nicht mehr um ihrer felbft willen; fie find
das, was jedem an feinem Orte als feinen Beitrag zu der Ver—
wirflihung des allgemeinen Sinnes der Welt zu leiften obliegt.
Und wenn die Gefchöpfe in veränderliher Entwidlung eine Reihe
von Zuftänden durchlaufen, over in wechſelnden Yormen auf
äußere Anläffe zurückwirken, jo find fie auch dazu nicht durch eine
zufammershanglofe Mehrheit vereinzelter Anftöße gezwungen. Aus
der Einheit der Idee vielmehr, die ihr befeelender Trieb ift, ent:
fpringen wie mit der poetifhen Nothwendigkeit eined Gedichtes
alle die mannigfaltigen Formen des Dafeind und Benehmens,
die wir an ihnen beobachten. So ift jedes Einzelne eine leben-
dige gefchloffene Einheit, und bat doch jedes zugleich an dem
großen Ganzen den erflärenden Hintergrund des befonderen Trau⸗
mes, von dem es bewegt wird.
Um der Wahrheit willen, melde fie unftreitig einſchließt,
wird dieſe Auffaffung ihren Eindrud auf das menfchlihe Gemüth
nie verfehlen; aber vielfache Schwierigkeiten treten ihr doch ent-
gegen, wenn fie ernſtlich an die Deutung der Erſcheinungen geht.
Für jenen unendlich hohen Inhalt der Weltfeele, defien einzelne
Ausftrahlungen die Geſchöpfe der Natur find, bat noch Niemand
einen Ausbrud gefunden, der den angeregten Erwartungen ge-
nügen, oder und für die verftändliche Lebendigkeit entſchädigen
könnte, mit der die Mythologie die Natur erfüllt hatte. Denn
alle jene Strebungen nah Entwidlung und Entfaltung, nad
. 2*
20
Bielheit in der Einheit und Einheit in der Bielheit, nach Gegen:
fäglichfeit und Verfühnung der Gegenfäge, fie alle, durch die man
das Innere der Weltſeele zu bezeichnen fuchte, können Doch dem
unbefangenen Gemüth nur als nichtige, kümmerliche Aufgaben
erfcheinen, kaum ber fpielenden Thätigkeit des kindlichen Geiſtes
wirdig, am wenigften geeignet, die ernften Schöpfungstriebe des
-Weltgrundes auszudrücken. Ginge in folden Beftrebungen die
Fülle feines Inhaltes auf, fo könnten wir nicht leugnen, daß jeder
zufällig herausgegriffene Augenblid aus dem Leben eines menfch-
lichen Herzens unendlich feelenvoller fei als die Tiefe der Weltfeele.
Indeſſen wiirde Die Unvollkommenheit unferer Berfuche, Diefe
Tiefe zu ermeffen, nicht gegen die Wahrheit der Anficht ſelbſt
bemeifen; auch wenn jenes Höchfte und beftändig nur in unaus-
iprehbarer Ahnung vorſchweben follte, könnte e8 doch ein Gewinn
fein, wenigftens durch Feſthaltung diefer Ahnung die Lebendigkeit
unferer Naturanfhauung zu fihern. Aber derjelbe Vorwurf,
den wir der Mythologie zu machen hatten, erhebt ſich auch gegen
die Leiftungen dieſer Anfiht. Denn aud fie, jo ausdrücklich fie
das Ganze der Natur zu umfaffen verfpricht, hat doch in allen
den Ausführungen, die fie fi bisher gegeben, in Wahrheit nur
jene auscrwählten großen Umriffe des Naturlaufs vor Augen ge:
habt, auf welche ſchon die mythologiſche Phantafie fich befchräntte;
fie vernachläſſigt, wie diefe, Die Fülle der Heinen gemeinen Wirf-
lichkeit, die, weniger poetifch aber deſto unabmeisbarer, fi rings
um und ber ausbreitet. In der Regſamkeit des Thierkörpers,
in dem Wachsthum der Pflanze, und nod in der Kryſtallform
des Feſten und in dem Umlauf der Geftirne, kurz überall da, mo
die Einzelwirfungen der Elemente ſich zu einer beftändigen fich
felbft erhaltenden Geftalt de8 Dafeind und der Bewegung be-
reits zufammengefunden haben, überall da mögen wir leicht den
Widerſchein von Ideen finden, die wir in dem Innern der Welt-
feele als Mufter ihres Schaffens vorausfegen. Aber die Thaten
des Hebeld und der Schraube, Die Geſetze des Gleichgewichts und
bed Stoßes, Die Wirkungen des Drudes und der Spannung, biefe
21
ale haben immer weitab von dem Entwidlungsgange der Welt:
feele zu Liegen gefchienen und find meift völlig außer dem Ge—
fichtöfreife der fo Philoſophirenden geblieben. Die freie land⸗
ſchaftliche Schönheit der Schöpfung mag die Neigung zu diefer
vornehmen Naturbetrahtung nähren; die häusliche Gefchäftigfeit
unferer Technik, die nicht das Fertige bewundern, fondern die
Möglichkeit feines Zuftandelommens beachten lehrt, muß noth-
wendig zu andern Gebanfen führen; unvermeidlich wird durch fie
die Lehre von den fhöpferifchen befeelenden Naturtrieben gezwungen,
einer Dritten Anſicht zu weichen, der legten von denen, die im
Großen in der Geſchichte der menſchlichen Gedanken einen Ab:
ſchnitt bilden.
Sn weit größerer Mannigfaltigkeit, als frühere Zeiten, um—
giebt jet und täglich eine Menge künftliher Vorrichtungen, deren
lebloſe Beftandtheile mit zufammengreifenden Bewegungen die
Regſamkeit des Lebendigen glücklich nachahmen. Auf diefer merk⸗
würdigen Zwiſchenwelt ſelbſtarbeitender Werkzeuge, die ihre Stoffe
der Natur, die Form ihrer Leiftung aber der menfchlihen Will-
kühr verdanken, kann unfer Blid nicht wiederholt und dauernd
ruben, ohne daß unfere ganze Weile der Naturauffaflung den
Einfluß folder Beobachtungen erführe. Zur Bildung dieſer
Mafchine, die fih vor uns regt, lag in den Stoffen, aus denen
fie gebaut ift, feinerlei innere Vorherbeſtimmung; Tein lebendiger
Naturzwed hat fie in diefe Form der Vereinigung zujammenge-
führt, fein befeelender Trieb ihnen den Rhythmus ihrer Be—
wegungen eingehaudt. Wir wiſſen e8 ja, daß nicht von innen
heraus durch ein eignes Entwicklungsſtreben, fondern durch frem⸗
den Zwang von außen her die bewunderungswerthe Spiel ein-
ander ablöfender Zuftände an die verbundenen Maffen gekommen
iſt. Biel einfachere Eigenſchaften und Wirkungsweifen waren an
fih den einzelnen Stoffen eigen, die wir verfnüpften, nad all-
22
gemeinen Gejegen mit der Veränderung beftimmter Bedingungen
veränderlih. Dieſe unfheinbaren Kräfte hat unjere Technik durch
bie liftige Verbindung, in welche fie ihre Träger verftridte, unter
Umftänden zu wirken genöthigt, unter denen ihre Folgfamfeit
gegen .jene allgemeinen Geſetze ohne eigene Abfiht die Zwecke
unferer Abſichten verwirklichen mußte. Iſt dies nun fo, laſſen
fih unter unfern Händen die Elemente der Natur wie benuß=
bare Sahen zu den merkwürdigſten Leiftungen verbinden, zu
denen feine entwidlungsbegierige Neigung ihres eignen Innern
fie trieb; warum follte es in der Natur felbft anders fein?
Auch in ihr vielleicht entftehen die bedeutungsvollen Geftalten
der Geſchöpfe doh nur von außen ber durh den Zwang bed
Weltlaufs, der die Elemente bald fo bald anders zufammenführt,
und unvermeidlich in jeder diefer Gruppen das Syftem von Be—
wegungen und Reiftungen entftehen läßt, welches nad allgemeinen
Gefegen der jedesmaligen Weile ihrer Verknüpfung entipricht.
So würden Alle Geſchöpfe das fein, wozu fie dur den Zufammen-
fluß vieler äußeren Bedingungen gemacht werden, und fie befäßen
ebenfo wenig einen lebendigen Trieb in ihrem Innern, wie die
Erzeugniffe unferer Hände, von deren Selbftlofigfeit wir über—
zeugt find. |
Je vieljeitiger und Fräftiger ſich Die praktiſche Herrichaft der
menschlichen Technik über die Natur ausbreitet, um fo zuverficht-
licher fehen wir auch diefe Folgerung gezogen. Und auch da, wo
wir nicht mehr von Grund aus Neues aus benugbaren Elemen-
ten aufbauen, fondern nur umzugeftalten ſuchen, was die Natur
freiwillig: erzeugt, fheinen die Erfolge dieſe Zuverfiht zu ſtärken.
Aus den Miſchungen der Stoffe, welche die Erde und darbietet,
bat die Hand des Chemikers zahllofe andere hervorgebracht, bie
niemal8 in ber Natur beftanden, ehe die Kunft fie dargeftellt
hatte, und viele von ihnen find durch Dauer und Feftigkeit ihres
Dafeins, durch den Glanz ihrer finnlihen Eigenfhaften, durch
die BVielfeitigfeit ihrer Wirffamkeiten den merkwürdigſten berer
ebenbürtig, welche die Natur uns als ihre eignen Erzeugniffe
23
ſchenkt. Künftlihen Befruchtungen und langer forgfamer Pflege
unterworfen, haben die Pflanzen Blüte und Frucht zu erhöhter
Schönheit entwideln mäfjen und unfere Gärten füllt eine Flora,
die fo, wie fie uns entzüct, nirgend& eine natürliche Heimat bat.
Selbft die Geftalt der Thiere erfährt den umbildenden und verz
edelnden Einfluß der menfchlihen Zucht; wohin wir uns aud
wenden, wir begegnen faum irgendwo den urfprünglicen Zügen
ber Natur; in allen ihren Gebieten hat der berechnende Eingriff
des Menſchen folgenreiche Veränderungen zu ftiften gewußt. Der
Eindrud diefer Beobachtungen verftärft nothmwendig die Ber:
muthung, die Natur erzeuge ihre Gebilde nicht durch von innen
befeelende Triebe, denen wir nichts Gleichartiges entgegenzujegen
hätten, fondern durch Zufammenfegung derſelben Einzelkräfte,
durch deren Anwendung es uns gelingt, ihre Gefchöpfe umzu⸗
geftalten. . "
Eine andere Ueberlegung aber fohien dieſe Vermuthung zur
Gemißheit zu machen. Wenn jedes einzelne Gebilde der Natur
völlig auf fich ſelbſt bernhte und aus fich ſelbſt fi entiwidelte,
ohne einer äußeren Welt zu bebitrfen oder fiir ihre Eingriffe zu⸗
gänglich zu fein, dann wäre e8 möglich, jedes diefer einzelnen auf
einer einzigen, ihm cigenthlimlichen, befeclenden Idee beruhend zu
denken, die jede Beſonderheit feiner Hinftigen Entfaltung mit
vorbevenfender finniger Confequenz aus fih entließe. Und fo
eben hatte jene Anfiht, welche an die befeelenden Triebe der
Dinge glaubte, die Natur aufzufafien gelicht; fie hatte die Wirk:
lichkeit als ein großes ruhendes Bild vorgeftellt, und jede ein-
zelne Geftalt dieſes Gemäldes anf feinen ihm eigenthümlichen
Sinn zu deuten gefucht. Worliber biefe Beſchaulichkeit hinweg⸗
gefehen hatte, das flel un! jo mehr ber neuen Denkart ind Auge,
die fi im praktiſchen Berfehr wit den Dingen gewöhnt Hatte,
nad ben Wegen zu fragen, auf denen jegliches Erzeugniß zu
Stande fommen kann. Ihr war es Mar, daß die Wirffich-
feit ein fehr bewegtes Bild ift, deſſen einzelne Theile in beftän-
diger Wechfelmirkung einander erzeugen, unterhalten, verändern
24
und zerftöven. Alles aber, was nicht einfam in einer Welt für
fih wächſt und Tebt, fondern in dem Zuſammenhang einer Wirk—
lichkeit, von der e8 leiden kann, Alles alfo, was Bedürfniſſe bat
und Bedingungen feiner Entwidlung, das wird in feinem Thun
und Laffen ſich den allgemeinen Gefegen eines Welthaushaltes
unterwerfen müffen, der, für alles Wirkliche gleihmäßig gültig,
dem Einzelnen die Befriedigung feiner Bebürfnifje allein gewähren
kann. Jeder Verkehr verlangt dieſe gegenfeitige Ergreifbarkeit
der Verkehrenden für einander und ſetzt nothwendig irgend cin
allgemeinverbindliched Recht voraus, welches die Größe und Form
ber wechfelfeitigen Leiffungen beftimmt, melde fie austaufchen.
Nun ift c8 der bedeutjamften einzelnen Erfheinung nicht mehr
möglich, ſich als eine abgefchloffene und untheilbare, nur aus fich
ſelbſt verftändliche Einheit zu geberben; wie fle ſich entfaltet, was
fie Teiftet und was fie leidet, das ift nicht mehr die unberechen—
bare Erfindung ihres eignen Genius, fondern außer ihr ift dar-
über von Ewigkeit ber entfchieden, und jede ihrer Wirkungen, jeder
ihrer Zuftände wird ihr durch die allgemeinen Gefege des Welt-
verkehrs und durch die befondern Umſtände zugemeflen, unter denen
fie von ihm erfaßt wird.
Die unorganiſche Natur dieſer Betrachtungsweiſe zu ent-
ziehen hat man felten ernftlih verſucht; man hat länger ſich ge—
fträubt ihr auch die lebendigen Gejchöpfe zu unterwerfen. Aber
diefelben Gründe nöthigen und auch hier fie zuzulaſſen. Thiere
und Pflanzen erzeugen weder aus ſich ſelbſt noch aus Nichts die
Stoffe, durch deren Anlagerung ihre Geftalt wählt; fie entlehnen
fie au8 dem allgemeinen Borrath der Natur. In beftändigen
Kreislauf überliefert die Erdrinde und das Luftmeer dem Pflan-
zenreihe und dieſes der Thierwelt jene. unzerftörbaren Elemente,
bie bald dieſer bald jener Form des Lebens dienen und zeitweis
in das formlofe Dafein unorganifher Körper zurücktreten, zu
Allem benutzbar, aber aus eigenem Antriebe weder für Die eine noch
für die andere Form ihrer Verwendung begeiftert. Dieſe Noth-
wendigfeit, aus dem allgemeinen Vorrath zu fchöpfen und die ge-
25 \
fuchten Elemente erft aus Schon beftchenden Berbindungen zu Iöfen, um
fie zu dem eigenen Dienfte zu zwingen, fest dem freien Schwunge
der Lebenskraft in jedem Gefchöpfe enge Grenzen. Gern vielleicht
würde dieſe Kraft, den ganzen Lauf ber fünftigen Entwidlung vor-
bevdenfend, mit einem Griffe und aus ber Einheit einer Abſicht
heraus die Entfaltung des Lebens lenken, ihrerfeit8 geneigt, jene
Geſetze zu überfpringen, welche der übrigen Welt gelten. Aber
die ıumentbebrlichen Stoffe, deren fie bedarf, werben nicht bie
gleihe Neigung theilen; fie werben unerbittlich verlangen, nad
denſelben Gefegen auch bier gerichtet zu werben, denen ihre Natur
in allen andern Fällen unterworfen ift. Niemals wird die Pflanze
die Kohlenſäure des Luftkreifes zerfegen, ohne der chemiſchen Ver⸗
wandtſchaft, die deren Theile zufammenhält, eine andere in be:
ſtimmtem Maße überwiegende Verwandtſchaft entgegengefegt zu
haben, und nie wird die Kohlenfäure die treunende” Kraft einer
andern Anziehung anerkennen, als einer ſolchen, die an ein be-
ftimmtes Maß einer Törperlihen Mafle gebunden if. Und mo
das gewonnene Material im Innern des lebendigen Körpers in
die Formen zu bringen tft, melde der Plan der Organifation
verlangt, da wird e8 chenfo wenig freiwillig ſich diefer Geftaltung
fügen. Wie jede zu bewegende Laſt wirb es vielmehr erwarten,
durch beftimmte Größen bewegender Kräfte, von beftimmten Maſſen
ausgelibt, feine Theilchen in die verlangte Lage gefchoben zu jehen,
nad denfelben Gefegen einer allgemeinen Mechanik, nad denen
auch außerhalb des Lebendigen alle Bewegungen ber Stoffe erfolgen.
Welcher Tebendige Tricb daher auch das Innere der Ge-
ſchöpfe befcelen mag: nicht ihm verdanken fie doch ihr Beftehen
gegen die Angriffe des Aeußern und die Verwirklichung ihrer be=
abfichtigten Leiftungen; fie verdanken beides in jedem Augenblide
den urfprünglichen Kräften ihrer elementaren Theilchen, die in
Berührung mit der Außenwelt tretend Reize aufzunchmen und
auf fie wirkſam zu antworten verftehen. Und welche finnreiche
Anfeinanderfolge die Lebenserſcheinungen eines Gefchöpfes zu dem
Ganzen einer zuſammenhängenden Entwidlung verfnüpfen mag:
26
auch fie wird ihm nur gewährt durch die urfpränglich vorhandene
Anordnung feiner Theile, die dem Gefammterfolg ber einzelnen
Wirkungen beftimmte Geftalten gibt, jo wie durch die fortfchrei=
tende Veränderung, die dieſe Theile ſelbſt fih im Laufe ihrer
Thätigfeit bereiten.
So lange die Naturforfhung von der Einheit jenes leben⸗
digen Triebed ausging und in ihm die hinreichende Erflärungs-
quelle für die veränderlihe Entwidlung eines Gefchöpfes fuchte,
ift fie wenig glüdlic in der Aufbellung der Erſcheinungen ge-
wefen. Ste nahm den Iebhafteften Aufſchwung, ſeitdem fie Die
Thätigkeit der Hleinften Theile ins Ange faßte, und, von Punkt
zu Punkt die einzelnen Wirkungen zufammenfegend, die Entftehung
bes Ganzen aus der vereinigten Anftrengung unzähliger Elemente
verfolgte. Noch Tieß fie eine Zeit lang jenes Innere, Die eine
Lebenskraft jedes Gefchöpfes, mit hergebrachter Verehrung in der
Meinung der Menſchen beftehen, und fie gab tbeoretiich zu, daß
die Idee des Ganzen der Wirkſamkeit der Theile worhergebe,
während fie praftifch ſich längſt barauf eingerichtet hatte, alle
wirklich fruchtbringende Erklärung nur in dem Zuſammenwirken
der Theile zu fuchen. Diefe legte Schen hat die Gegenwart
überwunden, und müde, ein Inneres zur verehren, das doch nie
werfthätig fi äußerte, bat fie die Hare und beftimmte Auf-
fafſſungsweiſe der mehanifhen Naturwiffenihaft ebenfo
zum Bortheil der Forfhung wie unleugbar zur Beunrubigung des
Semüths über alle Gegenftände unferer Naturfenntniß ausgedehnt.
An die Stelle des lebendigen Triebes, der als Ein Hauch
das Ganze zufammengefegter Bildungen befeelte, feßte fie die ein-
fachen und unzerftörbaren Kräfte, welche den Elementen beftändig
anbaften. Mit veränderlicer Thätigfeit hatte der Trieb bald
diefe bald jene Wirkungsmeife entfaltet, hier zuriidhaltend mit
feinem Bermögen, dort mit Anftrengung feine Aeußerung be-
fhleunigend; ausgleihend und ergänzend, wo es Noth that, war
er nit durch ein immer gleiches Gefeg feines Handelns ein-
geengt, fondern nur durch die Rückſicht auf das Endziel beftimmt,
27
zu dem alle Einzelheiten der Entwidlung zufammenlaufen follten.
Mit unveränderlicher ftet8 gleicher Wirkungsweiſe haftet Dagegen
die Kraft an den Klementen der Maſſe, in jedem Augenblide
Alles mit Nothwendigkeit Teiftend, was nach allgemeinen Gefegen
die vorhandenen Umftände gebieten, und weder im Stande, von
ihrer möglichen Wirkung etwas zurüdzuhalten, noch zu ergänzen,
was die Ungunft der Umftände ihr verfagt. Bon keinem Ziele
geleitet, das vor ihr ſchwebte, ſondern nur Durch die Gewalt des
Naturlanfes, der hinter ihr ftcht, vorwärts getrichen, ftrebt fie
nicht von felbft der Verwirklichung eines Planes zu, ſondern jede
zufammenhängende Orbnung mannigfadher Wirkungen beruht auf
den eigenthümlichen Bedingungen, unter welchen zahlreiche Elemente
durch die einmal vorhandene Form ihrer Verfnüpfung zufammen-
zuwirken gezwungen find,
Indem fo die Naturwiſſenſchaft die Einheit der belebenven
Macht in die Zerjplitterung unbeftimmt vieler Elementarkräfte
auflöft und von der Verbindungsweife diefer Die endliche Geftalt
der Gefchöpfe begründet denkt, läßt fie die Trage nad dem Ur:
fprunge diefer Anordnungen übrig, Die fo glüdlich gewählt fich
finden, daß das Schönfte und Bedeutſamſte der Natur fih als
ihre nothwendige Folge entwideln muß. Nur darauf gerichtet,
die Erhaltung der einmal beftchenden Welt zu erflären, darf fie
in der That diefe Frage aus dem engeren Gebiete ihrer Unter:
ſuchungen ausſchließen. Iſt fie zumetlen gencigt, den Urſprung
diefer Ordnung einem Zufall zuzurechnen, fiir den befondere
Grimde aufzufuchen unnöthig fei, fo tft c8 ihr Doch eben fo mög-
Th, die erfte Stiftung derfelben von der Weiäheit eines gött-
Tihen Geiſtes abzuleiten. Aber allerdings pflegt fie, auch dies
vieleicht mit Ueberſchreitung ihrer Befugniß, zu behaupten, daß von
ber fchöpfertichen Freiheit dieſes Geiſtes Fein Hauch in das Ge—
Ihaffene übergegangen jet, und daß die Natur, einmal vorhanden,
fih wie jedes Kunfterzeugniß nach jenen unbeugfamen Geſetzen
forterhalte, deren Unveränderlichkeit die Weisheit des Urhebers
ebenfo ſehr wie die völlige Selbſtloſigkeit des Geſchöpfes bezeugt.
28
Und in dieſem munderbaren Automat der Natur, deſſen
raftlofer Gang uns überall umgibt, welche Stellung nehmen wir .
jelbft ein? Wir, die wir einft verwanbte Göttergeftalten hinter
der Hülle der Erfcheinungen zu erfennen glaubten; wir, in denen
die allgemeine Vernunft der Weltfeele wenigſtens traumbaft fich
großer Zwecke und eines ewigen Triebes bewußt wurde, der ung
mit der Natur zu einem gemeinfamen großen Weltbau zufammen-
ſchließt? Mit den Ahnungen unferes Gemüthes, mit den For-
derungen unferes fittlihen Weſens, mit der ganzen Wärme unferes
inneren Lebens fühlen wir uns fremd in diefem Reiche der Sachen,
da8 fein Inneres kennt. Doc vielleicht ift auch dieſes Gefühl
des Zwieſpalts nur der Reſt eines Irrthums, den wir abthun
müffen.
Denn nicht allein die Anfichten der Natur haben im Raufe
der Zeit die geſchilderten Wandelungen erfahren; mit ihnen hat
zugleid unſere Selbfterfenntnig neue Geftalten angenommen.
Arglos Tonnte das Berwußtfein der jugenvlihen Menfchheit ſich
feiner Lebendigkeit erfreuen, Die, gleich der Pflanze Alles aus
eigenem Keime heroortreibend und von feinem Gefühle fremden
Zwanges bebrüdt, auch das Bebürfnig einer Anerkennung ihrer
Freiheit nicht empfand. Die fortfehreitende Erfahrung und bie
allmählich fich erweiternden Ucherfihten des menſchlichen Daſeins
zeigten auch die Entwidlung des geiftigen Lebens an allgemeine
für Alle giltige Gefege gebunden und dem eigenen Verdienſte des
Einzelnen mehr und mehr entzogen. Mit Beruhigung unterwarf
fih das Gemüth diefer Nothwendigkeit, jo lange es in ihr bie
ftill zwingende Gewalt der einen eiwigen Idee fah, in der wir
leben und find; es fühlte den Drud, als an die Stelle dieſer
auch hier Die zerftreute Vielheit der bevingenden und geftaltenden
Kräfte trat. Wie Vieles von dem, was wir zu der unantaft-
barften Eigenheit unfer8 perſönlichen Weſens zählten, zeigte fich
als das Erzeugniß von Einflüfjen, die fih an und kreuzen, unter-
fügen und befämpfen! Immer mehr ſchmolz die Fülle deſſen zu⸗
fammen, was wir an ung jelbft unfer wahres Eigenthum nennen
29
durften; einen Theil nahmen bie Förperlihen Werkzeuge als Ge-
ſchenk ihrer Organifation in Anfprud, ein anderer fiel den all-
gemeinen Kräften des Scelenlebens zu, die verdienftlos in allen.
Einzelnen nad gleihen Geſetzen thätig find; ein Feines Gebiet
allein, Das, welches die Freiheit unferd ſittlichen Handelns be-
herrſcht und geftaltet, ſchien den Zufluchtsort deffen zu bilden,
was wir felbft find. Auch diefem legten Punkte wahrhafter
Innerlichkeit Tieß die Wiſſenſchaft, als cinem möglihen Gegen:
ftande des Glaubens, ein zweifchhaftes Beftehen; aud ihn fcheint
fie im Begriff völlig aufzugeben. Seitdem man und wieder:
holt, daß der allgemeine Haushalt der Welt eine gewiſſe jähr-
liche Summe der Verbrechen ebenſo erfordere, wie eine gewiſſe
Größe der Temperatur: ſeitdem Tiegt e8 nahe, auch in.dem geiftigen
Lchen den ununterbrodgenen Zufammenhang eines blinden Mecha—
nismus zu ſehen. Gleich dem beftändigen Wechſel des Aeufern
wird auch unſere innere Regſamkeit nur noch ein Wirbel von
Bewegungen fein, den die ungezählten Atome unfere8 Nerven:
gebäudes durch unabläffige Wechfelmirktung unterhalten. Weit
über die unbefangene Kindlichkeit mythologiſcher Weltauffaſſung
find wir Hinausgefommen; wir haben nicht allein die perfönlichen
Naturgeiſter aufgegeben, fondern die Möglichkeit eines perfönlichen
Dafeins überhaupt zu dem dunkelſten Räthſel gemacht. Einge—
ihloffen in das große. Automat der Natur fteht das Hleinere des
menſchlichen Geiſtes; künſtlicher als jedes andere, da es feine
eigenen Regungen fühlt und die des andern Spielzeugs bemun-
dert; aber zulegt zerführen feine Beftandtheile doch auch, und
der Ernſt und der Scherz, die Liche und der Haß, die dieſes
feltfame Wefen bewegten, wären dahin.
Auch diefe letzten Conſequenzen find gezogen worden, hier
mit Jubel, dort mit vergweifelndem Gemüth. Aber auch fie find
nit allgemein gezogen worden; an den verſchiedenſten Punkten
des Weges zu ihnen haben Unzählige angehalten und nad ver-
fhiedenen Richtungen bin dem unerwünſchten Ziele zu entgehen
verſucht. Und durch alle Ummandelungen der Anfichten hindurch
‘
30
hat doch auch ein einfacher Glaube fi) ungeftört erhalten, ber
Glaube an einen ewigen Urheber, der dem Reiche ber Geifter
lebendige Freiheit zum Streben nad cinem heiligen Ziele verlich
und fie dem Reihe der Sachen verfagte, damit ed in blinder
Nothwendigkeit Schauplag und Mittel für die Thätigfeit des
Strebenden fei. Mit Diefer klaren Theilung gemann das Gemüth
die Möglichkeit, in dem Kreife der Dinge fi einzurichten, bauend
auf ihre unwandelbare Gefeglichfett und feine eigene Freiheit.
Aber zu erringen würde ihm noch die andere Möglichkeit bleiben,
die zahlreichen Fragen über die gegenfeitige Begrenzung der beiden
Gebiete des Freien und des Nothmwendigen zu beantworten, zu
benen die aufmerkſame Beobachtung der Einzelheiten des Ratur-
laufs anregt.
Bon folden NRäthieln fühlen wir uns umftridt; nit als
ob fie nicht zu jeder Zeit vorhanden geweſen und empfunben
worden wären; aber mehr als je hat fie jeßt die wachſende Ber:
breitung der Naturkenntnig in den Vordergrund unferer Betrady-
tungen gerüdt. Zu lange bat ohne Zweifel der menſchliche Geift
in der Ausbildung feiner Weltanfiht jenes dunkle, ftarre Element
der Nothwendigfeit, das Reich der Sachen, überjehen; mit fteigen-
der Macht ift c8 im Fortſchritte der Erfahrung beroorgetreten,
und vergeblich würden wir und zu verbergen ftreben, daß feine
Herrſchaft über die finnliche Welt feft fteht. Wollen wir dennoch
von Neuem verfuchen, ihm das zu entziehen, was wir ihm nicht
ohne Aufgeben unſeres eigenen Wefens überlaffen zu können
glauben, fo dirfen wir nicht damit beginnen, das zu beftreiten,
was der vereinigte Eindruck der gefammten Erfahrung immer
wiederholt uns beſtätigt. Auch für unfer eigenes Törperliches
. Dafein müfjen wir vielmehr die vollfommene Giltigkeit jener
Grundjäge zugeftehen, nach denen bie mechauiſche Naturforfhung
die Sinnenwelt erflärt. Indeſſen unterfcheidet fich vielleicht das,
was in der Leivenfchaft des Streited von manchen Seiten ber
als unverbrüchliche Grundlage der Naturmiffenfchaft gelten ges
macht wird, merklid von dem, mas die Wiffenfchaft felbit, hierin
31
duldſamer als einzelne ihrer Jünger, gewiß zu wiſſen und überall
unerbittlih verlangen zu dürfen glaubt. Vielleicht auch zeigt e8
fich endlich, daß die Gefammtheit alles Mechanismus, weit ent-
fernt, den wahren Aufgaben des geiftigen Lebens entgegenzuftehen,
vielmehr felbft als ein nothmwendiges. Dienendes Glied in den Zu=
fammenhang jenes großen Ganzen aufgenommen ift, von dem bie
veränderliche Richtung des Zeitgeiftes bald die eine, bald die
andere Seite dem menſchlichen Geiſte allein entgegentehrt.
Zweites Kapitel.
Die mechaniſche Natur.
—
Allgemeinheit der Geſetze. — Beſtimmung bed Wirkſamen. — Die Atome und ber
‚ Sinn ihrer Annahme — Die phyſiſchen Kräfte — Gefche ber Wirkungen und
ihrer Zuſammenſetzung. — Allgemeine Folgen für bie Erflärung ber Naturers
ſcheinungen. |
Nothwendige Verknüpfung bat in irgend einem Sinne jebe
Zeit und jede Anfiht in den Dingen gefucht; nicht Dies ift es,
was die mechaniſche Wiffenfhaft der Gegenwart auszeichnet, fon-
bern der andere Gedanke, den fie ber Bebeutung und Urfprung
dieſer Nothwendigkeit hinzufügt. Auch der finfterfte Wberglaube,
indem er durch nichtigen Zauber das Schickſal des räumlich Ent:
fernten zu beftimmen dachte, berief fih auf eine unbegreifliche
Berfnüpfung, nad ber auf feine Beſchwörungen die verlangte
Wirkung folgen werde. In doppeltem Sinne meint die Wiffen-
ſchaft es anders. Nicht durch dieſe unbegreifliche Nothwendigkeit
follen den Dingen ihre einzelnen Zuftände nur nach einander zu—
getheilt werden, jondern aus einander follen fle begreifbar her-
vorgehen und jeder frühere in fich felbft den Grund enthalten,
ans dem er nah einem allgemeinen und verftändlichen Rechte
ben fpäteren als feine Folge verlangen darf. Und eben jo wenig
32
ſoll jede einzelne Wirklichkeit nad einem ihr allein verliehenen
Rechte Zuftand aus Zuftand entwideln; die Nothwendigkeit viel-
mehr, die in dem einen Gejchöpfe waltet, verdankt ihre nöthigende
Kraft denjelben allgemeinen Gejegen, Die aud in allen andern
wirffam Gleiches dem Gleihen und dem Verſchiedenen Ber-
ſchiedenes zumefjen. Nicht vereinzelt auf befondern und unver-
gleihbaren Borherbeftimmungen beruhen alfo die verfchiedenartigen
Erſcheinungskreiſe, deren Contraft -die Welt füllt; fie alle find
nur mannigfaltige Beifpiele deffen, was alles die Kraft der all:
gemeinen Gefege je nad den verfchiedenen Umftänden begründet,
die veränderlih nad Zeit und Ort fi ihrer Entfheidung unter-
ordnen. Auf diefen Gedanken eincd gemeinfamen, alle Natur
beberrfchenden Rechtes, aus dem allein alle Berbindlichkeiten und
Fähigkeiten des Wirkens für Die Dinge fließen, hat die mechanifche
Naturauffaffung das ausgedehnte Gebäude ihrer Kehren gegründet.
Aber zu der Kenntniß dieſes allgemeinen Rechtes fünnen
wir von den Erfheinungen aus, die uns allein umgeben, nur
durch Schlüffe gelangen, die das Gebiet des Wahrnehmbaren
überfteigen. Nicht jeder der Schritte, die bier gethan worden
find, ift gleich zweifellos. Nicht überall reichen die an ſich ge—
wiffen Grundfäge unſers Erkennens zur Gewinnung nützlicher
Ergebniffe- Hin; in Manchem bat ein glüdlicher Blick die frucht-
baren Geſichtspunkte errathen müffen. Und allerdings nicht über-
al bat ſchon die bisherige Gefchichte der Wiffenfchaft die Richtig—
feit ſolcher Blicke beftätigt, die, als fic gethan wurden, durd die
Eröffnung großer Ausſichten überrafchten; auch nicht überall ift
es gelungen, Vermuthimgen, deren thatſächliche Richtigkeit bie
Erfahrung glänzend bewährte, auf ihre cigene innerliche Notb-
wendigkeit zurüdzuführen. Mancherlei Anftände mögen ſich daher
dem Zweifelnden ergeben, und die Hoffnung, fi einzelnen Folge:
rungen der mechaniſchen Naturanficht zu entziehen, wird im Stillen
an diefe nicht in allen Stüden vollendete Grundlegung berjelben
anfnüpfen. Aber man würde wenig gewinnen, wenn man mit
den zuſammengerafften Einwänden, welche der augenblidliche
33
Eindruf mander Säge erweden mag, den großen Bau dieſer
Anfiht zu erſchüttern dächte. Auf einer unermeßlichen Fülle zu—
fammenftimmendber Thatſachen ruhend, verdient er es, felbft gleich
einer Naturerſcheinung mit dem Zutrauen betrachtet zu werden,
dag eine fpätere Einfiht in den Zufammenbang aller Theile
bie früheren Zweifel an den einzelnen zerftreuen werde. Und in
der That, glei einem Naturgebilve ift auch diefe Anficht der
Natur noch einer reihen umgeftaltenden Entwidlung fähig. Nur
eine ſehr unvollftändige Kenntniß ihres Geiftes könnte die Grund-
füge, denen fie bisher Anwendung gegeben hat, als ben ab-
gefchloffenen und nicht vermehrbaren Beftand möglicher Geſichts⸗
punkte anſehen. Im Vergleich mit der unendlihen Mannigfaltig-
feit der Ereignifje, mit denen und die Natur täglich umgibt, weiß
vielmehr die Phnfit fchr wohl, daß fie ihren Unterfuchungen
bisher nur wenige Gebiete volftändig hat unterwerfen können.
Sie weiß, daß die allgemeinen Grundfäge, deren fie ſich bedient,
zum Theil aus den befonderen Geftalten abgeleitet find, in denen
fih die wirkende Natur auf diefen wenigen beftbefannten Ge—
bieten darftellt, und fie fühlt, Daß mit jedem neuen Erfahrungs:
freife, der im Laufe der Zeit vollftändiger befannt in die Reihe
der Unterfuhungsgegenftände eintritt, auch eine Aufforderung ent-
fteht, den früheren Grundlagen ihrer Betrachtungen allgemeinere
und umfaflendere Ausdrücke zu geben. Sie wird in diefer Selbſt—
entwicklung felten in den Fall kommen, zurüdzunchmen, was fie
früher feftgefegt hatte; aber fie wird häufiger finden, daß Geſetze,
deren Giltigkeit fie in diefem Fortſchritte unangetaftet läßt, doch
nur befondere Fälle allgemeinerer Beitimmungen find, welde fie
nun aufgefunden bat. Und fo wird die wahre Naturwiſſenſchaft
nicht jene kümmerliche Haft zeigen, mit der man fo oft alle Er-
ſcheinungen ausfchlieglih nach dem Modelle derjenigen zu erflären
fucht, welche der Zufall oder der augenblidlihe Ausbildungsgrad
der Beobachtung am meiften für und ins Licht gerüdt hat. In
diefer Bildſamkeit der Wiffenfchaft haben wir Die wenigen Bunte
hervorzuheben, die fie in der That fiir nothwendig und allgemein
Lotze I. 3. Aufl.
34
gültig ausgibt, von ben übrigen aber den Grad der Wahrfchein-
Yichfeit kennen zu lernen, welchen allein fie fiir diefelben in An-
ſpruch nimmt.
Ein Zug ift es nun, welcher neben jener Heberzeugung von
einem allgemeinen geſetzlichen Verbande den Geift der mechaniſchen
Naturanficht auf das Wefentlichte bezeichnet: die unabläffige
Sorgfalt, mit der fie für jede Wirkung, deren fie gedenkt, genau
die Elemente zu beftimmen fucht, von denen diefe Wirkung aus-
gelibt oder erlitten wird. Nicht ummer hat die frühere Zeit dieſe
Borfiht beobachtet. Man ſprach von Wirkungek, die da über—
haupt gefhähen, ohne zu jagen, wer fie hervorbrächte; man ſprach
von Thätigkeiten, ohne nambaft zu machen, von wen fic aus-
gingen und wen fie träfen; an zuſammengeſetzte Gebilbe, die eine.
Menge von. heilen unterfcheiden lichen, fnüpfte man im Ganzen.
und Großen Kräfte, Entwidlungen und Leiftungen, die fo nur
auf unbeftimmte Weife in dem Innern diefer Gebilde ſich zu er-
eignen ſchienen, wie eleftrifhe Entlabungen ın Wolken, deren
Schimmer man fieht, ohne Umriſſe deffen, von dem er ausgeht.
- Der Strenge, mit der fie diefen Fehler vermied, verbanft Die
neuere Wiffenfhaft Alles, was fie geleitet. Indem fie forgfältig
jede8 Element, von dem eine Wirkung entjprang, nad) feiner
Lage zu andern und nad allen den Umftänden zu bejtimmen
fuchte, in denen es fih im Augenblide feiner Thätigkeit befand,
gelangte fie dahin, die Wirfungen der Dinge nicht nur nach ihren
allgemeinen Bormumriffen und nad der Art, wie fie fih aus-
nehmen, kennen zu lernen, jondern ihre Größe Richtung und
Dauer, jo wie den Einfluß, den fie nad irgend einer Seite hin
ausüben, an beſtimmte Geſetze des Maßes zu Fnüpfen.
Sie hat hierdurh einen Standpunkt überwunden, auf benz
wir die Beurtheilung geiftiger Entwidlungen zu großem Theile
noch verweilen fehen. Nach den platten Verſuchen, den Lauf der
35
Geſchichte und Alles, was in ihren Ereigniffen von Werth ift,
aus nüchterner Willführ der Einzelnen zu erklären, finden wir
nun wieder mit Vorliebe von einem allgemeinen Geifte und
feinem unbewußt organifchen Wirken gefellige Zuftände der Men-
hen veligiöfe Stimmungen und die veränderlichen Richtungen
der Kunft abgeleitet. Die ſchönen Erfolge, die wir Diefen Be—
mähungen verdanken, werden durch das Geftändniß nicht ge=
ſchmälert, daß doch die Geſchichte ſich nicht ohne die perfünlichen
Geiſter mache, und daß eine genauere Beobachtung in jenem all»
gemeinen Geifte doch nur die gleichförmige Endrichtung erkennen
werde, welche die Einzelnen unter dem Eindrude allgemeingiltiger
Bedingungen und durch die Wechſelwirkungen ihres Verkehrs an-
nehmen. Nicht als wären darum alle fchönen und bedeutfamen
Formen des Dafeins in Natur und Geſchichte nur nachgeborene
Folgen von Umftänden, die thatfächlih nun einmal vorangingen;
wohl mag vielmehr das, was wir als ibealen Gehalt in der
verwirklichten Welt finden, auch der erfte treibende Grund zu einer
beftunmten Orbnung der Dinge gewefen fein, als deren noth-
wendiges Ergebniß wir e8 beftändig wiedergeboren werden fehen.
Aber überall da, wo mir nicht nad) dem MWerthe des Gewordenen,
ſondern nad der Möglichkeit feines Werdend und dem Hergange
feiner Verwirklichung fragen, da wird unfer Blick fih doch noth-
wendig auf Die einzelnen realen Elemente richten, in Deren ge-
jeglicher Wechſelwirkung die Vermittlung alles Werdens allein
Viegt. Und fo wird Gefchichte und Naturwiſſenſchaft jede Ent-
ftehung eines: neuen, jede Erhaltung eines früheren Zuftandes.
aus dem gegenfeitigen Verkehr vieler einzelner individueller Punkte
herleiten, in denen allein die Idee fi zu thatkräftigen Wirklich:
feiten verdichtet hat. .
In diefe Bahn der Unterfirhung nothwendig geleitet, mußte
die Wiſſenſchaft verſuchen, jene erften Ausgangspunfte aller Wir-
kungen aufzufinden, welche völlig einfach und unveränberlich durch
ftet8 gleiche und darum berechenbare Beiträge den vielgeftaltigen
Naturlauf zufammenfegen: Was fich zuerft der unmittelbaren Be-
3*
36
obachtung als abgeſchloſſene Einheit darftellt, die bewegliche Geftalt
Des Thieres oder die ſcharf gezeichnete Form der Pflanze, das zeigte
doch durch den Verlauf feines Lebens, wie fein Daſein und feine
Leiftungsfähigfeit auf einer beftimmten Verbindung von Theilen
beruht und mit ihrer Auflöfung wicder verſchwindet. Nocd mehr
erichienen die unlebendigen Körper Durch ihre Trennbarfeit in gleidh-
artige oder das fihtbare Hervortreten ungleichartiger Beftanbtheile
als Zufammenfegungen, deren Eigenfchaften von der Natur der
Menge und den Kräften der zu ihnen verbundenen Elemente ab:
hängen. Aber der Verſuch, diefe felbft aufzufinden, überzeugte
bald, daß die einfachen und unveränderlichen Beſtandtheile der Dinge
fih der finnlihen Wahrnehmung überhaupt entzichen. Denn was
im kleinſten Raume fich den Sinnen als gleihartiges und beftän-
diges Element darftellt, das zeigt ſich im Fortſchritt der Erfahrung
doch noch als veränderlich oder löſt ſich vor dem bewaffneten Auge
auf's Neue in eine Welt des Mannigfaltigen auf, und wieder ſieht
man unbeſtimmte Anzahlen von Theilchen beſchäftigt, durch ihre
Wechſelwirkungen dieſe kleinen Geſtalten aufzubauen, die uns mit
dem Scheine einer gleichförmigen und innerlich unbewegten Exiſtenz
täuſchen. So mußte man, was die Wahrnehmung nicht darbot, in
einem ihr entgehenden Gebiete vorausſetzen und ſuchte die letzten
Beſtandtheile der körperlichen Welt in unzählbaren Atomen von
unſichtbarer Kleinheit unwandelbarer Dauer und unveränderlicher
Beſtändigkeit ihrer Eigenſchaften. In den vielfachſten Weiſen bald
zuſammentretend, bald unverändert aus dieſen wechſelnden Gefel-
lungen fih trennend, bringen fie durch die Mannigfaltigkeit ihrer
Stellungen und Bewegungen die verfchiedenen Formen der Natur:
erzeugniffe und deren wandelbare Entwidlung beroor.
Die mikroſtopiſche Torfhung, die uns fo oft das ſcheinbar
Gleichartige in eine wohlgefügte Gliederung mannigfaltiger Theile
auflöft, Scheint am natürlichften Die Neigung zu begünftigen, die wirk⸗
famen Elemente des Körperlihen an einzelne Punkte des Raumes
vertheilt und die Eigenfchaften der größeren wahrnehmbaren Ge-
bilde von der Berbindungsweife dieſer Theile abhängig zu denken.
37
Aber lange vorher hat fchon das Altertbum diefen Gedanken
ausgebildet, geleitet durch Ueberlegungen, deren Werth zum Theil
noch in unverminderter Geltung befteht. Der Mangel zufammen-
hängender ausdrücklich zu dieſem Zwecke angeftellter Beobachtun-
gen hinderte jedoch die Alten, diefer Borftellungsmeife eine mathe:
matifche Ausbildung zu geben, und fie blieb bei ihnen mehr ein all-
gemeiner Gedanke über die Art einer möglichen Naturerflärung, als
daß irgend eine beftimmte Gruppe von Erfcheinungen durch fie eine
erhebliche Erläuterung gefunden hätte. Während jedoch Die Alten
die Ergiebigkeit ihres Princip8 wenig zu nugen wußten, gingen fie
in anderm Sinne weit über das hinaus, was die Atomiftif der
heutigen Phyſik zu fein beabſichtigt. In den Atomen glaubten fie
die legten und unvorbenflichen Elemente aller Wirklichkeit gefunden
zu haben, und was uns jegt nur als das Beftändige in dem Laufe
der gefchaffenen Welt gilt, das galt ihnen als das Unbebingte und
wahrhaft Seiende, dem Nichts vorangche, während e8 felbft Allem
vorangehend die an fi nothwendige und unabhängige Grundlage
jeder möglichen Schöpfung fei. Daß nun eine unzählbare Vielheit
jelbftändiger und zufammenhanglofer Punkte den Uranfang der
Welt bilde, und daß nur ihren planlofen Begegnungen das in-
einandergreifende Ganze der Erfheinungen entfpringe: dieſer Ge-
danke wird ftet8 die lebhafte Sehnſucht des Geiftes gegen ſich haben,
der die Natur als Einheit aus Einem Duell und Plane zu ent-
wideln ftrebt. Aber diefes Bedenken, das wir mit Recht gegen
die Meinung des Alterthums gelten machen, würde man mit Un-
recht gegen die atomiftifhen Grundlagen unferer Phyſik wenden,
mit deren Geift und Bebürfniffen die Erneuerung jener Meinung
nicht nothwendig verbunden if. Wenn wir von unzerftörbaren
Atomen ſprechen, die an Geftalt und Größe verfchieden find, fo
glauben wir damit nur die Reihe der Thatfachen, die wir wirklich
beobachten, durch eine glückliche Vermuthung um eine neue, vorzugs⸗
weis fruchtbare, aber der unmittelbaren Wahrnehmung entzogene
Thatfache vermehrt zu haben. Daß alle Veränderungen im Natur-
laufe nur bis an die Grenze diefer Heinften Theilchen reichen und bei
38
aller Umgeftaltung ihrer äußern Berhältniffe doch fie ſelbſt als un-
veränderte Ausgangspunfte unabläffigen Fortwirkens übrig laſſen:
dieſe Thatſache glauben wir, von unzähligen Andeutungen der Er-
fahrung geleitet, als einen charakteriſtiſchen Zug der Ratur, wic
fie und nun einmal vorliegt, glücklich errathen zu haben. Auch fie
mag, wie andere Thatfachen, nod weiter zurüdgehende Fragen
nah ihrem Sinn und Urfprung mit Hecht veranlaffen. Aber bie
Naturwiſſenſchaft felbft, nur auf Erflärung defjen bedacht, was in=
nerhalb der einmal vorhandenen Schöpfung geſchieht, wird ihrer-
ſeits Recht haben, bei irgend einer Icgten Thatſache anzuhalten,
welche einen allgemeinen und unwiderruflichen Charafterzug dieſer
Schöpfung auf eine für die Erflärung der Erſcheinungen fruchtbare
Weiſe bezeichnet. Unverändert und ungetheilt alfo nicht um einer
unbedingten Ungerftörbarkeit ihres Wefens willen, fondern meil der
wirflihe Naturlauf die Beranlafjungen nicht erzeugt, denen ihre
Auflöfung gelingen könnte, bilden die Atome für den Aufbau der
Erſcheinungen die unmwandelbar feften Bunte. An welchen höheren
Bedingungen aud ihre eigene Eriftenz hängen mag: für Die Erflä-
rung der einmal vorhandenen Natur dürfen wir diefe Bedingungen
dahingeſtellt fein laſſen, weil fie beftändig in ihr erfüllt find, nie
verloren gehen und deshalb nic wieder von Neuem hergeftellt zu
werben brauchen.
Welche weiteren Vorftelungen wir uns iiber die Natur der
Atome zu machen haben, kann nur nad den Andeutungen der Er-
fabrungen, die und überhaupt zu ihrer Annahme nöthigen, ent-
fchieden werden, und Vieles hiervon bleibt der Zukunft vorbehal⸗
ten. Der unbefangenen Ueberlegung Tiegt es am nädften, Die
verſchiedenen Eigenſchaften des Sichtbaren auch von verſchiedenen
Beſchaffenheiten der kleinſten Elemente abzuleiten; die Wiſſenſchaft
Dagegen bat ein natürliches Intereſſe daran, die auseinandergehende
Mannigfaltigkeit der Erſcheinungen auf die möglich kleinſte Zahl
urſprünglich verſchiedener Principien zurückzuführen. Und in ber
That lehrt die Unterſuchung ſehr bald erkennen, daß viele zunächſt
weſentlich ſcheinende Unterſchiede der Dinge doch nur von Verſchie⸗
89
benheiten der Größe und Verbindungẽweiſe an ſich gleichartiger
Beftandtheile abhängen. Dennoch dürfte die Feftigkeit, mit welcher
mande Naturerzeugniffe unter höchſt wechfelnden Bedingungen ihre
charakteriſtiſchen Unterſchiede von andern aufrechterhalten, den Ver:
fuch erſchweren, aus durchaus gleihen und gleihartigen Atomen nur
durch Die Mannigfaltigkeit ihrer Berknüpfungsarten alle abweichen:
den Formen der Körper und Verſchiedenheiten ihre® Verhaltens zu
erfären. Kein höherer Gefichtöpunft verlangt übrigens dieſe Gleich:
beit der Atome; denn nicht darin beftebt die Einheit des Weltgan:
zen, daß alle feine urfpränglichen Beſtandtheile identiſch feien,
fondern nur darin, daß die verſchiedenen in den Sum eine® zu⸗
ſammenfaſſenden Planes fi fügen.
Die Atomiftif der Alten mar von dieſem Gedanken der Weſens⸗
gleichheit der Heinften Elemente beherrſcht; und da der Zweck der
Naturerflärung dennoch Unterfchiede derfelben verlangte, fo fuchten
fie diefe ausfhlicklih in der Wannigfaltigkeit der Formen und
Größen, welhe den Atomen zufämen. Aber ein völlig gleicher
Stoff ſchien vielmehr überall auch gleiche Form und Größe zu ver:
langen; fo fam man darauf, die Atome felbft aus noch kleineren,
gleichartigen und gleich großen Theilchen zufammtengejegt und
ihre Formen von den Lagerungsverhältnifien diefer abhängig zu
denfen. Die Atome waren daher nicht eigentlich einfache Elemente,
fondern ungertrennlihe Syſteme mehrerer Theilden. Dennod
waren fie, und nicht dieſe Theilchen, die Elemente des Naturlauſes.
Denn die Verfaüpfungen jener Heinften Urbeftandtheile zu ben
größeren und mannigfach geformten Geftalten der Atonıe jah man
als ewige und unwiderrufliche Thatfachen an, deren Begrändung
vor aller Schöpfung der beftehenden Welt und bamit außerhalb
des Rreifes naturmiffenichaftlicher Forſchung liegt. Jetzt, nachdem
bie geichaffene Welt einmal befteht, vermögen alle Wechſelwirkun⸗
gen des im ihr noch fortdauernden Naturlaufes nur noch fo viel,
die zufammengefegten fihtbaren Körper tn ihre Atome, nicht aber
auch diefe noch im ihre gleiharttgen Urbeſtandtheile zu zerfällen.
Zu diefer Annahme einer unerklärlichen erſten Zuſammen⸗
40
fügung wird indeffen dieſe merkwürdige Vorftellungsweife nur durch
ihre VBorausfegung von der völligen ©leichartigfeit der kleinſten
Theilhen gedrängt. Denn allerdings ließ fih num fein Grund
mehr finden, warum es durchaus Feiner der im Naturlauf entſtehen⸗
den Kräfte gelingen follte, die Verbindungsweife jener Theilhen in
einem Atome zu ftören und fie in Die andere Form der Ber:
fnüpfung überzuführen, in der fie in einem zweiten von jenem
verſchiedenen Atom fich befinden, und die ‚chen deshalb, weil fie
fich hier verwirfliht findet, der Natur jener Theilchen nicht an
fi) zumider fein Tann. Anders wiirde e8 fein, wenn wir jene
Borftellung der Alten fo erneuerten, daß wir nicht gleichartige,
fondern vielmehr wefentlih verſchiedene Urbeftandtheile zu den
Heinen Gebilden der Atome vereinigt dächten. Jedes von diefen
würde dann unzertrennlich fein können, meil zwiſchen den Be—
ftandtheilen eines jeden eine Wahlverwandtſchaft herrſchte, Die
durch feine andere überboten werden fünnte, und jedes würde zu=
gleich eine beftimmte Größe und Geftalt befigen, weil nur bet
begrenzter Anzahl der Theile und beftimmter Lagerung derfelben
ihr gegenfeitiger Zufammenhang Veftigfeit genug befäße, um jeder
Entreifung eines einzelnen zu wiberftchen. Auch diefe Gebilde,
die durch ihre Ungzerftörbarfeit den Namen der Atome verdienten,
würden mithin nicht die legten und einfachften Elemente ber
Körperwelt, wohl aber die legten fein, bis auf melde die Ver—
änderungen in der Natur zurüdgehen, und melde in allen Zufam-
menfegungen und Trennungen als die unwandelbaren Baubeftand-
theile erhalten werben.
Aber man ficht Leicht, daß diefe Vorftelungsmeife uns zu—
gleich geftattet, von einer räumlichen Ausdehnung jener Urbeftand-
theile gänzlich abzufehen und fie als überfinnlihe Wefen zu be—
trachten, die von beftimmten Punkten des Raumes aus durch ihre
Kräfte ein beftimmtes Maß der Ausdehnung beherrihen, ohne '
c8 doch im eigentlihen Sinne zu erfüllen. Durch ihre Wechfel-
wirfungen würden diefe unausgedehnten Punkte fih ihre Ent-
fernungen von einander und ihre gegenfeitige Rage vorzeichnen,
41
und fie würden bierdurd die Umriffe einer Raumfigur cbenfo
beftimmt und ſicher umfchreiben, als wenn fie das Innere ber-
felben durch ftetige Ausdehnung einnähmen. Und denken wir an
diefe einzelnen realen Punkte Kräfte der Anzichung und Ab-
ftoßung nach außen gefnüpft, fo würden größere Zufammen=
häufungen derfelben dur ihren Widerftand gegen eindringende
Gewalt die Erſcheinung einer greifbaren Körperlichleit oder durch
Zurückwerfung der Lichtwellen den Anblid einer farbigen Ober-
fläche ebenſo gut gewähren, als wenn die wirffamen Wefen mit
eigener ftetiger Ausdehnung den Raum erfüllten. Der Phnfik,
welcher die Hleinften Theile nur als Mittelpunkte ausgehender
Kräfte wichtig find, widerftrcht es nicht, dieſen Schein einer aus-
gedehnten Materie aus einfachen überfinnlihen Weſen abzuleiten;
die philofopbifhe Naturbetrachtung wird ſich zu dieſem Verſuche
genöthigt jehen, denn cr allein verbindet die Torftellung von ber
Einfachheit der wirklich legten Elemente mit der glei unent=
behrlichen Bormenmannigfaltigfeit der Atome, die wir als bie
nächſten Baubeftandtheile des Körperlichen vorausfegen müffen.
Welche Vorſtellung wir uns indeffen von der Natur der
Atome bilden mögen: das wefentlichte Bedürfniß der Natur:
erflärung wird dieſes fein, allgemeine Geſichtspunkte zu finden,
nach denen die Erfolge ihres Wirkens fih an beftimmte Geſetze
knüpfen lafien. Das deutliche Bemußtfein iiber dieſe Grundlagen
ihrer Beurtheilung unterfcheidet die neuere Wiffenfchaft völlig von
der Atomiftit der Alten, die in ihren Verſuchen, die Erſcheinungen
auß wechfelnden Verbindungen der Elemente zu erklären, zwar
überall die Geſetze des Wirkens, an die und der alltägliche An-
blick der Naturereigniffe gewöhnt bat, ſtillſchweigend vorausfekte,
ohne doch dieſe Grundfäge abfichtlih heroorzubeben und die
Grenzen ihrer Gültigkeit zu unterſuchen. Uns aber wird es nütz⸗
ih fein, zuzugeftchen, daß auch unfere Wiſſenſchaft hierin noch
42
nicht vollendet ift, und daß fie manche ihrer Grunbfäge nur Den
Ausfagen der Erfahrung verdankt, mithin, Durch neue Erfahrungen
vielleicht in Zukunft anders belehrt, fih nicht jeder Umgeftaltung
von vorn herein verfchließen darf.
Unbefannt bleibt uns zunähft das Innere der Atome.
Allein welche inneren Zuſtände und Beftrebungen wir auch immer
in ihnen vorandfegen möchten, nie wird ſich doch um ihretmillen
das Einzelne von felbft in Bewegung ſetzen, ohne durch feine
Beziehungen zu andern dazu genöthigt zu fein. Denn der Raum
an ſich umgibt jedes Atom gleichförmig von allen Seiten, und
fein Punkt dieſer gleichgältigen Ausdehnung befigt einen Vorzug
vor den andern, um deswillen das ruhende Atom ſich nad ihm
aufmachen, oder das bewegte aus feiner Richtung nad ihm ab-
lenken müßte; feiner entjpricht der Natur des Atoms befier als
ein anderer, jo daß es ihn fchneller auffuchte oder zügernder ver
Tieße. Jedes ruhende wird daher, jo Lange nicht äußere Einflüffe
Hinzutreten, in Ruhe, und jedes bewegte in der Richtung und
Geſchwindigkeit feiner Bewegung verharren, bi8 neu dazwischen
wirkende Urfachen diefe hemmen oder ablenken.
Dieſes Geſetz der Beharrung, das aller unferer Beurtheilung
der Bewegungen zu runde Tiegt, bezeichnet gleihwohl einen
Val, der nie in diefer Reinheit vorkommt. Denn cben jene
äußeren Urſachen, welche Richtung und Geſchwindigkeit des Fort-
gangs ändern, fehlen in Wirflichfeit dem Bewegten niemals.
Das einzelne Atom umgibt der Raum nicht leer, fondern an
unzähligen Bunkten durch andere, gleichartige oder verſchiedene
Atome beſetzt. Zwiſchen ihnen allen, als Beftandtheilen derſelben
Welt, dürfen wir einen Zuſammenhang gegenfeitiges Fürein-
anderſeins voraußfegen, aus welchem eine unmittelbare Wechſel⸗
wirfung ihrer innern Zuftände entfpringt. Aber dieſe innern
Erlebniffe der Atome entgehen umferer Beobachtung völlig; nicht
fie macht daher die Naturwiſſenſchaft zu ihrem Gegenftand, fon-
dern nur die räumlichen Bewegungen, die ihr äußerer Abdruck
und ihre Folge find. Zwiſchen zwei unveränderlihen Atomen
⸗
43
am leeren Raume Tann diefer Ausdruck ibrer innern Wechfel-
wirkung nur in Berlirzung oder Verlängerung ihres gegenfeitigen
Abftandes beftehen. Welcher von beiden Erfolgen in einem be-
ſtimmten Falle eintreten, ob alfo die Erfheinung einer Anziehung
oder Abftoßung entftehen wird, dies hängt von den unbekannten
inneren Beziehungen der wechſelwirkenden Atome ab und kann
deshalb nur dur Erfahrung von uns gefunden werben. Nur
auf dem vereinigten Eindrud der Erfahrungen können wir ferner,
bis jet wenigftens, die Hegel gründen, daß die Lebhaftigfett
jeder Wechſelwirkung mit der wachſenden Entfernung der wirken-
den Eleniente von einander abnimmt, mit ihrer ſteigenden gegen-
feitigen Näherung wächſt. Nach welchem beionderen Maßftabe
fie aber nad der wechſelnden Größe des Abſtandes fich richtet,
aud dies ift für jeden einzelnen Fall nur nad den Ausfagen ber
Erfahrung zu entfeiden; diefe allein endlih belehrt uns über
den Grad der Stärke, mit weldem überhaupt zwiſchen zwei
Atomen von beftimmter Natur Anziehung oder Abſtoßung ſich
eutwickeln wird.
Die Fähigkeit oder die Röthigung, eine beftimmte Wirkung
heroorzubringen, liegt nach allem Erwähnten niemal® in ber
Natur eines einzelnen Atomes oder eined eingelneu Körpers fertig
enthalten. Wie vielmehr die Nothwendigkeit eines Wirkens über-
haupt nur aus der gegenfeitigen Beziehung zweier Elemente ber-
vorgeht, fo Liegt auch die Entſcheidung darüber, ob das eine fich
anziehenn oder abftoßend werhalten merbe, zugleich mit in Der
Natur des andern, gegen welches es dieſe Thätigfeit richtet; Die
Größe des Einfluffes ferner, den jedes auskbt, wird ihm theils
durch daſſelbe Verhältniß zu der eigenthümlihen Natur feines
Gegners, theil® durch feine Entfernung von ihm, alſo durch
augenblicklich obmaltende Umftände zugemeflen. Allein obgleich
auf dieſe Weiſe die beftimmte Kraft des Wirkens jedem Atom
eigentlich exft im Augenblide feines Wirkens zumädft, jo pflegt
doch die Naturwiſſenſchaft die Kraft als beftändig anhaftend dem
Atom zu bezeichnen. Sie verichuldet dadurch allerdings Miß-
44
verftändniffe bei denen, melde den Sinn diefer Ausdrudsmeife
nicht in ihren Anwendungen verfolgen. Denn die Verfuhung
Tiegt nahe, die Kraft, die dem Stoffe beftändig anhaften jo,
als einen neuen und doch ftofflofen Stoff, al8 eine Eigenfchaft,
die doch verborgen bleibt, al8 eine Thätigfeit in Ruhe, oder als
ein Streben aufzufaffen, dem das Bewußtſein des Zieles ebenſo
wie die Willführ des Handelns und die Wirklichkeit der Aus-
übung fehle. Niemand würde diefelben Schwierigkeiten empfinden,
ſprächen wir etwa von der Kraft unſeres Gemüthes, zu haffen
oder zu’ lieben. Wir wiffen, daß Liche und Haß nicht von An—
fang an fertig als folde in unferer Seele liegen, wartend auf
die Gegenftände, gegen die fie fi wenden könnten; beide ent-
wideln fi in beftimmten Maße erft im Augenblide der Be-
rührung unſeres Weſens mit einem fremden. Dennod dulden
wir den Ausdrud, daß die Kraft des Haffes und der Siebe
unferem Gemüthe eigen inwohne; wir wiffen, nichts damit fagen
zu wollen, als daß die beftändige Natur unferer Seele, fo wie
fie nun einmal ift, nothwendig unter dem Einfluffe beftimmter
Bedingungen Die eine oder die andere jener Aeuferungen ent-
wideln werde. Mit vdemfelben Rechte des Ausdruckes verlegt
auch die Naturbetrachtung die Fähigkeit zu einer Leiftung, die ein
körperliches Element nach Hinzutritt gewiſſer Bedingungen er-
wirbt, als eine vorher fertige Kraft der Anziehung oder Ab-
ftoßung in deffen eigenes Innere. Sie darf nicht beforgen, durch
diefe Abkürzung des Ausdrucks zu Irrthümern in der Anwendung
geführt zu werben; denn feine Anmendung des Begriffes der
Kraft ift möglich, ohne daß in jedem alle die wahre Sachlage,
auf die fein Gebraud fi gründet, in anderer Form Doch wieder
berüdfichtigt würde. Wir ſprechen von den Atomen nicht, fofern
fie nicht wirfen, fondern fofern fie wirken; aber wir Finnen von
feiner Wirfung des einen fprechen, ohne das zweite zu erwähnen,
von dem fie erlitten wird; und wir können zwiſchen dieſen beiden
feine Anziehung oder Abftogung geihehen Yaffen, ohne zugleid
eine beftimmte gegenfeitige Entfernung beider im Anfangsaugen-
45
blick des Wirkens vorzuftellen und von Diefer die Größe der ent-
widelten Kraft nach einem erfahrungsmäßig bekannten Geſetze ab-
zuleiten. So tft e8 daher für alle Anwendung gleichbedeutend, ob
wir behaupten, daß aus den inneren Beziehungen der Elemente
gegen einander jedem einzelnen die Nöthigung zu einer beftimmten
Form und Größe der Wirkung erft im Augenblide unter dem
Einfluß der vorhandenen Umftände entftehe, oder ob wir fagen,.
daß von wmanderlei Kräften, die fertig, aber unthätig in dem
Atome ſchlummern, in jedem Augenblid diejenige zur Ausübung
gelange, die in den eben vorhandenen Umftänden die Bedingungen
ihrer Wedung und Aeußerung finde. Doc hatte die Phyſik aller-
dings Grund, die Iegtere Form des Ausdrucks als bequemer für
die Anwendung vorzuziehen.
Liegen die inneren Zuſtände, die vielleicht jedes Atom im
Augenblide feines Wirfens erfährt, feine Natur fo verändert zurüd,
daß e8 auf eine völlig gleiche fpätere Anregung anders zurückwirkte,
als auf die frühere, jo würden wir von beftändig ihm anhaftenden
Kräften nicht ſprechen können. Die Erfahrung hat im Allgemeinen
eine ſolche Veränderlichkeit nicht Fennen gelehrt. Ein chemiſches
Element, nachdem es bald mit diefem bald mit jenem andern zu
einer innigen Verbindung zufammengetreten und aus berfelben
wieder ausgeſchieden ift, kommt am Ende diefer Schieffale mit kei—
nen andern Eigenfchaften wicher hervor, als die waren, mit denen
e8 in die erfte diefer Verbindungen eintrat. Und wo es fich etwa
anders zu verhalten fcheint, Liegt der Grund der augenblidlich ver:
änderten Eigenfchaften in der noch anhaltenden Fortwirkung der
Borgänge, dic feine legte Ausſcheidung begleiteten. Wie-viele und
wie verſchiedene Zuftände alfo das Atom erfahren haben mag,
immer geht es aus diefen wechfelnden Lagen als völlig daſſelbe
wieder hervor und erwirbt feine neuen Gewohnheiten, wie ſich deren
in zufammengefegten Gebilden entwideln, noch zeigt jih in ihm
eine Spur von Gedächtniß, durch welches die vorübergegangenen
Zuftände mit maßgebend fir das Verhalten der Zufunft würden.
Seine Wirfungsmeife läßt fi daher voraus beftimmen, wenn wir
38
aller Umgeftaltung ihrer äußern Verhältniſſe doch fie ſelbſt als un-
veränderte Ausgangspunkte unabläffigen Fortwirkens übrig Laffen:
dieſe Thatſache glauben wir, von unzähligen Andeutungen der Er-
fahrung geleitet, als einen charakteriſtiſchen Zug der Natur, wie
fie und nun einmal vorliegt, glüdlih errathen zu haben. Auch fie
mag, wie andere Thatſachen, no meiter zurüdgehende Fragen
nah ihrem Sinn und Urfprung mit Recht veranlaffen. Aber bie
Naturwiſſenſchaft felbft, nur auf Erklärung deſſen bedacht, was in=
nerhalb der einmal vorhandenen Schöpfung geſchieht, wird ihrer-
ſeits Recht haben, bei irgend einer letzten Thatfadhe anzuhalten,
welche einen allgemeinen und unwiderruflichen Charakterzug diefer
Schöpfung auf eine für die Erflärung der Erfheinungen frudtbare
Weife bezeichnet. Unverändert und ungetheilt alfo nit um einer
unbedingten Ungerftörbarkeit ihres Weſens willen, fondern weil der
wirflide Naturlauf die Beranlaffungen nicht erzeugt, denen ihre
Auflöfung gelingen Könnte, bilden die Atome für den Aufbau der
Erſcheinungen die unmwandelbar feften Punkte. An welchen höheren
Bedingungen au ihre eigene Eriftenz hängen mag: für die Erflä-
rung der einmal vorhandenen Natur Dürfen wir diefe Bedingungen
dahingeſtellt fein laſſen, weil fie beftändig in ihr erfüllt find, nie
verloren gehen und deshalb nie wieder von Neuem bergeftellt zu
werben brauchen.
Welche weiteren Borftelungen wir und über die Natur der
Atome zu machen Haben, kann nur nad den Andeutungen der Er:
fahrungen, dic uns überhaupt zu ihrer Annahme nöthigen, ent⸗
ſchieden werden, und Vieles hiervon bleibt der Zukunft vorbehal-
ten. Der unbefangenen Ueberlegung Liegt e8 am nädften, die
verjchievenen Eigenſchaften des Sichtbaren aud von verſchiedenen
Beichaffenbeiten ver kleinſten Elemente abzuleiten; die Wiffenfchaft
Dagegen bat ein natürliches Interefje daran, Die auseinandergehende
Mannigfaltigfeit der Erfcheinungen auf die möglich Heinfte Zahl
urfpränglich verfhiedener Principien zurädzuführen. Und in der
That lehrt die Unterſuchung fehr bald erkennen, daß viele zunächſt
weſentlich jcheinende Unterfchieve der Dinge doch nur von Verſchie⸗
89
benheiten ber Größe und Verbindungsweiſe an fich gleichartiger
Beitandtheile abhängen. Dennoch dürfte die Feftigfeit, mit welcher
manche Naturerzeugniffe unter höchſt wechſelnden Bedingungen ihre
charakteriſtiſchen Unterſchiede von amdern aufrechterhalten, den Ber:
fuch erſchweren, aus durchaus gleichen und gleihartigen Atomen nur
durch die Mannigfaltigfeit ihrer Berfnüpfungsarten alle abweichen:
den Formen der Körper und Berfchievenheiten ihres Verhaltens zu
erfären. Rein höherer Gefichtspunft verlangt übrigens dieſe Gleich⸗
heit der Atome; denn nicht darin befteht die Einheit des Weltgan:
zen, daß alle feine urſprünglichen Beſtandtheile identiſch feien,
fondern nur darin, daß die verfchiebenen in den Sinn eine® zu:
jammenfaffenden Plancs fi fügen.
Die Atomiftif der Alten mar von diefem Gedanken der Weſens⸗
gleichheit der Heinften Elemente beberrkht; und da der Zweck ber
Naturerflärung dennoch Unterſchiede derfelben verlangte, fo fuchten
fie diefe ausfhlichlih in der Mannigfaltigkeit der Formen und
Größen, welhe den Atomen zufämen. Aber ein völlig gleicher
Stoff ſchien vielmehr überall auch gleiche Form und Größe zu ver:
langen; fo fam man darauf, die Atome felbft aus noch Fleineren,
gleihartigen und gleich großen Theilchen zufammiengejegt und
ihre Formen von den Lagerungsverhältniffen diefer abhängig zu
denken. Die Atome waren daher nicht eigentlich einfache Elemente,
fondern ungertrennlihe Syſteme mehrerer Theilden. Dennoch
waren ſie, und nicht Diefe Theilchen, die Elemente des Natırrlaufes.
Denn die Berfnüpfungen jener Heinften Urbeſtandtheile zu ben
größeren und mannigfach geformten Geftalten der Atonıe jah man
als ewige und unwiderrufliche Thatfachen an, deren Begrändung
vor aller Schöpfung der beftehenden Welt und bamit außerhalb
des Kreifes naturwiſſenſchaftlicher Forſchung liegt. Jetzt, nachdem
die geſchaffene Welt einmal beſteht, vermögen alle Wechſelwirkun⸗
gen des in ihr noch fortdauernden Naturlaufes nur noch ſo viel,
die zuſammengeſetzten ſichtbaren Körper in ihre Atome, nicht aber
auch dieſe noch im ihre gleihartigen Urbeſtandtheile zu zerfällen.
Zu diefer Annahme einer unerklärlichen erſten Zuſammen⸗
40
fügung wird indeffen dieſe merkwürdige Vorftellungsweife nur durch
ihre Vorausſetzung von der völligen Gleichartigkeit der Meinften
Theilchen gedrängt. Denn allerdings Lich fih nun fein Grund
mehr finden, warum c8 durchaus feiner der im Naturlauf entftehen-
den Kräfte gelingen follte, die Verbindungsweiſe jener Theilchen in
einem Atome zu ftören und fie in die andere Form der Ber:
knüpfung überzuführen, in der fie in einem zweiten von jenem
verſchiedenen Atom fich befinden, und die ‚eben deshalb, weil fie
fich hier verwirklicht findet, der Natur jener Theilden nicht an
ſich zuwider fein fannı. Andere wide c8 fein, wenn wir jene
Borftellung der Alten fo erneuerten, daß wir nicht gleichartige,
jondern vielmehr weſentlich verfchiedene Urbeftandtheile zu den
Hleinen Gebilben der Atome vereinigt dächten. Jedes von biefen
“ würde dann umnzertrennlich fein können, weil zwifchen den Be—
ftantheilen eines jeden eine Wahlverwandtſchaft herrichte, Die
durch keine andere überboten werden Könnte, und jedes würde zu=
gleih eine beftimmte Größe und Geftalt befigen, weil nur bei
begrenzter Anzahl der Theile und beftimmter Lagerung derjelben
ihr gegenfeitiger Zuſammenhang Feftigfeit genug befäße, um jeder
Entreißung eines einzelnen zu wiberftehen. Auch dieſe Gebilve,
die durch ihre Ungerftörbarteit den Namen der Atome verdienten,
würden mithin nicht die legten und einfachſten Elemente ber
Körperwelt, wohl aber die legten fein, bi8 auf welche die Ver—
änderungen in der Natur zurüdgehen, und welde in allen Zufam=
menfegungen und Trennungen als die unwanbelbaren Baubeftanb-
theile erhalten werden.
Aber man ficht Leicht, daß diefe Vorftellungsmweife und zu
gleich geftattet, von einer räumlichen Ausbehnung jener Urbeftand-
theile gänzlich abzufehen und fie als itberfinnlihe Wefen zu be-
trachten, die von beftimmten Punkten des Raumes aus durch ihre
Kräfte ein beftimmtes Maß der Auspehnung beherrihen, ohne
es doch im eigentlihen Sinne zu erfüllen. Durch ihre Wechfel-
wirfungen würden dieſe unausgedehnten Punkte ſich ihre Ent-
fernungen von einander und ihre gegenfeitige Lage vorzeichnen,
41
und fie würden bierdurd die Umriffe einer Raumfigur ebenſo
beftimmt und fiher umfchreiben, al8 wenn fie das Innere Der-
felben durch ftefige Ausdehnung einnähmen. Und denken wir an
diefe einzelnen realen Punkte Kräfte der Anziehung und Ab—
ftoßung nah außen gefnüpft, fo würden größere Zuſammen—
häufungen derfelben durch ihren Wiberftand gegen eindringende
Gewalt die Erfheinung einer greifbaren Körperlichfeit oder durch
Zurückwerfung der Lichtwellen den Anblid einer farbigen Ober-
fläche ebenfo gut gewähren, al8 wenn die wirffamen Weſen mit
eigener ftetiger Ausdehnung den Raum erfüllten. Der Phyſik,
welcher die Fleinften Theile nur als Mittelpunkte ausgehender
Kräfte wichtig find, widerftrebt es nicht, diefen Schein einer aus—
gebehnten Materie aus einfachen überfinnlichen Wefen abzuleiten;
bie philofophifche Naturbetrachtung wird ſich zu diefem Berfuche
genöthigt ſehen, denn er allein verbindet die NTorftellung von ber
Einfachheit der wirklich legten Elemente mit der gleih unent-
behrlichen Bormenmannigfaltigfeit der Atome, die wir als die
nächſten Baubeftandtheile des Körperlichen vorausfegen müſſen.
Welche Vorſtellung wir uns indeffen von der Natur der
Atome bilden mögen: das mefentlichfte Bedürfniß der Natur:
erflärung wird dieſes fein, allgemeine Geſichtspunkte zu finden,
nach denen die Erfolge ihres Wirfens fi) an beftimmte Geſetze
knüpfen lafien. Das deutlihe Bewußtſein über diefe Grundlagen
ihrer Beurtheilung unterſcheidet die neuere Wiſſenſchaft völlig von
der Atomiftil der Alten, Die in ihren Verſuchen, die Erſcheinungen
aus wechlelnden Verbindungen der Elemente zu erklären, zmar
überall die Gefetze des Wirkens, an bie uns der alltägliche An=
blick der Naturereigniſſe gewöhnt hat, ftillfchweigend vorausſetzte,
ohne doch dieſe Grundfäge abfichtlidh hervorzuheben und die
Grenzen ihrer Gültigkeit zu unterfuden. Uns aber wird es nütz⸗
lich fein, zuzugeftehen, daß auch unfere Wiffenihaft Hierin noch
42
nicht vollendet ift, und Daß fie manche ihrer Grundfäge nur den
Ausſagen der Erfahrung verdankt, mithin, Durch neue Erfahrungen
vieleicht in Zukunft anders belehrt, ſich nicht jeder Umgeftaltung
von vorn herein verfhließen darf. |
Unbelannt bleibt und zunächſt das Innere der Atome.
Allein welche inneren Zuftände und Beftrebungen wir aud immer
in ihnen vorandjegen möchten, nie wird ſich Doch um ihretwillen
das Einzelne von felbft in Bewegung fegen, ohne durch feine
Beziehungen zu andern dazu genöthigt zu fein. Denn der Raum
an fi umgibt jedes Atom gleichförmig von allen Seiten, und
fein Punkt dieſer gleihgültigen Ausdehnung befigt einen Vorzug
vor den andern, um beöwillen das ruhende Atom fih nad ihm
aufmachen, oder das bewegte aus feiner Richtung nach ihm ab-
Yenfen müßte; einer entjpridht der Natur des Atoms befier als
ein anderer, fo daß es ihn fchneller auffuchte oder zögernder ver-
ließe. Jedes ruhende wird daher, fo lange nicht äußere Einflüffe
Hinzutreten, in Nube, und jedes bewegte in der Richtung und
Geſchwindigkeit feiner Bewegung verharren, bi8 nen dazwiſchen
wirfende Urſachen diefe hemmen oder ablenten.
Diefes Gefet der Beharrung, das aller unferer Beurtheilung
der Bewegungen zu Grunde liegt, bezeichnet gleihwohl einen
Fall, der nie in diefer Reinheit vorfommt. Denn cben jene
äußeren Urſachen, welche Richtung und Geſchwindigkeit des Fort-
gangs ändern, fehlen in Wirklichleit dem Bewegten niemals.
Das einzelne Atom umgibt der Raum nicht Ieer, fondern an
unzähligen Punkten durch andere, gleichartige oder verſchiedene
Atome bejegt. Zwiſchen ihnen allen, als Beftandtheilen derſelben
Welt, dürfen wir einen Zuſammenhang gegenfeitiges Fürein-
anderſeins vorausfegen, aus welchem eine unmittelbare Wechfel-
wirkung ihrer innern Zuftände entfpringt. Aber diefe innern
Erlebniſſe der Atome entgehen unferer Beobachtung völlig; nicht
fie macht daher die Naturwiſſenſchaft zu ihrem Gegenftand, ſon⸗
dern nur die räumlichen Bewegungen, die ihr äußerer Abdruck
und ihre Folge find. Zwiſchen zwei unveränderlichen Atomen
-
43
im leeren Raume Tann diefer Ausdruck ihrer inneren Wechlel-
wirkung nur in Verkürzung oder Verlängerung ihres gegenfettigen
Abſtandes befteben. Welcher von beiden Erfolgen in einem be-
fiimmten Falle eintreten, ob alfo die Erfheinung einer Anziehung
oder Abſtoßung entftehen wird, dies hängt von den umbelannten
inneren Beziehungen der wechſelwirkenden Atome ab und kann
deshalb nur durch Erfahrung von und gefunden werben. Nur
auf deu vereinigten Eindrud der Erfahrungen können wir ferner,
bis jegt wenigftens, die Negel gründen, daß die Lebhaftigfeit
jever Wechſelwirkung mit der wachſenden Entfernung ber‘ wirken⸗
den Elemente von einander abnimmt, mit ihrer fleigenden gegen-
feitigen Näberung wählt. Nach welchem bejonderen Maßitabe
fie aber nach der wechſelnden Größe des Abſtandes fich richtet,
auch Dies iſt far jeden einzelnen Fall nur nad den Ausſagen der
Erfahrung zu entſcheiden; dieſe allein endlich belehrt uns über
den Grad der Stärke, mit meldem überhaupt zwiſchen zwei
Atomen von beftimmter Natur Anziehung oder Abſtoßung ſich
entwickeln wird.
Die Fähigkeit oder die Röthigung, eine beftimmte Wirkung
hervorzubringen, Tiegt nach allem Erwähnten niemals in ber
Natur eines einzelnen Atomes oder eines einzelnen Körpers fertig
enthalten. Wie vielmehr die Nothwendigkeit eines Wirkens über⸗
Baupt nur aus der gegenfettigen Beziehung zweier Elemente ber-
vergeht, jo Tiegt auch die Entfheibung darüber, ob das eine fid
anziehend oder abftoßend verhalten werde, zugleich mit in ber
Natur des andern, gegen welches es dieſe Thätigkeit vichtet; bie
Größe des Einfluffes ferner, den jedes ausäbt, wird ihm theils
durch daſſelbe Verhältniß zu der eigenthümlichen Natur feines
Gegners, theils dur feine Entfernung von ihm, aljo durch
augenblicklich obwaltende Umftände zugemefien. Allein obgleich
auf dieſe Weife die beftimmte Kraft des Wirkens jevem Atom
eigentlich exft im Augenblide feines Wirkens zuwächſt, fo pflegt
doch die Naturwiſſenſchaft Die Kraft ale beftändig anhaftenn dem
Atom zu bezeichnen. Ste verſchuldet dadurch allerdings Miß-
44
verftändniffe bet denen, welche den Sinn diefer Ausdrucksweiſe
nicht in ihren Anwendungen verfolgen. Denn die Berfuhung
Tiegt nahe, die Kraft, die dem Stoffe beftändig anhaften fol,
als einen neuen und doc ftofflofen Stoff, als eine Eigenſchaft,
die doch verborgen bleibt, als eine Thätigfeit in Ruhe, oder als
ein Streben aufzufaffen, dem das Bewußtſein des Zieles ebenſo
wie die Willführ des Handelns und die Wirklichkeit der Aus-
übung fehle. Niemand würde diefelben Schwierigfeiten empfinden,
fprähen wir etwa von ber Kraft unfered Gemüthes, zu haſſen
oder zu Tieben. Wir wiffen, daß Liebe und Haß nicht von An-
fang an fertig als folde im unferer Seele Liegen, wartend auf
die Gegenftände, gegen die fie ſich wenden könnten; beide ent-
wideln fi) in beftimmten Maße erft im Augenblide der Be—
rührung unſeres Wefend mit einem fremden. Dennod dulden
wir den Ausbrud, daß die Kraft des Haffes und der Liebe
unferem Gemüthe eigen inwohne; wir wiffen, nichts damit fagen
zu wollen, als daß die beftändige Natur unferer Seele, jo wie
fie nun einmal ift, nothwendig unter dem Einfluffe beftimmter
Bedingungen die eine oder die andere jener Aeußerungen ent-
wideln merde. Mit demfelben Rechte des Ausdruckes verlegt
auch die Naturbetrachtung die Fähigkeit zu einer Leiſtung, die ein
förperliches Element nah Hinzutritt gewiffer Bedingungen er-
wirbt, als eine vorher fertige Kraft der Anziehung oder Wb-
ftoßung in deffen eigened Innere. Sie darf nicht beforgen, durch
biefe Abkürzung des Ausdruds zu Irrthiimern in der Anwendung
geführt zu werben; denn feine Anwendung des Begriffes der
Kraft ift möglich, ohne Daß ın jedem Falle die wahre Sachlage,
auf die fein Gebraud fi gründet, in anderer Form doch wieder
berüdfichytigt würde. Wir ſprechen von den Atomen nicht, fofern
ſie nicht wirken, fondern fofern fie wirfen; aber wir können von
feiner Wirfung des einen fprechen, ohne das zweite zu erwähnen,
von dem fie erlitten wird; und wir können zwiſchen dieſen beiden
feine Anziehung oder Abſtoßung geichehen laſſen, ohne zugleich
eine beftimmte gegenfeitige Entfernung beider im Anfangsaugen-
45
blick des Wirkens vorzuftellen und von Diefer die Größe der ent-
widelten Kraft nad) einem erfahrungsmäßig befannten Gefege ab-
zuleiten. So ift e8 daher für alle Anwendung gleichbedeutend, ob
wir behaupten, daß aus den inneren Beziehungen der Elemente
gegen einander jedem einzelnen die Nöthigung zu einer beftimmten
Form und Größe der Wirkung erft im Augenblide unter dem
Einfluß der vorhandenen Umftände entftehe, oder ob wir fagen,.
daß von manderlei Kräften, die fertig, aber unthätig in dem
Atome fhlummern, in jedem Augenblid diejenige zur Ausübung
gelange, die in den eben vorhandenen Umftänden die Bedingungen
ihrer Wedung und Acuferung finde. Doc hatte die Phyſik aller:
dings Grund, die legtere Form des Ausdrucks als bequemer für
die Anwendung vorzuziehen.
Liegen die inneren Zuftände, Die vielleicht jedes Atom im
Augenblide feines Wirkens erfährt, feine Natur fo verändert zurüd,
daß e8 auf eine völlig gleiche fpätere Anregung anders zurückwirkte,
al8 auf die frühere, jo würden wir von beftändig ihm anhaftenden
Kräften nicht ſprechen können. Die Erfahrung hat im Allgemeinen
eine ſolche Veränderlichkeit nicht Fennen gelehrt. Ein chemifches
Element, nachdem es bald mit diefem bald mit jenem andern zu
einer innigen Berbindung zufammengetreten und aus derfelben
wieder ausgeſchieden ift, Eommt am Ende diefer Schidfale mit kei—
nen andern Eigenfhaften wieder hervor, als die waren, mit Denen
e8 in die erfte diefer Verbindungen eintrat. Und mo es fi etwa
anders zu verhalten fcheint, Liegt der Grund der augenblidlich ver-
änderten Eigenfchaften in der noch anhaltenden Fortwirkung der
Borgänge, die feine legte Ausſcheidung begleiteten. Wie-viele und
wie verſchiedene Zuftände alfo das Atom erfahren habe mag,
immer gebt es aus diefen wechjelnden Lagen als völlig daſſelbe
wieder hervor und erwirbt keine neuen Gewohnheiten, wie ſich deren
in zufammengefegten Gebilden entwideln, noch zeigt jih in ihm
eine Spur von Gedächtniß, Durch welches die vorübergegangenen
Zuftände mit maßgebend für das Verhalten der Zukunft würden.
Seine Wirkungsweise läßt fih daher voraus beftimmen, wenn wir
46
feine ursprüngliche Natur und die Summe aller augenblicklich noch
fortwirtenden Bedingungen kennen, ohne daß es nöthig ift, den
Berlauf der Gefchichte zu berüdfichtigen, welche e8 zwiſchen zwei
Zeitpunkten erlebt hat, Diefe beftändige Rückkehr zu gleichem Ber-
halten unter gleihen Bedingungen ift es eigentlich, worein wir
Die Unveränberlicleit der materiellen Atome fegen. Denn nicht
dies blrfen wir behaupten, daß ihre Natur überhaupt niemals
Beränderungen ihrer inneren Zuſtände erfahre; aber diefe Verän-
derungen erlöfchen, wenigftend was ihren Einfluß auf das DVer-
halten nach außen betrifft, mit dem Aufhören ihrer äußeren Be—
dingungen, und überall wo die legten genau zu einer früheren Eon-
ftellation zurückgekehrt ſind, kehrt auch das Atom zu demjenigen
feiner Zuftände, der diefer entſprach, mit vollfommener Elafticität
zurück und tritt num wieder ald diefelbe Kraft oder Diefelbe Laſt,
wie damals, in das Spiel der weiteren Wechſelwirkungen ein.
Unfere Kenntniß der Erfcheinungen ift nicht jo umfaſſend, daß
wir wagen dürften, dieſe Unveränderlichkeit als eine durchaus all-
gemeine Eigenſchaft aller Naturelemente auszufpreden. Es ift wohl
möglih, daß in Gebieten, in denen wir noch am Anfange der
Unterfuhung ftehen, Andeutungen einer fortfchreitenden inneren
Entwidlung der Atome fi} ergeben. Allein wie die bisherige
Erfahrung eine Nothwendigkeit diefer Annahme nicht fühlbar ge-
macht hat, fo läßt fih auch im Allgemeinen leicht überfehen, daß
wenigftens in beſchränkter Ausdehnung die Unveränderlichfeit der
Elemente immer ihre Geltung wird behaupten müffen. Denn ein
Bau der Natur, in weldent die Gattungen der Geſchöpfe ſtets
diejelben Geftalten und dieſelbe Gliederung ihrer gegenfeitigen
Berhältniffe, der Lauf der Ereigniffe im Großen ftet8 dieſelben
Umriffe forterhalten fol, ift nicht denkbar, wenn die Elemente jelbft,
aus denen dieſe Mannigfaltigkeit ſich ſtets von neuem erzeugen
fol, auch ihrerſeits einer beftändigen Veränderung unterliegen.
Bielleiht duchläuft nun in der That die ganze Natur eine fort-
ſchreitende Entwidlung; aber fo groß ift nach dem Zeugniß der
Erfahrung ihre Beftändigkeit- Doch immer, daß wir alle Zeiträume
47
ihres Daſeins, die wir geſchichtlich Überbliden können, nur unter
der Borausfegung unveränderlidder Elemente verftehen, Die nad
jevem abgekhloffenen Umlauf der äußeren Bedingungen ebenfalls
auf den anfänglichen Zuftand ihres Weſens zurückkommen und fo
der Erneuerung deſſelben Spieles die alten Anknupfungspunkte
wieder verfchaffen.
Bietet num diefe Annahme die allgemeinfte Grundlage für
Die Vorherbeſtimmung eintretender Wirkungen, jo hat die Erfah-
rung ebenſo Die ausgedehnte Gültigkeit einer andern Vorausfegung
beftätigt, nach der wir die Erfolge beurtheilen, die aus dem Zu-
ſammenwirken mehrerer Bedingungen an demfelben einfaden Ele-
ment entſtehen. Die Bewegung, in der cin Atom ſich bereits be⸗
findet,. hindert nicht die Annahme einer zweiten; nicht wiberftre-
bend ober nur zum Theil, ſondern jo vollfommen genügt das be>
wegte Atom auch dem andern Antriebe, als wäre die frühere Be=
wegung in ihm nicht vorhanden gewefen, und die Geſchwindigkeit,
bie e8 im Ganzen erlangt, ift die vollftändige Summe der eins
zelnen Geſchwindigkeiten, die ihm durch diefe verfchiedenen Kräfte
nad; gleicher Richtung mitgetheilt werden. Denken wir num dieſe
mebreren Kräfte als völlig gleich unter einander und verbinden fic
in beliebigen Mengen zu der Vorftellung von Gefammtlräften,
deren Größe wir dann nad) der Anzahl der einfachen und glei-
den Auftöße ſchätzen, die jede von ihnen in ſich vereinigt, jo läßt
ſich dem Borigen leicht der Sag entnehmen, daß die Geſchwindig⸗
feiten, die durch verfchtedene Kräfte demſelben Element mitgetheilt
werden, fi; wie die Größen Ddiefer erzeugenden Kräfte felbft ver-
halten. Erneuert ferner eine Kraft, ftetig wirkend, in jedem
Augenblide venfelben Anftoß, den fie im vorigen gab, jo wird die
erzeugte Geſchwindigkeit im Verlauf der Zeit durch Die beftändige
Summirung der fpäteren Eindrüde mit den nach dem Gejege ber
Trägbeit fortbauernden früheren wachſen und die Bewegung wird
48
in jene beſchleunigte übergeben, die wir unter Anderem in dem
Falle der Körper durch die ſtetige Anzichung der Erde entſtehen
ſehen. Verſuchen endlich verſchiedene Kräfte mit verſchiedenen Ge-
ſchwindigkeiten und Richtungen daſſelbe Elcment gleichzeitig zu be=
wegen, jo wird e8 aud) bier keineswegs, der einen allein gehorchend,
fih den andern entziehen, fondern den Antrieben aller zugleich ge—
nügen. An dem Ende eines beftimmten Zeitraumes befindet fich
daher das Element durch das Zufammenmwirken zweier Kräfte an
demfelben Orte, den e8 erreicht haben würde, wenn c8 beiden nach
einander geborchend fich zuerft in der Richtung der einen, und
während eines zweiten gleichen Zeitraumes von dem nun crreich-
ten Orte aus in der Richtung der andern Kraft bewegt hätte.
Sudt man nad) derfelben Vorausfegung die Orte auf, an denen
ſich das Bewegte am Ende des erften, des zweiten und jedes fol-
genden unendlich Heinen Abſchnittes jenes Zeitraumes befindet, fo
bezeichnet die Linie, welche diefe Punkte unter einander verbindet,
Die gerade oder Frummlinige Bahn, die das Element unter dem
Zuſammenwirken beider Kräfte wirklich durchläuft. Sie zieht ſich
in einen Punkt zufammen und da8 Element ruht, wenn die Sum-
men der Kräfte gleich find, Die es nad) entgegengefegten Richtungen
treiben.
Findet endlich zwiſchen zwei Elementen die Nothmendigfeit
einer Wechſelwirkung einmal ftatt, fo findet fie ganz ebenfo ftatt,
wenn dem einen nicht mehr eines, fondern eine Mehrheit gleich-
artiger, einzeln oder zu einer Maffe vereinigt, gegenüberftcht. ‘Die
Empfänglicfett für Wechſelwirkung ift auch bier nicht fo erichöpf-
bar, daß das eine Element feinen Einfluß ‚nur auf eine beftimmte
Anzahl anderer erftreden oder die Größe deſſelben zwifchen Diefe
vertheilen müßte. Welches vielmehr auch die Anzahl diefer feiner
Gegner fein mag, zwiſchen ihm und jedem einzelnen derſelben ent-
ſpinnt ſich die Wechfelwirkung ganz ebenfo, wie fle ausfallen witrde,
wenn alle übrigen nicht vorhanden wären. Jedem derfelben ertheilt
daher das eine Element, und von jedem derfelben empfängt es ein=
mal die Gefhwindigfeit, die Überhaupt der Wechſelwirkung zwiſchen
49
Atomen ſolcher Gattung entfpriht. Es ſammelt alfo ebenfo viel-
mal in ſich ſelbſt diefe Geſchwindigkeit, als die Maſſe feines Geg-
ners ihm felbft gleiche Elemente vereinigt, deren jedem es einmal
diefelbe Geſchwindigkeit mittheilt. Nennen wir daber Größe der
Bewegung das Product aus der Gefchmwindigkeit in Die Anzahl
der gleichartigen bewegten Theile oder in ihre Mafle, fo erhält
jedes der beiden Glieder eined wechſelwirkenden Paares Diefelbe
Dewegungsgröße, jedes mithin eine Geſchwindigkeit, welche wächſt,
je größer fein Gegner und je Heiner feine eigne Maſſe if. Die-
je8 Geſetz der Gleichheit der Wirfung und Gegenwirkung geftattet
in Berbindung mit dem Borigen eine Beftimmung ber Bahnen,
welche ungleih große Maſſen, fie mögen urſprünglich in Ruhe
oder in Bewegung gewefen fein, durch ihre gegenfeitigen Kräfte
einander vorfchreiben.
In allen diefen Regeln der Bertheilung zuſammengeſetzter
Ereigniſſe liegt die allgemeine Vorausſetzung, daß die Wechſelwir⸗
kung, in welcher ſich ein Element mit einem zweiten befindet, kei⸗—
nen Einfluß auf das Gefeg ausübe, nach welchem es gleichzeitig
in Wechfelwirkung mit einem dritten treten fol. Nicht die Wir-
kungsweiſe der einzelnen Kraft fondern nur ihr Erfolg wird dur
das Zufommentreffen mit andern gleichzeitig einwirkenden verändert ;
denn in dem Erfolge allerdings müſſen die entgegengefchten An-
triebe verſchiedener Kräfte, denen dafjelbe Element nicht gleichzeitig
folgen Tann, fi aufheben, die übrigen aber zu einer mittleren
Sefammtleiftung ſich zufammenjegen. Diefe Borausfegung nun
ift Die einfachfte und günftigfte fir die Beftimmung der Effecte,
die das Zuſammenwirken mehrerer Bedingungen heroorbringt; denn
fie geftattet, die Leiftung jeder einzelnen Kraft zunächſt für ſich
und ohne Nücdficht auf die Übrigen zu berechnen, und dann die
gefundenen einzelnen Erfolge zu einem Endergebniß zu verbinden.
Und demfelben Grundgedanken würde man ferner zu folgen geneigt
fein, wenn man angenommen bätte, daß nicht allein der Größe
fondern aud der Art nad verſchiedene Kräfte ſich gleichzeitig am
demfelben Atome begegneten. Auch bier wiirde man vorausſetzen,
Loge J. 3. Aufl. 4
50
daß ihre Kreuzung nicht die einzelnen Gefege ändere, nach denen
das Element gegen jede derfelben einzeln zurückwirkt oder von ihr
leidet; nur im Erfolge würden auch hier fih die entgegengefegten
Leiftungen aufheben, die von den verjchiedenen Kräften ihrem ge=
meinſchaftlichen Objecte zugleich zugemutbet werden. Aber wir
würden do in der That nicht angeben fünnen, wie weit bie
Gültigkeit dieſer Vorftellungsmeife reiche. Denn jene Gleihgültig-
feit, mit welcher verſchiedene Kräfte in demfelben Element neben
einander wirken, ohne fich gegenfeitig zur Veränderung ihres Stre—
bens zu veranlaffen, tft Feine an fi nothmwendige Annahme; fie
kann im Gegentheil unter mehreren möglichen als die unmwahr:
ſcheinlichere gelten.
Berbindet zwei Perfonen gegenfeitige Zuneigung, und fteht
jede für fih in gleich freundlichem Verhältniß zu einer dritten,
io Laßt doch nicht immer der Hinzutritt der legten die Gefinnungen
zwifchen den beiden erften unverändert; er wandelt eben fo oft
ihre frühere Freundſchaft in Zwiefpalt um, oder die früher ent-
zweiten vereinigen fi) zu gemeinfamer Abftogung des Dritten.
Diefes Beifpiel, aus einem ganz fremdartigen Gebiete entlehnt,
hat vieleicht Feine tiefer Tiegende Aehnlichkeit mit dem einfachen
Falle, der uns beſchäftigt, aber c8 erläutert anfhaulich, was wir
nun ohne Gleichniß allgemein ausprüden können. ‘Denken wir die
Wechſelwirkungen der Dinge nit äußerlih an fie geknüpft, fon-
dern, wie wir müffen, von Veränderungen ihrer inneren Zuftände
entweder abhängig oder Doch begleitet, fo ift jedes Element im Augen=
blide feines Wirkens im Grunde ein anderes, als e8 vorher war,
oder nachher fein wird. Wohl kann ed nun fein, daß dad Geſetz,
nad dem c8 aus feinem unthätigen Zuftande heraus mit einem
zweiten in Wechſelwirkung getreten fein würde, auch jest noch für
das ſchon thätige Element gültig bleibt; denn die Veränderung
des inneren Zuftandes, die mit feinem Wirken verbunden ift,
braucht nicht nothmwendig jene Züge feiner Natur anzutaften, auf
denen feine Unterordnung unter dieſes Gefeg beruhte. Und dann
wird der erwähnten Annahme gemäß jede neue Wechſelwirkung
51
ebenfo beginnen, als wäre die frühere nicht vorhanden. Aber
gewiß iſt e8 im Allgemeinen ebenjo denkbar, daß eine fchon vor
fih gehende Thätigfeit den innern Zuftand des wirkenden Elementes
zu weſentlich abändert, ald daß es nun gegen ein anderes ſich
nach dem früheren Gejege feiner Wirkfamfeit noch ferner äußern
könnte. Denn die Kräfte, wie wir gefehen haben, find nicht un-
zerſtörbare Eigenthiimlichfeiten, die ohne Rückſicht auf alle Verhält⸗
niffe an der Natur eines Elemente beftändig haften; fie und
ihre Gefege find nur Ausdrücke jener Nöthigungen zur Wechfel-
wirkung, bie für die Dinge allemal erft aus ihren gegenfeitigen
Bezichungen entfpringen. Aendern fih die inneren Zuftände ber
Dinge, jo können mit ihnen dieſe Beziehungen fi ändern, und
fo fih Antriebe zu neuen anders geftalteten Wirkungen, alfo neue
Kräfte oder neue Gefege derfelben entwideln. Ohne Zweifel Dürfen
wir e8 daher als einen möglichen Gedanken bezeichnen, daß auf
eine freilich ſelbſt geſetzliche Weife fih auch das Wirkungsgefet
einer einfachen Kraft mit den wechſelnden inneren Zuſtänden ihres
Trägers ändere.
Die Erfahrung hat allerdings in den Gebieten, die einer ge=
nauen Theorie bisher zugänglich geweſen find, kaum noch Spuren
gezeigt, welche auf eine praftifche Wichtigkeit Diefer allgemeinen
Betrachtung hindeuten; dennoch müffen wir die Unveränderlichkeit
der Wirkungsgefege, fo weit fie vorkommt, als eine jener Erfah-
rungsthatſachen betrachten, welche uns über die Grundzüge des
wirklichen Weltbaues aufklären, aber wir dürfen fie nicht für eine
an ſich nothiwendige Einrichtung anfehen, die in jeder Natur,
oder auch nur in diefer Natur uneingeſchränkt vorfommen müßte.
Und nod weniger würden wir und erlauben dürfen, ſie ſtillſchwei⸗
gend auch auf das Gebiet des geiftigen Lebens überzutragen, als
habe fie ein Recht, ohne befondere Beftätigung der Erfahrung
fir die allgemeine Regel in allen Ereigniffen überhaupt zu gelten.
Raum ift e8 endlich nöthig hinzuzufügen, daß überhaupt von ihr
nur in Bezug auf jene einfachen Kräfte die Rede fein kann, die
wir der Natur eines einzelnen Elementes in feinem Verhältniß
“
52
zu einem zweiten beftändig zufehreiben. Die Gejammtleiftungen
größerer Verbindungen von Elementen find dagegen natürlich von
ber Berbindungsweife diefer Beftandtheile abhängig, und feine
allgemeine Regel würde fi über die Veränderungen aufftellen
laſſen, die ſolche Kräfte durch die mannigfachen möglichen Ber-
ſchiebungen der verbundenen Elemente erleiden fünnen. Manches
kann in einem fo zufammengefetten Syſtem durch äußere Eindrücke
unheilbar zerrüttet werben, und die Rückkehr derjelben äußeren Be—
dingungen würde ihm nicht bie Fahigkeit zu derſelben Rüdwir-
fung wiedergeben, die e8 unter gleichen Bedingungen früher ent-
faltete. Bon den einfadhen Elementen dagegen würden wir eine
folde Abnutzung ausfchliegen, und felbft wenn die erwähnte
Beränderlichkeit ihrer Wirkungsweise: ftattfände, würden mir doch
immer voraußfegen, daß jeder Wiederholung einer völlig gleichen
Conftellation der äußern Beringungen auch eine Wiederkehr der
nämlihen Wirkungsgeſetze entſpreche.
Von ſolchen Grundlagen ausgehend hat die Wiſſenſchaft Er—
klärungsgründe für die Naturereigniſſe entwickelt, indem ſie dieſen
allgemeinen Sätzen beſtimmte, den erfahrungsmäßig vorkommenden
Verhältniſſen möglichſt angenäherte Combinationen von Umſtänden
unterordnete und die Erfolge berechnete, welche die vorhandenen
Kräfte unter diefen Umftänden beroorbringen müffen. Sie ift
hierdurch theils zur vollftändigen Aufbellung einzelner Kreife von
Erſcheinungen, theils wo die zu große Anzahl mitwirkender Be-
dingungen ihre unmittelbare Berechnung erſchwert, wenigftens zu
allgemeinen Geſichtspunkten gefommen, durch welche Die zu erwar-
tenden Erfolge in gemwiffe Grenzen eingefchloffen werden. So
würde ſich aus der Gleichheit von Wirkung und Gegemvirfung
leicht die Folge entwideln laſſen, daß die inneren Wechſelwirkungen
eined verbundenen Maſſenſyſtems zwar feine Form, aber nicht
feinen Ort im Raume ändern können, oder daß bei allen inneren
Beränderungen eined Syſtems doch fein Schwerpunft in Ruhe
bleibf, wenn er in Ruhe war, over ohne Veränderung feiner _
Richtung und Geſchwindigkeit eine ihm früher eigene Bewegung
53
fortfegt. Jeder Ortöwechjel, der durch die eigenen Kräfte eines
Körpers eingeleitet wird, fest daher die Wechſelwirkung mit ir-
gend einem Xeußeren voraus, das als Stügpunft oder richtunge
beftimmender Widerftand dient. Die Betrachtung des Lebens,
der wir zueilen wollen, nöthigt uns nicht, in dieſe Einzelheiten
der phyſikaliſchen Dynamik: einzugehen; fie veranlaßt uns dagegen,
noch einige andere Bemerkungen über die Auffaffungsmeifen der—
felben hinzuzufügen.
In unferem geiftigen Leben finden wir die Größe vieler
Thätigkeiten von der Zeit abhängig; das Intereffe des Gefühls
an ben Gegenftänden, die Klarheit der Vorftellungen, die Kraft
des Willens: fie alle fcheinen ohne neue Anregungen im Laufe
der Zeit abzunchmen. Der gewöhnlichen Meinung muß es daher
am wahrfcheinlichften vorkommen, daß jede Wirkung überhaupt,
mithin auch die Acußerung jeder Naturkraft einer folden allmäb-
Iihen Ermüdung und Erſchöpfung unterliege. Daß eine mitge-
theilte Bewegung am Ende von felbft aufhöre, ift deshalb lange
die gewöhnliche Borausfegung geweſen und das Geſetz der Behar-
rung erſchien ihr gegenüber als eine fonderbare Entvedung ber
Wiſſenſchaft. Auch in dem Geifte ift es natürlich nicht Die Zeit
ſelbſt, welche die Kraft der Thätigfeit verzehrt, ſondern die vielfachen
Ereigniffe, die ſich in ihm beftändig kreuzen, hemmen durch ihre
wechfelfeitigen Einfläffe die ungefchmälerte Fortdauer jedes einzel-
nen. In den einfachen Elementen der Natur findet entweder
biefe Vielheit innerer Zuftände nicht ftatt, oder fie äußert feinen
Einfluß ähnlicher Art; denn fo weit wir bie Geſchichte der Er⸗
ſcheinungen überbliden innen, find die Kräfte gleicher Maſſen
zu allen Zeiten diefelben geweſen. Keine von ihnen nimmt nur
um deswillen ab oder zu, weil fie bereitö eine Zeit hindurch ge=
wirft bat, und wie fie feine Erſchöpfung erfährt, fo erwirbt auch
feine durch Wiederholung ihrer Ausübung eine Gewohnheit des
vollfonnnneren Wirkens. Fur jede Fähigkeit zu einer Leiftung, die
wir irgendwo neu entftehen fehen, werben wir daher den Grund
in einer neuen Ocftaltung der veränderlicen Umftände fuchen
54
müffen, durch welche den ftet8 gleichen Kräften Hinderniffe ihres
Erfolges binweggeräumt oder früher fehlende Bedingungen ihrer
Aeußerung gewährt worden find; für jedes ſcheinbare Erlöſchen
einer Kraft werben wir ebenfo den Grund in Veränderungen ber
gegenfeitigen Beziehungen der wirkenden Maffen fuchen, die ent-
weder die fernere Aeußerung durch Widerftand aufheben, oder fie
dur Bertheilung auf einen wacjenden Kreis von Objecten für
unfere Beobachtung unmerflih machen. Für jede Erklärung eines
[päteren Zuftandes muß daber das Fortwirken des früheren mit
dem Werthe, den er augenblidlih noch hat, als die eine, und
bie Summe aller neu eingetretenen Umftände als die andere
Mitbedingung des neuen Erfolged in Anfchlag gebracht werden.
Man fieht, wie wir durch diefe Betrachtungen mit Nothiwen-
digkeit dahin geführt werben, jede VBeränderlichfeit der Wirkungs-
weife, jeve Mannigfaltigfeit der Entwidlung und alle Vielſeitigkeit
der Aeußerungen, die wir in irgend einem Naturgebilde antreffen,
theil8 auf innere Bewegungen, durch welche die Beziehungen feiner
eigenen Theile raſtlos umgeftaltet werben, theils auf wechſelnde
Berhältniffe zurüdzuführen, die c8 mit der Außenwelt verknüpfen.
Daft Alles aber, was in der Natur unfere lebbaftefte ZTheil-
nahme feffelt, gehört zu dieſem Gebiete der veränderliden Er-
[heinungen, und unter allen zieht am meiften das organifche Leben
und Die in einander greifende Ordnung der Ereigniffe im Großen
unfere Aufmerkſamkeit an. Unvermeidlih muß die Wiſſenſchaft
auch Über diefe Erfheinungen jene Grundfäge ihrer Unterfuhung
ausdehnen, und ebenfo unvermeidlich wird fie vorübergehend wc=
nigftend den böfen Schein auf fih nehmen müſſen, als gewährte
fie der fuchenden Phantafie nirgends ein Inneres, nirgends wahre
Lebendigkeit. Denn wenn unfer unbefangenes Gemüth eben da⸗
rum das Bild des Lebens verehrt, weil e8 in aller feiner Man—
nigfaltigfeit doch nur die zufammenbängende Fülle Eines Wefens,
in aller beweglichen Bielfeitigfeit feiner Entwidlung nur die all:
mähliche Entfaltung eines und deſſelben unverlierbaren Charakters
fieht: fo können wir nit leugnen, daß die Wiffenfchaft allerdings
55
den Werth diefes ſchönen Bildes vernichtet, indem fie feine ein-
zelnen Züge aus vielerlei zerftreuten Bedingungen, die nicht von
einander wiffen, zufammenfegt. Die Dinge leben nicht mehr
aus fi heraus, fondern durch die wechſelnden Umftände wird an
ihnen ein veränderliches Geſchehen hervorgebracht, das wir zwar
ihr Leben noch nennen, ohne doch das angeben zu können, was
als Einheit dieſen Wirbel neben einander ablaufender Ereigniſſe
zu einem Ganzen innerlich verſchmölze. Dieſer Vorwurf einer
äußerlichen, muſiviſchen Zuſammenſetzung deſſen, was nur aus
einem Guſſe hervorgehend für uns Werth zu haben ſcheint, iſt
den Erklärungsverſuchen der Naturwiſſenſchaft nic erſpart worden
und wir ſind weit davon entfernt zu verlangen, daß er nicht ge—
macht werde. Denn dieſe Stimmen ſind es immer geweſen, deren
Zuruf die Unterſuchung, wenn ſie mühevoll durch die Verwicklungen
der einzelnen Erſcheinungen ſich hindurch kämpfte, an die großen
Ziele erinnerte, um deren willen allein ihre ganze Bemühung
menſchliches Intereſſe hat; ſie haben überall die Ausſicht auf
einen unermeßlichen Geſichtskreis von Neuem eröffnet, wo die Be—
friedigung, die wir aus der theilweis gelungenen Hinwegräumung
ber nächſten Schwierigfeiten fchöpfen, uns zu vorzeitigem Abſchluß
unferer Anfichten verleiten wollte. Aber indem wir auf das Aus:
drüdlichfte Die volle Berechtigung diefer Einwürfe anerkennen,
müflen wir doch Hinzufügen, daß es Feiner der Auffaflungsweifen,
von denen fie am lebhafteften gemacht zu werden pflegen, biöher
gelungen ift, mit Umgehung der Grunbfäge der mechaniſchen Na=
turwiſſenſchaft gleich unbeftreitbare und eben jo fruchtbare Erfolge
zu erringen, wie fic mit diefen Grundſätzen auf allen Gebieten
der Naturerflärung bereit8 gewonnen worden find. Nicht durch
eine Ablenkung von dem Wege, den wir bisher genommen, fondern
durch feine Verfolgung bis zum Ende dürfen wir deshalb hoffen,
auch diefer Sehnſucht des Geiſtes gerecht zu werben, welche zu-
rückzuweiſen keineswegs in dem Sinne der mechaniſchen Natur:
auffafſung Liegt.
Denn mit Unrecht fügt man zu jenem Vorwurf, daß ſie Die
56
Einheit des Lebendigen ftöre, den andern hinzu, daß fie auch Die
einfachen Elemente, aus deren Verbindung fie Alles berleite, noth⸗
wendig als lebloſe und innerlich weſenloſe Punkte betrachte, an
die nur äußerlich Kräfte mannigfadher Art gefnüpft feien. Sie
enthält fich vielmehr nur der Behauptungen, die für die Erreihung
ihrer nächften Zwecke unnöthig find; und für ihre Zwecke allerdings
reicht fie mit jener Annahme aus, welche die Atome lediglich als
Anfnüpfungs- und Mittelpunfte aus- und eingehender Wirkungen
betrachtet. Denn nachdem uns die Erfahrung gelehrt bat, daß
die inneren Zuftände der Atome, wenn fie deren erfahren, doch
feinen umgeftaltenden Einfluß auf die Gefeglichkeit ihres Wirken
äußern, dürfen wir diefelben aus der Berechnung der Erfcheinungen
weglaffen, ohne fie deshalb aus dem Ganzen unferer Weltanficht
überhaupt verbannen zu müſſen. Im Gegentheil würde eine
weiterfortgehende Meberlegung uns bald zu dem Gedanken zurüd-
führen, den wir der bißherigen Darftellung überall fogleich zu
Grunde gelegt haben, zu dem nämlich, daß Kräfte fih nit an=
nüpfen laſſen an ein Ieblofes Innere der Dinge, fondern daß
fie aus ihnen entfpringen müffen, und daß Nichts ſich zwiſchen
den einzelnen Wefen ereignen kann, bevor fih Etwas in ihnen
ereignet hat. Alle jene äußerlichen Begebenheiten der Verknüpfung
und Trennung werden daher auf einem innerlichen Leben der
Dinge berufen oder in einem foldhen ihren Widerhall finden,
und wenn die Naturwifjenfchaft die Einheit zufammengefester Ge⸗
bilde duflöſt, jo wird doch jedes einzelne Element des Moſaiks,
das fie an ihre Stelle fest, ein lebendiger und innerlich erregter
Punft fein. Ich bezweifle nicht, daß dieſer Erſatz, der einzige,
den wir zunächſt bieten zu können fcheinen, nicht blos für einen
kärglichen, fondern Vielen felbft für einen unmöglichen gelten
wird. Meberlafien wir e8 den fpäteren Betrachtungen, ſowohl feine
Möglichkeit nachzuweiſen, als zu zeigen, daß feine Bedeutung doch
weit größer ift, als fie ſcheint. Vielleicht finden wir auch, daß
nod in einem andern Sinne aud für uns jene zufammenfaffende
Einheit der auseinanderfallenden Ereigniffe möglich ift, ohne daß
57
wir genöthigt werden, die Geltung der mechanischen Natunviflen-
{haft zu leugnen, zu deren Anerkennung wir willig oder wider
willig doch immer wieder durch den Geſammteindruck unferer
Beobachtungen zurüdgezwungen werben.
Drittes Kapitel.
Der Grund bes Lebens.
Die chemiſche Vergänglichlelt des Körpers. — Wechſel feiner Veſtandtheile. — dort⸗
pflanzung und Erhaltung ſeiner Kraft. — Die Harmonie ſeiner Wirkungen. —
Die wirkſame Idee. — Zweckmaͤßige Selbſterhaltung. — Reizbarkeit. — Die Nas
ſchinen der menſchlichen Kunſt. —
Nur langſam haben auch in unſerer Zeit die Grundſätze,
welche wir ſchilderten, Eingang in die Betrachtung des Lebendigen
gewonnen. Die planvoll aufſteigende Geſtalt der Pflanze und
bie unberechenbare Regfamleit des Thieres ſchied eine zu große
Kluft von der Starrheit und Negellofigfeit ihres unorganifchen
Wohnplatzes, als daß die unmittelbare Anſchauung noch ein Gefühl
weſentlicher Gemeinſchaft zwiſchen beiden Gebieten der Wirklichkeit
erwedt hätte. Mit der Mannigfaltigfeit ihrer inneren Gliederung,
Die cine Fülle der verfchiebenartigften Zuftände in fefter Ordnung
aus fi entwidelte, überwältigte die Erfheinung des Lebens die
Einbildungskraft; Fein Zweifel ſchien übrig, daß ein Kreis von
Borgängen, defien Sinn und Bedeutung fo unvergleichlich Alles
überragt, was Natur und Kunft außer ihm gefchaffen, unvergleich⸗
lich auch in feiner Entftcehung fein müſſe. So bildete fih jene
Borftelung von einer eigenthämlichen Lebenskraft, deren weſent⸗
lichen Sinn wir früher ſchon gefchilbert, und deren einzelne Be⸗
hauptungen wir jet fo erwähnen wollen, wie fie den vordringenden
Anfprüchen der mechanischen Naturauffaffung, fruchtlos wie uns
ſcheint, entgegengeftellt werden. Wie groß aud der Unterfchieb
58
des Lebens von dem Unlebendigen in Bezug auf die Gedanken
fein wird, zu deren Darftellung in der Welt der Erſcheinungen
beide berufen fein mögen, fo wenig darf doch die Wiffenfchaft den
urfächlihen Zufammenhang der Verwirflihung und Erhaltung des
Lebens auf andere Geſetze und Kräfte zurückführen, als in der übrigen
Natur gelten, aus der auch das Xebendige ſich entwidelt und in
die e8 vergehend zurückkehrt. So lange jener Zuſammenhang
obwaltet, den wir ſchon früher als den entſcheidenden Punft für
unfere Anfichten hervorhoben, folange das Leben alle feine Mittel
aus dem allgemeinen Borrath der Natur fchöpfen muß und nur
an den Stoffen, die diefe darbietet, fi) entwideln ann, fo lange
wird e8 alle Eigenthüimlichfeiten feiner Entfaltung nur der voll-
ftändigen Fügſamkeit verdanken, mit der e8 fi) den Geſetzen des
allgemeinen Naturlaufs unterwirft. Nicht durch eine höhere,
eigenthümliche Kraft, die fich fremd dem übrigen Geſchehen über-
ordnete, nicht durch unvergleichlih andere Geſetze des Wirkens
wird das Lebendige ſich von dem Unlebendigen unterjcheiden, fon-
dern nur durch die befondere Form der Zufammenorbnung, in
Die es mannigfaltige Beftandtheile fo verflicht, Daß ihre natürlichen
Kräfte unter dem Einfluffe der äußern Bedingungen eine zufam-
menhängende Reihe von Erfcheinungen nad) denfelben allgemeinen
Geſetzen entwideln müffen, nach denen auch fonft überall Zuſtand
aus Zuftand zu folgen pflegt. So wenig wir nun bereits im
Stande find, die ganze verwidelte Fülle der Lebensvorgänge in
dem Geifte diefer Auffaffung vollftändig zu erflären, fo leicht wird
ſich doch zeigen laſſen, daß die großen Umriſſe derjelben und die
eigenthümlichen Gewohnheiten des Wirkens, durch welche das
Lebendige ſich zuerſt unbedingt von dem übrigen Daſein zu un-
terſcheiden ſchien, ihr nicht unbegreiflich ſind, und daß die An-
ſichten, die noch immer ſich ihr entgegenſtellen, manche ber. Vor⸗
theile entbehren, die wir in der That bereits in der ſchärferen
Beurtheilung des Einzelnen aus jenen Grundſätzen einer mechani—
ſtiſchen Betrachtungsweife ziehen können.
59
Kaum irgend eine andere Erfcheinung ſcheidet für den Augen-
fein jo beveutfam das Leben von dem Unlchendigen, wie ber
Anblid der Verweſung, die den todten Körper verzehrt. Auf
das eindringlichfte fcheint fie uns zu lehren, daß nur das über:
mächtige Gebot einer höheren Kraft während des Xebens die
Beftandtheile in ihrer Mifhung erhalte und den gegenfeitigen
Berwandtichaften wehre, durch welche fie nach dem Tode in weit
andere und einfachere Formen der Zufammenfegung übergeben.
Und doc zeigt eine leichte Ueberlegung die Grundlofigfeit Diefer
Bolgerung. Denn warum follten wir derſelben Erſcheinung nicht
vielmehr den andern Schluß entnehmen, daß das Spiel des Lebens
eben nur jo lange dauern könne, als die chemifche Znſammen⸗
fegung des Körpers ibm feine nöthigen Bedingungen darbietet,
und daß die Berwefung des Todten nichts Anderes fei als die
nun offenkundig beroortretende Störung dieſer Mifhung, bie
vieleicht fchon Lange weniger bemerfbar die Bedingungen des
Lebens erſchüttert Hat? Ueberredend wird diefe Folgerung in den
dällen fein, in denen eine deutliche Krankheit, im Innern des
Körpers entftanden, fein Leben vernichtet hat; aber die Verwefung
ergreift, obgleich eimas langſamer, auch den Xeib, den ein ge=
waltfamer Tod in der Fülle gefunden Lebens traf; und fo fcheint
c8 doch wieder, al8 wenn die Mifchung der Beftandtheile, während
des Lebens durch eine befondere Kraft aufrecht erhalten, mit dem
Erlöſchen diefer Kraft nun erft den allgemeinen Gefegen der che—
miſchen Thätigkeiten anbeimficle.
Aber die nähere Beobachtung entdeckt doch in dem lebendigen
Körper einen faum geringeren Wechfel feiner Beſtandtheile. Beftän-
dig fehen wir durch mannigfaltige Tormen der Abſonderung
Maffentheile aus ihm ausgefchieven werben, deren chemifche
Zufammenjegung zwar nicht den Erzeugniffien der Verweſung
gleich ift, aber ihnen weit näher fteht, als die Form, in welcher
der lebenskräftige Körper feine Elemente verbindet. Zahlreiche
Beobachtungen Ichren aber, daß ein großer Theil der Gewebe,
aus denen der Iebendige Leib befteht, einer ununterbrocdenen
60
Wiederzerfegung und Neubildung unterliegt, und daß die Stoffe,
die wir in den verfchtebenften Formen aus dem Körper austreten
ſehen, zum Theil die Trümmer find, in welche biefe Berfegung
das vormals Kebensfähige umgewandelt hat. Kein Grund nöthigt
zu der Annahme, daß der Vorgang diefer Zerfegung während
des Lebens anderen Gefegen folge, al8 denen, die auch nad) dem
Tode das Zerfallen des Körpers beherrihen. Denn zu [ehr ver-
fchieden find die bedingenden Nebenumftände, welche beide Vor—
gänge begleiten, als daß wir nicht Leicht auf dieſe Die große Ver-
ſchiedenheit in den Erfcheinungen ihrer Erfolge zurüdführen Könnten.
Die beftändige Bewegung der Säfte gibt im lebenden Körper
den zerfegten Beftandtheilen Gelegenheit, in Eleinen und unmerf-
lichen Mengen den Abfonderungsorganen zuzuftrömen, durch welche
fie der umgebenden Welt zurückgegeben umd die nachtheilige Wir-
fung verhitet wird, die ihr längeres Verweilen im Körper für
die Mifchung der übrigen Beftandtheile haben könnte. Zahlreiche
geregelte Bunctionen führen ferner im lebendigen Körper zu ein-
ander, was durch feine Wechſelwirkung den Beitand feines Baues
fihern und feinen Wiedererfag befchleunigen kann; aber fie ent-
fernen von einander das, deſſen Zufammentreffen chemische Proceffe
weitergreifender Zerftörung anregen fünnte. So entfteht aus Zer⸗
fegung und Neubildung jener langſame Wechfel der Beftandtheile,
der, auf lange Zeiten unmerflich vertheilt, und den Yebendigen
Leib als ein beharrliches Bild ericheinen läßt. Alle diefe günftigen
Umftände fehlen bem erftorhenen Körper. Mit dem Aufhören
aller Functionen find die Wege geichloffen, auf denen das Zerftörte
entfernt, neuer Erfag gemonnen werden fünnte; bewegungslos
ſich anſammelnd wirken die ſchon in Zerſetzung begriffenen Stoffe
länger aufeinander und zernagen die Scheidemände, die früher
ihre wechfelfeitigen Berührungen hinderten; um ſich greifend und
durch Feine Ordnung mehr geregelt, laufen die chemifchen Bor-
gänge in das müßte Bild der Fäulniß zuſammen. Wie groß das
Gewicht ift, Das dieſe fo abweichende Geftaltung der bedingenden
Nebenumftände für den Verlauf des lebendigen Chemismus hat,
61
Davon überzeugen und noch außerdem die Beobachtungen mannig-
facher Krankheiten, in denen der Aufhebung oder Schmälerung ein=
zelner von jenen bewegenden und regelnden Verrichtungen fo
häufig Erſcheinungen einer theilmeis beginnenden Verweſung des
Körpers folgen. Sp nöthigt uns diefer Thatbeftand keineswegs,
in dem Yebendigen Körper eine eigene befondere Kraft zu ſuchen,
Die gegen das allgemein gültige hemifche Recht feine Beftandtheile
in einer Mifhung erhielte, melde ihren natirlihen Neigungen
widerftrebte. Er erlangt dieſes Ergebniß vielmehr, indem er,
jenem Recht fig völlig unterwerfend, die Zerfegung beffen gewähren
läßt, mas unter den vorhandenen Bedingungen feine Zufammen-
fegung nicht aufrecht erhalten kann. Aber durch eine wohlgeoronete
Reihe ineinandergreifender Bewegungen verhindert er den Nachtheil
von Vorgängen, die er zu verbieten feine Macht hat, und erjegt
wieder, was durch dieſe zerftört fich feinem Dienfte entzogen hat.
Diefelben Gefege der chemiſchen Verwandtſchaft beherrichen daher
ohne Zweifel den Zerfall des todten wie bie Fortdauer des leben-
den Körpers, aber der trüben Fäulniß des erften gegenüber ift
ba8 Leben cine organifirte Zerfegung, abhängig vonder Ordnung,
in welcher unabläffig fortgehende Verrichtungen die Behjelwir-
kungen der Stoffe allein verftatten.
Und endlih: vielleicht hätten wir gleich mit dem Hin-
weiß auf die Webertreibung beginnen müſſen, mit welder die
Hinfälligkeit organifher Körper gefchildert wird. Das Holz
der Bäume, aus dem wir umfere Gebäude unfere Geräthe
unfere Schiffe zimmern, die Federn des Vogelflügels, mit
benen wir biefe wunderlichen Behauptungen fhreiben, die
thierifhen Häute, die unfere Körper gegen die Unbill des
Wetter verteidigen: find fie wirklich unter unfern Händen
in eiliger Zerfegung begriffen? Sie gehören im Gegentheil zu
ben bauerhafteften Gebilden, die nur Yangjam den Angriffen
der äußeren Bedingungen unterliegen, während zahlreiche Er—
zeugniffe des unorganifchen Chemismus nicht davor beſchützt
werben Fönnen, durch geringfügige Veränderungen der Tempe-
62
ratur, dur Zutritt von Luft und Wafler plögli in ihre Be—
ftandtheile zerfprengt zu werden. Jene große Zerſetzlichkeit gehört
daher nur denjenigen organischen Stoffen, auf deren leichte Ver—
änberlichfeit der Plan des Lebens rechnen mußte; und felbft
von ihnen bleibt e8 zweifelhaft, wie weit unter gewöhnlichen
Umftänden ihre Zerfallbarkeit reiht und ob nicht erft die Ein-
wirfung anderer Tebendiger Organismen, die auf ihre Koften
fi zu entwideln ftreben, die Kraft bildet, weldhe ihren Zufam-
menhang zernagt. |
Das eigenthiimliche Spiel des Stoffwechſels, das wir vorhin
nur als eine Thatſache zur Erklärung einer auffallenden Erſchei—
nung benugten, werden wir fpäter in feinem Werthe für die Be-
gründung bes Lebens kennen lernen; zunächft finden wir es von
der gegnerifhen Anfiht als einen neuen Beweis für die eigen-
thümliche Natur der Tebenskraft benust. Denn während in dem
Gebiete des Unorganifchen jede Kraft an einer beftimmten Maffe
hafte und mit dem Wachfen und Abnehmen derfelben gleiche Ber-
änderungen erfahre, überdaure die Lebenskraft den Wechfel der
Körperbeftandtheile und erfcheine über ihrer Vergänglichkeit als
eine höhere und nicht an den Stoff gebundene beftändige Macht.
Kaum würde jedoch diefe Meinung eine eigene Wiberlegung
erfordern, wenn eine ſolche nicht Gelegenheit gäbe, zugleich die
wirflihe Eigenthümlichkeit des Lebens deutlicher zu machen.
Denn fie behauptet offenbar zu viel, wenn fie die Lebenskraft
die Bergänglichkeit der Beftandtheile überhaupt überbauern läßt.
Nur wenige Theile des Körpers können vielmehr in jedem Augen-
blick der Zerfegung Hingegeben werben, ohne daß der Ablauf
des Lebens geftört wiirde, für deſſen Fortdauer die unverhält-
nißmäßig größere Menge jener Beftandtheile, die während Diefer
Zeit in Mifhung und Berbindung unerjhüttert fortbeftehen,
eine hinreichend feſte Grundlage darbietet. Die gewöhnlichſten
Erfahrungen zeigen, daß dieſes Verhalten zu einfach ift, um
als weſentliches Kennzeihen das Leben von dem unorganifchen
Geſchehen zu unterjheiden. Der Zufammenhalt der Theile in
63
jedem Bauwerk pflegt groß genug zu fein, um die einftweilige
Dinwegnahme eines fhabhaften Steines zu geftatten, ohne daß
bis zu feinem Erſatz dur einen andern die Form des Baues
in ihrem Fortbeftande bedroht wäre. Aber diefelben Beobachtungen
lehren zugleich, daß die Theile des Gchäudes während ber Dauer
biefer Erneuerung nicht diefelbe Laft zu tragen im Stande find,
die fie in ihrer früheren Bollftändigkeit aushielten. Wo baher die
Hinwegnahme eines Beftandtheild zwar die äußere Form eines
- zufammengehörigen Syſtems von Maflen nicht ändert und vielleicht
jelbft den Ablauf feiner inneren Bewegungen nicht ſichtbar umge⸗
ftaltet, da Tann fie doch die Widerſtandskraft des Syſtems gegen
äußere Störung und die Größe der Leiftungen, die e8 ausführen
fann, auf das Wefentlichfte beeinträchtigen. Wir haben feinen
Grund zu glauben, daß in diefer Beziehung das Leben ſich anders
verhalte. Denn was wir unmittelbar beobachten, befteht doch
nur darin, daß die gewöhnliche Geſchwindigkeit, mit welcher der
Stoffmechfel des gefunden Körpers vor fich geht, die Form feiner
Lebensverrihtungen und die natürliche Reihenfolge derſelben nicht
auffallend ändert; aber wir haben in den Erfcheinungen feinen
Grund zu der Behauptung, daß aud die Größe der Wiberftands-
kraft gegen äußere Einflüffe und die Fähigfeit zu lebendigen
Leiftungen von den Schwankungen in dem Maffenbeftande des
Körpers nicht berührt werde. So Yange allerdings Zerfegung
und Wiedererfag in gleihförmigem Strome fortlaufend einander
entfprehen, wird aud die Kraft des Körpers auf gleihmäßiger
Höhe bleiben; wo dagegen der Stoffmwechfel in beftimmten Zeit
räumen anwächſt oder abnimmt, da fehen wir auch Perioden
geringerer oder größerer Wiverftandsfähigkeit gegen Störungen
eintreten. Und zulegt lehrt die allgemeine Sterblichfeit der Ieben-
digen Wefen, daß der beftändige Wechfel der Beftandtheile doch
nicht immer von der Lebenskraft überdauert wird, ſondern daß er
unvermeidlich aud ohne die Einwirkung äußerer Schädlichkeiten
zu neuen Beziehungen zwifchen den Beftandtheilen führt, mit denen
die Fortdauer des früheren Spieles der Bewegungen unvereinbar
64
wird. Nicht als ein Geift, der über den Waflern ſchwebte, wird
daher die Lebenskraft fih in dem Wechſel der Maſſen erhalten,
fondern die beftimmte Verbindungsmeife der Theile, die nicht mit
gleicher Geſchwindigkeit vergehen, fondern von denen ein langfamer
fih verändernder Stamm ſtets den geſetzgebenden Kern für die An-
Ingerung des kommenden Erſatzes gewährt, wird die Fortfegung
der Lebenserfcheinungen eine Zeit lang möglih machen, ohne
doch ihr Ende zulegt verhüten zn können.
Aber das neue Leben, das aus dem vergehenden ſich uner-
ſchöpflich wieder entwidelt, erregt neue Zweifel; ohne eine Schwächung
ihrer Stärke zu erleiden, vwertheilt fi in der Fortpflanzung bie
Lebenskraft ber die neu erzeugten Organismen, während unorga-
niſche Kräfte, über eine wachſende Menge von Stoffen verbreitet,
jedem einzelnen nur mit dem Bruchtheil ihrer Stärke zu Theil
werben, der ihrer Anzahl entfpriht. In der That nicht nur Feine
Schwähung, fondern eine offenbare Vermehrung der Lebenskraft
erbliden wir in den Rindern, neben denen das Leben der Eltern
fortblüht. Aber nur der erfte Eindrud, nicht die nähere Betrach⸗
tung läßt uns bier Räthſelhafteres fehen, al8 in der unbelebten
Natur vorgeht. Auch der Magnet theilt feine Kraft, ohne daß fie
in ihm ſelbſt ſchwächer wird, vielen Eifenftäben mit; auch der
flammende Körper fegt eine unbefchränfte Anzahl anderer in ben
gleihen Brand ohne durch dieſe Mittbeilung zu erkalten. Nicht
Kräfte überhaupt werden irgendwo, iwie eintheilbare Flüffigkeiten,
die ihren Ort wechfeln könnten, von einem Stoffe auf den andern
übertragen; in jedem Falle der Wechſelwirkung verſetzt vielmehr
der eine den andern in veränderte innere und äußere Zuftänbe,
unter denen feiner Natur neue Fähigfeiten des Wirkens zuwachſen,
oder früher vorhandene von den Hinderungen ihrer Aeußerung be-
freit werden. Ein Stoß, auf eine flarre Maſſe ausgeht, deren
inneren Zufammenhang er nicht ändern Tann, wird diefer nur
eine Ortöbewegung mittheilen, deren Geſchwindigkeit um fo Meiner
65
—
ausfallen wird, je größer wir uns die Maſſe denken, auf welche
der Einfluß des Stoßes ſich vertheilen muß. Die Wirkung wird
ſich anders geſtalten, wenn derſelbe Stoß auf eine geringe Menge
von Knallſilber ausgeübt wird, deſſen gewaltſame Exrplofion eine
ungleich größere Zerſtörung in der Umgebung hervorbringen wird,
als jener Stoß ſelber es vermocht hätte, wenn er unmittelbar auf
dieſelbe Umgebung getroffen hätte. Unleugbar iſt hier durch die
Dazwiſchenkunft der explodirenden Subſtanz eine große Vermeh⸗
rung der Kraft eingetreten. Sie entſtand, indem der urſprüngliche
Stoß auch hier den Theilen jener Subſtanz unmittelbar nur die
geringfügige Geſchwindigkeit mittheilte, die er auch jedem andern
Körper von gleicher Maſſe gegeben haben würde; aber dieſe un:
ſcheinbare Erſtwirkung traf bier auf Theilchen, denen nur eine
ſchnelle gegenfeitige Annäherung nöthig war, damit die chemiſchen
Berwandtichaften, Die zwiſchen ihnen längſt beftanden, die letzte
nöthige Bedingung ihres Ausbrechens in eine geräuſchvolle Wirk:
ſamkeit erhielten. So reiht. bier ein Kleiner Anftoß hin, um eine
große Wirkung plöglich zu erzeugen; er wird auch hinreichen, um
eine lange dauernde Reihe fi aus einander entwidelnder und zu
großen Erfolgen anwachſender Vorgänge beroorzubringen, ſobald
die Kräfte, die er aus ihrem Gleichgewicht Löfte, durch die natür-
lichen Beziehungen der Theilden, an denen fie haften, nur zu
einer allmählihen Abwidlung ihrer Erfolge befähigt find.
So fehr daher die Fortpflanzung des Lebendigen durch die
forgfältige Anordnung zufammenftunmender Thätigfeiten, welche fie
vorausfest, ſtets unſere Bewunderung erweden wird, fo ift fie doch
nicht aus jenem Grunde räthfelhaft, den wir vorhin für Die An-
nahme einer eigenthümlichen Lebenskraft gelten gemacht fanden.
Denn ihr wirklicher Hergang befteht doc nur darin, daß ein fehr
unbebeutender Maffentheil des miütterlihen Organismus fih von
diefem, mit defjen Lebensverrichtungen er in feimem wichtigen Zu—
ſammenhange ftand, als Keim. eines neuen Geſchöpfes ablöft.
Wollten wir felbft annehmen, daß auf ihn ſich ein Theil der Les
benstraft feiner Erzeuger übertrüge, jo würde wenigfiene diefer -
Lotze l. 3. Aufl.
66
Antheil verfhmwindend Fein fein; denn die Lebenskraft des Keimes
finden wir urfpränglic eben fo Flein und fie erwächſt zur Größe
einer erheblichen Leiftungsfähigkeit immer erft durch eine lange
Entwicklung, in der fie ſich durch Herbeiziehung der Stoffe aus
der Außenmelt verſtärkt. Nur meniged würde aljo auch im
diefem Falle der erzeugende Organismus verlieren und gewiß find
unfere Beobachtungen völlig unzureichend zu der Behauptung, daß
diefer Meine Berluft nicht mit einer entfprechend Fleinen Schwächung
ber elterlichen Lebenskraft verbunden fei. Aber e8 hat wenig
Werth, einen Gedanken zu verfolgen, deſſen allgemeine Unmöglid-
fett wir ſchon kennen gelernt haben; nicht Kräfte werden von einem
zum andern mitgetheilt, fondern nur Bewegungen können übertragen
oder Stoffe von einer größeren Berbindung zu felbftändiger Fort-
erifteng abgelöft werden. Darauf wird daher alle Fortpflanzung
beruhen, daß dem Erzeugenden die Herftellung eines Keimes möglich
wird, der unbedeutend an Maſſe fih nur durch die forgfältig an-
geordnete Derbindungsweife und Mifhung feiner Beftandtheile
auszeichnet und nur durch fie befähigt wird, unter dem Einfluffe
äußerer begünftigenden Bedingungen fih mit zunehmender Kraft
in ein lebendiges Gebilde zu entwideln. So ift die erfte Erzeugung
eined neuen Weſens Feine Aufgabe, von der eine Verminderung
ber Lebenskraft für Die Erzeuger zu erwarten wäre; mohl aber
mögen die zahlreichen Anftrengungen, die in vielen Geſchöpfen ber
mütterliche Organismus zur früheften Kräftigung und Entwicklung
des Keimes zu machen bat, feine Lebensfähigkeit ernftlicher be-
drohen.
Aber erneuert fi nicht dafjelbe Räthfel, das wir aus dem
Geheimniß der Bortpflanzung zu entfernen fuchten, ſogleich wieder
in dem Gcheinmiß des Wachsthums, in welchem der neu erzeugte
Organismus feine Kraft und Maſſe beftändig vermehrt? Mit
der Zunahme der Laft, die fie zu beherrichen hat, ſehen wir bie
Lebenskraft wachfen, während fonft jede Fähigkeit an ihren zu—
nehmenden Aufgaben zu erlahmen pflegt. Doch auch Diefe Schwie-
rigfeit läßt die nähere Betrachtung des wirflichen Hergangs ver-
—
67
ſchwinden, und fie verdient Erwähnung nur um cines allgemeinen
Borurtheild willen, das fih an fie knüpft. Wenn der wachſende
Körper die Stoffe der Außenwelt in ſich hincinzieht und zu feinem
Dienfte zwingt, fo ftellen wir ung zu oft dieſes errungene Material
zu gleichgültig und fo entblößt von gegenfeitigen Wechſelwirkungen
vor, daß es überall einer befondern zufammenhaltenden Kraft zu
bedürfen Schiene, die das einmal Zufanımengeführte in den Formen
feiner Verbindung feflelte. Unfere Anſchauungen über die Ver—
- nüpfung der organischen Theile find zu fehr nach dem Bilde eines
Bündels von Gegenftänden entworfen, die gleichgültig gegen einan-
der und ohne alle eigene Kraft wechſelſeitigen Anhaftens eines
ihnen allen äußerliden Bandes bedürfen, Das fie zufamnıen-
ſchnürt. Denn das ift ja die gewöhnliche Sehnſucht, das Band
fennen zu lernen, das Leib und Seele oder das die Beftandtheile
des Leibes zufammenhält, oder am Ende das geiftige Band, melches,
wahrſcheinlich von edlerer Natur als die finnlihen Bindemittel, doch
nicht den mefentlichen Begriff eines Stranges überfteigt; denn es
fol, da es als Eines gedacht wird, doch wohl in ähnlichen äußer-
lichen Windungen, wie Diefer, eine Bielheit beziehungslofer
Theile unter fi verfetten. Es ift anders in Wirklichkeit. Die
Herbeifhaffung der Stoffe, durch melde der organische Körper
wachfen fol, mag eigene Anftrengungen erfordern, deren wir an—
derswo gebenfen werden; ihre Erhaltung aber in den Formen der
gegenfeitigen Lagerung, die fie einmal angenommen haben, ift fein
Act der Gewalt, gegen den fie widerfpenftig wären, jo daß eine
befondere Lebenskraft, ftärker als die Kräfte aller Theile, zu feiner
Durchführung nöthig wäre; nicht einmal gleichgültig find die Ele-
mente gegen diefe Aufgabe, fondern fie führen fie felbit aus. Denn
indem fie in den Bereich des lebendigen Körpers eingetreten find,
haben fie die Kräfte nicht abgeftreift, die ihrer Natur vorher eigen
waren; fondern mit diefen Kräften cben haften fie aneinander und
folgen nun in diefer Gemeinfchaft und den Bebürfnifien des Or—
ganismus entfprechend denfelben Gefegen des Wirkens weiter, denen
fie früher außerhalb deffelben vereinzelt gehorchten. Anftatt eines
5*
68
Bandes, das mit oberflächlihden Windungen die ganze Unzählbar-
feit der Theile umſchlöſſe, finden wir daher unzählige Bänder,
die je zwei einzelne Elemente des Körpers verfnüpfen, und dieſe
Bänder find Nichts als die eigenen Kräfte der Elemente felbft,
die es weder bedürfen von irgend einem höheren Gebote zu ber
Wirfung erwedt. zu werden, die ihrer Natur eigenthümlich iſt,
noch es ertragen wilrden zu einer andern erregt zu werben, Die
ihr widerfpricht. Jedes einzelne Atom, das die Maſſe des Körpers
vermehrt, tritt in feinen Zufammenhang durch die anziehende
Kraft ein, Die e8 von irgend einem Theile deffelben erfährt; feft-
gehalten durch diefelbe Kraft, deren Ausübung feine Anftrengung
für den Körper ift, ftellt e8 diefem nun auch feine eigene Maſſe
mit allen den Kräften mechanifcher und chemifcher Art zu Gebot,
bie an ihr haften, und durch die num dem Körper eine Möglichkeit
größerer Einwirkung auf die Außenwelt mithin ein Zuwachs
feiner Kraft entſteht. Nur darin befteht die Leiftung des Lebens,
daß der fchon beftebende Stamm der Teiblihen Beftanbtbeile ſtets
jo georonet iſt und ftet8 in folder Borm mit dem Material der
äußeren Welt in Berührung tritt, daß die ſich entfpinnenden
Wechſelwirkungen und als ihre Folge der neue Anſatz von Theilchen
den Bebürfnifjen des Lebens angemefjen geichieht.
Man kann auch diefe Aufgabe benugen, um die alten
Schwierigkeiten zu erneuern. Wie vorhin ein Band fir die all-
zurubigen, jo ſucht man jest vielleicht für die lebendig gewordene
Anzahl der Theile einen Zügel, der ihre Wirkungen hier geftatte,
fie dort verbiete, fie jett befchleunige, dann verzögere. Eine kaum
lösbare Aufgabe gewiß, wenn fie in die Hand Einer Kraft gelegt
werden müßte, die den Plan der Organifation in jevem Augen-
blicke durch befondere Nachhülfen aufrecht zu erhalten hätte. Wber
auch dieſe Leiftung vollzieht ſich von felkft, fo lange nicht freind⸗
artige Störungen die Verhältniffe unberechenbar verſchieben. Eine
Zufammenftellung von Theilden, die den Keim eined organischen
Weſens bildet, kann leicht jo geordnet fein, daß fie im Laufe ihrer
Entwidelung nur beftimmte Stellen für fpätere Wechſelwirkung
69
offen läßt; andere verfeftigt fie jo, daß an ihnen die Stoffe der
Außenwelt wirkungslos vorübergehen, um auf den Wegen, die
ausihlieplich für den Fortgang der Bildung organifirt find, ſich
in dem Körper zu verbreiten und einen feften Gang des Wachs⸗
thums einem ftet8 eingehaltenen Mufter gemäß möglich zu madjen.
Nicht überall fegt ſich Thon an den Kruftall der neue Niederfchlag
des gleichen Stoffes an, fondern Die Kräfte des fchon Gebildeten
zeichnen den fpäteren Theilen Ort und Form ihrer Anlagerung
vor und erhalten im Wahsthum die urfprüngliche Geftalt oder
doch das urfprüngliche Geſetz ihrer Bildung Was hier die un-
organische Natur ausführt, das Leiftet in unvergleichlich größerer
Feinheit und Berwidlung, aber doch nicht nach anderen Principien
des Wirkens, auch der lebendige Körper, und die nähere Betrachtung
feines Baues und feiner Verrichtungen wird uns zeigen, wie leicht
fih hier vieles ſcheinbar Schwierige von felbft vollzieht, weil ſtu—
fenweis in dem langen Laufe der Entwidlung jeder frühere Zus
ftand die Zahl der unbeftimmten Möglichleiten des Weiterwirkens
befhränft und die fpäteren Ereigniffe in genauer vorgefchriebene
Bahnen einengt.
Sp würde alfo auch die Innehaltung der Ordnung in der
veränderlihen Mannigfaltigkeit der Lebensproceſſe nicht von dem
beftändig erneuerten Eingriffe einer beſondern regelnden Macht,
fondern von der einmal gegebenen Anordnung eines Syſtems von
Theilchen abhängen und durch die gewohnten Wirkungen dieſer
Elemente im Einzelnen verwirflicht werden. Wir haben oben fchon
binzugefügt, daß dieſes Ergebnig die Abhaltung äußerer Störungen
vorausfege. Aber gerade hierin findet man eine neue Eigenthiim-
Tichleit des Lebens, daß e8 mit zweckmäßig zurückwirkender Heil:
fraft auch diefe Störungen überdaure und befeitige. Alle feine
andern Erſcheiuungen mögen ſich anfehen laſſen, wie die allmäh-
lich und gefeglich abrollenden Bewegungen einer Mafchine, deren
einmal vorhandener und in Anftoß verfegter Bau eine Man:
70
nigfaltigfeit von Wirfungen nach einander entfaltet; aber Die aus-
gleihende Thätigfeit, die den Umftänden fit) anbequemt und mit
Auswahl der beften Mittel den urſprünglichen Plan immer inne=
zuhalten fucht, fcheint nur einer Lebenskraft möglich, die yicht wie
die übrigen phyſiſchen Kräfte dur ein monotones Geſetz ihrer
MWirkungsweife, ſondern durch die bewegliche Rückſicht auf den
Zweck des Wirkens geleitet wird. Aber wie Vieles, Beobachtung
und Ueberlegung, vereinigt fi, um diefen blendenden Schluß zu
beftreiten! Denn blendend ift er zunädft, indem er die That—
ſachen in einem viel zu günftigen Lichte erfcheinen läßt und Die
tiefen Schatten verſchweigt. Der Tod, der fo vieles Leben vor
dem natürlichen Abſchluß feiner Entwicklung dahinrafft, aus
Störungen hervorgehend, die in ihrer Kleinheit unferer Beobachtung
fi entziehen, überzeugt uns zuerft, daß jene zweckmäßige Heil-
fraft des Körpers nicht unbedingt, und die Menge der Krankheiten,
Die, nur unvollfommen überwunden, fpätere Tage verfimmern,
lehrt uns weiter, daß fie in hohem Grade befchränft iſt. Auch
das gejunde Leben, da es nicht ein aus fich felbft allein quellendes
Spiel von Bewegungen ift, fondern in fteter Wechfelwirkung mit
dem Aeußeren verläuft, fehließt eine große Menge von Verände-
rungen des Körpers ein, die zunädft als Störungen feines Be-
ftandes zu betrachten find, und zu deren Wiederbefeitigung ſchon
in der erften Anlage des Leibes eine Mannigfaltigfeit beftändig
fortgehender Berrichtungen begründet iſt. Ein Syſtem von Theilen
nun, deſſen Berhältniffe einmal fo zwedmäßig geordnet find, daß
feine Wirkungen innerhalb einer gewiffen Grenze die regellofen
Einflüffe des Aeußeren überwinden können, verliert nicht augen-
blicklich diefe Fähigkeit, fobald unter ungewohnten Umftänden diefe
Grenze überfchritten wird. Mit der Mannigfaltigfeit der glid-
lihen Einrichtungen, die e8 einmal beſaß, gelingt es ihm häufig,
auch Größen und Formen der Störung, auf die e8 nicht berechnet
war, entweber völlig oder doch fo weit zur befiegen, daß die Beichä-
digung, die es erleidet, nicht auffallend Die Geftalt feiner Bewe—
gungen ändert. Aber allerdings wird e8 unheilbar zerrüttet werben,
71
fobald in feinem Baue und feinen Verrichtungen ſich Fein glüdlicher
Umftand findet, der die Störung nöthigte, fich felbft durch die
Rücdwirkungen aufzureiben, die ihr Reiz in den Thätigkeiten des
Syſtems hervorbringt. Zahlreiche Beiſpiele zeigen uns, wie weit
felbft die menſchliche Technik mit den immer unvolllommenen
Mitteln, die ihr zu Gebote ftehen, diefe Aufgabe zu löſen ver-
mag. Auch fie weiß Mafchinen fo zu bauen, daß die ungleiche
Ausdehnung, melde verſchiedene Metalle dur gleiche Wärme:
grade erfahren, die ſchädliche Folge wieder aufhebt, welche Die
Beränderlichleit der Temperatur fir Die Genauigkeit ihrer Leiftungen
haben könnte; aud fie Tann die bewegte Locomotive nöthigen,
eine Borrihtung felbft in Gang zu fegen, durch die den Rädern
das reibungvermindernde Del gerade in dem Maße zugeführt
wird, in welchem e8 bie jedesmal erlangte Gefchmwindigfeit Des
Zuges erfordert. Wenn wir auf diefe Leiftungen mit einem ge-
wiſſen Stolz bliden, fo bezeichnet es eben die Geringfügigkeit
menſchliches Vermögens, daß ſchon ſolche Erfolge e8 find, auf die
wir ſtolz -jein innen; gewiß find fie überaus unbedeutend im
Bergleihe zu der unendlichen Feinheit und Bielfeitigfeit, mit
welcher der Lebende Körper unzähligen Fleinen Störungen gleich—
zeitig widerſteht; «aber diefer Unterſchied des Werthes berechtigt
Doch nicht zu dem Schluffe auf ebenjo großen Unterfchied in den
Principien der Wirkungsart.
Auch in dem Organismus ift die heilende Rückwirkung an
die einmal beftehende Zweckmäßigkeit feiner inneren Einrihtung
geknüpft, und fie reiht nur fo weit, al8 die äußeren Eingriffe
diefe Anordnung in ihrer mejentlihen Form unangetaftet Taffen.
Ste wird aber vergeblich erwartet, fo oft Die Gewalt der Störung
diefe glücklichen Umftände verjhoben bat, obgleich au dann die
Nachwirkung der urfprünglichen Trefflichkeit fo groß ift, Daß nicht
fofort die völlige Auflöfung, fondern ein erträglicher einiger Dauer
fähiger und die Umriffe des Lebensplanes wenigftend im Ganzen
noch fefthaltender Zuftand an die Stelle der unmöglich gewordenen
Geſundheit tritt. Niemals fehen wir dagegen heilende Rück⸗
12
wirfungen eintreten von neuer und ganz ungewohnter Art, ſolche,
von denen nicht das gefunde Leben bereit8 cinen beftändigen Ge-
brauch machte, Nur in verftärkter Heftigfeit und in anderer Ber:
nüpfung erregen zuweilen die äußeren Störungen dieſe ftet8 ſchon
vorhandenen Thätigfeiten, und eben biefer Aufruhr, wie er zu—
weilen ungewöhnliche Erfolge bedingt, führt in eben fo zahlreichen
Fällen die völlige Vernichtung herbei. Belebte eine eigenthümliche
Heilkraft den Körper, mit irgend melcher Freiheit der Wahl und
irgendwie unabhängig mit den phyſiſchen und chemifchen Kräften
der Maflen jchaltend, fo würde es ſchwer fein zu erklären, warum
fie, die einmal der natürlichen Nothwendigkeit überhoben wäre, in
der Ausführung ihrer Abfichten jemals fcheitern Könnte; wir be-
greifen die Nothwendigkeit ihrer Beichränktheit, wenn wir fie als
bie Summe deſſen fafjen, was der lebendige Körper mit denjenigen
zweckmäßigen Thätigkeiten, die auf die gewöhnlichen Umftände
des Lebens berechnet find, unter ungewöhnlichen noch zu leiften
vermag.
So groß iſt jedody die Bewunderung, welche der ineinanders
greifende Bau des Lebens auch der mechaniſtiſchen Auffaffung
defjelben abnöthigt, Daß wir den Gegnern nicht verargen, wenn fie
ihre Borftellung einer eigenthümlichen Lebenskraft unter immer
neuen Formen ‚und wieder and Herz legen. Nicht eine neue
Kraft, werben fie fogen, nicht eine plöglich eingreifende Heil-
thätigfeit verlangen wir, bie, in den beftändigen Einrichtungen
des Lebens nicht begründet, erft im alle feiner Störung hervor⸗
träte; fondern den ganzen Ablauf der Lebenserfcheinungen ver:
mögen wir nur zu begreifen, wenn die lebendige Idee Des
Ganzen beftändig die Theile als das waltende Princip zuſam⸗
menfaßt; ihre Thätigfeit ift e8, die weniger auffallend in dem
gejunden Zuftande, an deſſen fortwährennes Wunder wir ges
wöhnt find, deſto mehr in ihren gefteigerten Ruckwirkungen gegen die
13
Gewalt der Störungen offenbar wird. Nur in den unorganifchen
Gebilden entftehe das Ganze aus der Zufammenfegung der Theile,
im.Lebendigen gebe es den Theilen voran. Es ift Mar, daß dieſe
Iebte Behauptung nur den Sinn haben kann, daß Die Form des
Ganzen bereitS als belebende und gefeßgebende Gewalt dem ſich
bildenden Körper inwohne, nod ehe die vollzählige Summe der
Theile, durch die jeine Umriſſe einft ausgefiillt werden, vorhanden
oder in die ihnen zulommenden Lagen gebradt if. In der
That zeigen mehrere Vorgänge in der erften Ausbildung des
Keimes, daß an die Orte der Geftalt, an denen beftimmte Organe
ſich bilven follen, zunächſt formlos erſcheinende Maſſen abgelagert
werben, die erft jpäter in fich Die Gliederung in Theile entwideln,
welche das fertige Organ beibebält. Ereigniffe biefer Art mögen
augenblidlich jene Borftellungsweife begänftigen; aber dieſe geſetz⸗
lichen Entwidlungen, die, zu einem gemeinfamen Plane des
Ganzen übereinftimmend, an verfchiedenen Stellen des Keimes
gleichzeitig vor fich geben, verlieren Diefe Mebereinftimmung, wenn
duch Erſchütterung oder Trennung der mechaniſche Zufammen-
bang der Keimtheile geftört wird. Diefe Thatfache zeigt ung,
daß die zerftreuten Bildungsprocefie doch nicht allein durch eine
über ihnen ſchwebende Idee, jondern durch die beftummte Anorb-
nung der Wechſelwirkungen unterhalten werben, bie zwiſchen
allen einzelnen Theilen vermöge ihrer beftimmten Lagerung gegen
einander obwalten. Durch fie wird an vorgezeichneten Orten das
bildungsfähige Material abgelagert und durch ihre weiteren Leift:
ungen, die durch Diefen erften Erfolg felbft neue Bedingungen
fpäterer gewonnen haben, entjpinnt ſich die allmähliche Gliederung
der Fleinften Beftandtheile. Witrde ed meniger wunderbar fein,
wenn bie Bildung, von einem einzigen Mittelpunkt ausgehend,
ftet8 Die zunächft gelegenen Umgebungen fogleih in ihrer endlichen
Geſtalt erzeugte, und würden wir nicht dies noch mehr räthjelbaft
finden? Gewiß hängt alſo die Bildung jedes organischen Theiles
davon ab, daß er ſich in beftändiger Gemeinjhaft mit allen andern
entwidelt, die mitt ibm zum Ganzen gehören; aber diefe Gemein:
74
ſchaft befteht nicht in der Umfaffung aller durch eine thätige Idee,
fonbern darin, daß alle in ein Syſtem phyſiſcher Wechfehvirkungen
verflodten find, aus denen fir jeden einzelnen Richtung Form
und Geſchwindigkeit feiner Entmwidlungsbemegung fließt. "
Die Thatſachen wenigſtens geftatten diefe Anſicht; eine all-
gemeinere Ueberlegung zeigt fie als nothwendig. Denn nur in
zweifacher Weife können wir von einer Idee des Ganzen ſprechen.
Sie kann uns zuerft als das Mufter und der Plan gelten, den
unfere Erfenntniß in dem ausgeführten organiſchen Gebilde dar—
geftellt, oder in feiner allmählichen Entwidlung beftähbig befolgt
findet. Aber fein Mufter, kein Blan, den mir vielleicht als den
Zweck eines Naturprocefjes faflen, verwirklicht fih von ſelbſt; nur
dann wird er ſich vollzichen, wenn die Stoffe, in deren Geftal-
tung er erſcheinen fol, durch eine urfprüngliche Anordnung ihrer
Verhältniſſe von felbft genöthigt find, durch ihre Kräfte nach den
allgemeinen Gefegen des Naturlaufes das herporzubringen, was
er gebietet. So übt er ſtets nur eine ſcheinbare Macht aus,
und fo wenig wir Die Idee der Unordnung als ein thätiges und
treibende Princip in einer vegellojen Reihe von Veränderungen
anfchen, jo wenig dürfen wir Die Idee irgend einer Ordnung als
die bewirfende und erhaltende Urſache eines regelmäßigen Kreifes
von Ereigniffen betrachten. In beiden Fällen gefchieht, was nad
der einmal gegebenen Lage der Sachen geſchehen mußte und ber
Vorzug des letzteren befteht nicht in einer ftetig handelnden Zweck⸗
thätigfeit, jondern in der beftänbig nachwirkenden Zweckmäßigkeit
der erften Anordnung. Aber diefe erfte Anordnung felbft,
wird man und einmwerfen, woher rührt fie? Wir wiſſen es
nicht, und wir haben feinen Grund, hier fhon Die Vermuthungen
auszuſprechen, die wir über fle hegen fünnen. Nicht das ift un=
fere Abfiht, in dem Lebendigen die Spuren einer Weiäheit zu
leugnen, die und über die mechaniſche Verfettung bloßer Ereig—
niffe auf eine unverftandene ſchöpferiſche Kraft hinausweiſen; aber
unfere Aufgabe iſt c8 noch nicht, den erften Urfprung des Lebens
zu ſuchen; wir fragen nur nad den Gejegen, nad; denen das
75
wunderbar erſchaffene fi innerhalb der Grenzen unferer Beobadh-
tung erhält. Und wir finden, daß das Leben innerhalb Diefer
Grenzen nicht mehr neu entfteht, daß feine Erhaltung vielmehr
an die ununterbrochene Tradition beftimmter Stoffe mit beftimm-
ter Lagerung ihrer Fleinften Theile gebunden ift, fo wie fie in
der Fortpflanzung beftändig von einem zum andern überliefert
werben. Wir fehen darin den Beweis, daß die Ideen nicht im
Stande find, fih in Stoffen zu verwirklichen, deren innere Glie-
derung nicht Schon in forgfamjter Weile jo geordnet ift, daß aus
ihr allein ohne den meiteren Beiftand ber Ideen, ja felbft wenn
diefe e8 nicht mollten, dennoch von felbft Die von ihnen vorge-
zeichnete Geftalt entfpringen müßte. Wohl mögen die Ideen am
Anfange der Welt die beftimmenden Gründe für die erften Ber:
knüpfungen der Dinge gewefen fein; in ihrer Erhaltung dagegen
find e8 die Wirkfamfeiten der Theile, die den Inhalt der Ideen
realifiren.
Doch wir willen, daß die Anficht, die wir bekämpfen, die
Idee des Ganzen nicht fo verfteht, als wäre fie ein unmirfliches
Mufter, das machtlos der Wirklichkeit der Stoffe gegenüber
ſchwebt. Aber indem fie die Idee als eine felbft Iebendige und
thatkräftige Macht auffaßt, wird fie genöthigt fein, zu der andern
beftimmten Bedeutung überzugeben, die wir dem vielmißbrauchten
Worte geben können. Sol die Wirkfamfeit der einzelnen Theile
nicht zur übereinjtimmenden Ausbildung des Ganzen binreichen,
fo wird doch das höhere Band, das ergänzend binzutritt, überall
von der Lage der Dinge, in die es eingreifen foll, einen Ein-
druck erfahren müſſen, um im vechten Augenblide das der vor-
handenen Lage Angemefjene zu bewirken. Solche Eindrüde laffen
ſich als Zuftandsänderungen des Bandes faffen, welche mit gefeg-
licher Nothwendigkeit eine beftimmte Rückwirkung deſſelben hervor-
rufen. Es ift offenbar, daß unter dieſer Borausfegung jenes
Band Feine höhere Rolle fpielt, als jeder der Stoffe, die, von
einander Eindride empfangend, durch das Smeinandergreifen ihrer
Ruckwirkungen auch nach unferer Anfiht die Bildung des Or:
76 |
ganifchen heroorbringen. Nur darin wiärde eine Eigenthitmlich-
feit diefer Borftellung Tiegen, daß fie nicht von allen Xheilen
einen gleich werthoollen Beitrag zur Begründung des Lebens er-
wartet, fondern einen einzigen vorzugsweis als den Brennpunkt
in die Mitte der übrigen ftellt, in welchem die zufammenlaufen-
den Wirkungen aller eine Vielheit zufammenftimmender Thätig-
feiten hervorrufen. Ohne Zweifel nun ift e8 richtig, daß Die
verſchiedenen Theile ſehr verfchiedene Wichtigfeit für die Begrün-
dung und Erhaltung einer beftimmten Lebensform befigen; Doc,
vergeblich jehen wir und in der Erfahrung nad einer Thatfache
um, melche uns berechtigte, einen einzigen in jo ausſchließlicher
Weile als den Vertreter der Idee des Ganzen zu betrachten.
Aber gewiß wollte jene Anfiht in dem höheren Bande, das fie
fucht, eben nicht jene lebloſe Nothwendigkeit des Wirken wieder⸗
finden, die fie ja aus dem Organismus überhaupt zu verbannen
wünſchte. Ste wird verlangen, daß jenes Band auf die Ein-
drücde, die ihm zulommen, Nachwirkungen folgen Iafje, die nad
phyſiſchen Gefegen allein nicht nothwendig an dieſe gefnüpft fein
würden. Aber weil der Plan der Organifation fie verlangt, er-
zeugt fie das Band und ergänzt auf diefe Weiſe den nicht voll-
fommen geſchloſſenen Zuſammenhang der Natururfacen.
Wollen wir nun nit völlig ins Unbeftimmte abſchweifen
und zum Erflärungsgrunde Etwas wählen, von deffen Art und
Wefen wir und nicht die entferntefte Borftellung zu machen im
Stande find, jo werben wir und mohl zugeftehen müfjen, daß
diefe Art zweckmäßiges Wirkens nur einer Seele, nicht einer Idee
zufoınmen Tann, und in dieſen beutlicheren Begriff müffen wir
die ihrer ſelbſt ungemwiffe VBorftellung der Idee verwandeln. Aus-
geftattet mit der Fähigkeit, die Erinnerung vergangener Eindrüde
wieder zu erzeugen, vermag allein die Seele, jene Lücke der na=
tärlichen Saufalität zu ergänzen. Indem fie angeregt wird durch
eine Mannigfaltigkeit von Reizen, die doch an ſich noch nicht
die vollftändigen Bedingungen eines wünſchenswerthen Erfolges
einfchließt, erzeugt fie die Borftellung deſſen, was augenblid-
-—
77
lich in der Wirklichkeit fehlt, hinzu, und von dieſem Gedanken,
als Stellvertreter des wirklichen Eindrucks, gelangt ſie zu dem
zweckmäßigen Entſchluſſe, der nun wieder thätig in die äußere
Wirklichkeit eingreift. So wird der Zufammenbang, der auf phy—
fiidem Gebiete abgebrochen war, durd cine Reihe von Wirkungen
hergeftellt, Die, auf geiftigem Gebiete verlaufend, zwei Ereignifie
an einander knüpfen, deren erftes allein den vollftändigen Grund
bes zweiten nicht enthielt.
Auch diefe Hypotheſe nun bat der Geſchichte der Wifjenfchaft
nicht gefehlt, daß die Seele es jet, deren Thätigfeit die Ordnung
und Zwedmäßigfeit der organifhen Entwidlung beherriche. Aber
wenn dieſe Anficht einen Theil von Wahrheit einſchließt, den mir
fpäter hervorzuheben Gelegenheit finden, fo begünftigt doch unfere
Erfahrung den Verſuch nicht, fie als eine genügendere Erklärung
der mechanischen Auffaffung entgegenzuftellen. Mag e8 vielleicht
in manden Thierfeelen, in deren Inneres wir und nicht verfegen
können, fich anders verhalten: in unferer Seele wenigftens finden
wir fein Bewußtfein diefer bildenden Thätigfeit. Und doch hing
nur von dem Bemwußtfein und den eigenthümlichen Geſetzen des
Borftellungslaufes diefe Fähigkeit der Seele ab, mehr zu leiften
al8 der Naturlauf für fih, Nur wo in Folge früberer Uebung
fidh eine Gewohnbeit zwedmäßiges Wirkens als zweite Natur in
ber Seele befeftigt bat, mag der Borftellungslauf, der ihr zu
Grunde Tiegt, nicht in jedem einzelnen Falle mebr zum Bewußt⸗
fein kommen. Die Annahme dagegen, daß die Seele von Anfang
an mit unbewußter Thätigfeit den Körper organifire, würde nur
dahin zurüdführen, fie ebenfo wie alle materiellen Theile dei-
felben als ein unfreies Element zu betrachten, das angeregt durch
die Umftände, nach allgemeinen Gefegen nothwendige Wirkungen
entfaltet. Vielleicht hat in diefer Deutung die erwähnte Anficht
ihren Werth; unter den vielen Beitandtheilen, die zum Bau bed
Lebens beitragen, ift vielleicht auch ein foldher, den feine übrige
Natur durch einen größeren Unterfchied von allen iibrigen trennt;
aber feine Gegenwart würde Doc die Thatfache nicht ändern, daß
78
alle zmestmäßigen Wirkungen in dem Xebendigen von ber Verbin—
dungsweiſe der Theile, unter Denen nun auch er ſich befände, mit
Nothwendigkeit abhängen. Zu verlangen dagegen, daß die Seele
Yeifte, was auf diefe Weife noch nicht vollftändig begründet ift,
und daß fie Diefe Leiftung unbewußt vollziehe, das würde nur
heißen, von ihr die Erfüllung einer Arbeit fordern und gleich-
zeitig ihr die einzige Bedingung verfagen, die deren Gelingen mög-
lich macht.
Wir haben die Lehre von einer eigenthümlichen Lebenskraft
in die verſchiedenen Vorſtellungsweiſen verfolgt, in denen ſie nach
und nach ſich gelten gemacht hat; alle entſprangen kürzer oder
auf längeren Ummegen aus der Beobachtung, daß die Rüdwir-
fungen des Lebendigen anf die Eindrlide, denen es ausgefegt ift,
nicht in diefen Anregungen allein, oder daß die Yormen, in
denen es ſich ohne fihtbaren äußern Anftoß entwidelt, in ben
vorhergegangenen Umftänden nicht vollftändig begründet fchienen.
Diefe Reizbarkeit, die dem äußern Einfluß unerwartete, weder
an Stärke noh an Dauer noch felbft in ihrer Form ihm ent-
ſprechende Rüdwirfungen folgen Täßt, ſchien das Lebendige vom
Unlebendigen zu trennen; denn die Wirkungen des Letzteren meinte
man vollftändig aus der Summe aller gegebenen Beringungen
als ſelbſtverſtändlich nothwendige Folgen entwideln zu können.
Man täufcht fi) etwas in Bezug auf beide Glieder dieſes Ge-
genfages. Wo irgend ein äußerer Anftoß auf ein zufammen-
gehöriges Ganze vieler Theile trifft, da hängt Größe, Dauer
und Form der Endwirkung, die er erzeugen wird, nie von ihm
allein, ſondern zugleih und meift in viel höherem Grade von
dem inneren Zufammenhang jener von ihm getroffenen Theile
ab. Die gegenfeitigen Verhältnifje diefer fünnen auf die mannig-
fachfte Weife Die Größe des empfangenen Eindrudes mindern,
erhöhen, auf eine beftunmte Anzahl von Punkten vertheilen, feiner
79
Fortpflanzung Wege anmeifen, auf denen er gebundene Thätig-
feiten löfen, wirkende in Ruhe verfegen kann; am Ende diefer
vielfältigen Vermittlungen wird cin Erfolg auftreten, der dem
urſprünglich erzeugenden Anftoß in Feiner Meife ähnlich ift. Diefe
Reizbarkeit befigt jede Maſchine. Während der Arbeiter ein äu-
ßeres Rab mit beftändig gleicher Geſchwindigkeit nad) derſelben
Richtung bewegt, bemirft das innere Getriebe, dem Ddiefer Anftoß
zu Theil wird, das abwechſelnde Auf- und Abfteigen eines Kol-
bens, der felbft, je nach der Art feiner Verbindung mit äußern
Gegenftänden, auf die mannigfaltigfte Art die Kraft feiner Be-
wegung weiter übertragen kann. Zwiſchen den Eindriden, bie
wir von außen auf den lebendigen Körper treffen jehen, und
der endlichen Rückwirkung, die von ihm ausgeht, ftcht auf völlig
gleiche Weife die unendliche Diannigfaltigfeit feiner Theile mit
ihren beftändigen inneren Bewegungen in der Mitte. Haben
wir im Allgemeinen ein Recht, auf dieſes Zwiſchenglied die Er—
icheinungen der lebendigen Reizbarkeit zurüdzuführen, ohne gleich-
wohl bei ber großen Verwicklung ber Lebensproceffe Die Kette aller
vermittelnden Glieder vollftändig verfolgen zu können, fo fönnen
wir in ihr nicht eine eigenthüimliche wirkende Kraft des Lebens,
fondern nur eine Form des Wirkens fehen, die dem lebendigen
Körper mit jedem zufammengejegten Gebilde gemein ift.
Wir würden fie jevoh mit Unrecht auf zufammengefeßte
Syſteme beſchränken, obgleich auf dieſe hauptfählic ihr Name
bezogen zu werben pflegt. Sie ift dem einfachften Subftrat nicht
minder eigenthümlih. Oder wüßten mir etwa nachzumeifen, wie
in der Erhöhung der Temperatur und der gegenfeitigen Annähe-
rung zweier Elemente die Nothwendigfeit ihrer chemiſchen Ber:
bindung ſchon völlig begründet liegt? Wir müffen im Gegentheil
annehmen, daß eine qualitative Eigenthümlichfeit ihrer Natur
durch diefe äußern Umſtände nur gereizt mird zu einer Wirkung,
welche Diefelben Umftände nicht heroorbringen würden, wenn fie
auf andere Stoffe wirkten. Ueberall hängt der entftehende Er-
folg außer den äußern Bedingungen, an die er gefnüpft ift, zu-
80
gleih von der Natur deſſen ab, auf welches dieſe wirken. Nur
darin geftaltet fich Die Rückwirkung des. Unorganifchen einfacher,
daß fie auf gleiche Reize in gleicher Form und Größe zu erfol-
gen pflegt, meil fie von einer beftändigen und in ihrem Beftande
unveränderlihen Erregbarfeit ausgeht. Das Lebendige Dagegen,
innerlich in fortwährender Bewegung begriffen, bietet den gleichen
Reizen in verſchiedenen Augenbliden verſchiedene Erregbarkeit,
und feine Rückwirkungen nehmen dadurch in größerem Maße
den Schein der Unberechenbarkeit an, als die mehr gleichfürmigen
des Unbelebten, mit denen fie doch in Bezug auf die legten Ge—
fee ihrer Entftehung völlig übereinſtimmen.
So kehren mir auch nach diefer Betrachtung zu jener mecha⸗
niftifchen Auffafjungsmeife zurüd, die in dem Leben, wie überall,
die Möglichkeit Form und Verknüpfung zufanmengefegter Erfolge
von der zufammenftimmenvden Wirkfamkeit der Theile abhängig
macht und die Vorftellung einer. einzigen Kraft aufgibt, melde
mit verändberlicher Thätigkeit nur durch die Rüdfiht auf die Er-
veihung eines Zieles geleitet witrde. Aber den ungänftigen Schein,
der im Gegenfag zu den befämpften Anfichten auf die unfrige
fällt, wollen wir noch durch einige Bemerkungen zu mildern
fuhen. Dies zwar können wir nicht verfprechen, jenen Vortheil
ebenfalls zu gewähren, der eben nur mit dem Grundgebanten
der von und abgelehnten Anſchauung vereinbar ift: wir können
jene ſchöne Einheit und Imnerlichfeit des Lebens, an der unfere
Bewunderung zu hängen pflegt, nicht aus der Wechſelwirkung von
Theilen entftehen laſſen, die in ihren innigften Beziehungen zu
einander Dod immer verſchiedene bleiben, und verſchiedene bleiben
müſſen, wenn fie diefe Vielheit wirkender und leidender Punkte
bilden follen, auf deren mannigfacher Verknüpfung chen die Bor-
theile unferer eigenen Anficht beruhen. Dennoch wäre es kaum
gerecht, uns den Vorwurf zu machen, daß wir den lebendigen
Körper völlig als Maſchine betrachten. Denn wie bereitwillig
wir auch zugeben, daß wir in der That in beiden dieſelben all-
gemeinen Gefege des Wirkens annehmen, fo Tiegt doch in ber
81
Art, in welder die Erzeugniſſe unferer Technik diefe Gefege ver-
wenden, eine gewiſſe Kinnmerlichkeit, die wir ungern auf bie frei-
willigen Gebilde der Natur übergetmmgen fehen möchten.
Unfere Mafchinen arbeiten mit Kräften zmeiter Hand; fie
beruben auf der Feſtigkeit, der Cohäſion, der Elafticität gewiſſer
Stoffe; aber fie erzeugen feine dieſer Eigenſchaften neu, jondern
feßen voraus, daß fie in dem Waterial, welches die äußere Natur
liefert, durch die Kräfte der Elemente bereit8 gebildet find.
Ein beftimmter unveränderliher Grad diefer Eigenschaften ift «8,
was für den Gang der Maſchine erfordert wird; jede Verändes
rung dieſes Grades wirkt als Störung over als Abnutzung ber
richtigen Verhältnifie. Auf eine ſcharfſinnige Verflechtung eins
zelner Theile ift ferner der Rhythmus gegründet, nad welchem
die mitgetheilte antreibende Bewegung fi fortpflangt; aber Diefe
Berbindungsmeife wird nicht durch die thätige lebendige Anzich-
ung ber Beftandtheile felbft hervorgebracht; durch Nägel, Bolzen,
Reifen und Schrauben fehen wir hier die feſte Verknüpfung, dur
Drehung um fefte Aren die Beweglichkeit auf einander ſich bes
ziehender Theile erzwungen; nicht die unmittelbaren Anziehungen
und Abftogungen der Elemente, diefe Kräfte erfter Hand, jon-
bern ihre zur Ruhe gelommenen Producte, Starrheit und Un⸗
durchdringlichkeit, find benugt, um durch Außerlihe Zufammenftel-
lung die Zwecke der Maſchine zu erfüllen. Und ebenfo ift das Thä-
tige in ihr kaum irgendwo eine nen fi erzeugende Kraft ober
Bewegung, fondern alle ihre Verrichtungen beruhen auf ber
Mittheilung oder Fortpflanzung eines empfangenen Anftopes.
Nur diefen Anftoß felbft erzeugt unfere Zeit am häufigften durch
die Benugung elementarer Kräfte, indem fie die Iebendige Span⸗
nung der Dämpfe durch erhöhte Temperatur entwidelt. Aber
auch dieſe lebendige Kraft dient und nur als der Erreger über-
haupt einer an ſich formlofen Bewegung; feine beſtimmte Ge—
ftaltung und dadurch feinen Nugen für die Zwecke der Maſchine
erhält auch diefer Antrieb doch nur durch die Stellung der ftarren
Räder oder Getriebe, auf die er fällt.
Loge I. 3. Aufl. 6
|. |
82
Es ift anders in den freiwilligen Gebilden der Natur.
Kein materielles Band knüpft den Planeten an die Sonne, aber
die unmittelbare Wirkſamkeit einer Elementarkraft, der allgemeinen
Anziehung, hält beide unfihtbar mit einer Elafticität ihres Wir-
kens zufammen, die Feine künftliche Vorrichtung wird nachahmen
fönnen. Keine feftftehende Are, Kein Schraubengang, fein ſich um—
und abwidelndes Seil nöthigt den Planeten, aus feiner grab-
Iinigen Bewegung in gekrümmte Bahnen überzugehen, aber der
beftändig vorhandene und beftändig neu fi) geftaltende Etreit
zwifchen feiner urfprünglichen Geſchwindigkeit und ber Anziehung,
die ihn zur Sonne treibt, führt ihn mit unfihtbarer und ficherer
Hand in gefchlofienen Bahnen bin und her, und feine Ahnugung
der Bewegungsmittel ftört Die Fortdauer dieſes ſchönen Spieles.
Und doch Liegt diefem Fein anderes allgemeines Wirkungsgefeg zu
Grunde, als jene, die auch unfern Maſchinen gelten. Mit unend-
lich größerer Mannigfaltigkeit wiederholt diefelbe Weife der Thätig-
feit auch der lebendige Körper. Auch er wirft nicht mit äußerlichen
Berbindungen von Mitteln, Die gegen einander gleichgültig wären ;
überall taucht auch in ihm das Geſchehen in den Strom ber
unmittelbaren Wirkungen unter; jedes feiner Elemente entfaltet,
ſich bildend, fi zurüdbildend, ſich verändernd, gegen feine Nach—
barn die ganze Fülle jener urjprünglichen Kräfte, die ihm cigen
find, und diefe Wirkungen find hier nicht Störungen für den
Berlauf des Ganzen, fondern fie find Die Bedingungen, die dei-
fen Wirflichkeit jo wie jede zarte Feinheit feiner Form immer
aufs Neue begründen. Und jelbft da, wo ber Ichendige Körper
wirklich zur Erfüllung einzelner feiner Aufgaben die Wirkungs-
weife der Mafchine benugt, wie in der Bewegung ber Glieder,
deren feſte Knochen er nach den Geſetzen des Hebels durch die Seile
der Muskeln zieht, felbft da bildet und erhält er Hebel und Seile
durch eine nie ablaffende Thätigkeit, die in einer vielverflochtenen
Kette unmittelbarer Wirkungen von Atom zu Atom befteht.
Diefelbe Beihränfung auf flarre fertige Mittel und auf eine
äußerliche Verbindung zwiſchen ihnen giebt den Mafchinenmir-
’
83
fungen jenes unheimliche Anfchen, um deöwillen wir am meiften
bie Bergleihung des Lebens mit ihnen zu fliehen pflegen. Lange
Zeit hindurch ſehen wir häufig zwei Theile eines Getriebes be-
ziehungslos neben einander, regungslos vieleicht das eing, das
andere in einer Bewegung begriffen, die Alles umber gleichgültig
läßt; plöglich bei einer befonderen Stellung, die endlich erreicht
ift, erfolgt ein Stoß, und die einzelnen Theile fehen ſich haftig
in eine Wechſelwirkung geriffen, zu der feine allmählich reifende
Vorbereitung in ihnen zu entdeden war, und aus ber fie im näch—
ften Augenblide in ihre gleihgültige Ruhe zurüdfallen. Durch
den ununterbrodenen Fluß der Wirkungen, der von Atom zu
Atom beftändig durch ihre unmittelbaren Kräfte überquillt und
einen Durchdringenden Zuſammenhang des Ganzen in jedem Augen-
blicke vermittelt, vermeidet das Leben dieſe Unftetigfeit der Ent-
wicklung. In jedem Heinften Theile fcheint ein Verſtändniß deffen
vorhanden, was in einem andern fid, vorbereitet, und die unab-
läfitge nicht auf einzelne Momente ſtoßweis vertheilte Wechſel⸗
wirkung aller bringt jenen ſchönen Schein der Weichheit und an-
muthiger Milde der Entwidlung hervor, mit dem alles Lebendige
dem gefpenftifhen Unzufammenhang in den Bewegungen Tünft-
licher Automaten ſiegreich gegenüberfteht.
So ift alfo doch wohl aud nad) unferer Anfiht noch in dem
Lebendigen ein wirkliches Leben, das der fcheinbaren Regſamkeit
der Mafchine fcharf genug gegenüberfteht, um feine göttliche Abkunft
von der Aermlichkeit menfchliher Kunft zu unterfcheiven. Dennoch
wollen wir noch einmal auf den Grund der Hartnädigfeit zuräd-
fommen, mit welcdyer wir diefe Anficht in ſcheinbarem Streit gegen
manches Bedürfniß des Gemüthes fefthalten, deſſen Recht wir doch
völlig anerfennen. Es ift nicht die Neigung, das Leben als das
Ergebniß einer zufälligen Verfammlung von Theilen zu faffen; im
Gegentheil laſſen wir feinen erften Urfprung als ein Geheimniß
vorläufig dahingeſtellt; nur feine Erhaltung glauben wir dem Zu—
fammenhange des Naturlaufes ohne das Eingreifen neuer Kräfte
übertragen. Und eben fo, wie die Geſetze, nach denen der Umlauf
6*
— or
84
unfered Planetenfuftens erfolgt, in einer bisher unwiderlegten
Wiſſenſchaft erkaunt wurden, noch ehe eine glaubhafte Bermuthung
über die Entftehung feiner gegenwärtigen Anordnung aufgetreten
war, ‚eben fo wird eine Lehre von der Erhaltung des Lebens
felbftändig einer andern von feiner erften Entftehung vorangeben
bürfen; ja ſie jelbft wird e8 fein, deren völlige Ausbildung uns
zeigen wird, in welcher Richtung wir Aufklärung über dieſen Ur-
fprung hoffen fünnen. Was und bewegt, ift die eine Ueberzeu⸗
gung, daß die Natur nicht blos ihrem Sinne nach, fondern auch
in den Gefegen ihres Haushaltes nothmendig cin Ganzes bilbet,
deſſen verichiedene Erzeugniffe nicht nad) verſchiedenem Recht,
fondern nur nach der verſchiedenen Benugungsweife defielben Ge—
fegkreifes von einander abweichen. Auf diefer Vorausfegung be-
ruhen alle Hoffnungen, die wir für den Fortſchritt der Wifjen-
haft begen, und alle Gewohnheiten unferes praktiſchen Lebens.
Wer vor der ungeheuren Aufgabe zurückſchreckt, die unendliche Man-
nigfaltigfeit des Xebens auf diefe Grundlagen wirklich zurückzubrin⸗
gen, empfindet ein Gefühl, das wir völlig theilen. Aber die Größe
der geforderten Leiftung darf uns nicht bewegen, zu ihrer be=
quemeren, aber nur ſcheinbaren Erfüllung Principien zu wählen,
deren Möglichfeit wir eben fo wenig einfehen. Die Borftellung
einer einzigen wirkenden Lebenskraft gehört zu diefen Principien.
An wen fie haften folle, ift unflar, wenn nicht eben an ber
Totalität der lebendigen Theile und ihren planmäßigen Verbin-
dungen; wie fie dazu kommen folle, ihre Wirkungsweiſe zu ändern
und das Nöthige in jedem Augenblid zu thun, ift unklar, fo
lange wir nit annehmen, daß fie mit gefeßlicher Nothwendigkeit
‚ unter veränderten Umftänden eine andere wird und anders wirkt,
gleich jeder Kraft, welche das Ergebniß einer Mannigfaltigfeit
. veränderlicher Theile ift. Daß fie an diefen Theilen haftet, von
ihrer Verbindungsweiſe abhängig ift, daß fie nur in beftändiger
Wechſelwirkung mit dem Unorganifchen etwas Leiftet, ruft und bie
Erfahrung überall zu; es ift nicht gerechtfertigt, dDiefe Zurufe zu
vernachläſſigen und das, was ſich nur als ein Geſchöpf beftimmter
85
Bedingungen zeigt, als eine Macht zu faffen, Die mit einer nie
genau abzugrenzenden Unabhängigkeit und Freiheit über Diefen Be-
Dingungen ſchwebe. Wie wenig die Züge, die man als Die unter-
ſcheidenden Eigenfchaften der Lebenskraft hervorgehoben hat, die An=
nahme derfelben nothwendig machen, haben wir umfaffender nach⸗
gewiefen; welche anderen Grunde und zu ihr zurückführen follten,
wüßten wir ebenfo wenig anzugeben als den Nugen, den diefelbe
bisher der Wiſſenſchaft gebracht hätte.
Bierted Kapitel.
Der Mehanigmus des Lebens.
Beftändige und periodiſche Verrichtungen. — Fortſchreitende Entwidlung. — Ges
ſetzloſe Störungen. — Die Anmwenbung ber chemiſchen Kräfte und ihre Folgen für
das Leben. — Geftaltbilbung aus formloſem Keime. — Stoffwechjel ; feine Bebentung,
feine Form und feine Organe.
Als wir die Wandelungen überblidten, welche die Natur-
auffaffung im Ganzen während des Lanfes der menfhlichen Ge-
fhichte erfahren hat, haben wir bemerkt, wie vergeblich wir Die
fchöne Vorſtellung ber befeelenden Triebe da zu benußen ſuchen
würden, wo e8 ſich handelt, die Berwirflihung und Erhaltung
der einzelnen Exfcheinungen in dem zufammenhängenden Haushalt
der Natur zu erflären. Wir haben ferner gejehen, wie durch ihre
Aufgaben die phyfikaliſche Forſchung mit Nothmendigkit dahin
getrieben wird, jedes zufammengejegte und in veränberlicher Ent—
wicklung fi) entfaltende Geſchöpf als das Erzeugniß vieler Kräfte
anzufehen, deren Geſammtwirkung ihre beftimmte Form von ber
Berfnüpfungsweife ihrer Träger erhält. Die Ueberlegung ber
Erſcheinungen endlich, bie als Die großen Hauptzäge des Leben®
Jedem beiannt find, hat uns zur Befefligung ber Ueberzeugung
gedient, daß auch das Lebendige, wie unermeßlich fein Werth:
86
und feine Bedeutung alles übrige Dafein überragen mag, dennoch
zur Erflärung feines Zufammenhanges und feiner Leiftungen
die Rückkehr zu der Annahme einer befonders gearteten Xebens-
kraft nicht erfordert. Um fo mehr wird man von und die Angabe
jener eigenthümlichen Anordnungen verlangen, durch welche die Be—
ftandtheile des lebendigen Körpers in ben Stand gejegt werben
follen, ohne die erneuerte Nachhülfe einer höheren Kraft dies reichhal⸗
tige Spiel der Entwidlung durchzuführen. Je genauer wir jedoch die
Mannigfaltigfeit der vorliegenden Lebenseriheinungen mit unferer
bisherigen Kenntniß ihrer Bedingungen vergleichen, deſto weniger
werben mir Die vermeffene Hoffnung hegen, biefe Aufgabe je voll-
ftändig gelöft zu fehen. Die zuverſichtlichen Verſuche, mit den
äußerft unzureichenden Mitteln, die wir jegt befigen, jede Frage
endgültig entfcheiden zu wollen, können nur die entgegengefeßte
Anſicht ermuthigen, aus den Schwierigkeiten, welche fie beffer zu
würdigen weiß, auf die Unmöglichkeit des Zieles zu fchlichen,
das ungeachtet feiner Unerreichbarfeit unferen Unterfuhungen
doch ihre Richtung geben muß. Dennoch ift unfere Unkenntniß
nicht jo groß, daß wir nicht in der Beihreibung der einzelnen
Lebensverrihtungen auf lange Streden hin den mechaniſchen Zu-
fammenhang der Wirkungen verfolgen, und nicht jo beſchränkt un⸗
ſere Ueberfiht über das Ganze, daß wir nicht einige der Grund—
züge hervorheben Fünnten, durch welche fi die Verwendung der
allgemeinen Mittel der Natur für die Zwecke des Lebens von
den übrigen vorfommenden Benugungsweifen derjelben abtrennt.
Verſchiedene Ablaufsformen der Ereigniffe ſehen wir in dem
Lebendigen einander durchkreuzen. Mit gleichfürmiger Stärke
dauern einige Berrichtungen lange Zeiten hindurd unverändert
fort; andere vollenden in verſchiedenen Perioden abgejchloffene
Kreisläufe und kehren nahezu mieber zu den Zuſtänden zurüd,
von denen fie für eine Weile fich entfernt hatten. Aber dieſe
ftetigen oder. in ſich ſelbſt zurüdlaufenden Bewegungen werben
überall von einer andern fortfchreitenden Entwidlung begleitet, durch
die der lebendige Leib nach einem inwohnenden Gefege allmäh-
87
licher Entfaltung feine äußere Geftalt und den inneren Zuſammen⸗
bang feiner Berrihtungen ummandelt, um mit der Auflöfung
zu endigen, die nicht nur den unvermeiblichen, ſondern den natür-
ih vorausbeſtimmten Abſchluß feiner Erfcheinung bildet. Aber
auch dieſen Entwidlungsgang und die gefegliche Aufeinanderfolge
feiner Stufen unterbrigt in jedem Augenblide des Lebens die
Mannigfaltigfeit der äußeren Eindrüde und die nicht geringere
der Rückwirkungen, in denen das Lebendige bald mit vorübergehen⸗
der Erregung bald mit bauernder Anftrengung ſich felbft und
die Gegenftände der Außenwelt bewegt. Weber jene Eindrüde
noch dieſe Bewegungen find an ein feſtes Geſetz ihrer zeitlichen
Wiederkehr oder ihrer Reihenfolge gebunden; in unberechenbarer
Zufälligfeit einwirkend und angeregt, können fie zunädft nur
als Störungen des Körpers und derjenigen feiner Einrichtungen
gelten, auf welche der ftetig zufammenbängende Gang feiner be=
ftimmt geftalteten Entwidlung begründet ift. Aber dennoch liegt
nicht in der ftillen und unverrüdten Entfaltung, fondern eben
in diefer Leiftungsfähigfeit, die in jevem Augenblide einen Ueber—
ſchuß Ichendiger Kraft gegen vegellofe Eindrüde zu verwenden ver-
mag, der weſentliche Charakter alles thierifchen Lebens. ‘Deshalb
muß zu diefen Rückwirkungen, die im Einzelnen nicht vorgeſehen
und vorberechnet fein fonnten, wenigftens die allgemeine Möglichkeit
in einem weſentlichen Zuge des thierifchen Haushalts gefichert fein.
Bon der beftändigen Fortdauer eines und deſſelben Ereig-
niffes, fo wie von dem abgefchloffenen Kreislauf in fih zuräd-
gehender Entwidlung bietet und die unorganiſche Welt Beifpiele
von fehr einfacher Begründung. Im der That würde der Fort⸗
beftand jeder einfachen Bewegung eines Körpers Teine andere
Hülfe als die Abhaltung ftörender Urſachen erfordern ; und wiederum,
der Hinzutritt einer einzigen Störung, jener Anziehung etwa,
die den bewegten Körper an einen andern feflelt, veichte hin, ſei⸗
nen Weg zu krümmen, und nur wenige nähere Bedingungen
würden nöthig fein, um biefen in die gefchloffene Bahn zu ver:
wandeln, in welcher der Planet um feinen Hauptlörper kreiſt.
88
Und endlos würde dies regelmäßige Spiel von Bewegungen zwi-
ſchen beiden Körpern ſich fortfegen und wiederholen, fo lange fie
jeder inneren Beränderung ihrer Maſſen und Kräfte, fo wie jedem
Eindrude der Abrigen Welt um fie ber entzogen blieben. Aber
es würde eine Täufchung fein, wenn wir biefe Beifpielc beitändig
gleichförmiger oder im fich zurüdgehender Entwidlungen als Belege
für die Leichtigfett anführen wollten, mit welcher aud dem Leben
die Berwirflihung feiner ähnlich geformten Verrichtungen gelingen
müßte. Denn obgleih auch feine Wirkſamkeit zulegt anf ber
Benutzung jener einfachen Gefege der Beharrung und der Zus
fammenfegung der Kräfte beruhen wird, fo finden wir bei näbe-
rem Einſehen doch die Verrichtungen, die innerhalb des lebendi⸗
gen Körpers in einem gleichförmigen Strome fortgehen, wie Die
beftändige Aneignung und Erhaltung in den Feinften Theilen,
durch weit zufammengefestere Vorgänge vermittelt, als Die ein=
fache Geftali des herauskommenden Erfolges vermuihen Tief.
Sie gleichen dem ruhigen Lichte der Kerze, deſſen gleichför=
miger Schimmer nichts von der Reihenfolge ineinandergreifender
Wirkungen erzählt, durch die er ſich nährt. Als der erfte ent=
zünvete Theil des Dochtes ſich mit dem Sauerftoff der atmofphä-
riſchen Luft verband, erzeugte er verbrennend mehr als Die nöthige
Wärme, um auch den benachbarten Theil fo weit zu erhitzen,
daß er derfelben Berwandtihaft zum Sauerftoff folgen konnte.
Sp ſchlug vom zweiten zum dritten und über das Ganze bie
Flamme auf, indem jeder Punkt durch einen Theil feiner ent=
dundenen Wärme die gebundenen Kräfte des andern zum Aus-
bruch in gleihe Entzündung löſte. Aber die Flamme würde
zu ſchnell das zarte Gewebe der Yäben verzehrt haben, wenn
wicht ein anderer Theil der Befreiten Wärme das Wachs in
Fluß geiett hätte, das beſtimmt ift, den Brand zu nähren.
Durch die anffaugende Anziehung bes Dochtes fteigt die fläffige
Maſſe auf und indem fie fein Gewebe vor zu fchneller Zer⸗
flörung trankend ſchützt, gelangt fie bis zu einem Punkte, Durch
defien gefteigerte Temperatur fie ſelbſt entflammt wird, während
89
bem auffteigenden Strome der erhigten Luft, die fi von ber
Flamme erhebt, an diefem Punkte von unten eim frifher Nach⸗
zug, die eingeleitete Berbrennung unterhaltend, nachfolgt. So
entlaftet Die geſchmolzene Flüſſigkeit, nun felbft durch den Brand
verflüchtigt, Die gefüllten Fäden des Dochtes wieder und gewährt
dem neuen Material, zu deſſen Schmelzung fie felbft beitrug,
freien Raum, um nad oben nachrädend diefelbe Folge von Vor-
gängen fortzufegen.
Auf ähnlichen Beranftaltungen beruhen die ſcheinbar ein=
fachen und gleihförmig fortgebenden Berrichtungen des Lebendigen.
Nur dag die Flamme erlifcht, wenn das einmal vorhandene Ma-
terial verzehrt ift; den lebendigen Thätigfeiten führt der Zufam-
menbang des Ganzen die Möglichkeit ihrer Fortfegung wieder
von Neuem herbei. So erfcheinen fie nicht ſowohl als die ele-
mentaren Borgänge, deren gleichförmige Beſtändigkeit den halten-
den Boden fir Die Veränderlichleit der übrigen darbietet, fondern
mehr als Leiftungen, die der Zuſammenhang eines größeren und
verwidelteren Planes zwar mit einfacher Form ihres Berlaufes
aber mit feiner und vickjeitig verfälungener Begründung vermit-
telt. Nicht weniger unzureichend würden die Analogierf des Plas
netenlaufe® zur Erklärung der periodifchen Kreisläufe fein, welche
wir andere Berrichtungen des lebendigen Körpers vollenden fehen.
Die Pulſationen des Herzens, die rhythmiſchen Zufammenzieb-
ungen ber Eingeweide, der Wechjel des Athmens, Das alles
find Vorgänge, die Feine Achulichkeit mit den einfachen Bewegun-
gen freiſchwebender Körper haben. Große Anzahlen unter einan-
der feftwerbumdener Theile fehen wir hier zu gemeinfamen Be-
wegungen zufammenmirfen, deren Ausführung nicht ohne eine
Aenderung in der Berfnüpfungsweife der Theile, nicht ohne Auf:
opferung einiger der Bedingungen möglich ift, an denen eben
ihre Wirkfamleit hängt. Auch diefe Leiftungen find deshalb einem
allgemeineren und umfafienderen Plane untergeorpnet, der ihnen
den Wiebeverfag der verbrauchten Berhältniffe und die regelmäßige
Wiederkehr der Anregungen fichert, deren fie bebürfen.
90
Bergeblih würden wir die dritte der Ablaufsformen zufam-
mengefegter Ereigniffe, die wir oben erwähnten, die fortichreitende
Entwielung dur eine Stufenreibe vorausbeftimmter Zuftände,
in der unorganifchen Welt aufſuchen. Ste gehört dem Leben allein
und tritt in der vollen Schönheit und Reinheit ihrer Bedeutung
in der Entfaltung der Pflanzen hervor. Dennoch ift e8 nicht
ganz ohne Werth, den unvolllommneren Borandeutungen zu fol-
gen, die wir von ihr in dem unlebendigen Gefchehen finden kön—
nen. Nur zwifchen jenen beiden Körpern, die wir früher anführ-
ten, könnte das Spiel einer Freifenden planetarifhen Bewegung
in endlofer Regelmäßigfeit fortdauern; der Hinzutritt jedes brit-
ten würde die Wechfelmirtung der beiden erften verändern und
fie nötbigen, in Bahnen fi) zu bewegen, welche den Einfluß
einer äußern Störung verriethen. Nur in längeren Perioden,
wenn überhaupt, würde e8 dieſem Syſtem von Körpern gelingen,
völlig wieder in feine urfpränglicde Anordnung zurückzukehren und
von ihr aus die vollendete Bewegung genau in gleicher Weife zu
wiederholen. Mit der Anzahl der gegen einander wirkenden Glie-
der wird die Schwierigkeit eines rhythmiſch in fich zurückkehrenden
Verlaufs der Veränderungen wachſen, und es wird befonders
günftige Bedingungen bebitrfen, wenn die gegenfeitigen Störungen
auf ein Maß der Kleinheit beſchränkt bleiben follen, bei welchem
fie im Ganzen die Geftalt des Syſtems und feiner Bervegungen
nicht wejentlich beeinträchtigen. Soldye Bedingungen finden ſich
für das Planetenſyſtem unferer Sonne verwirklicht, und zu ihnen
gehört vor Allem dieſe, daß es mit aller innern Mannigfaltig-
feit feiner Bewegungen body ein abgefchloffenes und ifolirtes Ganze
bildet, bis zu welchem ſich die Einwirkungen der noch außer ibm
gelegenen Welt, der entfernteren Firfterne, nicht mehr in merk—
lihen Spuren erftreden. Anders würde es ſich verhalten, wenn
diefes Syſtem, ebenſo wie der Körper ber Pflanze, den Einflüffen
von außen geöffnet wäre und, wie fie, e8 erleiden müßte, daß
alle die Bewegungen, in die es nad der Anlage feiner eigenen
Natur geriethe, durch eine regelmäßige oder unregelmäßige Wieder:
91
kehr äußerer Eindrücke getroffen und verwandelt wirben. Neh—
men wir an, daß ein Syſtem von Himmelskörpern dur einen
Raum fi fortbewegte, in welchem es Maffen, auf welche feine
Anziehungskraft wirken könnte, nach irgend welchem Gefete ver-
theilt vorfände, fo wilde e8 nicht nur wachſen, indem es dieſe
in die Kreife feiner eigenen Bewegungen hineinzöge und für bie
Zukunft an ſich feffelte, fondern durch den Zutritt dieſer neuen
Beſtandtheile würden auch die gegenfeitigen Beziehungen der frühe:
ren verändert werben umb bie Bewegung des Ganzen fidh beftän-
dig in neuen Formen entwideln, deren jede aus der eben voran=
gegangenen und aus ber Einwirkung ber neuen Bedingungen
des Augenblides fi) mit Nothwendigfeit ergäbe. So entftände
eine georbnete Stufenfolge von Zuftänden, den einzelnen einander
ablöfenden Entwidlungsphafen des Kebendigen vergleichbar. Denn
eben der lebendige Körper ift ein ſolches offenes Syſtem von
Theilen, gegen die Einwirkungen des Aeußern nicht abgefchlofien,
fondern ihrer zu feiner Entmwidlung bedürftig. Zu dem, wozu
er ſich entfaltet, liegt nicht der vollftändige Grund in ihm felbft;
nicht allein des Zuftromes der Maffen ift er benöthigt, aus denen
feine wachſende Geftalt erbaut werben foll, fondern auch erregen-
der Eindrüde, die feinen eigenen Kräften Richtung und Aufein-
anderfolge ihrer Aeußerungen beftimmen; ſcheinbar abgefchloffen
in ſich felbft, ift er doch nur die eine Hälfte von dem Grunde
des Lebens, während die andere ergänzende noch geftaltlos in dem
allgemeinen Strome de8 Naturlaufs Liegt, der an ihn herandringt.
Die Entwidlung des Lebendigen beruht jedoch nicht allein
hierauf; eine andere Eigenthümlichleit müfjen wir hinzufügen,
durch Die es ſich wöllig von jenem Bilde eines ſich entwidelnden
Sternenſyſtems unterjcheiden würde. Es ift die ausgedehnte Be-
nugung der chemiſchen Verwandtichaften und der Anziehungen
auf unmerkliche Entfernungen, welche hier an die Stelle der den
92
Weltraum durchdringenden und das Entferntefte verknüpfenden
Gravitation getreten find. Die gewöhnliche Anſchauung, wenn
fie nur den Körper ber Pflanze und des Thieres als ein leben⸗
dig zufammengeböriged Ganze, das Planctenfyftem als eine Ge⸗
fellung ſelbſtändiger Wefen anfteht, macht diefen Unterſchied nicht
ohne Grund; er hängt mit diefer Berfchievenartigfeit der Kräfte
zuſammen, denen im beiden Fällen der weſentlichſte Antheil an
der Berwirffihung der veränderligen Entwidlung zufält. Auch
ber Körper der Planeten wird durch jene Anziehungen gebilvet . |
und zufammengebalten, die nur in größter Nähe wirkſam, in
merflichen Entfernungen verſchwinden, und unanfhörliche chemifche
Beränderungen geftalten wenigftens feine Oberfläche unabläffig
um; aber dieſe inneren Schwankungen haben feine Bedeutung
für Die Anziehung, dur Die er als Ganzes in dem reife der
Himmelskörper feine Stelle bat. Auch in dem lebendigen Körper
umgefehrt wirkt die Schwere überall, jo viel ihr nach allgemeinen
Gefetzen möglich ift; aber wie wichtig und bebeutfam dieſe Wir-
tungen für einzelne Fälle fein mögen, ein durchgreifender Einfluß
zur Geftaltung der Lebenserfheinungen tft ihnen nicht eingeräumt.
Mit feiner Anziehung in Die Ferne, melde ungemeffene Welt-
räume noch wirkſam durchdringt, vermag das Planetenſyſtem jene
für den Anblid fo Iofe und doch in der That fo fefte Verbindung
von Theilen zu bewirken, deren Größe gegen die Ausdehnung
ber Entfernung zwifchen ihnen verſchwindet; der lebendige Körper
Dagegen gewinnt durch jene Kräfte, die ſchon in geringer Entfer—
nung von Ihrem Ausgangspunkt nichts mehr Teiften, aber in un-
mittelbarer Berührung der wechſelwirkenden Theile große Wider-
ftände bezwingen, jenes fefte zufammenbängende Geflige, durch
das er überall als eine gefchloffene Einheit fich won feiner Um—
gebung abhebt. Und dieſer Unterſchied befteht nicht allein fire
den Anblid. Sich felbft überlaſſen, mag der Zufammenbang
eines Sternenfoftens feft fein; aber wie er nur hergefteßit: wirb
durch Kräfte, deren Wirkfamleit in die Berne bringt, fo ift er
uch flörbar durch folge, die aus der Yerne kommen, und er
93
wird durch entfpreddende Schwankungen den Einfluß der leifeften
Beränderungen in der Anordnung ber ihm äußeren Welt ver-
rathen, gegen die er auf feine wirkſame Weiſe ſich abfchlichen
kann. Dem lebendigen Körper dagegen, der zu beftändiger Wech-
ſelwirkung mit der äußern Welt beftimmt ift, dient dieſe eigen-
thümliche Ratur feiner Kräfte zur Schutzwehr; die geringe Ent:
fernung, in welcher die chemiſche Verwandtſchaft und die Cobäfton
ihre Wirffamfeit verlieren, umgibt ihn mit einer Zone von
Gleichgültigkeit, während dieſelben Kräfte feine eigenen ſich berüh—
renden Theile mächtig genug zufammenhalten, um felbft der wirk⸗
lid andringenden Gewalt Widerſtand zu Ieiften. Während ba-
ber das Iodere Gefüge eines Sternenfuftems mit einer bewun⸗
dernswürdigen Empfindlicfeit die Veränderungen des übrigen
Weltalls in feinen eigenen Veränderungen abfpiegeln würde, kehrt
der lebendige Körper, hierin von derberer Natur, aud nach gro-
gen Schwanfungen in die frühere Lage feiner Theile zurüd, und
bietet uns dadurch den Anblick einer ſich gleihbleibenden und doch
nicht ftarren, fondern beweglichen Geftalt.
Noch einen andern Vortheil möchten wir bier erwähnen, den
das Lebendige aus demfelben Umftande zieht, und der im erften
‚Augenblide vielleicht als ein Nachtheil erfcheinen mag Man
bat fih fo fehr daran gewöhnt, einen der mefentlichften und wun⸗
berbarften Vorzüge des Lebens in der überaus feinen wechſelſeitigen
Verfnüpfung der Theile zu fehen, daß es auffallen fann, wenn
wir gerade den Mangel einer ſolchen in gewiſſem Sinne als feine
wirflihe Eigenſchaft hervorheben. Dennoch findet fich dieſer
Mangel und man ann fich Teiht überzeugen, daß in ibm, der .
nur für beftimmte Zwecke durch eigenthümliche Beranftaltungen
wieder ausgeglichen ift, eine größere Sicherheit fiir den Fortbeſtand
des Lebens, als in jenem nicht vorhandenen Uebermaß durchdrin⸗
gender Verknüpfung liegt. Wären alle Theile des lebendigen
Körperd ummittelbar fo durch Wechſelwirkungen verbunden, daß
jede Heine Veränderung des einen ihren Wiederhall über die Ges
fammtheit der übrigen verbreiten müßte, fo wilde hierin eine
94
reihe Quelle unendliher Störungen für das Ganze liegen, die
eben fo umfängliche Beranftaltungen zu ihrer Ausgleihung er-
forderten. Denn nicht überall würde e8 wohl möglid fein, die
Störung fih an ihren eigenen Erfolgen breden zu laſſen, und
geſchähe felbft dies, fo witrde Doch die Unruhe überhaupt, die dadurch
in das Ganze käme, ein Uebel fein, fobald fie nicht nebenher
zur Erreichung anderer Zwede nugbar gemacht wirde. Im dem
Syſtem der Himmelskörper fchen wir den Erfolg diefer durchdrin⸗
genden Wechfelwirfung, indem Fein einzelner Planet feine Bahn
jo befhreiben kann, wie er fie ohne die Störungen durch die An-
ziehung der übrigen befchreiben würde. ‘Der lebendige Körper ftellt
durch den befonderen Bau feines Nervenſyſtems den engeren Zu—
fammenbang da und in dem Sinne in größter Teinheit ber, wo
und wie er zwedmäßig für die Aufgaben des Lebens ift; an ſich
aber hängt bei dem geringen Wirkungskreiſe der Kräfte, Die hier
in vorberfter Reihe thätig find, jeder einzelne Theil nur mit wenigen
feiner nächften Nachbarn fo unmittelbar zufammen, daß jeder Zu—
ftand des einen mit bemerfliher Wirfung fi auf den andern
verbreiten müßte. Daraus entfteht für einzelne Gruppen von
Theilen die Freiheit, ihre Geftalt, ihr Gewebe und ihre Mifchung
mit einer gewiſſen beharrlihen Selbftänbigfeit auszubilden und
ungeftört durch vorlibergehende Schwankungen de8 Uebrigen Ver:
rihtungen zu vollziehen, auf deren gleichmäßigen Verlauf der Zu:
fammenhang des Ganzen rechnet.
Kaum ift c8 nun nöthig, die eigenthümlichen Erfolge befon-
ders hervorzuheben, melche für das Leben aus der Benugung der
hemifchen Vorgänge entfpringen. Die himmlifhen Bewegungen
gefhehen an gleihbleibenden Maffen ; die mafchinenbauende Technif
verivendet zwar chemiſche Kräfte zur Herftellung des bewegenden
Antriebes, aber die Form der Leiftung gründet fie ebenfalls auf
einen ftarren Bau unveränderlider Theile; das Lebendige allein
zeigt uns eine Entwidlung, deren Träger nicht nur an Maffe wacdh-
fen, fondern während ihrer Thätigkeit eine voraus beftimmte Aende⸗
rung ihrer Natur erfahren. In viel mejentliherem Sinne als
|
95
dort ift daher hier jeder zufünftige Erfolg durch den unmittelbar
vorhergehenden Zuftand bedingt. Auch in der Maſchine gelingt
die Leiftung des fpäteren Augenblid® nur durch das Verdienft des
früheren, der die Theile des Getriebes in die erforderliche Stel-
lung gerüdt bat; aber es bleiben doch in dem einen wie in dem
andern diefelben wirffamen Maffen und diefelben Kräfte; Die
Leiftung des Ganzen ift deshalb auf eine vielleicht mannigfaltig
zufammengefegte, aber doch immer wiederkehrende und fi nicht
fteigernde Reihe von Erfolgen beſchränkt. In dem Tebendigen
Körper fett jede geſchehene hemifche Aenderung Kräfte in Wirk:
famfeit, die früher nicht vorhanden waren, und bringt andere zur
Ruhe; fo wird in jedem Augenblide für die fpätere Entwidlung
eine neue Grundlage gefchaffen, dic bald eine Fortdauer der
früheren Zuftände, bald eine Entfaltung in neue, bald beides
mit einander verbindend, iiberhaupt die Ausbreitung in ein viel
reichhaltigere8 Spiel der Geftaltung und der Leiſtung ge-
ftattet. ‚
Man muß diefe ſtufenweis erfolgende Wiedergeburt der
Grundlagen jelbft im Auge behalten, wenn man die Entftehung
des Organismus aus feinem Keime verftehen will, ohne den be=
ftändigen Eingriff einer ordnenden Macht nöthig zu finden. Die
Erfahrung macht e8 uns freilich bis zu faft völliger Gewißheit
wahriheinlih, daß in dem gegenwärtigen Naturlauf fein Or-
ganismus fi mehr unmittelbar aus einer Verbindung elementarer
Stoffe erzeugt; nur in der Fortpflanzung durch Gleichartiges
läuft noch die Tradition des Lebens fort und erhält beftändig
in dem Samen und dem Ei die beflimmt angeoronete Summe
von Theilen beifanımen, aus deren Anregung dur äußere Reize
die Reihe der Lehenserfcheinungen fi wieder entwideln kann.
Selbft dieſe Ueberlieferung jedoch erſcheint uns häufig zu gering,
dieſer Anfangspunkt zu einfah, als daß mir in ihn allein die
Bedingungen der Fünftigen Wieverentwidlung niedergelegt denfen
könnten. Wir vergefien dann, daß es in der That ein langer
Bildungsgang tft, der durch unzählige Vermittlungen von der
96
Unſcheinbarkeit des Keimes bis zu der Vollendung der Blüthe
und Frucht fiihrt, und daß auf jeder Stufe dieſes Weges Mög-
Tichfeiten entftehen, die auf der vorhergehenden noch fehlten. Wir
find weit entfernt davon, eine Geſchichte dieſer Ummandlungen
und der Gefege fchreiben zu können, nad denen fie wirklich in
beftimmter Reihe in der Entwidlung des Lebendigen auf ein-
ander folgen; aber wir find nit ganz außer Stand, im All⸗
gemeinen bie Hülfsmittel zu jhägen, welche die Ratur hier auf-
geboten haben Tann, und deren Bermittlung die große Kluft
zwifchen dem Anfangs: und dem Endpuntte der Bildung durch
Theilung in viele Zwiſchenſtufen verringert.
Selbft wenn und nichts am Anfange vorläge, als cine
Flüffigfeit von genau beſtimmter Mifhung ihrer Beſtandtheile,
ohne daß noch irgend ein fefter Kern als Grundlage des werdenden
Drganismus fi auszeichnete, jo würden doch die erften chemiſchen
Einwirkungen der Umgebung binreihen können, diefen Kern zu
erzeugen. Durdy Gerinnung würde ein Beſtandtheil fi aus-
ſcheiden, und da der Natur jedes Stoffes nicht nur eine beftimmte
Form entfpricht, die er fich felbft überlaffen annimmt, da vielmehr
unter Umftänden auch die Größe der Geftalt beftimmt fein kann,
die er durch feine Kräfte zufammenbaltend abſchließen kann, fo
würde dieſe feſtwerdende Subftanz in eine beftimmte Anzahl von
Theilen zerfallen, die nun die gegenfeitige Stellung einnehmen, in
welcher fic mit allen vorhandenen Bedingungen im Gleichgewicht
find. Mag indeffen hierdurch oder durch den jchon beftehenden
Bau des Samens der erfte fefte Kern der weiteren Bildung
gegeben fein, wir beblirfen nichts als eine geringe Ungleichartigfeit
feiner Anordnung nad verſchiedenen Richtungen, um zu begreifen,
wie die Entwidlung des nächſten Augenblicks, indem fie gleiche
äußere Reize auf dieſe abweichend gebauten Theile einwirken
läßt, ihre Ungleichartigfeit fteigert und fo das Hervortreten ver-
fhiedener und weit auseinander gehender Formen aus dem
Iheinbar gleihartigen Urfprunge vorbereitet. Jede gefchehene che⸗
mifche Umwandlung wird zunäcft die räumliche Anordnung nad
97
fih ziehen, Die dem veränderten Stoffe entfpricht; aber jede fo
herbeigeführte neue Geftaltung wird die fpätere Einwirkung der
Reize mitbedingen, indem fie diefelben von jegt unzugänglich ge—
wordenen Theilen abhält und auf andere zugänglich gebliebene
zufammendrängt und fo wiederum der fpäteren Entwidlung näher
beftimmte Wege vorzeichnet.
Wie jedoch jede chemiſche Miſchung eine beftimmte Geftalt,
jo führt aud die gewonnene Geftalt neue Gewohnheiten des
hemifhen Wirkens berbe. In den Werkftätten unferer Kunft
vermeiden wir es, das Gefäß an den hemifchen Wechſelwirkungen
feines Inhalts theilnehmen zu laſſen; in dem lebendigen Körper
bilden die Gewebe nicht nur den theilnahmlofen Schauplag, der
andere Stoffe zu gegenfeitiger Einwirkung zufammenbrängt, fondern
üben durch ihre Dichtigkeit, ihre Form, und durch die anzichenden
_ oder abftoßenden Kräfte, welche fie auf ihren Inhalt äußern, auf
den Gang der Stoffummwandlung einen mitbeftimmenden Einfluß
aus. Durch diefe ſtufenweis fortichreitende Ausbildung des Ge-
fäßes, in dem fie enthalten find, werden die ernährenden Flüſſig⸗
feiten zur Erzeugung feinerer Miſchungen ausgearbeitet und ben
äußeren Lebensreigen ein immer beftummter angeorbneter Zutritt
verftattet. Keins diefer zufammenmirkenden Elemente dürfen wir
gering fhägen, und wie vollfommen wir aud überzeugt find, daß
feiner von allen dieſen Borgängen der lebendigen Entwidlung ſich
den allgemeinen Gefegen des phyſiſchen und hemifchen Wirfens ent-
ziehen könne, fo wenig können wir hoffen, mit dem bisher befannten
Theile diefer Geſetze die unüberfehbare Berwidlung zu erflären,
mit welcher die beftändigen Veränderungen der Form, der
Miſchung und des Zutritts der äußeren Reize bier in einander
greifen. Am wenigften dürfen wir hoffen, daß e8 der menjdh-
lichen Kunft je gelingen werde, einen irgend wie wefentlichen Be-
ftandtheil eines Ichendigen Körpers nachahmend zu erzeugen. Denn
fo gewiß jedes Tebendige Erzeugniß durch Feine andern Kräfte
entftehen konnte, als durch die des allgemeinen Naturlaufs, fo
gebörte doch zu feiner Entſtehung ebenfo nothwendia die ganz be-
Loge I. 3. Aufl.
98
ftimmte Anordnung diefer Kräfte und ihrer Träger, die allein
erft dem fünftigen Erfolg feine Form vorzeichnen fonnte. Und
diefe Anordnung fehen wir nie ſich von felbft wiedererzengen ; ihre
Bewahrung hat die Natur der beftändigen Ueberlieferung durch
Fortpflanzung vorbehalten. Jede Hoffnung, fünftlih das Leben
von Neuem zu fchaffen, würde Die anmaßende Zuverfiht ent-
halten, daß wir mit mwenigeren und unzureihenden Mitteln und
auf fürzerem Wege das heroorzubringen vermöchten, was die Natur
jelbft nur durch einen langen Entwidlungslauf unb nur burd
das Einfegen bereitd organifch georoneter Kräfte zu verwirklichen
vermag.
Zu verſchiedenen Zeiten nun hört die Bildungsfähigkeit der
verfchiedenen Theile eines jo fich entwidelnden Syſtems auf; einige
haben die Reihe der Ummwandlungen durchlaufen, zu denen fie unter
den vorbamdenen Umftänden fähig waren, während andere nod) in
ber Mitte ihres Bildungslaufes find. So zieht der verholgende
Stengel der Pflanze fih allmählich von der Theilnahme an ber
weiteren Entwidlung zurüd, aber er fährt fort mit feinen phyſiſchen
Eigenfhaften der Feftigfeit und Starrheit dem Ganzen zu dienen,
indem er ben beweglich gebliebenen Theilen den Schauplag ihrer
Thätigkeit vorzeichnet. Auf die mannigfaltigfte Weiſe ſchafft fich
jo die Entwicklung in ihrem Fortſchritt neue Unterlagen, von denen
aus fie weiter wirkt, aber fie erzeugt ſich dadurch auch zugleid)
Schranken, melde die Möglichkeit des Wirkens auf beftimmte
‚Formen zurückbringen, und fo entweder die Feſthaltung eines
durchgehenden Bildungstypus oder zugleich den endlichen Abſchluß
des Lebens und die völlige Erfhöpfung aller Gelegenheiten des
Weiterwirkens herbeiführen. Alle diefe Züge, welche für ung das
Bild einer in fi abgeichlofienen Entwidlung zufammenfegen, wird
man an die Benugung der hemifchen Verwandtſchaften und an die
Anwendung jener molecularen nur in der Berührung wirkenden
Kräfte gefnitpft finden.
99
Die Pflanze, das deutlichfte Beifpiel diefer Entwidlung, bat
feine andere Aufgabe ihres Lebens, als die Ausbildung ihrer eige-
nen Geftalt. Böte ihr die Außenwelt die Stoffe fertig dar, welche
fie zu dieſem Bau benugen könnte, jo wiirde fie nur aufnehmend
fi verhalten, aber e8 läge Feine Nothwendigkeit vor, um deren
willen fie vor ihrer gänzlichen Zerftdrung der Außenwelt Stoffe
zurückgeben müßte; Die einmal aufgenommenen würden ihre bleiben=
den Beftandtheile fein. Aber fie findet dies fertige Material nicht,
fondern ift genötbigt, es aus den Elementen zu erzeugen. Bei
diefer Arbeit kann ein Theil des verwendeten Stoffes als un=
benußgbares Nebenproduct abfallen und der Außenwelt zurüdge-
geben werden; andere Stoffe, wie die großen Mengen des auf-
genommenen Waſſers, durchkreifen den Planzenförper, nit um
ihm als Beftandtheile anzugehören, fondern um als Löfungsmittel
die Beweglichkeit der wirkſameren Theile zu fihern; auch fie gehen
nach Leiftung ihres Dienftes in die Außenwelt zurüd; mandes
endlich, was für gewiſſe Perioden des Wachsthums von Werth
war, löſt fih nah Erfüllung feiner Aufgabg vertrodnend ober
vermwelfend vom Ganzen ab. Aber feinen Grund haben wir an=
zunehmen, daß diejenigen Stoffe, welche einmal in den feften
Bau der Pflanze eingegangen find, einer wiederholten Erneuerung
unterliegen. Der thieriſche Körper verhält fih befanntlih in
biefer Beziehung anders, und obgleich nicht alle Zmeifel über bie
Ausdehnung feines Stoffwechſels befeitigt find, fo ift doch gewiß,
daß ein großer Theil feiner Maffe in beftändiger Zerfegung
und Wiederernenerung durch friichen Anfag begriffen iſt. Diefe
Thatfache, deren Umfang wir fpäter ins Auge faffen werben,
wollen wir zunächſt in ihrer Bedeutung für denjenigen Zug des
tbierifchen Lebens überlegen, mit dem fie unftreitig in nächſtem
Zufommenhang fteht, nämlich mit den Leiftungen, die der thie-
riſche Körper, ohne ein beftimmtes Gefeg ihrer Wiederkehr und
Reihenfolge, noch außer ber Ausbildung und Erhaltung feiner
eigenen Geftalt ausführt.
Keiner der unzähligen Eindrüde, mit denen die Außenwelt
7*
100
bie Sinne fortwährend vegellos beſtürmt, und deren Umfegung
in Empfindung die Aufgabe der thierifchen Secle iſt, kann von
dem Körper aufgenommen werben, ohne daß die auffaffenden Or-
gane durch ihn eine Aenderung des Zuftandes erführen, in welchem
ihre wirffamen Theile fi im Augenblide der Ruhe befinden.
Keiner der ebenfo zahlreichen Bewegungen, durch welche das in-
nere Leben des Thieres auf diefe Reize zurückwirkt, iſt ausführbar,
ohne Daß die große Lagenveränderung feiner Glieder durch eine
unzählbare Menge von Beränderungen in der gegenfeitigen
Stellung ihrer Heinften Theilchen vorbereitet würde. Alle dieſe
Borgänge, da fie nicht wie voraus beftimmte Entwidlungszuftände
in georbneter Reihenfolge fondern jedem mathematiſchen Geſetze
entzogen eintreten, können nur als flörende Erſchütterungen der
Berhältniffe gelten, die den Beſtandtheilen des Körpers durch
das Mufter feiner Gattung vorgefchrieben find. Wollten wir
uns in Möglichkeiten ergeben, die feine nachweisbare Beziehung
zur Wirklichkeit haben, fo Könnten wir uns wohl vielleicht vor⸗
ftellen, der Bau des Körpers fer fo geordnet, daß feine Organe
aus jeder diefer Erſchütterungen mit vollfommener Elafticität wie-
der in ihren vorigen Zuftand zurückkehrten. Aber nur in gerin-
ger Ausdehnung finden wir in der Erfahrung diefe Annahme
beftätigt, indem wenigftens die Kräfte de8 Zuſammenhalts zwi⸗
fhen den Theilen der feften Gewebe mächtig genug find, um
augenblidliche Bedrohungen deſſelben zu überwinden. Die Er-
Ihöpfung der Sinne dagegen, die Ermüdung der Muskeln, die
nach gewiſſer Dauer ununterbrochener Arbeit unfehlbar eintritt,
überzeugt uns, daß das, was vielleicht denfbar mar, doch jeden-
falls nicht wirklich ift, und daß das Leben mit denjenigen Mit-
teln, welche ihm der gewöhnliche Naturlauf zur Verwendung
ftellte, feine Organe zu bilden vermochte, bie nicht durch bie
Wechſelwirkung mit den für fie beftimmten Reizen eine allmäh-
liche Abnutzung erführen. In den Zwecken bes Lebens Tiegt es
aber, die Spuren früherer Eindrüde faft überall wieder zu tilgen
und die Werkzeuge wieder in jenen Zuftand zurüdzuführen, in
101 J
dem fie neu eintretenden Aufgaben völlig unbefangen und un—
geihmächt durch Art und Größe der ſchon vollzogenen Leiftungen
entgegenfommen. Es fragt ſich, wie dieſes Bedürfniß beftändiges
Wiedererfages der Fähigkeiten am einfachften befriedigt werden
fann. Ä
Anſtatt entfernten Möglichfeiten nachzubängen, die zu leicht
irgend ein überfehener Umftand zu Unmöglichfeiten machen Tönnte,
wollen wir vielmehr ſogleich in dem unabläfjigen Stoffmechfel
das einfachfte Princip dieſer Befriedigung nachmeifen, auf deflen
wirflihe Benugung uns überdies Die Ausfage der Erfahrung hin-
führt. Indem das Leben vergängliche Stoffe in feinen Dienft
nahm und an immer wechſelnden Mafien feine Erſcheinungen
verwirflichte, erleichterte c8 am beften die Aufrechthaltung eines
normalen Zuftandes im Streit gegen unberechenbare Störungen.
Sollten leife und feine Eindrüde der Außenwelt eine erregende
Kraft für Die Organe des Körpers befigen, follten namentlich die
zarten Unterſchiede der äußeren Reize durch merfliche Abweichun⸗
gen ihrer Einwirkungen für unfere Auffaflung auseinandertreten,
oder Bewegungen in jeder möglichen Abftufung der Stärke, Dauer
und Geſchwindigkeit ausführbar fein, fo mußten die dienftbaren
Werkzeuge aller dieſer Verrichtungen eine leicht erregbare Verleg-
Ichfeit ihrer inneren Zuſtände befigen. Dieſe nothwendige Eigen:
haft war mit der Bergänglichkeit der hemifchen Zufammenfegung
verbunden, und die lebendige Natur entzog fi dieſer Folge nicht
jo, daß fie durch höhere Kräfte vieleicht die erſchütterten Stoffe
der Zerfegung vorenthielt, der fie nah dem allgemeinen Recht
der chemiſchen Vorgänge anheimfielen; fie ließ das Zerrüttete zu
Grunde gehen, indem fie die nothmwendigen Grundlagen für den
Wiedererſatz des Berbrauchten fefthielt.
Aber nicht allein das, mas durch feine Leiftungen zerftört
worden ift, jondern auch das, was thatlo8 iiber den Zeitraum
hinausgekommen ift, während deſſen feine Zufammenfegung be=
fteben konnte, wird feinem Schickſale überlaffen und geht, nur
mit geringerer Geſchwindigkeit al8 jenes, der Zerſetzung entgegen.
102
Durch diefes Verhalten vermeidet die Natur die Nothwendigkeit,
jeder einzelnen Störung eine ihrer Art und ihrer Größe ange-
mefjene heilende Rückwirkung entgegenzufegen, und fie entgeht
dadurch zahlreichen Nachtheilen, die von einem anderen Verfahren
kaum abtrennbar fcheinen. Ste Eönnte ohnehin Rückwirkungen
folder Art nur entfalten, wenn die Störung felber mit mechani-
her Nothwendigkeit diefelben auslöſte und fo an einem Theile
Ihrer eigenen Folgen, der ſich gegen fie wendete, ſich bräche. Aber
eine ſolche Thätigkeit, die erft im Augenblide des Bedarfs hervor:
bräche, würde in fo regellofer Wicderfehr eintreten, wie die Stö-
rung, von der fie erregt wird; fie felbft würde daher eine neuc
Erſchütterung fein, die nicht ohne beſonders günftige Verhältnifſe
unfhädlih an dem Zufammenhange des Ganzen vorüberginge.
Es würde der gleihe Fol fein, wenn die Beftandtheile des Kör-
perd an ſich unveränderlich wären und nur dur die Eindrüde
der äußern Reize und deren Nachwirkungen erfchlittert ſich zer-
festen, dann plöglich einen Wiedererfag verlangend, während die
Zwiſchenzeit ohne einen foldhen verlief. Iſt dagegen das Ganze
der wirffamen Theile ein beftändig in Ab- und Zufluß bemegtes,
fo nimmt diefer Strom ftetig die Nefte der Zerftörung mit fich
hinweg und beftändig die Grundlagen des Weiterwirkens erneu-
ernd bewahrt er das Ganze des Lebens vor ven plöglihen und
ſtoßweis erfolgenden Erſchütterungen, die jede nur im Augenblid
des Bedurfniſſes erwachende Abwehr mit fich führen würde. Und
auch die Notbwendigfeit fällt hinweg, für jede Störung das ihrer
Art und Größe entfprechende Heilmittel zu erzeugen; anftatt des
offenen Kampfes gegen die vielfach verfchtedenen Folgen der Ein-
drücke befolgt das Leben die Lift des beftändigen Ausweichens,
indem c8, von Anfang an mit wechſelnden Mitteln wirkend, ver:
Ioren gibt, was durch äußere Angriffe erfchüttert nur fchneller
der Zerftörung entgegengebt, für die e8 ohnehin beftimmt war.
Allerdings finden wir nun in dem Iebendigen Körper doch auch
ausdrückliche Beranftaltungen, um auf gewiſſe Einbrüde Nüdwir-
fungen in einzelnen Augenbliden folgen zu laffen, die fi auf
103
Dauer, Form und Größe jener Anreize berechnet zeigen; aber
felbft Die Wirkſamkeit diefer Mittel, deren wir noch fpäter zu ges
denken haben werben, findet fich doch zulegt nur durch dieſe be-
ftändig fortgebende allgemeine Strömung des Stoffwechſels mög-
ih gemacht.
Jedoch diefe Strömung ganz allgemein zu nennen, haben
wir bei genauerer Ucberlegung Fein erweisliches Recht, und man
übertreibt die Vergänglichfeit des thierifhen Körpers, wenn man
Perioden angeben zu können glaubt, binnen deren er feinen gan-
zen Maſſenbeſtand durch Stoffwechſel umgetaufht habe. Nicht
alle durch den organiſchen Chemismus erzeugten Stoffe find von
fo leicht zu ftörender Zufammenfegung, wie wir, durch den auf:
fallenden Anblid der Fäulniß einiger irregeleitet, häufig uns vor-
ftellen; wir kennen die Dauerhaftigfeit des Holzes, der Knochen,
der Sehnen und Häute und machen von ihr den mannigfachiten
Gebrauch; wir Tennen im Gegenfag dazu die oft raſch fortjchret-
tende Verwitterung der Steine, deren Dauerbarkfeit viel größer
ſchien. Ob dieſe Beftandtheile von fefter Zufammenjegung wäh:
rend des Lebens eine erhebliche Neubildung erfahren und bebür-
fen, ift nicht völlig entjchieden, und zweifelhaft ſelbſt, ob manche
andere, die wir nach dem Tode fchnell fi zerfegen ſehen, nicht
während des Lebens dennoch durch günftigere Umftände, unter
denen fie ſich hier befinden, länger erhalten werden. Unbekannt
ift endlich für viele die Form ihrer Erneuerung, und wir miffen
nicht, ob einzelne vollftändige Formelemente, wie die Faſern der
Newen und Muskeln, als Ganzes erhalten und nur in ihren
Heinften Theilen ftet8 neu nachgebilvet werden, oder ob unter
Umftänden auch fie zerfallen und neue vollftändige Stellvertreter
für fie entftchen. Am menigften endlich vermögen wir für Die
einzelnen Gebilde die Größe und Geſchwindigkeit der Abnugung
‚ und der Erneuerung zu beftimmen, die fie unter den gewöhnlichen
Umftänden des gefunden Lebens erfahren. Ungeachtet dieſer Man-
gelhaftigfeit unferer Kenntnifje können wir jedod das Bild des
Stoffwechſels durch die gemiß richtige Annahme ergänzen, daß
104
der Zerfall und Umtaufch der Beftandtheile, falls er allgemein
ftattfindet, jedenfalls mit fehr verfchtedener Gefchwindigfeit vor
fi) geht, und daß in jedem Augenblide ein bedeutender Stamm
von Beftandtbeilen ſich mit fefter oder nur langſam wechſelnder
Maſſe in dauerhaften und feften Berbindungsformen erhält und
beftändig einen gefeßgebenden Kern für die Neubildung der übri-.
gen barbietet, die ihn mit größerer Zerfeglichkeit und in fchnelle-
rem Wechfel beweglicher umkreiſen.
Der Zukunft bleibt e8, zu entfcheiden, ob in diefem Strome
ein völlig rubender Grund, und von welcher Ausdehnung, fi
finden mag. Unfere gewöhnliche Vorftellung betrachtet allerdings
die Theile des Körpers wie die Steine eines Baues, die durch
ihre beftändigen Kräfte und ihre einmal gegebene Fügung ihre
Leiftung ruhend vollziehen und der Bewegung nur bedürfen, um
die Störungen, die dem Ganzen drohen, mit elaftifher Rückkehr
in ihre früheren Verbältniffe zu überwinden. Aber es ift wohl
möglich, daß der Stoffwechjel nicht nur als eine beftändige Her-
ftellung des alten -Beftandes dem Leben dient, fo daß er felbft
hinwegfallen könnte, wenn e8 ein Mittel gäbe, ohne ihn dic or=
ganiſche Form zu erhalten; fo vielmehr, wie die verbrennende
Kohle nicht durch das, was ſie war, no durch das, was fie
wird, ſondern durch die Bewegung dieſes Werdens felbft, durch
die Verbrennung, die Wärme erzeugt, welche den erften treiben-
den Grund für die Wirkungen der Maſchine gibt, jo können die
-Borgänge des beftändigen Bildens und NRüdbildens felbft jene
bewegenden Anftöße erzeugen, deren das Leben zur Durdführung
feiner Entwidlung bedarf. Aber wir find meit davon entfernt,
biefem Gedanken eine weitere Folge geben zu können. So fehr
find wir daran gewöhnt, bei den Vorgängen der Ernährung
und Abfonderung nur an die Gewinnung oder Abſtoßung einer
näglihen oder ſchädlichen Stoffmenge zu denken, daß die Frage
wenig noch aufgeworfen worden ift, ob nicht hier der Vorgang
felbft und die Aufregung der Kräfte, die durch ihn erzeugt wird,
zuweilen von größerem Werthe ift, als jener Umſatz der Stoffe
105
felbft, die hie und da vielleicht nur das gleichgüiltigere Material
bilden, in deſſen Berarbeitungen jene Erregungen entftehen und
erhalten werben können. Nur in einem "alle bat auch unfere
bisherige Wiffenfchaft dieſe Vorftellungsweife aufgenommen; fie
hat die vorübergehende Aneignung einer großen Menge von Stof:
fen durch den Organismus als Mittel zur Erzeugung der Wärme
gedeutet, die in ihrer chemifchen Veränderung entftcht, und durch
beren Mittheilung an die Gewebe des Körpers die weſentliche
Aufgabe jener aufgenommenen Maffen erfüllt ift.
Nachdem wir fo den Sinn zu deuten unternommen haben,
den biefe beftändige Veränderlichkeit des Leibes für die allgemei—
nen Zwecke des Lebens. hat, möchten wir gern dies Bild durch
- eine Schilderung der beftunmten chemischen Vorgänge ergänzen,
aus deren planmäßigem Ineinandergreifen ber georbnete Stoff-
wechfel hervorgeht. Mit der fcharffinnigften Arbeitſamkeit bat
der Unterfuhungsgeift der neueften Zeit fich diefen Fragen zu—
gewendet ; aber die Verwicklung der Erfheinungen und die Schwic-
rigfeit ihrer Unterſuchung ift fo groß, daß aus der Fülle werth-
voller einzelner Entdeckungen, von denen unfere allgemeine Ueber-
ficht jchmeigen muß, kaum nod einige wenige umfafjendere Er-
gebnifje herworgetreten find, die nicht Die Befürchtung ihrer wieber-
holten Umgeftaltung durch den weiteren Fortſchritt der Unter—
fuhung ermwedten.
Sp weit wir organifches Leben fennen, finden wir Die ge=
ſtaltbildenden Maffen überall aus mannigfachen chemiſchen Ver—
bindungen von Kohlenftoff, Waflerftoff, Sauerftoff und Stidftoff
zufammengefegt. Keine diefer eigenthämlichen Verbindungen er—
zeugt auf nachweisbare Weife fih von jelbft, ohne daß ein orga-
nifcher Keim oder irgend ein Reft in Zerjegung begriffener orga=
niſcher Subftanz den erften Kern darftellte, Durch deſſen aneignende
Kraft jene überall in der Atmofphäre vorhandenen Stoffe zu einem
106
neu anwachſenden Gebilde verbichtet würden. Die Pflanze ver-
mag es, mit den Mitteln, welche ihre Organifation ihr darbietet,
Sauerftoff und Wafferftoff in dem Verhältniß ihrer Mengen, in
welchen fie Waffer bilden, mit verfchtevenen Mengen des Kohlen-
ftoffe8 zu verbinden und dadurch eine Neihe von Stoffen, die
Kohlenhydrate, zu erzeugen, aus deren einem, der Cellulofe, fic
die zarten Wandungen ihrer Zellen und das ganze Gerippe ihres
Baues zufammenfegt, während andere, wie Zuder und Stärfe-
mehl, aufgelöft oder abgelagert in ihr als Mittel der Weiter-
bildung enthalten find. Die Ummandlungen diefer Stoffe und
das Wahsthum, dem fie dienen, feheint jedoh nur unter der
Mitwirkung einer anderen Gruppe von heimischen Verbindungen
möglich zu fein, die zu den Beſtandtheilen jener noch Stickſtoff
hinzufügen und wegen der Aehnlichfeit ihres Verhaltens mit dem
thieriichen Eiweiß unter dem Namen der eimeißartigen Körper
oder des Proteins zufammengefaßt werden. Sie, fo wie die fetten
Stoffe der Dele, fommen weit verbreitet im Pflanzenreih vor,
und durch die vegetabilifche Nahrung, auf welche mittelbar oder
unmittelbar alle thierifhe Organifation beſchränkt ift, gehen fie
in den Thierkörper über, deſſen lebendige Thätigfeiten unfähig
find, die einfadhen Elemente, welche die äußere Natur darbietet,
zu organisch benugbaren Verbindungen zu verbichten. So liber-
Tiefert das Pflanzenreich, auch hierin eine worarbeitende Vorftufe
der Thierwelt, der leßteren fhon im Weſentlichen gebildet Die
Beftandtheile, deren feinere Ausarbeitung nad den Bedürfniſſen
jeder Gattung den eigenthümlichen Thätigfeiten der legtern über:
laſſen bleibt.
Aus dem Eiweiß und den eimeißartigen und öligen Be—
ftandtheilen des Dotterd. muß der ausfchlüpfende Vogel alle Ge-
webe erzeugt haben, die fein Körper bis dahin enthält; aus der
Milch, die neben eimeißartigen und fettigen Stoffen noch durch
eine größere Menge von Zuder fih auszeichnet, muß das junge
Säugethier, lange Zeit einzig auf dieſe Nahrungsquelle beichränft,
die mannigfachen Gebilde heroorbringen können, melde der Plan
107
feiner Gattung verlangt; aus dem Blute endlih, in welchem
diefelben Stoffe wiederfehren, muß der beftändige Wiedererfag aller
durch den Verbrauch zerftörten Gewebtheile beftritten werben
können. Unzweifelhaft müfjen deshalb die eiweißartigen Stoffe
als die Grundlage aller jener ftidftoffhaltigen Maſſen angefehen
werden, die wir, in den quantitativen Berhältnifien ihrer Zu-
fammenfegung ziemlih einander ähnlich, in dem Fleiſche dem
Zellgerwebe dem Knorpel den Haaren Federn und Hörnern
wiederfinden, auf das Mannigfachſte nach Anjchen, Härte, Dich⸗
tigkeit und Dehnbarfeit von einander verfchieden. Aber vergeblid
würde es fein, bei dem gegenwärtigen Stande der Unterſuchung
die chemiſchen Vorgänge verfolgen zu wollen, durch welche jenes
gemeinfame Bildungsmaterial in jede Diefer eigenthümlichen
Umbildungen übergeht. Am meiften unverändert erhalten den
urfprüngliden Charakter des Eiweißes die Theile, Die den
Zwecken des Organismus am Iebhafteften durch eigene Thätigkeit
dienen, das Mark der Nerven und die Subftanz des Gehirns;
den Taferftoff der Muskeln finden wir der Zuſammenſetzung
nach ähnlich, aber feine Beftimmung zu lebendiger Berkürzungs-
fähigkeit Tcheint cine andere Anordnung der. Heinften Theilchen
oder eine für und noch unangebbare Veränderung der Mifhung
bedingt zu haben; eine weitere Umwandlung bieten die Gemebe,
die durch anhaltendes Kochen in Leim übergehend, zur Herftellung
der Tnorpeligen und häutigen Grundlagen, Zwiſchenwandungen
und Bindemittel verwandt find, welche die lebendig wirffamen
Theile fügen umfchliegen und verbinden; als die legten und
entfernteften Glieder dieſer Stoffreihe erfheinen die fefteren trod-
neren horn= und federartigen Gebilbe, die namentlich in den äußeren
Bededungen in den mannigfaltigften Formoerſchiedenheiten fich
entwideln. Keines der Kohlenhydrate, melde die vegetabilifche
Nahrung dem Thierförper zuführt, wird in den höheren Gattungen
des Thierreichs mit zur Bildung der Gewebe verwandt; ihre
Aufgabe mag neben der Wärmeerzeugung, die fie durch ihre lang⸗
fame Verbrennung mit Hilfe des cingeathmeten Sauerftoffes be-
108
Dingen, in manchen beihelfenden Berrichtungen beftehen, mit denen
fie in die hemifchen Ummandlungen ber übrigen Stoffe eingreifen.
Größer ſcheint Die Bedeutung der Fette, die nicht nur durch ihre
phyſiſchen Eigenfchaften, Wärme zufammenbaltend und Reibung
vermindernd, niütlich, fondern als wefentlihe Glieder zu der
hemifhen Verbindung einiger Gebilde und zur Wechſelwirkung
anderer nöthig find. Mande andere unorganifhe Stoffe, Me-
talle und Salze der Alfalien und Erden verwendet der Organis-
mus in Gemeinſchaft mit den eimeißartigen Körpern zur Her—
ftellung befonderer phyſiſcher Eigenfchaften feiner Gewebe; andere
fcheinen ihn nur zu durchkreiſen, um auf den Berlauf des Stoff-
wechfel® begünftigende Einflüffe verſchiedener Art auszuüben.
So wenig wir die fortfhreitende Bildung der Körperbeftand-
theile fennen, fo unflar ift die rückwärtsgehende Verwandlung,
durch welche fie allmählich zur Ausſcheidung vorbereitet werben.
Ein ſehr großer Theil erlangt frühzeitig ein ſehr feſtes Gleich—
gewicht der innern Zufammenfegung, und dieſe Gebilde werben
vertrodnend in größeren Maſſen und: ohne Zerjegung ihrer Form
von dem Körper abgeftogen, die Haare Die Nägel die beftändig
abfchilfernde Bedeckung der Oberhaut. Andere erleiden durch die
Thätigkeit eigentbümlicher Organe eine noch wenig bekannte Um—
wandlung, nach welcher fie als Körper von noch verwidelter Zu=
fammenfegung, wie Schleim und Galle und die organischen Be—
ftandtheile des Harnes, theils für fich theils aufgelöft in wäſſe—
rigen Mitteln den Körper verlaffen; ein anderer ſehr beträcht-
licher Reft diefer im Einzelnen unbelannten Zerſetzung ift bie
Kohlenſäure, die gasförmig mit Wafferdampf verbunden, durch
die Ausathmung entfernt wird. Unter. allen einzelnen Stoffen,
die den Körper durchkreiſen, fällt vielleicht dem Sauerftoff am
meiften die Aufgabe zu, den Verband der Elemente in den orga=
nifhen Beftandtheilen dur feine überwiegende Verwandtſchaft
allmählich zu lockern und die urfprünglich mannigfadhe Zufammen-
fegung derfelben nach und nad auf einfachere dem Unorganifchen
ähnlichere Formen zurüdzubringen, in welden die zerfallenden
109
Stoffe, Löslicher geworben, die Grenzen des Körpers zulegt ver-
laſſen. Erſchien früheren Zeiten der Eauerftoff als der eigent-
liche Erreger und Bringer des Lebens, fo werden wir jeßt, ohne
zu Iengnen, daß fein mächtige Eingreifen auch als eine erzeugende
Kraft Bedingungen der Lebensthätigfeiten berftellen Tann, wenig:
ftend einen andern und ebenfo bebeutfamen Theil feiner Leiftungen
in der langſam zerftörenden Macht finden, mit mweldher er bie
Hindernifje des Lebens binwegräumt, indem er die unbenugbar
gewordenen Maffen durch völligere Zerfegung aus der Mitte der
noch thätigen entfernt.
Eine eigenthiimliche Wichtigkeit befigt endlich fir die Ge⸗
ſammtheit der Xebensverrihtungen das Waſſer, das wir in außer⸗
ordentlihen Mengen durch die Pflanzen und den thieriſchen Körper
bindurchkreifen fehen. Als Löſungsmittel bedingt e8 die größte
Anzahl der chemiſchen Wechſelwirkungen; auf feiner Ylüffigfeit
beruht alle Möglichkeit des Kreislaufes und der ununterbrochenen
Bertheilung des Ernährungsmaterials, auf feiner Fähigkeit, Wärme
aufzunehmen zu leiten und verbampfend zu binden, das Gleidy-
gewicht der Temperatur, deſſen der lebendige Körper zu dem
Fortgang feiner Verrichtungen bedarf. Und nicht minder wefent-
lich geht c8 in die Miſchung der organifchen Beftandtheile ein;
feine Gegenwart und die eigenthümliche Verwandtſchaft, Die es zu
ihnen begt, gibt den thierifhen Geweben jenen Zuftand ber
Feuchtigkeit, durch den fie ſich biegfam elaftifch und dehnbar von
den unorganifchen Körpern und von der Brüdigkeit und Starr:
beit unterjcheiden, der fie felber nach ihrer Austrodnung ver:
fallen. In feinem unorganiſchen Stoffe ift das Verhalten des
Waſſers zu der feften Subſtanz ganz von diefer eigenthlimlichen
Art, der wir bier begegnen, und die und mohl von Säften des
lebendigen Körpers aber nie von foldden des unlebendigen fprechen
läßt. Das kryſtalliſirende Salz, nachdem es den größeren Theil
feines Köfungsmitteld der Verdunſtung überlafien und einen klei—
neren Mengentheil des Waſſers in feine hemifche Zufammenfegung
aufgenommen bat, erſcheint nun troden und feine Theilden haben
110
eine fefte gegenfeitige Lagerung angenommen. Wohl kann es
Dugroffopifch einen Theil der umgebenden Nuftfeuchtigfeit in ſich
verdichten, aber fein Gefüge wird durch dieſe Wafferaufnahme
nur zerftört, ohne daß die zerfallenden Theile vorher jenen Zu—
ftand der zähen Weichheit und elaftiichen Dehnbarkeit durdhliefen,
den alle zu dem eigentlihen Bau des tbierifhen Körpers ver-
iwendeten Stoffe durch ihre eigenthümlihe Verwandtſchaft gegen
das Waſſer erlangen. Hierauf beruhen ohne Zweifel die befon-
dern Geftaltungstriebe des Organifhen, die fo von der Starr-
heit der Kruftallifatton unterſchieden find, daß nur wenige orga-
nische Stoffe überhaupt diefer Art der Formbildung fähig find,
und Diejenigen, welde fie in der That anzunehmen vermögen,
Doch gerade durch ihre Annahme für die Bildungsbebürfniffe des
Icbendigen Körperd unbenugbar werben.
Wir kennen keinen organifchen bildungsfähigen Saft, der
eine durchaus gleichartige Flüffigkeit darftellte, und in welchem
nicht als erſte Anfänge der Geftaltung ſich mifroffopifch kleine puntt-
fürmige Körnchen zeigten, deren Bildung und Zufammenjegung
fi nicht mehr weiter verfolgen läßt. Ste können nur burd
Gerinnung des flüffigen Stoffes entftanden fein und vergrößern
ſich durch fortgefetste Anlagerung entweder von gleihartigen nach—
gerinnenden Maffen, oder dadurch, daß durch chemiſche Wahlver⸗
wandtihaft das früher ausgeſchiedene Körnchen nun andere von
ihm verſchiedene Stoffe aus der Flüſſigkeit um ſich nicderichlägt.
Das Wachsthum diefer entweder gleichartigen oder aus differenten
hemifhen Verbindungen beftehenden Kerne geht nie über fehr
Heine mifroffopifche Dimenfionen hinaus, fondern noch innerhalb
diefer Grenzen tritt eine zweite Bildung auf, die der zarten,
durchſichtigen, ftructurlofen Haut, welche fih um den Kern ber-
um erzeugt und mit ihm num die gefchloffene Geftalt einer Zelle
beroorbringt, deren Inneres um den Kern herum mit Slüffigfeit
111
gefüllt ift. Auf welche Weife jene zarte Membran durch bie
Kräfte des Kernes felbft gebildet wird, ift unflar; die Zelle felbft
aber, in den Pflanzen häufig der Schauplag Tebhafter Bewe—
gungen, in welden ihr Körnigflüffiger Inhalt umbergeführt wird,
bietet zwar in den Thieren nicht fo auffallende Erſcheinungen,
bleibt aber ein Iebendiger Mittelpunkt chemiſcher Wechſelwirkungen
mit der umgebenden Flüffigfeit, deren aufgelöfte Beftandtheile
ihre Umgrenzungshaut durchdringen. Durch diefen Berfehr ändert
ſich allmählich die Mifhung, die innere Anordnung und mit ihr
die Geftalt der Zelle, und fie geht aus ihrer anfänglichen Rundung
in mancherler länger geftredte, zipfelige, verzweigte Formen über,
deren Entftehungsweife noch cben fo dunkel als der Werth ift,
den fie für die Lebensverrichtungen befigen. Der Pflanzenkörper
bewahrt die urſprüngliche Zellenform in größerer Ausbehnung als
der thierifhe Organismus; in den Organen, die meift von drüſigem
Baue der Ernährung und dem Stoffwechſel dienen, finden wir
die Zellenform der Heinften Gewebtheilhen noch deutlich, und
eine beftändig fortgehende Zerfallung und Neuerzeugung berfelben
theils ficher, theils wahrſcheinlich; aber die eigenthünlichen Be—
bürfniffe des Thierlebens führten cine neue Form mit ihren zahl-
reihen Anwendungen herbei, die der Fafer, Die nicht überall erft
fecundär aus einer Zellenreihe entfteht. Wir finden die Fafern
theil8 unverzweigt neben einander geordnet, wie in dem Stamme
der Nerven und in den Muskeln, und dann ihre Bündel dur
Zwiſchengewebe und Hüllen verbunden, theils verwebt unter ein=
ander zu feften und haltbaren Geflechten, unter denen die Form
des Hohlgefäßes von kreisförmigem Durchſchnitt als befonders
wichtig hervortritt.
Aus Berknipfungen diefer verhältnigmäßig einfachen Geweb—
formen geben endlich jene zufammengefegten Bildungen hervor,
die wir unter dem Namen der Organe zu begreifen pflegen und
welche die phyſikaliſchen und organifchen Leiftungen,der einzelnen
Gewebe zu dem Ganzen einer beftimmten Function verknüpfen.
In den meiften Organen finden wir neben mandherlei häutigen
112
Umgrenzungen und Bindemitteln, welche den Zufammenhang des
Ganzen und die relative Lage der einzelnen Beftandtheile fichern,
Gefäße und Nerven in freilich fehr verſchiedenen Mengenverhält-
niffen eine aus Zellen gebildete Grundmaffe durchfegend. Der
Name des Parenchyms, des Zwiſchengegoſſenen, den dieſe führt,
muß und nicht darüber täufchen, daß ſie eigentlich das wirffame
Element der ganzen Zufammenfegung tft, während alle Gefäßcanäle
und Nerven ihr nur das zu bearbeitende Material und die An—
triebe zur Arbeit zuführen oder das materielle Product ihrer
Leiftungen und die aus ihrer Thätigkeit beroorgehenden nugbaren
Erregungen nad dem übrigen Organismus hinwegleiten.
Fünftes Kapitel.
Der Bau des thieriſchen Körpers.
Das Kuohengerüf. — Die Muskeln und bie motorifhen Nerven. — Das Gefäß:
foftem und ber Kreislauf des Blutes. — Athmung und Ernährung. — Aus:
Icheidungen.
Während wir die allgemeinen Geſichtspunkte auseinander⸗
festen, welche wir für die Unterfuhung ber Lebenserjheinungen
feftgehalten wünfchen, durften wir oorausfegen, daß die natürliche
Bertrautheit mit diefen und mit dem Baue des lebendigen Kör-
pers einftweilen den Mangel anihaulicher Beichreibungen erfegen
werde. Aud gegenwärtig, indem wir verfuchen eine Schilderung
der einzelnen Vorgänge und Leiftungen zu geben, mit denen die
verichiedenen Werkzeuge des Lebens in einander greifen, ift es
noch nicht unfere Abficht, alle die Gedankenreihen zu verfolgen,
zu denen die Betrachtung des menfchlichen Körpers, des eigent-
lichen Gegenftandes unferer Darftellung, Beranlafiung gibt. Weber
in der Schönheit feiner Geftalt werben wir ihn beobadıten, noch
in der eigenthümlichen Bedeutſamkeit feiner Formen, die einen
113
Durch die Hälfte der Thierreibe feftgehaltenen Typus der Bildung
zu abſchließender Volltommenbeit fteigern. Späteren Oelegen-
heiten dies Alles überlaffend, begnägen wir uns in dem Zu: -
fammenbange unferer jegigen Ueberlegungen mit der einfettigen
Hervorhebung deſſen, wodurch der menſchliche Körper, hierin den
höheren Thiergattungen vollkommen ähnlich, den Kreislauf feiner
Lebensverrihtungen zu Stande bringt.
Ueberall unter bededenden Schichten von größerer oder ge—
ringerer Mächtigfett verborgen, bildet das Knochengerüft die fefte
Borzeihnung der körperlichen Geftalt. Aus einer Grundlage von
durchſcheinendem elaftifhen Knorpel und der phosphorfauren
Kalkerde, die in deſſen Gewebe auf eigenthümliche Weife einge-
lagert ift, hat die Natur diefe haltenden Stützen gebildet, die in
dem feuchten Zuftande, in welchem fie fi während des Pebens
befinden, die Vortheile der Starrheit ohne zu große Sprödigkeit
darbicten. Auf der äußern Oberfläche geglättet und Bart, im
Innern bald dichter, bald von zarterem und ſchwammigerem Ge-
füge, je nah dem Zwecke, der zu erreihen war, bildet dieſes
Knochengewebe in den verſchiedenſten Formen bier ausgebehntere
Hohlröhren, dort flache Platten, oder mannigfach gewölbte und
verbogehe Blätter, alle fo paarweis vorhanden; daß eine Ebene,
welche den Körper durch Die vordere und die Hintere Mittellinte
feiner Geftalt von oben nach unten durchſchneidet, auch das Knochen-
geräft in zwei völlig ſymmetriſche Hälften zerlegt. Mit ihren
zadigen Rändern in eimander greifend, verbinden ſich mufchel-
förmig gebogene Knochen zu dem feften Schäbelgewölbe, der ſicheren
Umbällung des Gehirns, unter einander unbeweglich vereinigt, oder
doch nur unmerflihe Ausweichungen geftattend, die höchſtens dic
Gewalt heftiger Stöße einigermaßen zu mildern im Etande find
An fie ſchließen fih nad vorn und unten- in fefter Verwachfung
die Knochen des mittleren Geſichts, defien unterer Theil dur
die bewegliche Kinnlade vervollſtändigt wird. Theile offen gelaffene
Lücken zwiſchen den Verbindungsrändern mehrerer Knochen theils
Kanäle von größerer oder geringerer Weite, das Geſuge der ein-
Lotze J. 3. Aufl.
114
zelnen durchbohrend, führen aus dem Innern des Schäbelgewölbes
auf feine äußere Oberfläche, Gefäßen und Nerven freien Durch—
gang verftattend. Durch eine größere Oeffnung an ihrer untern
Fläche, das große Hinterhauptsloch, hängt die Höhlung des Schädel
mit denf langgeftredten breitern Kanale des Rückgrates zufammen,
den der die Markftrang des Rückenmarkes als unmittelbare
Vortfegung des Gehirns bis faft zu feinem untern Ende loſe
ausfällt. Eine größere Anzahl einzelner Knochen, im Allgemein:n
von der Form eines kurzen Eylinders, find Hier zu einer langen
Säule übereinandergeftellt und durch flache elaftiiche Bandſcheiben,
die zwifchen die Berührungsflächen je zweier eingeſchaltet find, ſehr
feft und haltbar verbunden. Nur eine fchr geringe Bewegung
ift deshalb zwiſchen zwei nächſtbenachbarten Gliedern dieſer Kette
möglich, aber die beträchtliche Anzahl derſelben geſtattet doch dem
Ganzen der Säule durch Summation dieſer kleinen Beugungen
anfehnliche Kriimmungen in weiten und großen Bogen. So findet
fi) dur diefen Aufbau des Ganzen aus einer Bielheit Hleinerer
Theile Sicherheit des Zufammenhangs mit ausreichender Beweg⸗
lichfeit verbunden und zugleich der Nachtheil vermieden, den ſcharfe
Einfnidungen diefes Knochengerüftes für Die zarten Gebilde haben
würden, zu deren fchügender Aufnahme es beftimmt iſt. Aus
jedem dieſer geſchilderten Knochenchlinder nämlich, oder aus jedem
einzelnen Wirbelförper der Rüdgrates, gehen ſeitwärts zwei knöcherne
Bogen aus, die nad) hinten fi ringartig vereinigen, einen offenen
Raum von rundlih herzförmiger Geftalt zwiſchen ſich laſſend.
Mit diefen Oeffnungen cben fo über einander geftellt, wie. Die
Wirbelförper, von denen fie entfpringen, umgrenzen diefe einzelnen
Ringe mithin einen langgevehnten hohlen Kanal, ohne ihn jedoch
völlig einzufchließen. Denn von geringerer Höhe, als die Wirbel:
förper, berühren fi) zwei nächſt auf einander folgende Ringe
nicht überall, fondern laſſen Zwiſchenräume frei und ftchen nur
an drei Punkten durch vorfpringende Gelenkflächen mit einander
in beweglicher aber durch fefte Gelenfbänder nur auf geringe
Bewegungen befchränfter Verbindung. So gewährt alfo die Wir-
115
belfänle das Bild eines langen Hohlraumes, deſſen vordere weit
dickere Wand ungetheilt ift, während die dünneren Seiten= und
Rückwände durch zahlreiche Deffnungen unterbrochen find. In
dem Innern dieſes Raumes, den glatte Häute ausfleiden, ift das
Ruckenmark auf eine Weiſe ſchwebend befeftigt, welche am meiften
die Nachtheile der häufigen Beugungen und Verſchiebungen feiner
Knohenwandungen verhütet.
Nach vorn knüpft fi am die oberften Wirbel, die des Halfes,
feine weitere Inöcherne Bildung an; die zwölf folgenden, die der
ruft, tragen, den nad) hinten gerichteten Wirbelbogen entfprechend,
nad vorn Die ungleich weiter geipannten Anochenbogen der Rip:
pen, die mit ihrem Hintern Ende beweglich in einigem Grade an
die Wirbelkörper befeftigt, fih nad vorn in dem platten Bruft-
bein vereinigen. Cie begrenzen fo feitlih den Bruftkorb, deſſen
obere Deffnung ungefchloffen nur durch die geringere Weite der
erften Rippenbogen verengt und deſſen untere weitere Ausmün-
dung gleichfalls nur Durch das musculöfe Zwerchfell und nicht
duch Knochenbildung von der Höhle des Unterleibes getrennt
wird. Die fünf nächſten Wirbel, die Lendenwirbel, tragen mic
die des Halfes feine Rippen und beftimmen, von ftärkerem und
mafienhafterem Bau als alle übrigen, nur von hinten bie Höhe
der Unterleibshöhle, deren Seitenwandungen alle nur von Weich—
teilen gebildet werden. Ihre untere Wand dagegen, beftimmt
die Laft der Eingeweide zu ftügen, ift aus dem großen Knochen-
ringe des Beckens gebaut, der, von den legten zu dem breiten
Kreuzbein verwachſenen Wirbeln des Rüdens ausgehend, zu beiden
Seiten breite Flügel ausfhidt, die von oben und außen nad
unten und innen abgefhrägt, und vorn Durch niedrigere Knochen
verbunden, einen ziemlich bedeutenden nur durch Weichtheile ver-
ſchloſſenen Raum zwifehen fi laſſen.
An dieſes Körpergerüft, deffen Form bei der geringen Ber-
Ihiebbarkeit feiner Theile geringen Veränderungen unterworfen
ft, ſchließen fich endlich die Knochenröhren der Gliedmaßen, denen
die Art ihrer Einlenfung Lagen und Geftaltveränderungen im
- " 8*
116
weiteften Spielraum verftattet. Das Schulterblatt, nur durch
Weichtheile am Rüden feftgehalten, nad vorn durch das Schlüffel-
bein mit dem Bruſtknochen in beweglicher Verbindung, trägt an
feiner obern äußeren Spige an einer fladhen Gelentgrube den
Kopf des DOberarmes, Die äußere Oberfläche des Beckens nach
unten in tiefer runder Gelenkhöhle den Kopf des Oberſchenkels.
Beiden Knochen erlaubt die Natur ihres Gelenkes Bewegungen
nad jeder Richtung, deren Weite nur durch Anftoß an die Um-
gebungen begrenzt wird; beide ftehen dagegen mit den Knochen
des Unterarıne® und Unterfchenfeld in einer Verbindung, die den
Vegteren in Bezug auf fie nur die Bewegung in ciner einzigen
Ebene möglid macht. Aber dieſe Verhältniffe, fomohl wie den
ferneren Bau der Hände und Füße, dur deren feine Organi-
ſation die menfchliche Geftalt ſich von der ganzen Thierwelt unter-
ſcheidet, verfparen wir einer fpätern Betrachtung. Fügen wir
hinzu, daß zahlreiche fehnige Bänder alle beweglich an einander
eingelentten Knochen feſt verbinden, daß befondere häutige Kapfeln
ihre einander zugewendeten Gelenkköpfe zu umgeben und die Ge-
lenfflächen durch eine ſchleimige Abfonderung ſchlüpfrig zu erhal⸗
ten pflegen, jo haben wir das Bild des ftarren Gerüſtes voll-
endet, deſſen einzelne Theile nun durch die Lebensthätigkeit der
Muskeln bewegt werben.
Die zahlreihen Lüden und Zwiſchenräume, welche die cin-
zelnen Knochen zwiſchen fih Tichen, werben durch das Fleiſch
der Muskeln größtentbeil ausgefüllt oder verdedt, und das Skelet,
mit feinen Muskelſchichten befleidet, füllt daher faft vollſtändig
die äußeren erſcheinenden Umriffe der Körperform aus. Aeußerſt
dünne und zarte Safern, nur dem bewaffneten Auge fihtbar,
verbinden fih in gleichlaufender Richtung neben einander gereiht
zu den feinften Fäden, die wieder in gleicher Weife zu dickeren
Bündeln zufammengedrängt uns als die Beftandtbeile des Fleiſches
117
befannt find. Zuſammengehörige Maffen diefer Fleifchfafern, zu
einer und derfelben Verrichtung zufammenwirkend, von zahlreichen
haarfeinen Blutgefäßen durchzogen und von gleichartigen ober
ungleihartigen Umgebungen burch deutlihere Hüllen aus zelligem
Gewebe abgegrenzt, bilden die einzelnen Muskeln, die ohne
näheren Zuſammenhang unter einander nur durch ihre auf ges
meinfame Zwecke berechnete Lage fich zu größeren Gruppen und
Syſtemen ordnen.
Unter dem Einfluffe verfchiedener Reize find die Muskeln
fähig, fi in der Längsrichtung ihrer Faſern zufammenzuzicehen.
Indem jede der Ichtern dur eine noch wenig gelannte Ans
näberung ihrer Heinften Theilchen fih um einen oft ſehr beträcht⸗
lihen Theil ihrer Ränge verfürzt, wird in entfprehendem Maße
der Querfchnitt des Muskels unter gleichzeitiger geringer Zunahme
feiner Dichtigkeit verbreitert. Denken wir und ein Faferbündel
mit feinen beiden Endpunften an zwei bewegliche Theile befeftigt,
fo wird es durch feine Lebendige Zuſammenziehung beide in ges
rader Linie einander zu nähern fuchen, und es wird die Kraft,
mit weldher e8 dieſe Peiftung ausführt, von der Zahl der wirk⸗
ſamen Fafern, alfo von der Die des Bündels oder des Mus-
fel8, die Weite der Annäherung aber oder der Umfang der er-
zeugten Bewegung von der Länge befielben abhängen. Wo
daher die Glieder, ohne ſehr große Bogen zu beſchreiben, kraft⸗
volle Bewegungen ausführen oder Stellungen fefthalten follen, in
denen ſie einer beträchtlichen Laft Widerftand zu leiften haben,
finden wir am häufigften kurze, aber aus vielen Yafern beftehende
Dide Muskeln angewandt; wo dagegen ohne Entwidelung be=
deutender Kraft cine Bewegung durch größere Räume beabfichtigt
ift, find um fo Tängere und dann häufig bünnere Muskeln
zwifchen den beweglichen Punkten ausgefpannt. Doc leidet dieſe
einfache VBerwendungsregel Ausnahmen. Denn nur wenige Mus-
feln breiten ſich zwiſchen Punkten aus, denen eine gegenfeitige
Annäherung in gerader Linie möglich ift; die meiften haften mit
ihren beiden Enden an Knochen, die unter einander durch ein
/
118
Selen? verbunden find und nur durch Drehung um diefes fich
auf einander zu bewegen können. Der Muskel, iiber dies Ge-
lenk Hinlaufend und, fo wie es die Gefege des Hebels für die
größte zu erzielende Wirkung verlangen, möglichft entfernt von
dem Drehpunft angefegt, würde daher bei feiner Verkürzung zwar
den Winkel, den beide Knochen am Gelenk zufammen bilden, be=
trächtlich verkleinern, aber zugleich die Deffnung defjelben durch
feine verdidte Maſſe ausfüllen. Die Geftalt der Glieder würde
fo eine Veränderung erleiden, die fhon an dem Arme, der davon
das einfachfte Beifpiel böte, aber weit mehr no in anderen
Fällen dem Zwecke der eingetretenen Bewegung wenig förderlich
wäre. Theils diefe Rückſicht auf die Vermeidung zwedwidriger
Geftaltveränderungen, theil8 andere Umftände bringen in die Be—
nugung der Musfelthätigfeit eine große Mannigfaltigfeit; aber
die Verfolgung diefer Verhältniſſe wiirde, jelbft wenn fie hier mög:
lid wäre, für unfere Betrachtung feinen Gewinn bringen, den
wir nicht aus dem ſchon Erwähnten ziehen Könnten.
Wir finden in dem eben befchriebenen Bau des beweglichen
Körpergerüfted und in der Beranftaltung feiner Bewegungen nicht
nur bier und da Analogien mit den Berfahrungsweifen, deren
fich die Technif des Mafchinenbaues bedient; fondern das Ganze
Diefer Xeiftungen ift durchaus und in der größten Mannigfaltig:
feit und Feinheit der Ausführung auf diefelben Mittel und Ge-
jege begründet, die wir in unfern täglichen Verſuchen, Werkzeuge
zur Bewegung von Maffen zu erfinden, nur in unvolllommencerer
Weife ausbeuten. Diefelben unbiegfamen Stangen, diefelbe Ber-
bindung und Befeftigung durch mannigfache Bänder, diefelben
Einlenkungen der beweglichen Theile vermittelft abgepaßter und
genau die möglichen Drehungsrichtungen beftimmender Gelenkflächen,
diefelben Zugfeile nebſt den Rollen und Haftbändern, welche die
Richtung ihrer Wirkung nah Bequemlichkeit und Beduürfniß
ändern: alle diefe Hülfsmittel finden wir gleihmäßig in den Ma-
fhinen und in dem lebendigen Körper wieder: wir finden fie
nirgends in der übrigen Natur. Raumdurchdringende Kräfte
\
119
führen an unfichtbaren Fäden die Geftirne in ihren Bahnen; ge:
genfeitiger Drud der Theilden, Spannung fi verflüchtigender
oder durch Auffaugung anfchwellender Maſſen, hemifche Anziehun-
gen endlih und die unmittelbaren Gegenwirkungen der Stoffe in
räumliher Berührung find die Kräfte, die in den meteorifchen
Erſcheinungen und in denen des Pflanzenlebens thätig find; Dies
‚gegliederte und zufammenftimmende Syſtem mechaniſcher Vorrid:
tungen nad) den Gefegen des Hebels tritt erſt im thieriſchen Le-
ben und gerade da auf, wo es fih um die Erfüllung feiner un-
terfheidenden Aufgabe, der Veränderung der Geftalt und des Or-
te8 handelt. So wenig ſcheut ſich alfo das Lebendige vor jenen
Mitteln, die wir mit einer gewiffen Geringfhäßung als fünftliche
mechaniſche Veranftaltungen zu bezeichnen pflegen, daß feine Glie—
derung zur Bewegung vielmehr als das vollfommenfte von der
Natur felbft gegebene und nur hier, in diefem ihren vollfommenften
Erzeugniß gegebne Vorbild der Maſchine gelten darf. Nur darin
freilich geht das Leben über Alles hinaus, was wir nahahmend
zu Stande bringen, daß die Trieblraft diefer ganzen Zufammen-
ftellung von Mitteln in der eignen innern PVerkürzungsfähigfeit
der Muskeln Ticgt, während unfere Technik die Verfiirzung der
Zugfeile nur durch Aufrollung derjelben um Walzen und Räder
erreicht, und zur Bewegung dieſer wicder neue Hülfsmittel be-
nugen muß.
Den Anftoß zur Verfürzung empfangen die Muskeln von
den Nerven, die zwifchen ihnen und dem Gehirn und NRüdenmarf
ausgefpannt find. Die mikroſtopiſch feinen lang ausgefponnenen
aus zarter durchſichtiger Scheide und zähflüffigem Mark beftehenden
Nervenfafern finden fi auf diefem Wege von den Eentralorganen
zu den beweglichen Gliedern in gemeinfamer Umhüllung zu größe:
ren Bindeln zufammengefaßt, ohne während dieſes Verlaufs fi
zu tbeilen oder zufammenzuflichen. Aus diefen dickeren Stämmen
treten fo, wie e8 die Bequemlichkeit der Vertheilung verlangt, in
der Nähe der Muskeln kleinere Bündel heraus, deren einzelne
Fäden zulegt zwifchen die Fafern des Muskels fih einſenken und
120
nun erft in feine Zweige auflöfen. In frifch getödteten Thieren
erregen Drud und Zerrung, hemifhe Einwirkung und der Einfluß
elektriſcher Ströme, auf irgend einen Punkt um Verlauf des Nerven
ausgeübt, Zudung in dem Musfel, zu dem er ſich verbreitet; ein
Beweis dafür, daß das Gleichgewicht der Heinften Elemente der
Nervenfubftanz verlegbar genug ift, um durch mancherlei Eingriffe
geftört zu merben und feine Störungen von Punkt zu Punkt mit
Leichtigkeit fortzupflanzen. eine Unterfuhungen der neuern Zeit
haben glaublich gemacht, daß eine ſchnell obwohl nicht augenblidlich
ben Nerven durchlaufende Veränderung feiner elektrifchen Zuftände
der Vorgang ift, durch defien Einwirkung auf die Muskeln die
Berfürzung der contractilen Safer angeregt wird. Wichtig für die
befonderen Unterfuhungen der Phnfiologie, würde doch dic Entſchei—
bung diefer Frage dem allgemeinen Bilde, welches wir hier ver:
ſuchen, nichts Wefentliches hinzufügen; genug, daß irgend eine in
dem Nerven von Punkt zu Punkt forticgreitende Aenderung feiner
phyſiſchen Zuftände entweder vorübergehende Zudung oder dauernde
Spannung der von ihm abhängigen Muskeln veranlagt.
Die Neizbarkeit der Nerven und der Muskeln erhält fich
dauernd nur, jo lange beide in ihren natürlichen Lagenverhältniffen
die Einwirkung des umfpillenden Blutes erfahren. Um dieſen
belebenden Reiz überallhin zu verbreiten, durchdringt alle Glieder .
des Körpers das Gefäßſyſtem wie ein reich. verzweigtes Wurzel-
geflecht. Seine ftarfen Hauptiproffen, in den größeren Hohlräumen
des Leibes verlaufend, zergliedern ſich durch vielfach wiederholte
Beräftelung in ein dichtverfchlungenes Netzwerk feinfter Röhrchen,
das die Kleinften Elemente der Gewebe hier mehr dort weniger
gedrängt umfpinnt und an allen in beftändigem Strome die er⸗
nährende Blutflüſſigkeit vorüberfuhrt. Auch Ddiefe Bewegung
haben. ſchwärmeriſche Meinungen, in“ völligem Widerſpruch mit
lit zu beobachtenden Thatfachen, einer eignen geheimnißvollen
121
Triebkraft des Flüſſigen zugefchrichen, das im Dienfte des Le—
bens feine Wege ausmwählend ſuche; auch fic werden wir vicl-
mehr, ganz ebenfo wie die Bewegung der Glieder, auf die feinfte
Benugung von Mitteln gegründet finden, die jenen Anfichten nur
als die gröbften und fümmerlichften Behelfe menſchlicher Künftelei
zu erfcheinen pflegen.
Wäre an einem vingförmig gefchloffenen mit Flüffigfeit cr-
füllten Kanal von elaftifh ausdehnſamen Wänden eine einzelne
Stelle mit zufammenzichungsfähigen Bafern umgeben, fo würde
jede Contraction diefer Stelle, die wir fogleih mit dem Namen
des Herzens bezeichnen wollen, die Flüfjigfeit nach beiden Seiten
bindrängen, und zwei Wellen würden fih nad rechts und links
durch die angenblidlich ausgedehnten und fi elaſtiſch wieder zu-
ſammenziehenden Arme des NRinggefäßes verbreiten. Eine Klappe -
in dem Innern des Gefäßes auf der einen Seite des Herzens
angebradit, jo daß ein Strom von der einen Eecite fie ſchließen,
von der andern Seite fie öffnen müßte, würde anftatt der bop-
pelten Welle nur einen einfeitigen Fluß des Blutes durch die ganze
Krümmung des Gefäßes geftatten, und zu dem Herzen von der
andern Seite zurüdfehrend würde e8 die Klappe öffnen, um auf’8
Neue dur eine zweite Zufammenzichung in derfelben Richtung
wie vorher fortgedrängt zu werden. Nehmen wir an, daß das
tingförmige einfache Gefäß fih in ciniger Entfernung vom Herzen
in mehrere Aeſte fpaltet, Die durch neue Verzweigung fih in cine
unabſehbare Vielheit feinſter Röhrchen theilen, daß ferner dieſe
feinſten Kanäle ſich nun wieder zu größeren Stämmchen ſammeln,
um zuletzt in zwei Hauptſtröme vereinigt wieder in das Herz ein⸗
zumänden, fo haben wir an jener einfachen Borftelung die Ver-
änderungen angebracht, die nöthig find, um aus ihr ein Bild des
ernäbrenden Gefäßiyftems zu machen. In der That bildet das Herz
einen ftarfwandigen musculöfen Schlauch, deſſen kräftige Zuſam—
menzichungen das in ihm enthaltene Blut in dic große Körper⸗
ſchlagader, Die Aorta, den einen noch ungetheilten Arın des großen
Gefäßringes, prefien. Cine bäutige Klappe im Herzen, während
122
feiner Zufammenziehbung durch den Drud des auch gegen fie ge-
drängten Blutes gefchloffen, verhindert den Austritt defjelben nad)
der entgegengefegten Eeite der Bahn und zwingt es, einfeitig feinen
Weg durch jenen ftarfen Stamm in die weiteren Berzweigungen
des Arterienſyſtems zu nehmen. Immer findet dabei das Blut
die Adern, in die es getrieben wird, bereits gefüllt; indem es eben
vom Herzen kommend, fih in den Anfang der Aorta einpreßt,
drängt e8 die Wand derfelben nad) Breite und Länge auseinander
und findet in diefer größeren Weite des ausgedehnten Gefäßes für
einen Augenblif Raum. Aber ‘die claftifche aus ſtarken und zähen
Rings- und Lüngsfafern gebildete Wand des Gefäßes ftrebt mit
großer Kraft fih auf ihr voriges Maß zurüdzuzichen und preft
dadurch den Ueberſchuß des fie ausdehnenden Blutes auf demfelben
Wege weiter fort, indem die nächſte Stelle des Gefäßes jetzt eine
ähnliche Erweiterung erfährt, um fogleich gegen diefelbe ebenfalls
elaſtiſch zurückzuwirken. Co entftcht, über die ganze Länge des
Gefäßes bin ſchnell fortfchreitend, cine Welle der Erweiterung, die
man leicht fich anfhaulich machen kann, wenn man den Darın eines
Thieres bis zu genügender Epannung feiner Wände mit Wafler
füllt, an beiden Enden verfhlicht und auf das eine derfelben einen
plöglihen Drud ausübt. Wir kennen dieſe Wellenbewegung ber
Schlagadern, die von ihr chen den Namen erhielten, unter dem
Namen des Pulfes; fie wird meniger deutlih an den fleineren
Aeſten und verſchwindet völlig in dem meit ausgedehnten Nee
der Haargefäße. In ruhig gleihmäßigem Strome fließt durch
diefe das Blut, um in den wiederzufammtretenden größeren
Stämmen, den Venen, pul8lo8 zu dem Herzen zurüdzufehren.
Da in der Aorta nad dem Herzftoß Flüſſiges auf Flüffiges trifft
fo werden manderlet Vermifchungen eintreten, und ein Theil des
neu eintretenden Blutes Tann auf größere oder geringere Länge
durch Das ſchon vorhandene hindurchgepreßt werden, während ein
anderer Theil des neuen einen Theil des alten vor ſich herdrängt.
Die Bahn, welche ein einzelnes Bluttheilchen befehreibt, Tann da-
ber ſehr verfchteven ausfallen; nur in dem mittleren Theile des
123
Gefäßverlaufs wird fie ftet8 eine gleichförmig fortfchreitende fein;
om Anfang der Aorta können die angeführten Umftände fie fehr
unregelmäßig machen, in den Haargefäßen viele Feine zufällige
Drude der Umgebung und andere Umftände fie auf eine Zeit
lang in ein ſchwankendes Bor- und Zurückgehen durch die vielfach,
communicirenden Wege dieſes Neged verwandeln. Die Angaben,
melde das Blut etwa in einer Minute, während das Herz 60—80
Schläge macht, feinen Weg durdy das ganze Gefäßſyſtem vollenden
laſſen, können deshalb nur den durchſchnittlichen Erfolg der gan-
zen Circulation, aber nicht Die Bewegung jedes einzelnen Theilchens
bezeichnen.
Die größeren Gefäße, Arterien und Venen, durdy dide und
undurchdringliche Häute von der Subftanz der Theile getrennt,
durch welche fie verlaufen, find nur die Strombetten, in denen ber
Zufluß und Abfluß des Blutes ftattfindet; die Haargefäße allein,
mit ihren zarten und dünnen Wandungen und in überaus feiner
und reicher Berzweigung die Heinen Elemente der Gemebe durd-
fegend und umfpinnend, bilden den Schauplag des Stoffumfages.
Aus ihnen treten beftändig durchſchwitzend die flüffigen Beſtand—
theile des Blutes in die Zwiſchenräume der Gewebtbeile, und
gegen Diefe ausgetaufcht dringen die aufgelöften Zerfegungsrefte der
verbrauchten Körperfubftanz in fie cin, um mit dem Blutſtrome
an die verfchtedenen Abfonderungsftellen fortgeführt zu werben.
Wir kennen faft gar nicht die Art der chemiſchen Ummandlung,
welche die Gewebe im Laufe der Zeit und durch ihre Leiftungen
erfahren und eben fo wenig die Reihenfolge der Formen, in melde
fie fi durch fortfchreitende Zerfegung verwandeln, bi8 fie voll-
fommen löslich und in ihrer chemiſchen Zufammenfegung den ein-
facheren unorganifchen Stoffen ähnlicher geworden zur Ausfcheidung
aus dem Körper bereit find. Nur einen Erfolg diefer beftändig
in allen Theilen des Leibes fortgehenden Thätigkeit beobachten
wir beftimmter, die Bildung von Kohlenfäure, durch deren Ein-
tritt in die Haargefäße das Blut auf feinem Rückwege durch die
Benen jene dunkelrothe Färbung annimmt, die e8 nun von dem
124
hellroth aus dem Herzen ftrömenden Arterienblute unterfcheibet.
Der reichere Gehalt an abjorbirtem Saucrftoff, durch den das
letztere fich auszeichnet, verfhimindet in den Haargefäßen großen-
theils und wird zur Herftellung jener im Venenblute ſich fam-
melnden Koblenfäure verwendet. Auf welche Weife nun immer
der hierzu nöthige Koblenftoff aus den Beftanbtheilen des Körpers
ausſcheiden und durch welde Mittelgliever fih die Kohlenfäure
ſchließlich bilden mag: jedenfall müfjen wir diefen langfamen
Berbrennungsproceß, der in allen Theilen fich beftändig vollzicht,
für die Quelle der thierifchen Wärme halten. Cine gemifje Höhe
der Temperatur ift für die Möglichkeit der Tebendigen Leitungen
eine unentbehrlihe Bedingung. Aber nicht jedem Theil, der zu
feiner Berrihtung ein beftimmtcs Wärnemaß bedarf, erlaubt die
Natur derfelben Berrichtung, dieſes Bedürfniß felbft durch Tebhaften
Stoffwechſel zu deden. Die Gefäße aber bilden die Kanäle, durch
welche die anderswo erzeugte Wärme, an das Blut gebunden,
gleichmäßig über den Körper verbreitet wird, und aus dieſer ihrer
zweiten Beftimmung, ein Apparat der Wärmevertheilung zu fein,
begreifen fih einzelne Feinheiten ihrer Anordnung leichter, als
aus ber erften, zur Verbreitung des crnährenden Saftes zu dienen.
So kommt der Ueberſchuß der Theile von regem Stoffwechfel auch
denen zu Gute, die durch ihren geringeren Umfag oder um ihrer
ungünftigeren Lage willen die erforderliche Höhe der Temperatur
jelbft zu erzeugen und zu erhalten nicht fähig find; fo erlangt
namentlich die äußere Oberfläche des Leibes Erſatz für die bedeu—
tende Wärmeftrahlung, durd die fie in Beruhrung m mit der Luft
beftändig erfaltet.
Wir haben bisher das vom Blur erfüllte Gefäßſyſtem als
die Vorrathskammer betrachtet, aus der ſowohl der ernährende
Wiedererfag als die nothmendige Wärme den Körpergeweben zu—
geführt werden. Bald jedoch würde diefer Vorrath erſchöpft fein,
125
wenn nit durch Atmung der Sauerftoff beftändig neu erſetzt,
durch die VBerbanung der Beitand der bildungsfähigen Maſſen un:
terbalten, durh Abfonderung die unbrauchbar gewordenen Ber:
fegungsrefte aus dem Blute entfernt würden. Bon diefen Ver:
richtungen bedingt zuerft die Athmung in den höheren Thieren
die Ausbildung einer befondern Abtheilung des Gefäßſyſtems, dazu
beftimmt, das vendfe durch Aufnahme unbenugbar gemworbener
Stoffe veränderte Blut durch günftig eingeleitete Wechſelwirkung
mit der äußern Luft von feiner Kohlenfäure zu befreien und mit
Sauerſtoff neu zu füllen. Statt des einen Herzens, von dem wir
früher den arteriöfen Etrom ausgehen und in welches wir den
venöfen unmittelbar zurüdfchren Tießen, denken wir jegt zwei ähn-
lich gebaute; von den Haargefäßen wiederkehrend wird der venöfe
Strom zunächſt in das eine aufgenommen, von ihm aus durch
einen weniger ausgedehnten Bogen des Gefäßringes getrieben, und
erreicht erft aus diefem wieder zurückſtrömend das zweite Herz, um
von diefem nun in die ſchon bekannte Bahn des großen Körper-
freislaufs überzugeben. Jener kürzere Bogen zwifchen beiden Her-
zen bildet die Bahn des kleinen Kreislaufs, in welcher das Blut
der Einwirkung der Luft dargeboten wird; jenc® Herz, in das der
vendfe Strom einmündet, ift das rechte, jenes andere, aus welchem
das arteriell gewordene austritt, das linke Herz; beide Liegen, ob-
wohl immer mit volllommen von einander abgetrennten Höhlen-
räumen, im Körper dicht an einander, und das Blut, aus dem
rechten durch die Gefäßverbreitung des Fleinen Kreislaufes nad
dem Tinten ftrömend, gelangt am Ende diefer Bewegung faft auf
den nämlichen Punkt des Raumes zurüd, nur durch Die muscu-
löfe Schetvewand, Die beide mit einander verwachſene Herzen trennt,
von dem Orte ſeines Ausgangs gefchieven. Die Gefäßbahnen,
Die c8 zwiſchen beiden Punkten durchläuft, gleichen in ihrem Bau
denen des großen Kreislaufes. Ein ftarkr Stamm, die Yungen-
arterie, der Aorta vergleichbar, nimmt zuerft Das venöfe Blut auf,
das der Schlag des rechten Herzens, zugleich mit dem bes linken
erfolgend, austreibt; er fpaltet fih bald in zwei große Acfte, deren
126
jeder eine Hälfte der Brufthöhle durch eine baumförmige Verzwei—
gung immer feinerer Kanäle ausfüllt. Auch diefe Hanrgefäße
fammeln ſich wieder zu größeren Stämmen, den Lungenvenen, in
denen das Blut, unterdeffen durch die Athmung hellgeröthet, in
das linke Herz, zum Wiederanfange des großen Kreislaufes zuriid-
fließt. Durch die Zwiſchenräume, welche das feine Neg jener
Haargefäße übrig läßt, wächft überall eine zweite Verbreitung von
Kanälen, aber Iuftführenden, hindurch. Als ein weites offenes,
durch Inorpelige Ringe gegen Zufammendrüdung geſchütztes Gefäß
beginnt in dem Hintergrunde der Mundhöhle, durch den Kchl-
dedel nad) oben verſchließbar, die anfangs einfache uftröhre; un-
ter der Haut des Halfes und dünner Mustelbededung herabftei=
gend, theilt fie fi) unter dem Anfang des Bruſtbeins in zwei
Hauptftämme, die nach rechts und links ſich in immer Kleinere dünn—
häutige Zweige auflöfend, jene zwei großen Bäume bilden, deren
Aeſtchen ſich zwifchen die feinen Nege der gleichfalls zu zwei vielfach
verzweigten Geflechten entwidelten Blutgefäße einſenken. Eine all-
gemeine häutige Umbillung, nur in wenige der größeren Abthei-
lungen dieſes durcheinander verwachſenen Doppelgeflechtes eingehend,
überzieht jede der beiden Verzweigungen, die beiden Lungen, deren
größere rechte ihre Hälfte der Bruſthöhle ausfüllt, während die
kleinere linke das in der Mitte und nach links gelegene Herz,
dem ſie Raum läßt, von hinten, von oben und zum Theil mit
herabgreifendem Rande von vorn her umgibt. Der mittlere Theil
der Bruſthöhle, die Spalte, welche beide Lungen treunt, iſt der
Raum, in welchen bogenförmig nach oben und dann nach hinten
abſteigend ſich die Aorta ausdehnt, und von welchem aus die Blut—
gefäße ſeitlich, die beiden Aeſte der Luftröhre von oben her in das
Gewebe der Lungen eintreten.
Die feinſten einander innig umſchlingenden Veräſtelungen der
Luft- und Blutgefäße find auch bier der eigentliche Ort der Wirk—
famfeit. Die legten Enden der zarten Luftröhren erweitern fih zu
Heinen Bläschen, an deren Wandungen die Haargefäße verlaufen,
nur dur eine äußerſt dünne Bedeckung von der Luft gefchieden,
127
welche das Innere diefer Heinen Rungenzellen füllt. Durch jo feine
feuchte Membranen findet auch außerhalb des Iebendigen Körpers
eine Austauſchung von Gasarten ftatt, nach Glefegen, Die noch nicht
völlig in ihren Einzelheiten aufgellärt find. Die Koblenfäure des
vendfen Blutes, das an diefen dünnen Scheivemwänden der Luft
voräbergeführt wird, tritt ausgehaucht aus den Gefäßen in die
Höhlung der Lungenzellen; der Sauerftoff der dort befindlichen
atmofphärtfchen Luft dringt umgekehrt durch die Wände der Haar-
gefäße ein und wird nun mit dem artericl gewordenen Blute,
das ihn aufgefaugt hat, dem Linken Herzen und durch Diefes dem
großen Kreislaufe zugeführt. Die beftändige Fortdauer dieſes Bor-
gangs wird endlich durch Die Bewegungen der Bruft, die Abwechs⸗
lung der Ein- und Ausathmung gefihert. Zum Einathinen heben
die Muskeln dic beweglichen Rippen in die Höhe und ftreben auf
dieſe Weife die Brufthöhle zu erweitern; aber überall gefchloffen
wie fie ift, kann fie diefem Beftreben nicht folgen, ohne daß die
äußere Luft den leeren Raum, der dabei entjtchen müßte, durch
Kehlkopf und Luftröhre eindringend bis in Die Lungenzellen erfüllte.
Diefe thätigen Bewegungen der Bruſtmuskeln laſſen mit vollen-
deter Einathmung nad), und die eigene Elafticität des Lungenge—
webes, das durch die eingebrungene Luft ausgedehnt war, reicht
bin, um durch ihr Zufammenzichungdbeftreben die Wiederaus-
athmung derfelben, und damit die nun von felbft folgende Sen-
fung der gehobenen Rippen zu vollbringen. Nur die Einathmung
ift daher durch lebendige Thätigkeit der Muskeln nothwendig be=
dingt; die Ausathmung erfolgt im gewöhnlichen Taufe der Refpi-
ration ohne die Mitwirkung derfelben, obwohl fie zu möglichſt voll-
fommeney Entleerung der Lungen von ciner folden unterftügt
werden fann. j
Durch Herz Lungen und die großen Gefäßftämme wird der
Raum der Brufthöhle ausgefüllt. Site ift nad unten durch das
Zwerchfell von der Bauchhöhle, dem Sige des Verdauungskanals
128
und feiner Anhänge gefhieden. lache Musfelplatten, deren Fa—
fern ſich nach verſchiedener Richtung kreuzen, entfpringen vom Rüd-
grat, von ber unterften Rippe und dem untern Ende des Bruft-
beins, und bilden, ſich unter einander vereinigend, dieſe Scheibe:
wand, die am Rüden tiefer hinabreihend als vorn, nad oben
gewölbt, in die Bruftböhle emporragt. Auf ihr ruhen Herz und
Lungen, und durch eine Spalte, die ihre Faſerbündel am Rück—
grat zwifchen ſich laſſen, tritt die Aorta dicht an der Wirbelfäule
in die Bauchhöhle, um bald fih in die beiden großen Gefäß—
ftämme der Beine zu theilen. Die Zufammenzichung der Zwerd;-
fellsmuskeln plattet Die nach oben gerichtete Wölbung deſſelben ab
und unterſtützt dadurch Die Erweiterung der Brufthöhle zum Ein-
athmen; die Zufammenzichung der musculöfen Wände der Un-
terleibshöhle Dagegen, indem fie die in biefer enthaltenen Einge-
weide nach oben preßt, vermehrt jene Wölbung und befördert durch
Berengerung der Bruft die tiefe Ausathmung.
Aus dem Hintergrunde der Mundhöhle beginnt der Mus—
kelſchlauch der Speiferöhre, zuerft zwiſchen Wirbelfäule und Luft-
vöhre, dann in der Bruft an die vorbere und linke Seite der
Aorta tretend, in dic Bauchhöhle hinabzufteigen, in welche fie durch
eine Deffnung des Zwerchfells eindringt. Zwiſchen die Wände
diefes Kanals wird die durch Kauen zerfleinerte Nahrung fo wie
das flüffige Getränf durch Musfeln der Mund- und Rachenhöhle
hineingedrängt; indem Hinter ihm ſich Die musculöfe Wand zu-
ſammenſchnürt, öffnet der Biffen Schritt für Schritt fi) den Weg
durch diefe Röhre, deren Wandungen, nicht wie die der Luftwege
durch elaftifche Knorpel auseinander gehalten, fi, im gewöhnlichen
Zuftend ohne Zwiſchenraum aufeinander legen. So nach der Höhle
bed Unterleibe8 beförvert, gelangt die Nahrung in Die Abtheilung .
des Verdauungskanals, in welcher die chemiſche Thätigfeit der An:
ähnlichung beginnt. Im vielfachen nur für einzelne Abfchnitte in
ihrer Lage beftunmten Windungen zieht fih der Darmkanal durch
die Unterletbshöhle, überall aus ciner äußern musculöfen Schicht
und einer innern fammtartig glänzenden Schleimhaut zufammen-
129
gefegt, beide von zahlreihen Blutgefäßen durchfegt, und beide bei
allgemeiner Gleichheit ihres Baues doch in verſchiedenen Abthet:
lungen des Ganzen nad) den abweichenden Zwecken verſchieden ind
. Beine organifirt. Unmittelbar nad) ihrem Eintritte in die Bauch:
böhle erweitert fi die Speiferähre zu einem geräumigen beutel-
förmigen Organ, deſſen meiterer abgerundeter Sad ſich blind nad
Iint8 von ihrer Einmündung ausbehnt, während der andere längere
Theil ſich in den ferneren Verlauf des Darmkanals fortfegt. Die
Mustelhaut dieſes Organs, des Magens, aus verfhiedenen flachen
Bündeln von Yafern verwebt, vermag durch ihre wellenförmig hin
und bergebenden wenig kraftvollen Zufammenziehungen den ange:
langten Speifebrei hin und berzuführen und ihn dadurch in man-
nigfaltige Berührung mit der inneren Schleimhaut zu bringen.
Reih an Blutgefäßen, zu denen während der Verdauung vermehrter
Zufluß ftattfindet, fondert dieſe Haut aus eigenthümlichen mi-
kroſtopiſchen Drüschen, welche in fie eingebettet fi in der größeren
nad unten gerichteten Krihnmung des Magens hinziehen, ein mit
dem Namen des Pepfind belegte in feiner BZufammenjegung
wenig bekanntes Product aus, das in Verbindung mit dem falz-
und mildhfäurehaltigen wäflerigen Magenfaft den erften kräftig
auflöjenden. und chemiſch umgeftaltenden Einfluß auf die Nahrung
ausübt. Schon hier verwandeln fi die ftärkmehlartigen Beftand-
theile der Tegtern in Zuder; Eiweiß und Faferftoff der Fleiſch—
nahrung verlieren zerfallend einen Theil ihrer Eigenſchaften; die
Bette ſcheinen unverändert hindurchzugehen. Bon den Getränken
und von den verflüfligten Theilen der Nahrung wird vieles ſchon
bier durch die Blutgefäße des Magens aufgefaugt; die nicht voll-
kommen löslich gewordenen Stoffe treten nach und nach zur weiterer
Verarbeitung durch die Gegenöffnung des Magens in den nächſten
Abſchnitt des Verdauungskanals, den Zwölffingerdarm.
Sie unterliegen hier dem Einfluſſe zweier Organe, der Leber
und des Pancreas, die wir beide als ausgeſtülpte Anhänge des
Darmkanals am kürzeſten für unſern Zweck beſchreiben können.
Wir denken uns eine nach außen gebildete hohle sol des Darm-
Loge l. 3. Aufl.
130
rohrs almählih zu einem lang und dünn auögezogenen Kanal
anmwachfen, deſſen fehr enge Höhlung in offener Verbindung mit
ber viel geräumigeren des Darmes bleibt. Diejer Kanal, den
wir den Gallengang nennen, theilt ſich dann in zwei Zweige, von
denen der eine fehr bald mit einer blafenfürmigen Anſchwellung,
der Gallenblafe, ſchließt, während der andere, der Luftröhre ähn—
Th, fih in eine Baumkrone feiner Berzweigungen veräftelt.
Zwiſchen dieſes Geflecht dringt ein doppeltes anderes in ähnlicher
Weiſe wie in den Lungen ein. Nicht nur der große Kreislauf
fendet aus der Aorta Arterien, die fi) hier in ein Haargefäßnetz
ausbreiten, fondern auch das vendfe Blut, das aus den Einge-
weiden des Unterleibes zurüdfehrt, fammelt fih in einen großen
Stamm, die Vfortader, und diefe, fih von neuem ine in venöſes
Haargefäßnetz auflöfend, begleitet ebenfalls mit ihrer feinen Ber-
zweigung die Veräftelung der Gallenkanäle. So bildet Diefes
dreifache Geflecht in Verbindung mit der zelligen Maffe Die Sub-
ftanz der Leber; von einer Umhüllungshaut zu einem derben maf-
fenhaften Organ abgefchloffen und von der rechten Seite des Un—
terleibes bis über feine Mittellinie hinausreichend, hängt fic unter
dem Zwerdhfell in einer Falte eines häutigen überall gefchloflenen
Sades, des Bauchfelles, befeftigt, deffen vordere Fläche die innere
Seite der musculöſen Unterleibswand überzieht, und deſſen hintere
in mehrfachen in das Innere des Sades hincingefalteten Einftül-
pungen bie wichtigften Abtheilungen des Verdauungskanals auf-
nimmt und fefthält. Aus den Zellen des Leberparenchyms, an
welchen die Fleinften Verzweigungen der Gallenkanäle endigen,
wird in diefe die gelbe, bittere Galle ausgefondert. ‘Daß Diefe
Flüſſigkeit einen weſentlichen Einfluß auf Die Verdauung ausübt,
ſcheint die Beftändigfeit zu‘ beweifen, mit der in ben höheren
Thierklaſſen die Lage der Leber überall fo angeordnet ift, daß
aus ihr und aus der Oallenblafe, in der das ſtets bereitete Product
ih anhäuft, die Galle durd die erwähnten Ausführungsgänge
in dem Maße dem Darmlanal zugeführt wird, in welchem die
Nahrung aus dem Magen in ihn’ eintritt. Aber ich vermeibe
131
es billig, auf die fpecielleren Anfichten einzugehen, welche über die
Art diefes Nugens die Phnfiologie aufzuftellen verfucht. Ueberaus
mühſame und verbienftlihe Unterfuhungen haben doch bisher
unfere Kenntniß von dem Ineinandergreifen der vegetativen Ver—
richtungen nur fehr wenig feftzuftellen vermocht, und unfere Auf-
faffungen der chemiſchen Borgänge in der Verdauung und Anbil-
dung find noch in beftändiger Aenderung begriffen. Anftatt diefer
Einzelheiten führe ich einen Ganfen an, in melden hemifhe 3
Forſcher ihre Anfiht von dem allgemeinen Sinn der bier vor-
fommenden Wechſelwirkungen zufammendrängten. Der thierifche
Körper nährt fich allerdings durch von außen zugeführte Stoffe,
bie im Ganzen bereit$ die Zufammenfegung feiner eigenen Be-
ftandtheile haben; die völlige Anähnlihung des aufgenommenen
Materials ſcheint indeffen doch nur durch die Einwirkung von
Stoffen möglich, Die dem Organismus bereitd angehörten und
die von ihm nun als corrigirende Fermente hinzugebradht werben,
um die hemifchen Bervegungen bes eingeführten fremden Materials
in eine für die Zwecke der Anähnlihung günftige Richtung zu lenken.
Eine große Menge folder Stoffe, Pepfin, Galle und die Säfte
des Pancread und der zahlreichen verfchtedenen Drüfen de8 Darm⸗
kanals, wirft auf diefe Weife beftändig der Organismus zwiſchen
die hemifchen Wechfelwirfungen hinein, denen die Elemente des
Nahrungsmateriald durch ihre eigene Natur unterworfen fein
würden; wir fennen die befondern Leiftungen nicht, die dieſen ein=
zelnen Beiträgen obliegen, und felbft die Krankheitserfcheinungen,
die aus der Störung des einen oder des andern hervorgehen,
erlauben nicht durch Rückſchlüſſe die Functionen der verſchiedenen
zu fondern; fo müffen wir ung mit dem Allgemeinen jenes Ge—
dankens begnügen und der Zukunft feine Bewährung im Ein-
zelnen itberlaflen.
In die Aufgabe, den zubereiteten Speifefaft dem Blute
und aus ihm den Beftandtheilen des Körpers zuzuführen, theilen
9*
132
fih zwei Syſteme von Gefäßen. Die Blutgefäße, welche die
ganze Ausdehnung de8 Darmrohrs mit feinen Negen durchziehen,
[Heinen nur die aufgelöften unorganifhen Beitandtheile, wie die
Salze, und von den organischen diejenigen aufzufaugen, die völlig
verfläffigt nicht zur Bildung der Gewebe fondern zu anderen
Dienften in den Körper übergehen follen. Diefe Auffaugung ift
fo raſch, daß flüffige Gifte ſchon wenige Minuten nad ihrer
Aufnahme fih im Blut und in den Abfonderungen durch ihre
Reactionen, in dem übrigen Körper durch ihre Wirkungen be—
merflih machen. Die Aufnahme der gewebbildenden Nahrungs-
ftoffe, der eimeißartigen Körper und neben ihnen der Wette, fällt
dem anderen Syſteme, dem der Chylusgefäße, zu. Das fammtartige
Anfehen, welches die innere Oberfläche der Schleimhaut vom
Magen an abwärts immer mehr annimmt, zeigt fi) bei mi-
froffopifher Betrahtung als die Wirkung feiner in die Höhle
des Darmes hineinragender Zostenbildungen. Im obern_ Theile
des Darmkanals kegelförmige Erhöhungen mit breiter Baſis,
gehen ſie im untern in zungenförmige Organe über, zu 40 bis
90 auf eine Quadratlinie der Schleimhaut zuſammengedrängt.
Die blaſſe unbeſtimmt faſerige Grundmaſſe ihres Gewebes um-
gibt außen ein Ueberzug cylindriſcher Zellen, unter dem an zwei
Seiten feine Blutgefäße durch Zwiſchennetze verbunden aufſteigen;
ihre Mitte nimmt mit blindem kolbigem oder ſtumpfem Ende
der Urſprung eines Chylusgefäßes ein. Mit dieſen unterein-
ander nah und nad zu größeren Stämmen zufammenfließenden
Chylusgefäßen vereinigt fi fpäter die Verzweigung der Lyınph-
- gefäße, die aus den übrigen Theilen des Körpers die überſchüſſig
ergoffene Yutfliffigkeit auffaugen, und beide in Bau und Ver-
richtung fehr ähnlichen Kanalfyfteme führen zulegt durch einen
gemeinfamen Ausmündungsgang ihren flüffigen Inhalt in einen
der Hauptftämme bes venöfen Gefäßgebieted, die vom Kopf berab-
fteigende Hohlvene über. |
An den Chylusgefäßen fo wenig wie an den Blutgefäßen
find offene Mündungen zur Aufnahme der von ihnen zu leiten-
133
den Stoffe zu bemerken; aud in ihnen gefchicht daher die Auf:
faugung durd) Die gefchloffenen Wandungen und muß auf Fläffig-
fetten oder auf fefte Theile von foldher Kleinheit beſchränkt fein,
daß fie die unwahrnehmbaren Zwifchenräume, die wir zwiſchen
den Heinften Theilen auch dieſer Wandungen annehmen dürfen,
zu durchdringen im Stande find. Auch fo bietet jedoch der Me-
chanismus diefer Auffaugung eigenthümliche Schwierigkeiten, die
fih kaum ohne die Annahme einer chemifchen Anziehung des
inneren Theiles der blinden Gefäßenden befeitigen laſſen, melche
‚den Eintritt der Flüffigfeit bedingt und ihren Rüdtritt durch die
Wandung verhindert. Unter diefer VBorausfegung würde die be-
trächtliche Elafticität der Gefäßwände hinreihen, um die Fort—
preffung ihre8 fie ausdehnenden Inhalts in der offenen Richtung
nad dem Blutkreislauf zu erflären, und zahlreiche Klappen, bie
der Strom in diefer Richtung öffnet, beim Rückfluß aber fchließen
würde, unterftügen die Wirkung dieſer Triebkraft.
Auf dem Wege, den fie bis zu ihrem Eintritt in das Blut
zurüdlegen, unterliegen Chylus und Lymphe in vielen Drüfen,
zu denen ihre Gefäße fich verfchlingen, dem umgeftaltenden Einfluß
des Blutes felbft, deſſen Zufammenfegung ſich die ihrige immer
mehr nähert. Eigenthümliche, körnige Körperchen treten in beiden
auf, von mifroffopifcher Kleinheit, aus eiweißartigen Stoffen ge-
bildet. Sie fcheinen die erften Anfänge einer Bildung zu fein,
durch welche das Blut fid) von den übrigen Säften unterfcheibet,
der rothen Blutkörperchen. Als fcheibenförmige glatte Zellen
ſchwimmen diefe in größter Anzahl im Blut, gebildet aus einer
zäben Karen Flüſſigkeit ohne feften Kern, und von einer fehr ela=
ftifchen durchſichtigen Umhüllungshaut umkleidet, welche aus einem
eiweißartigen Körper, dem Globulin, und einem rothen eifenführen-
den Farbftoff, dem ebenfalls eimeißartigen Hämatin gemischt ift.
Weber ihre Entftehungsmeife, noch die Art, wie fie alternd wieder
zu Grunde gehen, noch die Dienfte, welche fie dem Leben leiften,
und welche für fehr wichtig zu halten wir vielfache Beranlaffung
haben, find bis jegt zweifellos befannt. Ihre Beftimmung wird
+
134
theil8 in einer Verwendung zur Ernährung und Gemebbilbung,
theil8 darin gefucht, daß fie durch abmwechfelnde Abforption von
Sauerftoff und Kohlenfäure, unter deren Einfluß fie die Farben—
verjhiedenheiten des arteriellen und venöfen Blutes bedingen, für
die Austaufchung der Stoffe ald Bewegungsmittel thätig find.
Die Schwankungen ihrer Menge im Blut zeigen fih in Kranf-
heiten mit beveutendem Einfluß eu b die GLebhaftigteit der Nerven⸗
verrichtungen verbunden.
Chylus und Lymphe find die einzigen Quellen des Wieder-
erfages für das Blut; meit mannigfaltiger find die Yormen, in
denen e8 feine Beftandtheile ausgibt. Wahrſcheinlich wird nur
ein verhältnigmäßig geringer Antheil dDiefer Ausgabe auf die be—
ftändige Wiederernährung der durch ihre Leiftungen abgenugten
Gewebe verwandt; ein beträchtlicherer geht vielleicht zur Erzeugung
vielfacher Gebilde auf, die, mie Haare, Nägel, Oberhaut, in
beftändigem Wachsthum begriffen find und in fefter Geftalt durch
Abſtoßung und Abfchilferung ſich von dem Körper trennen; nod
bedeutender fheint die Maſſe der aus dem Blute geſchehenden
Abſonderungen, welche, wie die zahlreihen Säfte des Verdauungs-
kanals und feiner ihm zugeordneten drüfigen Organe, vor ihrer
Entfernung aus dem Körper noch einmal zu den Zwecken der
Affimilation als beihelfende Mittel benugt werden. Die größte
Gemwihtsmenge aller Abſcheidungen erfolgt jedoch durch die Aus—
dünſtung aus Haut und Lungen und durch die Abfonderung des
‚Barnes; beide Vorgänge nur zur Entfernung unbraudhbarer Maſſen
beftimmt, obgleich der erſte vielleicht durdh die Nebenwirkungen,
welche die Thätigfeit der Ausſcheidung begleiten oder ihr folgen,
zur Ausgleihung mander Störungen des Körpers geſchickt. Die
ſtickſtoffhaltigen Beſtandtheile des Harnd, in einer großen ver-
äãnderlichen Waffermenge bald aufgelöft, bald aus ihr fih in fefter
Geftalt niederfhlagend, laſſen keinen Zweifel daran, daß auf
Diefem Wege am meiften die Reſte der in ihrer chemiſchen Zu—
fammenfegung zerträmmerten eiweißartigen Stoffe entfernt werben.
Man Hat einen von ihnen, den Harnftoff, bereit8 gebilvet im
135
Blute vorgefunden, und in Bezug auf ihn wentgftens werben die
Nieren fih nicht als ein erzeugendes Organ, fondern nur als ein
eigenthümlich gebilvetes Filtrum verhalten, defien Gewebe feine
wäfjerige Auflöfung in den Höhlenraum der Ausführungsgänge
bindurchtreten läßt, während e8 die übrigen aufgelöften und nod
benugbaren Beftandtheile des Blutes in dieſem zurüdzubleiben
nöthigt.
Die Kohlenſäureaushauchung der Lungen ift begleitet von
einer reihlihen Entwidlung von Wafferbampf, der in kühlerer
Temperatur den Athem fihtbar macht und in welchem abjorbirt
die Kohlenfäure in die Außenwelt übergeht. Auch aus der feuchten
digen Schleimfchicht, weldhe unter der Oberhaut mit Gefäßen
reichlich durchzogen Liegt, dringt Waſſer beftändig nach außen und
entweidht dampfförmig durd die hornartige dünne Oberhautplatte,
welche überall den Körper als letzte Grenze überzieht. Der größere
Theil der gefammten Hautausdünſtung feheint auf diefem Wege
zu erfolgen, nur ein Hleinerer das Erzeugniß eigenthiimlicher Heiner
Drüschen zu fein, die in das Schleimneg der Unterhaut eingebettet
einen fptralförmig gewundenen feinen Ausführungsgang nach außen
fenden, aus deſſen offener Mündung Die ausgejonderte Flüffigkeit
verdampft, und nur bei zu reichliher Erzeugung, oder wo die
äußere Luft fie nicht binlänglih abforbirt, in der Form des
Schweißes tropfbar hervortritt. Außer den gewöhnlichen Salzen
des Blutes und fehr geringen Beimengungen organifcher Beſtand⸗
theile enthält der Schweiß nur Waffe, Mildhfäure, Ammoniak;
feine Zufammenfegung ſchiene daher die Wichtigkeit nicht zu recht:
fertigen, welche man der Hautthätigfeit zufchreibt, noch die zahl:
reihen Nachtheile ihrer Unterbrüdung. Aber es tft wohl möglich,
daß nicht die Entfernung diefer wenig erheblichen Stoffe, fondern
bie Arbeit der Entfernung das Wichtigere ift, oder daß der beftän-
dige Fortgang dieſes VBerbampfungsprocefies für die an der Ober-
fläche des Körpers in der Haut felbft gelegenen Nervenendigungen
günftige Zuftände herbeiführt, Die zur genügenden Fortfegung ihrer
Berrihtungen unentbehrlich find. So wenig wir diefe Seite des
136
Nugens, den die Hantabfonderung gewährt, weiter verfolgen kön—
nen, jo Far ift dagegen eine andere; fic dient als ein wirkſames
Abfühlungsmittel für die durch vielfache Urſachen vermehrbare
Wärme des Körpers und des Blutes insbefondere. In der reich—
lihen Berdampfung, welche unfere Oberfläche beftändig fichtbar
oder unfichtbar unterhält, wird eine große Wärmemenge gebunden
und dem Körper entzogen und Gleiches. findet ununterbrochen durch
die Aushauchung der Lungen ſtatt.
Nicht alle Beſtandtheile des Körpers haben in dieſem Um—
riſſe feines Baues und ſeiner Verrichtungen Erwähnung gefunden.
Wir haben manche von größter Wichtigkeit einer ſpätern Erör—
terung überlaſſen, da wir zunächſt nur die große Ausdehnung ver—
anſchaulichen wollten, in welcher das Leben zur Erfüllung feiner
Aufgaben diefelben Mittel benugt, mit denen die menſchliche Tech-
nik ihre Werke zu Stande bringt.
Sechſtes Kapitel.
Die Erhaltung des Lebens.
Phyfiſche, organifche, pſychiſche Ausgleichung ber Störungen. — Beifpiele der Herftellung
bes Gleichgewichtes. — Das ſympathiſche Nervenſyſtem. — Beftändige Unruhe
alle Organiſchen. — Allgemeine Bild des Lebens.
Auf den unmittelbaren Wechſelwirkungen der Hleinften Theil-
hen beruht die Erhaltung der Körpergeftalt und die Fähigkeit
zu lebendigen Leiftungen. Bon ihnen allen verräth der Anblid
des lebenden Leibes fo wie unfere innere Beobachtung Nichts;
unbemerkt und im Stillen gefchehen alle die chemischen Umwand—
lungen der Stoffe, alle Schritte ihrer Geftaltbildung, der regel-
mäßige Anſatz einiger, die allmähliche Ablöſung der andern.
Was unferer Beobachtung fi als Zeichen des Lebens aufprängt,
137
der beftändige Wechfel des Athmens, die Unruhe des Herzfchlages,
die Wärme, die alle Theile des Körpers durchdringt, Das alles
ift nur die Erſcheinung vermittelnder Thätigfeiten, durch welche
der Organismus in jedem Augenblid die nöthigen Bedingungen
für die Fortjegung jenes unfichtbaren Spieles berzuftellen fucht.
Aber auch fo find diefe vorbereitenden Verrihtungen von großer
Wichtigkeit; befteht doch eben darin die Eigenthümlichkeit des
Lebens, daß es durch die beftimmten Verkntipfungsformen, in denen
e8 die elementaren Stoffe zu gegenfeitiger Wechſelwirkung zuſam⸗
menführt, die eingebornen Kräfte Derfelben zu ungewohnten Erfolgen
anleitet und nöthigt. Wohl ift es daher ber Mühe werth, der
Schilderung des Ineinandergreifens diefer Thätigfeiten noch bie
Frage nach den Kräften und den Gefegen nachfolgen zu laſſen,
durch, welche den wechjelnden Bedürfniffen gemäß Größe und
Kebhaftigfeit jeder einzelnen eben fo, wie die Art ihres nüglichen
Zuſammenwirkens mit den übrigen in jedem Augenblide beftimmt
wird. Ein weites noch offenes Feld für Unterfuchungen der Zu:
funft, geftattet diefe Frage nah Plan und Orbnung des thie
rifhen Haushaltes im Ganzen uns für unfere Zwede nur die
Andeutung weniger Bunkte, um die allgemeine Anfiht, die uns
bisher geleitet hat, noch einmal zum Abfchluffe unfers Bildes
vom Leben zu benugen.
Wie die Befeitigung jeder Störung nad) unfern frtheren Des
merkungen nur dadurch gelingen Tann, daß dieſe ſelbſt in irgend
einer Weife die heilenden Thätigkeiten Des Körpers zu ihrer eigenen
Aufhebung in Bewegung fest, jo wird aud die Befriedigung jedes
Bedürfniſſes davon abhängen müſſen, daß der änderungsbebürftige
Zuftand felbft die zu feiner Umgeftaltung nöthigen Niüdwir-
tungen anregt. Diefer allgemeinen Bedingung kann auf mehrfache
Weife genügt werden. Der einmal angeordnete Bau Der einzelnen
Theile felbft Tann, wie dies in jedem Beifpiel der Elafticität zu
geſchehen pflegt, ein Beftreben zur Rückkehr in bie früheren Zu-
ftände entwideln, das innerhalb gewiſſer Grenzen wenigſtens in
demfelben Maße wächſt, wie Die gemaltfame Ablenkung von
138
ihnen. Hier wird die Störung auf das unmittelbarfte durch Die
eigenen Kräfte der Theilhen, deren Verhältniſſe fie verfchoben
hatte, befeitigt, fei es, daß mit der wachſenden Störung ftetig auh
die heilende Rückwirkung zunahm, fei es, daß Die erfte nur nad
der Erreihung einer beftimmten Höhe die inneren Verhältniſſe
ber betroffenen Theile zu einer nun plötzlich beroortretenden Re-
action nöthigte. Beftände der lebendige Körper aus Theilen,
deren jeder nur für feine eigene Erhaltung zu forgen hätte, fo
würden wir diefe einfachſte Form der Ausgleihung häufiger an-
gewandt, oder vielmehr die Theile fo gebaut finden, daß ihre An-
wendung itberall möglih wäre. Aber e8 Tiegt in den Sweden
des Lebens, Störungen und Bedürfniſſe des cinen Theils als An-
regungen zu Leiftungen anderer zu verwertben und die Erſchüt—
terungen des einen nicht auf dem Firzeften, fondern auf dem Wege
fih ausgleihen zu laſſen, auf welchem ihnen die nöthigen und
nüglichen Nebenwirkungen für den Vortheil des Ganzen abge:
wonnen werben fünnen. In großer Ausdehnung ſehen wir daber
eine zweite Form der Ausgleihung in Anwendung gezogen; die
Störung eines Theiles verbreitet ihre Folgen über einen größeren
Abſchnitt des Organismus, und nicht zufrieden, die eigenen Wi-
derfiandöfräfte der unmittelbar getroffenen Stelle zu weden, regt
fic vielmehr weit entlegene Theile durch ihren fortgepflanzten An—
ftoß zu einer größeren und mannigfaltigeren Rüdwirkung an.
Ausgehend von Beftandtheilen, die diefen Anftoß im regelmäßiger
gegenfe:tiger Verbindung und durch manderlei Beziehungen ver-
knüpft empfingen, wird auch diefe Rückwirkung weit reicher und
vielgeftaltiger fein fünnen, als die einfache Wiberftandsfraft Der
urfprünglich geftörten Theile fie geleiftet hätte: fie wird nicht nur
dieſe einzelne Erſchütterung befeitigen, fondern zugleih nad ver-
ſchiedenen Richtungen hin aus ihr nügliche Antriebe für den wei—
teren Berlauf der lebendigen Leiftungen entwideln. So wie das
funftreiche Getriebe einer Mafchine den einfachen, faft formlofen
Anftoß, den es erhielt, in mannigfacdhe fein aufeinander bezogene -
Bewegungen verwandelt der Außenwelt wiedergibt, fo treten Die
139
nicht minder kunftreich geordneten Zufammenbänge lebendiger Theile
zwifchen die einzelne Erfchütterung und das Ganze des Organis-
mus und, befriedigen die beſchränkten Bedürfniffe mit zweckmäßiger
Rückſicht auf das Wohl des legtern. In dem Nervenfyftem werden
wir Diefe Veranftaltung erfennen, durd welche die Zuftände räum-
lich getrennter Theilchen zu einer Wechfelwirkung verbunden werben,
Die ihre Lage und ihr Bau ihnen an fih nicht möglich machen
wiirde, und Durch welche zugleich die zerftreute und fragmentarifche
Befriedigung der einzelnen Bebürfniffe in die zufammenhängende
Führung eines allgemeinen Haushaltes verwandelt wird. Nennen
wir diefe neue Form der Ausgleihung eine organifhe im Gegen:
fat zu jener einfacheren phyſiſchen, fo meinen wir damit nicht
eine Verſchiedenheit der wirkenden Kräfte, fondern jenen Unter-
ſchied ihrer Verwendung zu bezeichnen, durch den unfere Auffaffung
überall das planmäßig geordnete Leben von den vereinzelten ober
zufällig zufammengeratbenen Stoffen der unorganifhen Welt unter:
ſchied. Aber auch diefe Form der Ausgleihung und Erhaltung
ift nicht die legte und höchſte; uber die Grenzen unferer gegen:
wärtigen Betrachtung hinaus, aber doch einer Erwähnung bier
bebürftig, erhebt fi die Mitwirkung der Seele. . Nicht immer ver:
mag der geftörte Theil aus fich felbft die Heilung zu finden; er
findet fie oft nicht einmal in den Hülfsmitteln des Nervenſyſtems,
an das cr ſich fuchend wendet; aber feine Erſchütterung wandelt
fih nun in Gefühl und Empfindung der Seele um, und Das un-
zureichende Körperliche Gebiet verlafiend bemegt fidh die Erregung
auf geiftigem Boden fort, um alle Hülfsquellen der Einfiht auf:
zubieten, zulegt mit dem gewonnenen helfenden Entſchluſſe wieder
auf Die Organe des Leibes zurückzuwirken und ihnen Wege der Be-
friedigung zu zeigen, die fie felbft nicht würden aufgefunden haben.
Späteren Gelegenheiten überlaffen wir diefe Ergänzungen des
förperlichen Lebens durch bie Hülfe des giftigen; von jener ein-
fachen phyſiſchen und der organtfch vorbereiteten Ausgleihung ver-
ſuchen wir in wenigen Beispielen ein hinlängliches Bild zu geben.
140
So meit e8 möglich ift, hat die Natur unmittelbare Com-
penfation der Etörungen und die Befriedigung der Bedürfniſſe
durch die eigenen Kräfte der Theile dem Aufgebot eigener organi=
ſcher Mittel vorgezogen; fie wendet auf dieſe Weife häufig Eigen-
fhaften an, die den Geweben entweder für immer oder doch un
geftört für längere Zeit zufommen, und fpart an jenen andern
Thätigkeiten, deren Ausübung nicht ohne Verbrauch ihrer Träger
möglich Scheint. Schon die Musfelbewegung jehen wir in vielen .
Fällen durch phnfifche Elafticität der Gewebe erfegt. Das Herz
volßzicht feine Verengerung allerdings durch Lebendige Verkürzung
feiner Muskelfaſern, aber es erweitert ſich nicht durch eine ent-
gegengefeßte Lebensthätigfeit, fondern theils durch die geringe
Slafticität feines Gewebes, theils durch Nachgiebigkeit vor
dem andringenden vendfen Blutftrom. Jeder Muskel überhaupt
erreicht nad. dem Momente der Zufammenziehung feine vorige
Länge von: felbft, ohne einer befonderen Ausdehnungskraft zu be-
bürfen. Die Erweiterung ber Lungen wird dur Tebendige Thä-
tigkeit der Athemmusfeln bewirkt, die Ausathmung durch die frei=
willige elaftifhe Zufammenziehung des ausgedehnten Gewebes.
Biele Arbeit ift duch günftige Verhältniffe des Baues den Glie-
bern bet ihren gewöhnlichften Berrihtungen abgenommen. Cine
Pendelſchwingung, ohne lebendige Kraftäußerung durch Die Schwere
eingeleitet, führt das im Schritt zurüdftehende Bein an dem vor:
gefegten vorüber bis zu dem Punkte des neuen Auftretens; der
Körper felbft erlangt durch den Gang eine Geſchwindigkeit nad
vorwärts, bie nur noch feine Stügung und die fefte Stredung des
weiterfortichreitenden Beines der lebendigen Mustelanftrengung
überläßt. Nicht durch befondere Thätigfeiten, fondern durch den
Drud der Luft wird dabei der Kopf des Oberſchenkels beweglich
in feiner tiefen Gelenkgrube feftgehalten, und ähnliche Beifpielc
ber Vermeidung Ichendigen Kraftaufwandes würde eine genauere
Betrachtung der Bewegungen in Menge darbieten. Auch der
Kreislauf de8 Blutes erhält in weiten Grenzen feine Regelmä-
Kigfeit felbft und beftimmt zugleich die Größe der Abfcheidungen,
141
die aus ihm. erfolgen follen. Fände das arterielle Gefäßſyſtem
augenblidlih fih mit Blut überfüllt, fo würde die dadurch an-
wachſende Spannung feiner Wände mit größerer Kraft und Ge-
Ihmindigfeit dieſes Uebermaß zu befeitigen fuchen, und der geringere
Zufluß, den bis dahin das verhältnigmäßig weniger gefüllte Ve-
nengebiet dem Herzen zuführte, würde von felbft dieſem verbieten,
jene Ueberfüllung der Arterien zu unterhalten.
Die verhältnigmäßig große Beftändigfeit, mit welcher unter
den verſchiedenſten Einflüffen der Nahrung und der Lebensweiſe
das Blut feine Zufammenfegung erhält oder wiederherftellt, macht
die Vermuthung wahrſcheinlich, daß feine einzelnen Beftandtheile
in den Mengenverhältnifien, in welchen fie feine normale Mifchung
bilden, ähnlich den Elementen einer feften chemifchen Verbindung,
inniger an einander haften, als in andern gegenfeitigen Propor-
tionen, die ein vorübergehender Zufall herbeigeführt hätte. Dies
würde nicht hindern, daß nicht dennoch das Blut noch immer neue
Stoffe durch Anziehung aus den Geweben auffaugte, fie in ſich
auflöfte und an feinem Kreislauf Theil nehmen ließe; dennod
würden diefe überfchiiffigen Beimengungen außerhalb feines gefeß-
mäßigen Verbandes ftehen und den Kräften, welche Ummandlung
und Ausſcheidung der Stoffe Teiten, raſch genug verfallen, un
nad Ableiftung ihrer Dienfte das Blut bald wieder auf feine
normale Zufammenfegung zurückkehren zu laffen. Das würde
derfelbe Vorgang fein, der etwa eintritt, wenn aus einer wäſſe⸗
rigen Löfung ein maflerhaltiger Kruftall ſich abſcheidet; das Waf-
fer, das zu feiner hemifhen Zuſammenſetzung gehört, widerſteht
der Berbunftung, die Das übrige entfernt; dennoch bleibt der
Kryſtall in Waſſer löslich; obgleich alſo feine chemiſche Formel
nur eine beſtimmte Menge deſſelben einſchließt, iſt darum eine
weitere Anziehung größerer Mengen ihm nicht unmöglich geworden,
nur daß er dieſe nicht eben ſo kräftig wie jene gegen ungünſtige
Umftände feſtzuhalten vermag. Unter einer ſolchen Vorausſetzung
würde e8 begreiflich fein, mie da8 Blut Durch feinen eben vor-
handenen Buftand die Größe der Auffaugung und der Abfon-
142
derung felbft zu leiten vermag. Kommt es in einem Grabe der
Coneentration, in weldem e8 nur die nothwendigen Beftand-
theile feiner normalen Zufammenfegung enthält, mit dem dünn—
flüffigen verdauten Speifefaft oder der überall ergoffenen plaftifchen
Lymphe in Berührung, fo wird es veichlihe Mengen von beiden
in fich aufnehmen können; aber diefe Auffaugung wird fi min-
dern, je mehr das Blut bereitS über jenen nothwendigen Bedarf
an Stoffen in fih angezogen Hat. Die Ueberfüllung beffelben
wird alſo durch eine erreichte Sättigung verhindert, welche dic
auffaugenden oder anziehenden Kräfte erſchöpft und von felbft den
Wiedererfag in ein gewiſſes Verhältniß zu dem vorhandenen Be—
dürfniß bringt.
Den Abfonderungdorganen wird nun das Blut nad) den
Veränderungen, bie es während feines Laufes erlitten haben fann,
ftet8 unter einem gemiffen Drude feiner Wandungen zugeführt.
Kaum wird diefer Drud allein zur Hervorbringung irgend einer,
gewiß nicht zu der einer jeden Abfonderung hinreichen; die Or—
gane, denen diefe VBerrichtung übertragen ift, fünnen wir nicht als
einfache Filtra anfehen, durch deren Poren der Drud des Blutes
Slüffigfeiten nur hindurchpreßt; ihre Dienfte find, wie wir früher
faben, oft mannigfaltiger und verwidelter. Indeſſen werden doch
wenigftend das Waffer und die in ihm gelöften Sglze bei der
Abfonderung feine weitere Verarbeitung erfahren; auf ihre Ab-
ſcheidung Finnen wir unfere allgemeinen Betrachtungen anwenden.
Findet das Blut fi fo verdünnt, daß fein Waffergehalt denjenigen
überfteigt, den feine normale Formel einſchloß, fo werden die ab-
jondernden Kräfte des Organs, worin fie nun auch beftchen mögen,
dem Durchtritt dieſes Ueberſchuſſes unter dem Drude des Blu—
tes günſtiger fein, als der ferneren Ausſcheidung auch jenes
Waſſerantheils, den die Zuſammenſetzung des Blutes fordert.
Denn der letztere wird nicht frei, ſondern gebunden an das Ei—
weiß, das in ihm gelöſt iſt, gebunden auch an die übrigen Beftand-
theile des Blutes den abfondernden Kräften dargeboten und kann
auf dieſe zurüdhaltenden Beziehungen geftügt ihnen wiberftehen,
143
nicht minder die Sale, die in beftimmten Mengen der Zuſam-
menfegung des Blutes gehören.
Aber auch auf jene organifhen Beftandtheile, die in ber
ernährenden fo wie in der ausführenden Abfonderung aus dem
Blute austreten, zumeilen nicht ohne einen chemiſch umgeftaltenden
Einfluß der abſcheidenden Drgane erfahren zu haben, können wir
im Allgemeinen diefelben Gedanken anwenden. Ein völlig nor-
mal gebilveter und chen deshalb eines Erfages ganz unbebürf-
tiger Gewebtheil wird feine befondere Anziehung gegen das an
ihm voritberkreifende Ernährungsmaterial ausüben; ein in feiner
Zufammenfegung veränderter, eben dadurch diefem Material un—
ähnlicher geworden, wird es lebhafter anziehen können und fo fir
den Austritt defjelben aus den Gefäßen eine neue begünftigende
Bedingung hinzufügen. Auch hier würde daher das Bedürfniß
unmittelbar die zweckmäßige Größe des Erſatzes herbeiführen.
Bietet ein ftoffreicheres Blut den Abfonderungsorganen größere
Mengen deffen, was fie durch ihre irgendwie beſchaffene Thätig-
feit zu verarbeiten pflegen, jo kann fchon die Gegenwart dieſes
reichlicheren Material hinreichen, eine Steigerung diefer Thätig-
feit zu veranlaffen, wenigſtens dba, wo dieſe Iegte nicht auf in-
neren Veränderungen des Organs beruht, melche felbft einen nicht
überjchreitbaren Höhepunkt der Intenfität und Geſchwindigkeit be-
figen. Deutlicher ift, daß allemal die abjondernde Thätigfeit einen
wachſenden Widerftand finden wird, wenn ihr Material ihr nur
noch in der Menge zugeführt wird, die zu der feften Zufammen-
fegung des Blutes gehört und von diefem zurüdgebalten wird.
It ferner durch irgend eine Hemmung die abfondernde Thätig-
feit des einen Organs gehindert, fo werden Die bier zurüdigehalte-
nen Maffen an allen andern Orten den Ausgang fuchen, der
unter diefen veränderten Zuſtänden für fie noch möglich oder unter
den möglichen der Teichteft benutzbare ift. Die Unterbrüdung der
Hautausbünftung wirft die Waffermaffe, die von der Oberfläde
verbunften follte, in das Innere zuräd, und da fein Organ fir
fie undurchgänglidy ift, fo fehen wir der Unthätigfeit der Haut
144
vermehrte wäflerige Abjcheivungen von allen andern Abjonderungs-
flächen folgen, von der zunächſt und am meiften, die unter der
Summe aller vorhandenen Umftände die geringften Austritts-
widerftände darbietet. Es ift eben fo befannt, daß übermäßige
Hautverbunftung die übrigen Seeretionen an Menge herabjegt
und ihre Concentration fteigert, ein Erfolg, der ohne befondern
Aufwand ausgleihender Thätigfeit aus dem Mangel begünftigender
Löſungsmittel erflärbar if. Nicht für alle Ausfcheidungsftoffe
findet jedoch eine ſolche Mehrheit der Austrittömege ftatt; Die
Unterbrüdung einer beftimmten Abfonderung fann entweder die
Bildung des zu entfernenden Stoffes ganz verhindern, indem
diefe vielleicht nur durch die eigenthämliche Thätigkeit des jegt
ruhenden Organs möglich war, oder fie kann, wo jener im Blute
bereit fertig erzeugt vorkommt, feinen Austritt in der Geftalt
verhindern, die er hier hat, und in welcher er nur durch daſſelbe
jest gefchloffene Organ einen freien Durchtrittöweg gefunden hätte.
In diefem Falle werben ftellvertretende Vorgänge ſich entwideln;
entweder das Material, aus welchem der auszufcheidende Stoff
gebildet werben follte, oder der fchon gebildete wird andere ober
noch weitere Ummwandlungen und BZerfällungen erleiden müſſen,
um zulest Formen anzunchmen, in denen feine Ausfonderung
durch die übrigen noch offenen. Organe möglih wird. Da die.
Stoffe, die in ihrer Rüdbildung begriffen find, im Blute der
immer fortgefegten Einwirkung des Sauerftoffd unterliegen, bie
ihren Zerfall in einfachere und löslichere Verbindungen zu begün-
ftigen fcheint, fo tft e8 denkbar, daß auch diefe Veränderung in
der Richtung der abſondernden Thätigkeit ſich von felbft ohne den
Eingriff einer beſonderen regulivenden Kraft geftalte. Die üblen
Folgen jedoch, welche die Zurüdhaltung mwichtigerer Abfonderungen
für die Gefundheit des Ganzen zu haben pflegt, zeigt und wohl,
daß dieſe Erfegung einer Thätigfeit durch die andere mit Schwie—
rigfeiten verbunden ift und kaum im größerer Ausdehnung ſich
als ein Ausgleihungsmittel der Störungen bewähren möchte.
145
An den angeführten Beiſpielen fuchten wir die Möglichkeit
einer völlig phyſiſchen Compenfation der Störungen anſchaulich
zu machen; aber wir können keineswegs verbürgen, daß nicht
ihon in ihnen ein Anfang organischer Compenjation durch das
Eingreifen eines ausdrüdlich zu dieſem Zweck beftimmten Syftemes
von Organen ober Thätigfeiten enthalten ift. So Vieles ift uns
in dem tieferen Zufammenhange der Lebenserſcheinungen noch un:
klar, daß und oft eine Leiftung einfacher ſcheint als ſie in Wahr-
beit ift, und daß wir häufig zu der Erflärung deſſen, was wir
von ihr wifjen, mit wenigen Mitteln ausreichen können, während
wir aus dem fichtbaren Aufwand größerer, melden wir von der
Natur wirflih gemacht finden, auf uns unbelannte Schwierig:
fetten der Sache zurüdichließen müflen. Ich habe oben den all-
gemeinen Grund ausgedrüdt, welder die Unzulänglichfeit der
blos phyſiſchen Compenfationen enthält. Sie alle würden zuleßt
immer Herftellung de8 vorigen Gleichgewichts bezweden; aber es
legt der Natur nicht immer an diefem Gleihgewicht; fie will es
felbft zuweilen für die Zwecke der Entwidlung verändert haben-
In dieſer Abficht muß fie auch foldhe Theile zu lebendiger Wech—
jelwirfung verbinden, welche unmittelbar ihre Zuftände nicht auf
einander würden übertragen fünnen.
Das Nervenſyſtem ift zur Erfüllung diefer Aufgabe beftimint.
Wir haben früher fchon der motorischen Nervenfäden gedacht, die
von Gehirn und Rüdenmark entipringen, die dort aus dem gei=
ftigen Leben entftandenen Bewegungsantriche den Muskeln bes
Körpers zuführen und deren bald augenblidliche bald andauernde
Zufammenziehungen veranlafjen. In ihrem äußern Anſehen dieſen
Faſern völlig ähnlich und nur durd die Erfolge ihres Wirkens
abweichend, verbinden eben fo die fenfiblen Fafern alle empfin-
dungsfähigen Punkte des Körpers, von denen fie entjpringen,
mit jenen Centralorganen, bis zu denen alle Eindrücke fort:
geleitet fein mäffen, um für das Bewußtſein vorhanden zu fein.
Auf dieſen beiden Faſergattungen und auf den Maſſen des Ge—
hirns und Rückenmarks, in welchen ſie endigen oder entſpringen,
Lotze J. 3. Aufl. 10
146
beruhen alle die Dienfte, welche das körperliche Leben den Zwecken
des geiftigen zu leiften bat. Ihre genauere Darftellung dürfen
wir einer fpäteren Gelegenheit aufiparen. Neben diefen Organen
aber, Die wir unter dem Namen des Cerebroſpinalſyſtems begreifen,
ift die Erhaltung der inneren Ordnung der leiblichen Berrihtungen
zum größten Theile dem anderen Syſteme der ſympathiſchen Ner-
ven Übertragen, das von den vielen knäuelförmigen oder geflecht-
artigen Zufammenbäufungen, den Ganglien, in melde feine vicl
feineren Fafern fi verfhlingen, den Namen des Ganglienfuftems
erhalten hat.
Je weniger ein Theil des Körpers zu willkührlicher Be-
wegung beftimmt ift, je geringer feine Fähigfeit, dem Bewußtſein
Eindrücke feiner Zuftände zuzuführen, je lebhafter fein Stoffwechfel
oder die bildende Thätigfeit in ibm: um fo bäufiger finden fich
in den Nervenbündeln, bie er erhält, die feinen Fafern des fym-
pathiſchen Syſtems neben den bideren des cerebrofpinalen. Beob-
achtungen und Verfuche vereinigen fih dahin, die Folgerung,
bie fih aus diefem Verhalten von felbft ergibt, zu unterftügen,
daß diefes zweite Nervenſyſtem die Gefammtheit der vegetativen
Berrihtungen, die chemiſchen Umwandlungen der Stoffe, ihre
Ernährung und Wiedererzeugung, die Geftaltbildung der Heinften
Theile, endlich die zwedmäßige Uebereinſtimmung zwiſchen den
Größen und Formen der einzelnen Wirkungen zu überwachen hat.
Diefe gegenfeitige Anbequemung ber Leiftungen verſchiedener Theile
jegt voraus, daß die Eindrücke, welche die einzelnen Faſern von den
Zuftänden des Ortes aufnehmen, in dem fte verlaufen, in gegenfei=
tige Beziehung und Bergleihung gebracht werben, und Daß es
Mittelpuntte gibt, in welchen ihre verfchiedenen Erregungen zufam=
menftoßen, um durch ihre Wechſelwirkung den Antrieb zu einer
beftimmten der vorhandenen Lage angemefjenen Rückwirkung zu
erzeugen. Es ift nicht zweifelhaft, daß die Ganglien, die in
großer Anzahl in den verfchiedenen vegetativen Organen gefunden
werden, die Vermittlungspunkte dieſes gegenfeitigen Einfluffes
find; aber noch nicht hinlänglich aufgeflärt find wir über die Be⸗
147
dingungen, unter denen hier eine fonft nicht vorkommende Ueber-
tragung der Zuftände einer Faſer auf eine andere erfolgt. Denn
ein unmittelbares Zufammenfließen mehrerer Faſern zu einem
gemeinfamen Stamme tft auch bier nicht beobachtet; aber zwiſchen
den Faſern finden ſich eigenthlimliche Elemente, rundliche kern—
haltige Bläschen, die fogenannten Ganglienzellen, eingeftreut, von
denen man nicht nur einzelne Faſern entfpringen fieht, fondern
deren mehrere zumeilen durch faferförmige Fortfäge, die fie nach ver-
ſchiedenen Seiten ausfchiden, unter einander in ununterbrochener
Berbindung ftehen. Der Zufunft bleibt c8 vorbehalten, über die
Bedeutung diefer Theile, denen ähnliche auch in Gehirn und
Rückenmark zahlreih vorlommen, völlig zu entfheiden, und den
Nugen zu beftimmen, den fie für die gegenfeitige Wechſelwirkung
der einzelnen Fafern haben. Denken wir uns eine foldye auf
irgend eine Weife bergeftellt, fo wird jedes Ganglion zuerft ein
Bermittlungsglied fein, durch welches dem von einem Körpertheil
herkommenden Eindrude überhaupt ein Einfluß auf Zuftände
eines andern möglich gemacht wird, mit dem jener nicht in un-
müittelbarer Berührung fteht; aber e8 wird fih zugleich auch als
ein Sentralorgan verhalten, indem e8 diefem Eindrude nicht fofort
die Größe nnd Form feines Weitenwirkens geftattet, die feiner
Art und Stärfe an ſich entiprehen würden, fondern feinen
Erfolg nad) den gleichzeitigen Bebürfnifien der übrigen Theile
feftftellt, mit denen e8 ebenfalls verbunden iſt. Nichts hindert
anzunchmen, daß die Heinen Ganglien, melde zunädft die inne=
ven Berhältnifie eines befchräntten, zufammengehörigen Gebietes
von Theilen beherrfchen, unter einander wiederum durch Verbin-
Dungsfäben verknüpft, ober mit größeren Ganglien, ald Central
organen höherer Ordnung, in Beziehung gefegt, die Thätigfeiten
umfafjender Organe und Organfofteme in gegenfeitige Ueberein-
flimmung bringen, bis endlich ihr zufammenhängendes Geflecht
alle vegetativen Verrichtungen des Körpers zu der Einheit plan-
mäßigen Ganges, alfeitiger Unterftügung und ausgleichender
Wechſelwirkung verfettet. In der That finden diefe Verbindungen
10*
148
der verfhiedenen Centralorgane ftatt, und vom Halfe dur
Bruft: und Bauchhöhle Yäuft zu beiden Seiten des Rückgrates
die Kette der Hauptganglien herab, die unter einander durch Ner:
venfäden verbunden, andere Fäden zur Bildung der zahlreichen
Geflechte ausfenden, welche den einzelnen Abtheilungen der Ein-
geweide zugeorbnet find.
Man hat in älterer Zeit die Mitleivenfchaft, in welche die
Störungen des einen Organes fo häufig andere auch räumlich ent-
fernte hineinzichen, von der Wirkfamfeit dieſes Syſtemes abhängig
gemacht, und nicht mit Unrecht trägt e8 von dieſen Sympathien
feinen Namen des ſympathiſchen Syftems, obgleid) viele von ihnen
nad den Ergebniffen der neueren Unterfuhungen ohne feine Theil-
nahme aus der Wechſelwirkung der cerebrofpinalen Nerven ent:
fpringen. In welcher Form der Thätigfeit c8 nun feine Leiftungen
ausführt, darüber find wir zum Theil durch Beobachtungen und
Verſuche unterrichtet, ohne jedodh den Umfang feiner Wirkungen
erfchöpfend beftimmen zu können. Sicher geftellt ift zunächſt fein
Einfluß auf die Bewegungen der Eingemeide, deren musculöfe
Häute fih nad Reizung der ihnen vorftehenden Ganglien zufam-
menziehen. Nicht, wie die Muskeln der willführlichen Bewegung,
plöglich, fondern einige Zeit nad der Anwendung des Reizes, ver-
engert fi der Darmkanal durch die Berfürzung feiner ihn freis-
fürmig umgebenden dünnen Musfelihicht, und diefe Zufammen-
ſchnürung, länger dauernd, ald der angewandte Reiz, ſchreitet all-
mählich wellenförmig fort, indem ohne neuen äußern Anlaß nach
der Wiederermweiterung der einen Stelle die ihr zunächſt benachbarte
fi verengt. Man beobachtet ähnliche Erſcheinungen einer lang-
farm erfolgenden Zufammenziehung an den größeren Gefäßftän-
men, in beren nicht blo8 aus elaftifhen, fondern auch aus lebendig
eontractilen muskelartigen Faſern beftchenden Wandungen ſym—⸗
pathifche Fäden verlaufen. Die periopifchen Schläge des Herzens
hängen von einem Syſtem mitroffopifch Kleiner Ganglien ab, das
in der eigenen Musfelfubftanz deſſelben gelagert if. Die Bulfe-
tionen des Herzens dauern bei Faltblütigen Thieren auch nach feiner
149
Ausfhneidung aus dem Körper längere Zeit regelmäßig fort;
felbft die einzelnen Theile des zerftücten Organs ziehen ſich nod
zufammen, Doch nur Die, welche noch jene Ganglien in fi enthalten.
Diefe Thatfachen beweifen, daß ſowohl die Anregung zur Bewegung
überhaupt, als der Grund für die rhythmiſche Abwechfelung von
Anfpannung und Erfchlaffung in diefen neroöfen Eentralorganen
liegt, aber wir wiffen weder, woraus fie felbft ihre anregende
Kraft ziehen, noch in welcher beftimmten Weife die Periodicität
ihrer Thätigkeit bewirkt wird.
Zur Erregung von Empfindungen fheinen die ſympathi⸗
ihen Nerven nicht befähigt. Bon den Zuftänden der Theile, die
von ihnen hauptfächlich beherrfcht werden, von dem Stande der
Verdauung, der Affimilation, der Abfonderung, von der Spannung
der Gefäße, haben wir im gewöhnlichen Lauf der Dinge feinen
Eindruck; wir erfahren von ihnen erſt dann, wenn ihr Einfluß
fi) weiter auf andere Theile erftredt, deren fenfible Nerven uns
diefe mittelbaren Erregungen zuführen, oder dann, wenn fehr be-
deutende Veränderungen und regelwidrige Zuftände eintreten.
Es ift ungewiß, ob im legteren Falle die ſympathiſche Faſer felbft
die Leitung der Eindrüde zum Bewußtſein übernimmt, zu welcher
fie fonft unfähig ift, oder ob die cerebrofpinalen Fäden, die ob-
gleich in geringer Anzahl doch nie ganz zu ihrer Begleitung fehlen,
bier wie ſonſt diefe Feiftung vollziehen. Vielleicht auch mangelt
überhaupt der ſympathiſchen Fafer die Fähigkeit zur Erzeugung
von Empfindungen nit ganz, fondern nur den erzeugten die
nöthige Feinheit und Schärfe, um aus dem Gemeingefühl unſeres
Befindend fich einzeln deutlih auszufondern. Gewiß dagegen
vollziehen dieſe Fafern den Ganglien gegenüber zum Theil dieſelbe
Aufgabe, melde die jenfiblen Fäden des Cerebroſpinalſyſtems dem
Gehirn gegenüber erfüllen; fie dienen als zuleitende Boten, welde
die Zuftände der Theile, von denen fie kommen, dem Ganglion
als ihrem entralorgan zur Beichlußfaffung über die nöthige
Rückwirkung kundgeben. Ä
Der bedeutende Einfluß, den das ſympathiſche Syſtem un-
150
ftreitig auf die Mifchungsveränderungen der Körperfäfte ausitbt,
ift in der Art feines Zuſtandekommens am wenigften befannt,
doch laſſen ſich Leicht verfchiedene Möglichkeiten denken, zwiſchen
denen die Zukunft vielleicht entfcheiden wird. Die Zufammen-
ziehbungen, welche die Thätigkeit der ſympathiſchen Faſern in ben
Muskeln anregt, laſſen vermuthen, daß auch andere Gewebe un—
ter derjelben Einwirkung Veränderungen in der Lage ihrer Hein-
ften Theilchen erfahren fünnen. Da die hemifche Zufammenfcgung
der Säfte ohne Zweifel in hohem Grade von der Natur ber
Wandungen abhängt, durch welche hindurch fie aufeinander wir-
fen, auötreten oder aufgefogen werben, jo würde eine Aende-
rung in dem phyſiſchen Zuftande der Membranen leicht die viel-
fachen Abweichungen der Abfonderungen erflären, die man unter
dem Einfluß heftiger Nervenreizungen eintreten fieht, und Die
weniger auffallend und mit minder fohroffen Abwechfelungen ge-
wiß regelmäßig während des ganzen Lebens fortgehen. Eine
Membran, durch melde hindurch zwei Flüſſigkeiten auf einander
einzuwirfen ftreben, wird in verſchiedenen Graden ihrer Span=
nung und bei verfchiedener Lagerung ihrer Hleinften Theile auch
die wirfungsbegierigen Stoffe nicht immer in gleicher Weife zu
einander gelangen laflen; fie wird jegt dem einen den Durch—
gang verweigern und ihn für den andern erleichtern können. In—
bem fie fo das Zuftandefommen eines einzigen fonft gewohnten
chemiſchen Proceſſes hindert, kann fie leicht dem Gefammtergeb-
niß ihrer Thätigfeit ganz neue und weit abmeihende Formen
geben. Dod auch die andere Möglichkeit bleibt übrig, daß Die
Nervenfafer im Augenblide ihrer Thätigkeit unmittelbar eine che-
miſche Wechſelwirkung veranlaft, indem ſie glei dem eleftri=
[hen Strome, der die fon vorhandenen aber noch zögernden
Beftandtheile einer fünftigen Verbindung diefe plötzlich vollziehen
heißt, oder andere Verknüpfungen eben fo plöglich trennt, irgend
eine Bedingung in das Spiel der Stoffe einführt, die der che—
miſchen Verwandtſchaft zwifchen ihnen neue Richtungen gibt. Am
wenigften würde uns eine unmittelbare geftaltbildende Wirkung
151
ber Nerven klar fein, und wir bürfen annehmen, daß ihre Rei:
ftung ſich in der Herftelung der chemiſchen Natur der Stoffe er:
Ichöpfe, die dann durch ihre eigenen Kräfte und Durch den vereinigten
Eindrud der ſchon organifirten Umgebung geleitet, die ihnen zu-
gehörigen Formen annehmen.
Durch Berengerung der Gefäße würde die Kraft der Ner—
ven den Drud des Blutes auf feine Wände vermehren und da-
durch allen Thätigkeiten der Auffaugung und Abfonderung ver:
änderte Bedingungen gewähren; durch Zufammenziehung cinzel-
ner Gewebtheile mwitrde fie Zufluß und Abfluß des Blutes für
diefe Theile eigenthüimlich beftimmen und Anhäufungen wirkſamer
Maffen mit geringerer Geſchwindigkeit ihres Vorüberfließens da
bewirken können, wo lebhaftere Bildung und rafcherer Umfaß fie
nöthig machen; durch Befchleunigung der Musfelbemegungen,
melde im Großen die Ortsveränderung der Stoffe, die Ausfüh-
rung der abgefonderten, die Aufnahme der neu gewonnenen eins
leiten und durchführen, endlih durch die veränderte Spannung
der Membranen witrde fie dic Größe des Stoffwechſels im Gan-
zen und die Schwankungen feiner Lebhaftigfeit in einzelnen Thei—
Ien beftunmen können. Und zu allen dieſen Aeußerungen feiner
Thätigfeit würde das Nervenfyſtem theild durch den Eindrud der
Störungen beftimmt, welche auszugleichen find, theils würden
die normalen Vorgänge im Körper beftändig ihm Erregungen
zuführen, die fih anſammelnd, in einzelnen Augenbliden, in
denen fie eine beftimmte Stärke erreicht haben, eine zweckmäßige
Wirkung auslöfen. So würden hier ungleihförmige Schwan-
ungen, dort regelmäßig und rhythmiſch wiederkehrende Perioden
der Thätigfeit und Ruhe eintreten. Es ift unnöthig, noch weiter
diefe Ereigniffe zu jchildern, deren äußere Formen Jeder, deren
beftimmte Bedingungen Niemand fennt; fügen wir ihrer Erwäh-
nung vielmehr die Bemerkung Hinzu, dag mit diefem Neid:
thume von PVerrihtungen dennoch das Syſtem der ſympathiſchen
Nerven nit ganz abgefchloffen auf feinen eigenen Hilfsquellen
ruht, fondern daß e8 mit dem Cerebrofpinaliyftem durch zahl-
152
reihe Fäden zufammenbängt. Lange Zeit haben diefe als die
eigentlihen Wurzeln der Gangliennewen gegolten, deren Ge:
ſammtheit man nicht als ein unabhängiges Syſtem, fondern
als die unfelbftändige Ausbreitung und Verflechtung vieler Ge—
hirn= und Rückenmarknerven betrachtete. Bielfahe Gründe haben
gegenwärtig der Vorftellung eines felbftändigen Gangliennerven—
ſyſtems das Uebergewicht gegeben; doch dürften jene zahlreichen
Berbindungen beffelben mit Gehirn und Rüdenmark nicht allein
den Zweck haben, auch in diefen Organen den Wiedererfag zu
leiten, deffen fie durch ihre Verrichtungen abgenugt bedürfen
fönnten; fie feinen wenigftend cben fo jehr umgefchrt dieſen
Mittelpunften des eigentlichen thierifhen Lebens einen mitbeftim-
menden Einfluß auf den Berlauf der bildenden und erhaltenden
Berrihtungen möglih zu machen. Nur die Pflanze erhält ihr
Leben, fo lange fie es erhält, völlig durch die zufammenftim-
mende Wirkung ihrer materiellen Beftandtbeile; der thierifche
Organismus, obwohl in feiner Gliederung unendlich reichhaltiger,
“bildet dennoch in ſich felbft keinen abgejchloffenen Kreislauf der
Berrihtungen. Irgendwo und in irgend weldier wenn auch
nod fo untergeordneten Form ſehen wir immer Elemente des
geiftigen Lebens zwifchen die Leiftungen der körperlichen Organe
treten und Rüden ausfüllen, welche der Zufammenhang der
Lebensvorgänge zwifchen feinen einzelnen Gliedern läßt. Die
Pflanze, in ihre Lebenselemente, Luft und Waſſer, eingetaucht,
findet fi ungefucht in beftändiger Wechfelwirkung mit dem Er-
jage, defien fie bedarf; das Thier hat feine Nahrung aufzu-
ſuchen, und es vollzieht diefen Theil feines Lebensfreislaufes
niht ohne das Aufgebot mannigfaltiger Mittel der geiftigen
Thätigkeit. ZTilgten wir alle diefe Inſtincte aus, durch welche
das Thier für feine empfundenen Zuſtände Heilmittel ſucht, die
der Naturlauf ihm nicht alle von felbft entgegenbringt, fo
wirde jein Organismus nur zu geringer und kurzdauernder
Selbfterhaltung fähig fein, und weit entfernt, jene fich felbft in
Bewegung fegende Mafchine zu fein, für melde eine ungenaue
‘153
Analyſe der Thatfachen ihn fo häufig angefehen hat, ift er nichts
als die eine Hälfte eines Ganzen, unfähig zu leben ohne die andere,
die Außenwelt und die Seele.
Wie fehr hat überhaupt der Verlauf unferer Betrachtung
jene Vorurtheile umgeftaltet, die und der unmittelbare Anblid
des Lebens erregt, jene Träume von Einheit, Abgefchloffenheit
und Beftändigkeit der lebendigen Geftalt! Kaum wiſſen wir noch
anzugeben, wo auch nur räumlich die Grenzen find, melde den
Organismus abjcheiven von feiner Umgebung. Die Luft in un=
jerer Zunge, wann fängt fie an zu uns zu gehören und wann
hört fie auf, Beftandtheil des Körpers zu fein? Iſt fie vom
Blut abforbirt num unfer geworden, und war es nicht, als fie
noch in den Lungenzellen ſich befand? It diefer Speifejaft, nach—
dem er in die Chylusgefäße eingedrungen, Thon Theil unfers
Körpers, oder ift nicht ev und das Blut nur ein Stüd in den
Umfang des Leibes hineingezogener Außenwelt, oberflächlich durch
Die lebendigen Kräfte verändert, aber der Theilnahme am Leben
doch nur noch entgegengehend? Und kreifen nicht viele Stoffe,
wie die löslichen Salze der Erdrinde, dur unfern Körper, durch
Blut und Organe hindurch, und bleiben ihm doch ſtets fremd?
In feinem Augenblide enthält er nur das, was zu feinem eigent=
Yihen Beftand gehört; ftetS treffen wir in ihm Stoffe an, bie
erft fein werden follen, ftet8 andere, die fein geweſen find; Die
Vorbereitung feiner Zukunft und die Trümmer der Bergangen-
heit gejellen fi in ihm mit dem lebendigen Stamme der Ge-
genwart und mit zufällig in ihn verfprengten Bruchſtücken der
Außenwelt.
Und eben fo wenig, wie im Raume, ſchließt fih im Laufe
feiner zeitlihen Entwidlung der Körper zu ftrenger Einheit ab.
Nicht aus eigenen Mitteln fih ergänzend wacfend und entfal-
tend, ift.er vielmehr überall auf die mithelfende Begünſtigung
154
der äußern Welt angewiefen. Sein Leben gleiht einem Stru—
del, den ein beſonders geftaltetes Hinderniß im Flußbett eines
Stromes erzeugt. Der allgemeine Naturlauf ift diefer Strom,
der organifche Körper das Hinderniß, an dem er ſich bricht, und
deſſen eigenthümliche Geftalt den gleihförmigen und gerablinigen
Andrang der Gemäffer in die wunderbaren Windungen und Kreu—
zungen des Wirbels verwandelt. So lange die Form des Fluß—
bettes Ddiefelbe fein und fo lange die Wellen zuftrömen werben,
wird unaufhörlich fich dies Spiel der Bewegung erneuen, in -
immer gleicher Geftalt, fheinbar unverändert, obwohl es doch
von Augenblid zu Augenblid andere Fluten find, die kommend
es erzeugen und gehend e8 verlaffen. Aber die Form des Yluß-
bettes wird nicht bleiben; die Gewalt der Strömungen wird fie
ftetig ändern, und was dieſe nicht vermag, Das wird Die eigene
noch zerftörendere Kraft des angeregten Strudel felbft vollbrin-
gen. Wie cin Meeresftrom durch feinen Wellenihlag, zu dem
er durch Die eigenthüimliche Geftalt des Bodens genöthigt wird,
dieſen felbft nivellirt und. fo die Urfache feiner befondern Bewe—
gung ſich ſelbſt hinwegräumt, fo kehren fich auch die ausgeübten
Thätigkeiten des Lebens, alle Aeußerungen und Leiftungen feiner
Drganifation, mit langſamer aber ficherer Gewalt gegen Die
Grundlage zerftörend zurüd, auf der fie beruhen. Der Strudel
von heute ift nicht der von geftern; der beftändige Wiedererſatz
bringt wohl ähnliche, doch nie völlig gleiche Zuſtände wieder.
Wir verlaffen diefes Bild nicht, ohne ihm eine legte zu—
ſammenfaſſende Anfchauung der Lebensoorgänge zu entlehnen. Die
höchſten und edelſten Erſcheinungen der Natur wie des geiftigen
Dafeind glaubt ein weitverbreiteter Wahn dur ftrenge Bebirf-
nißlofigfeit ausgezeichnet, durch unüberwindliche Starrheit ihres
Kernes fiegreih gegen alle Angriffe der äußern Welt, durch
Einfachheit ihres inneren Gefüges in der Stetigkeit ihrer Ent-
widlung gefihert. In Wahrheit aber hat alles Höhere mehr
Borausjegungen als das minder Hocgeftellte, und die Kraft
feiner Exiftenz beſteht nur in der geiftoollen Berehnung, mit
155
ber es Die gefteigerte Vielfältigkeit feiner Bedürfniſſe zu befrie-
digen weiß. Nicht ein einfacher in ſich gefchloffener und durch
feine Intenfität mächtiger Geftaltungstrieb befeelt die lebendigen
Körper; nicht mit ungewöhnlihen unüberwindbaren Kräften
Ihließen ihre Beftandtheile ſich zu einer dichteren Einheit zu—
fammen, als fie dem Unbelchten möglih wäre; auf beftändigem
Wechſel ihrer Maſſen berubend, find fie, verglihen mit Diefem,
Iodere und gebrechliche Gebilde. Aber an den glüdlichen Ber-
hüältniſſen, in denen fie ihre Theile untereinander verbunden
dem Naturlauf entgegenftellen, bricht ſich dennoch der eindringende
Strom unzäbliget phyſiſchen Ereignifje und geftaltet fi zu einem
feftftehenden Bilde, das die Stoffe der Außenwelt in ſich hinein—
zieht eine Zeit Tang fefthält und fie dann dem formloferen Trei-
ben der unorganifhen Natur zurückgibt. Nicht an ein feſtes
Subftrat iſt dieſes reiche Spiel der Ereigniffe gebunden, fondern
ſchwebt, beweglich wie der farbige Glanz des Negenbogens,
über einem raftlo8 veränberlihen Untergrunde. Ja jo wenig
finden wir in den organischen Körpern jene einheimifche ſich felbft
genügende Lebenskraft, daß wir. fie vielmehr nur wie jene Derter
im Raume anfehen können, an denen die Stoffe, die Kräfte und
die Bewegungen des allgemeinen Naturlaufes in fo glüdlichen
Berhältnifjen fich Freuzen, daß veränderlihe Maſſen fi für eine
Zeit lang zu einer doch immer bald vergebenden Geftalt verdid-
ten und ihre Wechſelwirkungen eine melodifch abgefchloffene Reihe
aufblühender und verwelfender Entwidlung durchlaufen können.
Wie ſehr das ſtill aufwachſende Bild der Pflanze und die be-
weglich fortfehreitende Geftalt des Thieres und verleiten mögen,
fie al8 feſte Einheiten und auf ſich beruhende Ganze zu bewun—
dern; wie dringend endlich ſittliche Motive uns auffordern mögen,
uns als ſolche im Gegenſatze zu der übrigen Welt zu fühlen,
welche das geſtaltbare Material unſerer Handlungen umſchließt:
für die Wiſſenſchaft dennoch, welche die leibliche Begründung un—
ſers Daſeins ſucht, liegt die übrige Natur nicht wie ein fremdes
formloſes Chaos um das einzelne lebendige Geſchöpf ausgebreitet,
156
erft von feiner Lebenskraft Zufammenhang, Form und Entwid-
lung erwartend. So wie der Brennpunkt einer Linfe die wär—
mende Kraft des Lichtes verdichtet, oder das zierliche Bild einer
Geſtalt entwirft, ohne fein eigenes Verbienft, fondern die zufam-
menfchießenden Strahlen find es, die e8 ihm ſchenken, der Schau—
plag fo ausgezeichneter Erfcheinungen zu fein: fo verdienftlos
beinahe fammelt der Iebendige Körper die Stoffe und Bewegun-
gen der Umgebung zu dem gefchloffenen Bilde feiner eigenen
Geſtalt. Wohl ift er zum Theil felbft die Linfe, deren brechende
Kraft die Strahlen vereinigt, aber auch diefe wirkffame Form
verdankt er einer Meberlieferung, in welche die Kräfte der Au—
ßenwelt mitthätig eingriffen. So ift er, was er ift, als Ergeb=-
niß der Umftände, die ihn hervorbrachten; zu harmoniſcher Ent-
widlung erwählt, wenn fie günftig zu feiner Erzeugung über-
einftimmten, zu fiechem und fümmerlihem Dafein verurtheilt,
wenn mißhellige Bedingungen fi in feiner erften Anlage burd=
freuzten. Die unabläffige allgemeine Bewegung der Natur ift
itberall die umfaffende Strömung, in deren bemwegteften Theile,
nicht einmal wie fefte Infeln, fondern nur wie bewegliche Wir—
bel die lebendigen Gefchöpfe auftauchen und verſchwinden, indem
die vorüberfliegenden Maffen augenblidlih eine Zuſammenlenkung
in eine eigenthümliche Bahn und eine Verdichtung zu beftimmter
Geftaltung erfahren, um bald durch Diefelben Kräfte, von denen
fie in dieſen Durchſchnittspunkt zufammengeführt wurden, in die
geftaltiofe allgemeine Strömung wieder zerftreut zu merben.
Bweites Bud.
Die Seele.
Erites Kapitel.
Das Dafein der Seele.
Die Gründe für die Annahme ber Seele. — zzreiheit des Willens, — Unvergleichbar⸗
keit ber phyſiſchen und der pfochifhen Vorgänge. — Nothwendigkeit zweier verfchies
denen Erflärungsgründe. — Annahme ihrer Bereinigung in bemfelben Weſen. —
Die Einheit des Bewußtfeins. — Was fie nicht iſt, und worin fie wirklich befteht. —
Unmöglichkeit, fie auß ber Zufammenfeung vieler Wirkungen zu erflären. — Daß be:
ziehende Wiffen im Gegenfag zu phyſiſcher Rejultantenbitsung. — Veberfinnlide
Natur ber Seele.
Un in diefer beftändigen Flucht der Elemente, die einan-
ber fuchen und meiden, wo ift unfere eigene Stelle? Die Mans
nigfaltigkeit unfers innern Lebens, das Spiel der Erfenntniß,
Leid und Luft und die Regſamkeit wechfelnder Beftrcbungen, wen
gehören fie an? Iſt dies Alles vielleicht nur eine feinere Form
des Scheines, ein Wiederglanz der inneren Bewegungen jenes
Wirbels, dem Farbenfpiele ähnlich, das der Leichtefte Staub des
Waſſers über den fämwerfälligeren Kreuzungen der Fluten ent-
widelt? Over gibt es in aller diefer Aeußerlichkeit des Durchein—
andergehens noch einen ftilen Punkt wahrbafter Innerlichkeit, für
den alle Eörperlide Bildung nur eine heimatlihe Umgebung,
und alle Unruhe der Veränderung, welche durch die ſichtbare Ge-
ftalt geht, nur eine wechſelnde Aufforderung ift, die Einheit
feines eigenen Lebens in vielgeftaltiger Entwidlung zu bethätigen ?
Entgegengefegt dem unmittelbaren Augenfchein der Erfahrung
hat die natürliche Ueberlegung des menſchlichen Geſchlechts ſich
ftet8 für dieſen Glauben entſchieden. Seine Beobachtung zeigt
und geiftiged Leben anders, als in beftändiger Verknüpfung mit
160
der körperlichen Geftalt und ihrer Entwidlung; zufammen fchen
wir beide ſich entfalten, und mit dem Zerfallen der körperlichen
Bildung verſchwindet fpurlos für und auch die Fülle und Macht
des Geiftes, der fie beſeelte. Mit jo deutlichen Hinweifungen
ſucht und die Erfahrung Davon zu überreden, Daß alle innere
Regſamkeit aus der Verbindung der Stoffe entfpringt und mit
ihrer Auflöfung verſchwindet; dennoch bat die lebendige Bildung
aller Völker, indem fie den Namen der Seele ſchuf, in ihm die
Meberzeugung ausgedrückt, daß nicht nur cine Verfchiedenheit des
Ausfchens die inneren Erfheinungen von dem Fürperlichen Leben
ſcheidet, fondern daß ein Element von eigenthümlicher Natur, anders
geartet al8 die geftaltbildenden Stoffe, der Welt der Empfindungen
Gefühle und Strebungen zu Grunde liegt und durd feine eigene
Einheit fie untereinander zu dem Ganzen einer in ſich geichlof-
fenen Entwicklung zufammenhält. Ein fo allgemeines Vorurtheil
wird nie entfichen ohne dringende Aufforderungen, welche in der
Natur der Sache liegen; dennoch dürfen wir es zunächſt nur
als ein Borurtheil betrachten, deſſen Prüfung Beftätigung oder
Widerlegung einer ausdrücklichen Unterfuchung vorbehalten bleiben
muß. Denn fo gewiß der allgemeine Inſtinet der menſchlichen
Bildung nicht ohne tiefere Berechtigung unabweisbarer Bedürfniſſe
zur Ausprägung folder Auffaffungsweifen fchreitet, fo wenig dür—
fen wir als gewiß vorausfesen, daß er überall glüdlich in feinen
Ergebniffen tft und nit auf unrichtigem Wege eine Befriedi-
gung fucht, deren Trüglichkeit fich dem geſchärften Blide der Wiffen-
haft zulett nicht entziehen fann. Und in der That, wenn wir
die Gründe prüfen, welche der allgemeinen Meinung immer im
Stillen in Gedanken Tiegen, wo fie das geiftige Leben dem Ge—
biete der Natur zu entziehen fucht, jo werden wir finden, daß
fie fih nicht ‚auf alle mit gleihem Rechte fügt, und daß nur
in einem Tleinen Kreife von Erfcheinungen die entfcheivende Nö—
thigung liegt, aus einem cigenthümlichen Wejen die Erflärung
der innern Ereigniſſe berzuleiten.
161
Drei Züge find e8 vornehmlich, welche Das Seelenleben auf
unwiderrufliche Weife von allem Naturlauf zu trennen fcheinen.
Auf keinen von ihnen legt die gemöhnliche Anfiht mehr Gewicht,
als auf den zweifelhafteften von allen, auf die Freiheit der inneren
Selbftbeftimmung nämlich, die wir mit unmittelbarer Klarheit in
ung jelbft zu erfahren glauben, im Gegenfaß zu der ununterbroche-
nen Nothwendigfeit, mit welcher die Zuftände des Unbefeelten fich
auseinander entwideln. Alles was unfer geiftige8 Dafein auszeich-
net, alle Würde, die wir ihm retten zu müffen glauben, aller
Werth unferer Perfönlichkeit und unferer Handlungen ſcheint uns
an diefer Befreiung unſeres Weſens von dem Zwange der me
chaniſchen Abfolge zu hängen, deren Gewalt nicht nur über das
Unbelebte, fondern auch über die Entwicklung unfers leiblichen
Lebens wir empfinden. Und doch genügt eine leichte Weberlegung
zu der Einfiht, daß weder jene Freiheit als cine beobachtbare
Thatſache unferd innern Lebens vorliegt, noch unfere eigene Mei-
nung über den Werth, den wir ihr beilegen, überall mit fid
felbft in Uebereinftimmung bleibt. Es ift wahr, daß unfere
Selbftbeobadhtung uns fehr häufig feine bedingenden Beweggründe
nachweiſt, aus denen mit fenntliher Abhängigfeit unfere Entſchlüſſe
und andere Bewegungen unfers Innern bervorgingen; aber fo
zerftreut und bruchftüchveis wendet ſich auch unfere Aufmerkfam-
feit auf uns felbft zurüd, daß ihrer unvollfommenen Ueberficht
leiht das als freie GSelbftbeftimmung erfheinen kann, deſſen
zwingerfde Gründe fie vielleicht finden würde, wenn fic noch einen
Schritt in der Zergliederung unferer inneren Zuftände zurüdginge.
Es ift wahr, daß Eindrüde, die auf und gejchehen, Rüdwirkun-
gen aus und hervorrufen, die weder in ihrer Form noch in ihrer
Größe ihnen entſprechen, und daß in verfchiedenen Augenbliden
dem gleichen Anftoß, den wir von außen erfahren, die verſchie⸗
denartigften Aeuferungen antworten. Aber mit all Diefem unbe:
rehenbaren Benehmen wiederholt doch unfer geiftige8 Leben nur
die allgemeine Erſcheinung der Reizbarkeit, dic dem leiblichen Da-
fein eben fo wie felbft dem Unbelebten gemeinfam, nicht eine
Loge I. 3. Aufl. 11
162
Befreiung von dem Zwange geſetzlicher Wirkſamkeit, ſondern viel-
mehr der wahre Begriff diefer Wirkſamkeit felbft if. Denn nir-
gends trägt ja eine thätige Urſache die Wirkung fertig über auf
das Element, das von ihr leidet, fo daß fie von dieſem nur das
gleichlautende Echo ihres eigenen Thuns zurüderbickte; überall
vegt der gejchehene Eindrud nur die eigene Natur deflen zur
Aeußerung an, dem er geſchah, und die Geftalt des kommenden
Erfolges ift, nicht minder als durch ihn felbft, durch die eigen-
thümlichen Thätigkeiten bedingt, die er eindringend in dem Lei—
denden weckte. Zumeilen kennen wir das innere Geflige der
Gegenftände, welche der Reiz trifft, und wir vermögen feinen Weg
. und die Berkettung der Rücdwirkungen zu verfolgen, die er fort-
ſchreitend anregt; noch öfter find uns die inneren Berhältniffe
des Gereizten unflar, und unfere Beobadhtung umfaßt nur den
erften äußeren Anftoß und die legte Form der endlichen Rück—
wirkung; unbefannt in der Mitte Liegt die Menge der PVermitt-
lungsglieder, welche das Ende mit dem Anfang nothwendig ver-
knüpfen. In manderlei Abftufungen zeigt und daher die Reihe
- der Erjheinungen bald Erfolge, deren ſämmtliche Borausfegungen
beutlih in unfern Geſichtskreis fallen, und die und deshalb als
völlig bedingte Folgen ihrer Vorangänge fich barftellen, bald
Ergebniffe, deren Geftalt, durch die verborgen bleibende Natur
verwidelter Mittelgliever auf das Wefentlichfte mit beftimmt, nun
in feiner faßlihen Beziehung zu dem einfachen Reize mehr fteht,
der fie zuerft veranlaßte. Immer Liegt in ſolchen Fällen die Neigung
nabe, den nothmwendigen Zufammenhang abgebroden zu glauben;
wir find ihr begegnet in der Deutung des Fürperlichen Lebens;
wir treffen fie hier wieder an, wo die noch ungleich größere Ver—
widlung der mitwirkenden und doch meift verborgen bleibenden
Bedingungen die Rückwirkung der Anregung noch unähnlicher macht
und und um fo lebhafter von der Freiheit urfachlofer Selbftbe-
ftimmung überredet. Weberzeugen wir und nun von der Frrigfeit
des Schluſſes, welcher die durchgehende Bedingtheit des geiftigen
Lebens leugnet, weil fie nicht überall nachweisbar ſei, fo können wir
163
vielleicht verfuchen, die Freiheit al8 nothwendige Folge moralifcher
Wahrheiten oder als unabweisbare Borbedingung für die Erfüllung
fittlider Aufgaben feftzubalten. In der That würden wir einem
folden Beweife, wenn er zweifellos gelänge, reichlich den gleichen
Werth für die Begründung unferer Anfichten zugeftehen, den wir
‚einer beobachteten Thatſache beilegen. Aber wir haben bereits
. erinnert, daß hierüber das allgemeine Urtheil nicht mit fih in
Uebereinftimmung ift; e8 wird uns häufig zweifelhaft, ob iiberhaupt,
und in welcher beftimmteren Geftalt für die Befriedigung mora-
liſcher Bedürfniſſe jene bedingungsloſe Freiheit förderlich oder noth-
wendig fei; nicht Allen hat fie unentbehrlich gefchienen, und der
Verſuch, fie beftimmter ins Auge zu faffen, führt zu Fragen, deren
Beantwortung, wie fie ausfalle, jedenfalls weit von der Klarheit
eines Gedankens entfernt ift, der fich zur entſcheidenden Grund—
legung einer wichtigen Anfiht eignen fol. Endlich, müſſen wir
hinzufügen, würde doch jede Meinung nicht von einer Freiheit
des inneren Lebens überhaupt, fondern nur von einer Freiheit
des Willens fprechen wollen und Einnen; in bem Verlaufe unferer
Borftellungen, unferer Gefühle und Begehrungen treten fo deutlich
und unverhällt bie Spuren einer allgemeinen Gefegmäßigfeit her-
vor, daß nie eine Anficht gewagt bat, auch dieſe Ereigniffe dem
Gebiete einer mechanifchen Nothwendigkeit zu entziehen. Eine
weiter fortgefchrittene Unterfuhung würde vielleicht dieſes Ber
denken befeitigen und und zeigen können, wie wenig wir Grund
haben, dieſe Vereinigung von Freiheit und Mechanismus in dem
Weſen der Seele zu fcheuen; aber gewiß kann am Anfange der
Betrachtung die offenbare Geltung allgemeiner Geſetzlichkeit in
dem größeren Theile unſers inneren Lebens dem Glauben an die
unbeobachtbare Freiheit in einem Fleineren nur entgegen fein.
Aber eben fo wenig überzeugt doch die Erfahrung uns von
ihrem Nichtoorhandenfein, und die Meinungen, die mit zubring-
licher Zuverſicht uns auf die beftändige Verknüpfung der geiftigen
Ereigniffe mit körperlichen Veränderungen hinweiſen, deuten eine
bekannte Thatfache mit irriger Willkühr, wenn fie in ihr den Be:
11*
164
weis zu finden glauben, daß alle® Geiftige vollfommen aus den
Eigenſchaften der Materie erflärbar fei, von der es getragen wird.
Bon äußeren Eindrüden und ihren Wechfehvirkungen mit den
materiellen Beftandtheilen unſeres Körpers zeigt und allerdings
eine allgemeine und unabläffig wiederholte Erfahrung die Berän-
derungen unſerer geiftigen Zuftände abhängig. Unſere Empfin—
dungen wechjeln mit den wechſelnden Erregungen unferer Sinnes-
organe; andere Gefühle und Strebungen entftehen ung, wenn
äußere Einflüffe oder die eigenen ftetigen Ummandlungen der leben-
digen Thätigfeiten unferem Körper veränderte Stimmungen gegeben
haben; in der weiteften Ausdehnung finden wir die Lebhaftigkeit
und Regfamkeit unfers. Gedantenlaufes an die Schwankungen der
förperlihen Zuftände gefnüpft, bald durch fie begünſtigt, bald
gefchmälert und gehemmt, und eine forgfältige Unterfuhung wird
zugeftehen müſſen, daß felbft in den höchſten Erſcheinungen des
geiftigen Lebens, wie fie der gefchichtliche Verlauf der menſchlichen
Bildung hervorgebracht hat, noch immer ſich Nachklänge des Ein-
flufjes finden, mit welchem Eörperlihe Stimmungen, nicht allen
Zeitaltern gleich gegeben, auf die geiftige Entwidlung überwirfen.
Aber alle diefe Thatfachen bemeifen doch nur, daß die Ver—
änderungen körperlicher Elemente ein Reich von Bedingungen
darftellen, an welchen Dafein und Form unferer inneren Zuftände
mit Nothwendigkeit hängt, aber fie beweifen nicht, daß in jenen
Beränderungen bie einzige und hinreichende Urſache Liegt, welche
aus eigener Kraft und ohne die Mitwirfung eines ganz anderen
Princips zu bedürfen, die Mannigfaltigleit des Seelenlebens aus
fih allein erzeugt.
Ein zweiter Blick auf die Natur diefes Zufammenhangs zeigt
bie Kluft, die fi Hier zwifchen dem fheinbar genügenden Grunde
und feiner angeblichen Folge befindet. Alles, was den materiellen
Beftandtheilen der äußeren Natur oder denen unferes eigenen
Körpers begegnet, Alles, was ihnen als einzelnen oder als man—
nigfach verbundenen zuftoßen kann, die Geſammtheit aller jener
Beſtimmungen der Ausdehnung Mifhung Dichtigkeit und Be-
165
wegung, dies Alles iſt völlig unvergleihbar mit der eigenthüm-
lichen Natur der deiftigen Zuſtände, mit den Empfindungen, den
Gefühlen, den Strebungen, die wir thatfächlich auf fie folgen
ſehen und irrthümlich aus ihnen entftehen zu fehen glauben.
Keine vergleichende Zergliederung würde in der chemiſchen Zufam-
menfegung eines Nerven, in der Auffpannung, in der Lagerungs⸗
weife und der Beweglichkeit feiner kleinſten Theildhen den Grund
entdeden, warum eine Schallwelle, die ihn mit ihren Nachwir—
fungen erreichte, in ihm mehr als eine Aenderung feiner phyſiſchen
Zuftände hervorrufen follte. Wie weit wir auch den einbringenden
Sinnesreiz durch den Nerven verfolgen, wie vielfach wir ihn feine
Form ändern und ſich in immer feinere und zartere Bewegungen
umgeftalten laſſen, nie werben wir nachweiſen fünnen, daß es
von felbft in der Natur irgend einer fo erzeugten Bewegung Tiege,
als Bewegung aufzuhören und als Ieuchtender Glanz als Ton
als Süßigleit des Gefchmades wichergeboren zu werden. Immer
bleibt der Sprung zwilchen dem letzten Zuftande der materiellen
Elemente, den wir erreichen innen, und zwiſchen dem erften
Aufgehen der Empfindung glei groß, und kaum wird Jemand
die eitle Hoffnung nähren, daß eine ausgebildetere Wiſſenſchaft
einen geheimnißvollen Hebergang da finden werde, wo mit ber
einfachften Klarheit die Unmöglichkeit jebes ftetigen Uebergehens
fih) und aufvrängt. Auf der Anerkennung dieſer völligen Unver-
gleihbarkeit aller phyſiſchen Vorgänge mit den Ereigniffen des
Bewußtſeins hat von jeher die Heberzeugung von der Nothwen-
digkeit gerubt, eine eigenthüimliche Grundlage für die Erflärung
des Scelenlebens zu fuchen.
In dem Intereſſe der Wiffenjchaft Tiegt e8 ohne Zweifel,
eine Mannigfaltigkeit verſchiedener Erfcheinungen unter ein ein-
ziges Princip zufammenzufaflen, aber das größere und mwefentlichere
Interefje alles Willens iſt doch ſtets nur Dies, das Gefchehende
auf diejenigen Bedingungen zurüdzuführen, von denen es in Wahr-
heit abhängt, und die Sehnſucht nach Einheit muß fi da der
Anerkennung einer Mehrheit verfhiedener Gründe unterorbnen,
166
wo die Thatfachen der Erfahrung uns fein Recht geben, Verſchie—
denes aus gleichem Duell abzuleiten. Kein Bedenken allgemeiner
Art darf und daher abhalten, für die beiden großen und geſchie—
denen Gruppen des phnflfchen und des geiftigen Gefchehens eben
fo gefchievene und auf einander nicht zurückführbare Erflärungs-
gründe anzunehmen; ohnehin würde jener Trieb nach Einheit doc
nur die Forderung einfließen, daß in dem einen Ganzen des
Weltbaues überhaupt ſich das zulegt verbunden finde, was unferer
unmittelbaren Beobachtung fich getrennt zeigt; wir würden verlan-
gen können, daß aus einer Wurzel die verjchiedenen Zweige ftam-
men, aber nicht zugleich, daß die Zweige felbft zufammenfallen, oder
der eine ftetd nur aus dem andern, und nicht unabhängig neben
ibm aus der gemeinfamen Wurzel entfpringe. Ueberlaffen wir
deshalb fpäteren Betrachtungen die Wiederaufnahme dieſer Frage
und begnügen wir und jegt mit dem Rechte, fiir Ereigniſſe, die
unvergleichbar find, auch geſchiedene Erflärungsgründe zu verlangen.
Und dieſes Recht nehmen wir hier nicht in anderer Weife
in Anſpruch, als in der, in welcher e8 uns ſtets auch für bie
Erjheinungen innerhalb des Gebietes der Natur felbft zugeftanden
wirb. Ucherall, wo wir ein Element Erfolge hervorbringen fehen,
bie wir weder aus feiner beftändigen Notur, noch aus der Be—
wegung, in der es ſich augenblicklich befinvet, verftchen können,
juchen wir den ergänzenden Grund diefer Wirkung in der anders
gearteten Natur eines zweiten Elementes, die, von jener Bewegung
getroffen und angeregt, aus fi den Theil oder die Form bes
Erfolges erzeugt, die wir vergeblid aus dem erften abzuleiten
verfuchen würden. Nicht der Feuerfunke ift e8, der die Exrplofions-
kraft dem Pulver mittheilt, denn auf andere Gegenftände fallend,
bringt er feine Wirkung ähnlicher Art hervor; weder in feiner
Temperatur, noch in der Art feiner Bewegung, noch in irgend
einer andern feiner Eigenfchaften würden wir den Grund finden,
ber ihn befähigte, aus ſich allein heraus jene zerftörende Kraft
zu entwideln; er findet fie vor in dem Pulver, auf welches er
fällt, oder richtiger, ex findet fie auch Hier nicht fertig vor, aber
167
er trifft hier mehrere Stoffe in einer Verbindung an, die bei
dem Zutritt der erhöhten Temperatur, die er binzubringt, fich mit
plögliher Gewalt gasförmig ausdehnen muß. Für die Yorm der
entftichenden Wirkung liegt aljo der Grund in der Mifhung bes
Pulvers allein, für ihren wirklichen Eintritt bringt die Glühhige
des Funkens Die legte nothwendige ergänzende Bedingung Hinzu.
Zu denſelben Schlüffen beredtigt und die Unvergleichbarteit der
materiellen Zuftände und ihrer geiftigen Folgen. Wie feft bie
Iegteren an jene als ihre Bedingungen gebunden find, den Grund
ihrer Form müffen fie Doch in einem andern Brincip haben, und
Alles, was wir als Thätigkeit oder Wirkfamfeit der Materie
denken können, bringt nicht aus fich felbft das geiftige Leben her⸗
vor, jondern veranlaßt nur fein Hervortreten durch Die Anregung
zur Aeußerung, die e8 einem anders gearteten Elemente zuführt.
Allein wir müffen nod genauer die Bolgerung beſchränken,
die wir aus diefen Betrachtungen ziehen zu dürfen glauben. Wir
waren beredhtigt, für die beiden abweichenden Gruppen von Er-
[heinungen verfchiedene Erflärungsgründe zu fuchen, aber wir
haben darum noch nicht das Recht, dieſe Gründe an verſchiedene
Gattungen von Wefen zu vertheilen. Kann aus denjenigen Eigen=
ſchaften, um berenmwillen wir die Materie Materie nennen, das
Auftreten eines geiftigen Zuftandes nicht abgeleitet werden: was
hindert uns, in den körperlichen Elementen noch neben jenen
Eigenfchaften einen Schag inneren Lebens anzunehmen, der unferer
Aufmerkfamteit fonft entgeht und chen nur in dem, was wir gei=
ftige8 Leben nennen, Gelegenheit zur Aeußerung findet? Warum
fol der Materie als einem beftänvig tobten Stoffe gegenüber
alle geiftige Regſamkeit in das beſondere Weſen ciner Seele ver-
dichtet werben, die ihrerfeit8 der Eigenfchaften entbehrte, mit benen
die körperlichen Elemente ſich in der Natur Geltung verichaffen?
Könnte nicht der fihtbare Stoff unmittelbar ein doppelte Leben
führen, al8 Materie nad außen erfheinend und Feine Fähigkeit
168
verrathend, als die mechaniſchen Eigenfchaften, die wir fennen,
innerlich dagegen geiftig bewegt, den Wechfel feiner Zuftände em—
pfindend und mit Strebungen die Wirkſamkeit begleitend, deren
allgemeine Gefeglichfeit er freilich nicht mit Treiheit zu ändern
vermag?
Nur allmählich werden wir im Verlauf diefer Betradgtungen
die volle Antwort auf diefe Fragen geben können; e8 muß jett
genligen, zu zeigen, wie wenig ihre Bejahung an dieſem Anfange
der Unterfuhung den Stand der Sache ändern würde. Denn
eben ein Doppeliwefen würde dieſer empfindende und ftrebende
Stoff immer bleiben; fo ſehr aud die Einheit feines Wefens
die Eigenfchaften der Materialität und die der Geiftigfeit zufam-
menbielte, fo unvergleichbar würden fie doch immer bleiben, und
nie würden wir aus einer Veränderung feiner materiellen Zuſtände
die Nothwendigkeit ableiten können, daß feine geiftige Seite fol-
gerecht eine entfprechende Veränderung erleiden müßte. Er würde
zwei Entwidlungsreihen erfahren, aus deren feiner ein Uebergang
in die andere benfbar wäre; äußerlich zufammengepaßt würden
wohl thatfächlih die Glieder der einen Reihe denen der andern
entfprechen, aber auch bier würde bie materiale Veränderung nur
deshalb eine geiftige nach fich ziehen, meil fie auf der andern
Seite dieſes Doppelmwejens Die geiftige Natur ſchon vorfände, welche
fie meden kann. Hierin Liegt das Recht diefer Anficht und zu-
gleich ihre Unfruchtbarkeit. Ihr Recht; denn darin allein befteht
der ſchlimme und alle Weltauffaffung wahrhaft zerftörende Mate-
rialismus, daß man aus den Wechſelwirkungen der Stoffe, fofern
fie Stoffe find, aus Stoß und Drud, aus Spannung und Aus-
dehnung, aus Mifchung und Zerfegung, die Fülle des Geiftigen
al8 eine Leichte Zugabe von jelbft entftehen läßt; daß man glaubt,
fo felbftverftändlih, wie ans zwei gleichen und entgegengefegten
Bewegungen Ruhe, oder aus zwei verfchiedenen eine dritte in
mittlerer Richtung entfteht, jo gehe aus der Durchkreuzung der
phyſiſchen Vorgänge die Mannigfaltigfeit des innern Lebens hervor.
Dies ift es, was jede ernfthafte Ueberlegung immer wird zuriid-
169
weifen müſſen, dieſe Nachläffigfeit des Gedanfens, die jene Formen
des mechanischen Geſchehens, welchen überall in der Welt nur
der Beruf mwechfelfeitiger Vermittlung zwifchen den Innern der
einzelnen Wefen obliegt, als das Urſprüngliche auffaßt, woraus
als beiläufiger Nebenerfolg alle Kraft und Regſamkeit diefes In-
neren felbft entfpringe.
Diefen Irrthum nun vermeidet die Auffaffung allerdings,
welche der Materie ein verborgenes geiftiged Leben zufchreibt;
denn nicht aus den phyſiſchen Eigenfchaften berfelben läßt fie das
Geiftige entfpringen, fondern aus dem, was die Materie heimlich
Beſſeres ift, als fic fcheint. Aber wir ſehen in ihr keinen Vortheil,
den mir für die erfte Ausbildung unferer Anfichten benugen könnten.
Sind in demfelden Stoffe zwar thatfähhlich, aber doch unableitbar
auseinander, die Eigenſchaften der Materialität und der Geiftigkeit
vereinigt, fo wird alle auf die einzelnen Erſcheinungen gerichtete
Unterfuchung die Veränderungen der phyfiſchen Seite dieſes Dop-
pelweſens doch nur als Beranlaffungen für das Hervortreten aud)
der geiftigen Zuftände faffen Finnen. Ste witrbe nicht erklären kön⸗
nen, wie es zugebe, daß eine phufifche Veränderung nur darum
eine ihr ungleichartige geiftige nach fich ziche, weil daſſelbe Subject
ber Träger beider wäre, und fie witrde aus ber Einheit der auf
fi wirkenden Subftanz die allgemeinen Geſetze, nach denen die
Aenderungen der einen dieſer Auftandörcihen von den Wende:
rungen der andern abhängen, um Nichts beſſer entwideln können,
als es unter Vorausſetzung einer Wechſelwirkung zweier ver-
ſchiedenen Subjecte möglicd wäre. Es kann fein, daß dennoch
in diefer Vereinigung alles inneren und äußern Geſchehens auf
daſſelbe Reale eine Wahrheit Liegt, die an anderer Stelle und
in anderer Verwendung wichtig wird; bier erſcheint fie un—
fruchtbar. Und nicht allein unfruchtbar; ſchon drängt fich viel-
mehr eine dritte Betrachtung zu, welche uns verbieten wird, hier
von ihr den Gebraud zu machen, der uns worgefchlagen wurde.
170
ALS die entfcheidende Thatſache der Erfahrung,, welde uns
nöthigt, in der Erflärung des geiftigen Lebens an die Stelle der
Stoffe ein überſinnliches Wefen als Träger der Erſcheinungen
zu fegen, müſſen wir jene Einheit des Bewußtſeins bezeichnen,
ohne welche die Gefammtheit unferer inneren Zuftände nicht ein=
mal Gegenftand unferer Selbftbeobadhtung werben könnte. Manche
Mifverftändniffe haben fih um den einfachen Namen gehäuft,
unter dem wir diefe Thatſache erwähnten, und nöthigen ung,
ausführlicher Das zu bezeichnen, was wir mit ihr meinen.
So lange nicht befondere Veranlaffungen und zu anderen
Annahmen nöthigen, find wir gewöhnt, in jeder abgefchloffenen
lebendigen Geftalt eine Seele zu vermuthen, für deren inneres
Leben fie die umgebende Hülle und eine Zufammenftellung wir-
fungsfähiger Werkzeuge darbietet. Das gewöhnliche Leben gibt
uns Feine Gelegenheit zu dem Gedanken, daß außer der Seele
Die unfer eigenes Ich bildet, in unferm Körper ſich noch andere
Weſen befinden, bie auf gleiche Weife ald Sammelpunkte aus-
und eingehender Wirkungen die Erregungen, von denen fie erreicht
werden, zu einer Welt bewußter Zuftände in fich verarbeiten.
Die Beobachtung aller höheren Thiere erhält uns in dieſer Ge-
wohnheit oder führt doch nur durch einzelne Erfcheinungen, die
der Wiffenfhaft näher liegen als der unbefangenen Beobachtung
des Lebens, zu Zweifeln an diefer Einheit des Bewußtſeins, welche
nur eine Seele der Zahl nad in jedem lebendigen individuellen
Gebilde vorausfegt. Die Aufmerkfamkeit auf nievere Thierflaffen
erinnert und zuerft daran, daß wir zu ſehr geneigt find, dieſes
thatfächliche Verhalten als cin allgemein nothwendiges zu betrachten.
Die Theilftüce des zerſchnittenen Polypen ergänzen ſich nachwach⸗
jend zu vollftändigen Thieren, deren jedes völlig die Summe
pſychiſcher Fähigkeiten entwidelt, Die Dem urfprünglichen unverlegten
Geſchöpſe zukam. Doch nicht jeder Schnitt, den wir beliebig
führten, würde dieſe Wirkung haben; Die Möglichkeit der Ver-
volftändigung fcheint daran gebunden, daß in’ dem Theilſtück ein
vielleicht unbedeutender, aber doch beftimmter Betrag innerer
171
Organiſation als entwidlungsfähiger Keim erhalten blieb. Nicht
blo8 die künſtliche Theilung zeigt dieſe merkwürdigen Erfcheinungen ;
in zahlreichen Thiergattungen erfolgt die Fortpflanzung durch frei⸗
willige Zerfälung des Körpers, deſſen Bruchſtücke zum Theil
oh im Zuſammenhang mit ihm, zum Theil nach ihrer Ablöfung
die vollftändige Geftalt und Organifation der Gattung ausbilden.
Noch andere endlich fehen wir ſtets fo leben, daß an einem ge=
meinſchaftlichen und ununterbrodenen Stamme, wie die Knospen
des Baumes, ſich einzelne Individuen entwideln, unabhängig von
einander in der Ausübung der fpärlihen Außerungen Ichendiger
Regfamfeit, die ihnen möglid find, und doch durch ihre Verbin-
dung unter einander gemeinfam manden äußern Einflüffen un-
termorfen. Deutlih zeigen und diefe Thierfolonien, daß nicht
überall das Förperlihe Maffengebiet, in welchem die Lebendigkeit
der einzelnen Scele fi gelten machen kann, völlig abgegrenzt if
zu einer umjchriebenen Geftalt; an einzelnen Punkten einer zu—
fammenhängenden organiſchen Maſſe finden bier ſich mehrere
jelbftändige Wefen, deren Wirkungen in dem gemeinfchaftlichen
Stamme fi freuzgen mögen und nur in befchränfter Weife jedem
einzelnen einen Spielraum feiner Willkühr geftatten. Was hier
als beftändige Lebensform auftritt, mag in ben Thieren, die
durch Theilung fi fortpflanzen, nur chen in dieſem Vorgange
zu Tage fommen, während in jenen, die durch fünftliche Schnitte
fih zu mehreren Individuen fpalten laſſen, vieleicht niemals bie
Mehrheit der einzelnen. Tebensfähigen Wefen, die in den Grenzen
einer und berfelben Körpergeftalt vereinigt find, Gelegenheit zu
felbftändiger Entwidlung findet, wenn nicht der Zufall oder
willführlicher Eingriff fie ihnen verfhafft. Nicht die Seele des
Polypen würde der Schnitt getheilt haben, ſondern das fürperliche
Band, das viele-vorbandene Seelen in einer Verknüpfung zufam-
menhielt, welche die individuelle Ausbildung der einzelnen binderte.
Irren wir und nit in dem Rechte, diefe Vorgänge fo anzufeben,
fo können wir gewiß aud nicht im Voraus beftimmen, wie weit
diefe Zerftreuung vieler Seelen in die gemeinfame Körpermaffe auch
172
in höheren Thiergattungen reichen möge. Ohne dieſe Frage ent-
ſcheiden zu wollen, deren Beantwortung, fo weit fie möglich ift,
einer fpäteren Stelle pafjender überlaſſen bleibt, müfjen wir deshalb
hier erwähnen, daß die Einheit des Bewußtſeins nicht dieſen Sinn
hat, die Zahl der Wefen zu befchränfen, die eine organiſche Geftalt
beleben, und daß fie am wenigften durch Berufung auf die Erfchet=
nungen, deren wir gedachten, in ihrer Geltung aufgehoben wird.
Vielmehr von jevem einzelnen jener Theilſtücke des Polypen würden
wir behaupten, daß, wenn überhaupt cine Seele fein bewegende
Prineip ift, von diefer im derfelben Bedeutung die Einheit des
Bemußtfeins gelten müſſe, in welder wir fie unferer eigenen
Perſönlichkeit zufchreiben.
Diefe Bedeutung felbft num fuden wir näher zu beftimmen.
Verſtändlich wird uns allerdings der Zufammenhang unfers innern
Lebens nur dadurch, daß wir alle feine Ereigniffe auf das cine
Ich beziehen, das cbenfo ihrer gleichzeitigen Mannigfaltigfeit als
ihrer zeitlichen Anfeinanderfolge unverändert zu Grunde liegt.
Jeder Rückblick auf die Vergangenheit führt dieſes Bild des Ich
als den zufammenbaltenden Mittelpunkt mit fi; nur als feine
Zuftände oder Thätigfeiten, nicht als Ereigniffe, die frei für fich
im Leeren ſchwebten, find alle unfere Vorftellungen, unfere Gefühle
und Strebungen uns begreiflih. Aber unabläffig wird dennoch
diefe Beziehung des innern Mannigfaltigen auf die Einheit des
Ih nicht von und vollzogen. Sie findet fid mit Deutlichkeit
doch eben nur in dem Rückblick, den wir auf unfer Leben mit
gewiffer Sammlung der zufammenfafjenden Aufmerkſamkeit richten.
Die einzelne Empfindung dagegen in dem Augenblid, in welchen
der äußere Neiz fie erzeugt, das cinzelne Gefühl, indem es
aus dem nüglichen oder ſchädlichen Eingriff der Außenwelt entfpringt,
jelbft die Begierden und Strebungen, die eine vorübergehende
Beranlaffung oft plöglich in uns erwedt, führen diefe Hindeutung
auf die Einheit unſers Wefens, in der fie zufammengebören, mit
merfbarer Stärke keineswegs allgemein mit ſich. Manche Ein-
bräde bleiben unbewußt bet ihrer Entftehung und wir finden fie
173
zumeilen wie zufällig in uns auf, nachdem ihre bewirfenden
Urfachen wieder verfhmwunden find; andere ruben durch lange
Zeiträume vergeflen in uns, und felbft die beflifiene Aufmerkfamteit, -
welche fie auffucht, vermag ihrer nicht babhaft zu werben; von
dem mannigfadden Inhalt, der in gleicher Zeit unfer Bemwußtfein
füllt, bleibt Vieles zuſammenhanglos neben einander und verfchmilzt
weder zu dem Ganzen cincd und deſſelben Gedankenkreiſes, noch
wird e8 in cine deutliche Beziehung zu der Untheilbarkeit unferer
Perfönlichkeit geſetzt. Diefen Sinn kann mithin die Einheit des
Bewußtſeins, von der wir fprechen, nicht haben, ein beftändiges
Bemwußtfein der Einheit unfers Weſens zu fein, und die Schlüffe
bleiben untriftig für uns, Die von einer folden Annahme auszu-
geben verfuchten.
Anderfeits Liegt jedoch in dem Thatbeftande, den wir zugaben,
feine Schwierigkeit, welche die Folgerung aus der Natur unferes
Bewußtſeins auf die Einheit des feiner bewußten Weſens unmög-
lich machte. Denn nicht dies ift nothwendig und unerläßlich, daß
in jevem Augenblide und in Bezug auf alle feine Zuftände ein
Weſen die verceinigende Wirkfamfeit ausübe, deren Möglichkeit
ihm die Einheit feiner Natur gewährt, der Erfolg jeder Kraft
hängt an Bedingungen und kann dur) ungünftige gehindert werben,
ohne daß darum die Kraft nichtig wird, durch die er unter gün—
fligeren Bedingungen entftehben würde. Läßt Die Scele daher
mande ihrer Zuftände unverbunden, und ohne fich ihrer als
bloßer Zuftände ihrer eignen Subſtanz bewußt zu werben, fo
ift aus diefem Thatbeftande Fein verneinender Schluß gegen die
Einheit ihres Wefens zu ziehen. Iſt dagegen Die Seele auch
nur felten, nur in befchränfter Ausdehnung, aber doch überhaupt
einmal fähig, Mannigfaltiges in die Einheit eined Bewußtſeins
zufammenzuziehen, fo reicht diefer geringe Thatbeftand bin, um
den bejahenden Schluß auf die Untheilbarkeit des Weſens noth-
wendig zu machen, dem dieſe Leiftung gelingen kann. Ich vertraue
für den Augenblid auf bie eigene Ueberredungskraft dieſes einfachen
Gedankens und behalte feine Erläuterung vor; aber ich füge bier
174
noch Hinzu, daß ja jelbft unfer Wiffen um den oben zugeftandenen
Thatbeftand der Zufommenhanglofigfeit mander innern Zuftände
nur unter Borausfegung der Einheit des wiſſenden Weſens
begreiflih if. Es mag fein, daß im Augenblid der finnlichen
Wahrnehmung das Verhältniß der entftehenden Empfindung zu
ber Einheit des Ich ſich und nicht aufprängt, daß wir vielmehr
felbftlo8 in ben empfundenen Inhalt uns verlieren; aber die
Thatfache eben, daß diefes Verhalten ftattfand, würde fpäter fir
und nie zum egenftand der Wahrnehmung und Bermunderung
werben können, wenn nicht die Empfindung doch fhon im Augen-
bli ihrer Entftehung der Einheit unfers Weſens angehört hätte
und von ihr aufbewahrt wäre, um nun erft dic verjpätete Aner-
fennung ihrer ftet8 beftandenen Zufammengehörigfeit mit unferem
Ih zu erlangen. Mögen daher immerhin viele Einbrüde in dem
‚ Moment ihrer Entftehung vereinzelt bleiben, und mag erft eine
ſpätere Nahbefinnung das Urthetl über ihre Beziehung zu
uns nachholen, fo liegt doch in jener anfänglichen Zerftreuung
fein Grund gegen die Einheit unſeres geiftigen Weſens, in der
Möglichkeit der fpätern Zufammenfaffung dagegen ein zwingender
Grund für ihre Annahme.
Ich entferne endlich ausdrücklich ein letztes Mißverſtändniß,
dem der Gedankengang der vorigen Bemerkungen doch vielleicht
noch ausgeſetzt fein Dürfte. Denn Dies iſt meine Meinung nicht, das
Bewußtſein, welches wir von der Einheit unſers Wefens haben,
verbürge an fih, durch das, was es felbft ausfagt, auch die
Wirklichkeit diefer Weſenseinheit. Gewiß mit ſcheinbarem Rechte
wenigſtens würde man dieſer Auffaſſung einwerfen, daß mit faſt
unwiderſtehlicher Ueberredungskraft ſich im Laufe unſerer inneren
Entwicklung gar viele Ueberzeugungen einſtellen, die trotz der
ſiegreichen Klarheit, mit welcher ſie das unbefangene Gemüth
iiberwältigen, doch dem ſchärferen Nachdenken ſich als Fehlſchlüfſe
darſtellen, im Widerſpruch mit den Geſetzen des Denkens, welche
allein als der uns unvermeidliche Maßſtab aller Wahrheit unſeren
Zweifeln entzogen bleiben müffen. So ſei auch jene Einheit des
175
Ich doch nur die Geftalt, in welcher unfer eigenes Wefen fich
felbft erjcheint, und fo wenig wir an der Art, in welcher andere
Dinge und erfheinend fi) darftellen, unmittelbar einen Anblid
ihrer wahren Natur befigen, fo wenig müſſe unfer eigenes Wefen
eine untheilbare Einheit deshalb fein, weil wir felbft uns fo
vorlommen. Ich will nicht unterfuchen, ob nicht diefer Gedanke zu
jenen Uebergenauigfeiten des Nachgrübelns gehört, die im Stillen
ſich ſelbſt um die Fehljchläffe drehen, welche fie vermeiden möchten;
in der Form, in welcher er gemöhnlicdh geäußert wird, trifft er
das nicht, was wir bier zu erweifen wünſchen. Denn nicht
daranf berubt unfer Glaube an die Einheit der Seele, daß wir
uns als ſolche Einheit erfcheinen, fondern darauf, daß wir uns
überhaupt erſcheinen können. Wäre der Inhalt deffen, als
was wir ung erfchienen, ein völlig anderer, kämen wir uns felbft
vielmehr als eine zufammenhanglofe Vielheit vor, fo witrden wir
auch daraus, aus ber bloßen Möglichkeit, daß wir überhaupt
etwie und vorfommen, auf dic nothwendige Einheit unſeres Weſens
zurädichlichen, diesmal in vollem Widerfpruch mit dem, was unfere
Selbſtbeobachtung uns als unfer eigenes Bild vorhichte. Nicht
darauf fommt e8 an, als was ein Wefen fich felbit erfcheint;
kann es überhaupt fich felbft, oder kann Anderes ihm erfcheinen,
jo muß es nothwendig in einer vollkommenen Untheilbarkeit feiner
Ratur als Eines das Mannigfache des Scheined zuſammenfaſſen
können.
Was uns in dieſer Frage zu verwirren pflegt, das iſt das
etwas leichtſinnige Spiel, das wir ſo oft uns mit dem Begriffe
der Erſcheinung erlauben. Wir begnügen uns, ihm das Weſen
entgegenzuſetzen, das den Schein wirft, und wir vergeſſen, daß
zur Möglichkeit des Scheines ein anderes Weſen hinzugedacht
werben muß, das ihn ſieht. Aus der verborgenen Tiefe des An—
fihfeienden bricht, wie wir meinen, die Erſcheinung als ein Glanz
hewor, der da ift, ehe ein Auge vorhanden ift, in welchem cr
entftände, der ſich ausbreitet in die Wirflichkeit, gegenwärtig und
faßbar für den, der ihn ergreifen will, aber aud dann nicht
176
minder fortdauernd, wenn Niemand von ihm wüßte. Wir über-
fehen dabei, daß auch in dem Gebiete der finnlichen Empfindung,
bein wir Diefes Bild entlehnen, der Glanz, weldher von den Ge—
genftänden ausgeht, cben nur von ihnen auszugehen ſcheint, und
daß er felbft nur Deswegen fheinen kann von ihnen zu kommen,
weil unfere Augen dabei find, aufnchmende Werkgeuge einer
wifjenden Seele, für welde überhaupt Erſcheinungen entſtehen
innen. Nicht um uns herum breitet ſich des Lichtes Glanz aus,
ſondern dieſe wie jede Erſcheinung bat Dafein nur in dem Be—
wußtfein deſſen, für welchen fie if. Und von dieſem Bewußtſein,
von diefer Fähigkeit überhaupt, irgend etwas fich erſcheinen zu laſſen,
behaupten wir, daß fic nothwendig nur der untheilbaren Einheit
eines Weſens zulomme, und daß jeder Verſuch, fie einer irgenbivie
verbundenen Mannigfaltigfeit zuzufchreiben, durch fein Mißlingen
unfere Ueberzeugung von der. überfinnlihen Einheit der Secle
befräftigen wird.
Kaum ſchiene mir diefer einfache Gedanke eines weiteren
Beweiſes bebürftig, wenn nicht Doch der Verſuche, ihn zu umgehen,
fo viele wären. Denn immer nod erneuert ſich zuweilen die
zuverſichtliche Behauptung, die zuſammenfaſſende Einheit des
Bewußtſeins Kaffe fih als der natürliche Erfolg der Wechſelwirkung
vieler Elemente und ihrer Zuftände begreifen. Verſuchen mir
Darum zu erörtern, wie weit die Möglichkeit dieſer Erzeugung des
Einen aus der PVielheit reicht.
Die Zufannnenfegung vieler räumlichen Bewegungen zu
einer gemeinfamen NRefultante tft immer das Vorbild gemefen,
auf welches dieſe Verſuche mehr oder minder unmittelbar die
Hoffnung ihres Gelingens ftügten. So wie hier zwei Bewegungen
von verjchiedener Richtung und Geſchwindigkeit fih zu einer
britten wöllig einfachen vereinigen, in der Feine Erinnerung mehr
an den Unterjhied ihrer beiden Urfprünge enthalten fei, ebenfo
17T
werde aus der Mannigfaltigfeit geiftiger Elementarbewegungen,
bie in den verſchiedenen Beftandtheilen des Yebendigen Körpers
vorgehn, die Einheit des Bewußtſeins als vefultirende Bewegung
entfpringen. Aber Die Ueberredungskraft diefer Analogie beruht
auf einer Ungenauigfeit ihres Ausdrucks und verſchwindet gänzlich,
wenn dieſe befeitigt wird. Denn nicht von zwei Bewegungen
ſchlechthin fpriht jener unzweifelhafte Lehrſatz der phyſiſchen Die:
chanik, fondern nur von zwei Berwegungen, deren Ausführung von
irgend welchen Kräften einem und demfelben untheilbaren Maf:
ſenpunkte in einem und demſelben Augenblide zugemuthet wird.
Die einfache Gültigkeit des Satzes hört fogleih auf und weicht
einer vermwidelteren Berechnung des herauskommenden Erfolgs,
jobald wir an die Stelle jenes untheilbaren Punktes cin wie
au immer feft verbundenes Syſtem vieler Maſſen fegen, und die
verfhiedenen Bewegungen auf verfhiedene Punkte diefer vereinigten
Vielheit wirken laſſen. Und die einfache Refultante felbft, Die
in dem erften günftigeren Balle entfteht, ift eben fo wenig cine
Bewegung ſchlechthin, deren Richtung und Gefchmwindigfeit zwar
gefeglih Heftimmt wäre, während die Maffe unbeftimmt bliebe,
von der fie ausgeführt wird; fie ift natürlich nur ald eine Be-
wegung deffelben untbeilbaren Punktes zu denken, auf welchen Die
gleichzeitigen verſchiedenen Bemegungsantriebe einwirkten. Ergänzt
man diefe wenigen Nebengedanten, die in der Grundlegung der
Mechanif nie vergeffen und nur in den kurzen Berufungen auf
dies Grundgefeg nicht mweitläuftig wiederholt werden, jo überficht
man mit einem Blid die Hoffnungslofigfeit jedes Verſuchs, die
Ableitung des einen Bewußtjeind aus der Wechſelwirkung vieler
Theile durch die Glaubwürdigkeit des unbeftrittenen mechaniſchen
Theorems zu empfehlen. Denn chen diefen wefentlihen Beſtand⸗
teil des Theorems pflegt jene Ableitung zu vernadläffigen; fie
Ipriht gern von dem Zufammengehen der verfchiedenen Zuftände,
die in verſchiedenen Elementen ftattfinden, aber fie macht jenes
untheilbare Subject nicht nambaft, in weldes fie einmünden,
durch deſſen Einheit fie Überhaupt zur Erzeugung einer Refultante
Loge I. 3. Aufl 12
178
genöthigt werden und an welchem endlich, als fein Zuftand, Diefe
Refultante eine begreifliche Wirklichkeit allein erft haben könnte.
Wie ein neues aus Nichts entftandenes Weſen ſchwebt über den
Wechſelwirkungen der vielen Elemente in haltlofer Selbſtändigkeit
diefe8 Bewußtfein, ein Bewußtſein ohne Jemand, defien Bewußt-
fein es wäre.
Berfuhen wir nun, Diefen Mangel zu tilgen und die mög—
lihen Ergebniffe feftzuhalten, zu denen dieſer Weg führen Tann.
Nehmen wir zuerft an, jedes der vielen Elemente, deren Wechfel-
wirkung wir vorausfegen, verſchmelze im fich felbft die Eindrüde,
die ed von andern erfährt, zu der Einheit eines refultirenden
Endzuftandes, fo wärde die Summe diefer Refultanten zwar in
gewiffen Sinne fi als Gefammtzuftand der ganzen vereinigten
Vielheit jener Elemente faſſen laſſen, aber doch nicht in einem
Sinn, in welden diefer Gefammtzuftand der von uns gefuchten
Einheit eines Bewußtſeins ähnlih wide. Denn im Grunde
gilt von allen Zuſtänden der Thätigfeit oder des Leidens baffelbe,
was wir von dem Bewußtſein behaupten: fie können alle in
ftrenger Bedeutung nur von untheilbaren Einheiten ausgejagt
werden. Stellen wir und eine Anzahl von Atomen auf irgend
eine Weife zu einer unveränderlihen Verbindung vereinigt vor,
jo daß fie jedem Berwegungsantrieb nur in Gemeinſchaft folgen
fönnen: ſchreitet Diefer ganze Körper geradlinig vorwärts, fo wird
feine Bewegung doch nur die Summe der völlig gleihen Be—
wegungen fein, welde feine. einzelnen Theile für ſich ausführen.
Ja jelbft dies ift zu wicl gefagt, daß wir von einer Summe von
Bewegungen fpreden; in Wirflichfeit gefchieht bier nur derſelbe
Borgang fo vielmal, als Atome vorhanden find, die ihn er:
leiden können, und dieſe Vorgänge, an ſich von einander getrennt,
bilden weder eine Summe nody ein Ganzes. Sie werden dazu
erft unter einer von zwei Bedingungen. Laffen wir zuerft alle
einzelnen Bewegungen jener Atome ſich auf ein und daſſelbe un—
theilbare Element übertragen, fo werben fie fih in diefem aller-
dings zu der Einheit eines Zuftandes fummiren, defien Subject
⁊*
179
diefe8 Element ift; aber hiermit würde zugleih die Yorm bes
Ereigniſſes verändert und an die Stelle einer Gefammtbemegung
Pieler nur ein Effect derfelben, die Bewegung einer Einheit
getreten fein. Ohne diefe Aenderung hat die Gefammtbewegung
einer verbimdenen Vielheit nur unter der zweiten Bedingung
Wirklichkeit, dann nämlich, wenn das eine Bewußtſein eines Beob—
achters die Borftellungen der vielen Einzelbewegungen, ohne fie
zu verfchmelzen, auf einander bezieht und ihre bleibende Vielheit
doch unter den Gedanken der Einheit zufammenfaßt. Denken wir
und ferner ein anderes Syſtem von Atomen, die unter einander
Ioeerer verbunden und in Bewegungen von verſchiedenen Geſchwin⸗
bigfeiten und Richtungen begriffen find, fo würde von einer Ge—
fammtbewegung dieſes Syſtems nur noch in diefer zweiten Weife
zu reden fein. Wir könnten allerdings die Größe der verfügbaren
Bewegung beftimmen, welche das ganze Syſtem nady Abzug der
entgegengefegten Wirkungen, die ſich mechfelfeitig aufheben witrden,
auf ein Element außer ihm zu üb:rtragen vermag. Aber nod
deutlicher ift an dieſem Beifpiel als an dem vorigen, daß die
Einheit dieſes erzeugbaren Effectes nicht gleichbedeutend mit der
Gefammtbewegung des Syſtemes ſelbſt ift, denn zu dieſer gehörte
ohne Zweifel auch die mannigfaltige Durcheinanderbewegung feiner
Theile, die in der Einfachhett jenes Ergebniffes verſchwunden ift.
Für das Ganze dieſer Mannigfaltigfeit gibt es in der That nur
einen Ort, wo c8 als Einheit wirklich ift: die zuſammenfaſſende
Borftellung jenes Beobachters. Im diefer allein hängt das Ver-
gangne mit dem Gegenwärtigen und dem Zufünftigen zufammen,
in der Wirklichkeit ift das eine, wenn das andere nicht ift; nur
in diefer Vorſtellung Hat jede Formenſchönheit, jeder Reichthum
und jede Bedeutung ber Entwidlung mwahrbaftes Dafein, denn
nur in ihr beftchen eigentlich die Berhältniffe des einen zum
andern, auf denen diefe Vorzüge alle beruhen; im Wirflichen
arbeitet jeder einzelne Theil wie im Finſtern und fieht feine
Stellung zu den übrigen nicht, obgleich er die Einflüffe, die er
von ihnen leidet, vielleicht in Das Gefühl eines ihm widerfahrenden
12 *
180
Zuftandes verdichten mag. So werden alfo alle Leiftungen einer
verbundenen Mehrheit entweder ſtets nur eine Mehrheit gefonderter
Leiſtungen bleiben oder in eine nur dann wahrhaft verſchmelzen,
wenn fie auf die Einheit eines Weſens, als deifen Zuftände,
übertragen werben. Bon dem Bemwußtfein aber können wir jagen,
daß es als Thätigfeit eines untheilbaren Wefens wohl die Durdh-
dringung des Mannigfachen zu einer Einheit möglich made, daß
aber nie aus der Wechſelwirkung des Mannigfadhen allein die
Einheit eines Bewußtſeins entfpringen könne.
Bon diefen allgemeinen Erörterungen wenden wir und noch
einmal zu unferem eigentlichen Gegenftande zurüd. In den mannig-
fachen verbundenen Atomen des Körpers nehmen wir noch einmal
jenes innerliche feelifhe Leben an, welches die Anficht, von der wir
ausgingen, aller Materie zutrauen zu müſſen glaubte. Möge
nun ein gemeinfamer Sinnesreiz, wie vorhin ein gemeinfamer
Bewegungsanftoß, auf alle zugleich wirken, fo werden wir bie
entftehende Empfindung doch nirgend anders als in dem Innern
jedes einzelnen Atomes juchen können. Sie wird fo oft da fein,
al8 es untheilbare Weſen in dieſer verbundenen Menge gibt,
aber diefe vielen Empfindungen werben nirgend zu einer gemein:
famen Gejammtempfindung zufammenftoßgen, es ſei denn, daß
außer ihnen allen ein bevorzugtes Weſen binzugedadht wird, auf
welches alle ihre innern Zuftände übertragen; dann wird Diefes
die Scele eines ſolchen Körpers fein. Und laffen wir wieber, wie
vorhin verſchiedene Beivegungen, jo jet verſchiedene Empfindungen
in den einzelnen Elementen diefe8 Ganzen entjtehen, und nehmen
wir an, daß jedem die Möglichkeit gegeben fei, feine eigene Er—
regung irgendwie zur Anregung auch des anderen zu verwertben,
jo wird aud Hier wohl jedes einzelne Wefen nad feiner eigen-
thümlichen Stellung zu den übrigen auf feine befondere Weife von
ihren Einflüffen leiven und die überall her empfangenen Eindrücke
in ſich verfchmelgen oder verknüpfen. Aber Das neue Empfinden
oder Willen, das aus dieſen Wechſelwirkungen entftebt, wirb doch
ein Dafein immer wieder nur in den einzelnen Elementen haben,
181
deren jedes in feiner Einheit die mannigfaltigen Eindrücke zur
Miſchung zufammendrängt. Es war vielfach das gleiche Wiffen
vorhanden, wenn jedes Element die Einflüffe aller andern in
gleicher Weife erlitt; es wird hier ein vielfach verfchiedenes Wiffen
entftanden fein, wenn die nicht gleihartigen Berbältniffe, in
welchen die einzelnen zu einander ftehen, jebem von ihnen eine
befondere Mifhung der Eindrüde verurfadhen, die bis zu ihm
. reihen können. Aber Feines von ihnen wird im letzteren Falle
die Mannigfaltigfeit aller entftandenen Zuftände itberfehen: dieſer
Sefammtbetrag der Empfindung oder des Wiſſens wird als folder
nur für einen neuen Beobachter außerhalb vorhanden fein, der
wiederum in der Einheit feines untheilbaren Wefens die zerftreuten
Thatſachen zu einem nur ihm erfcheinenden Totalbilde fammelt.
So wie der Zeitgeift, die äffentlihe Meinung, nicht neben und
zwifchen den perfönlichen Wefen ſchwebt, ſondern ihr Dafein ftets
nur in dem Bewußtſein der Einzelnen bat, unvollfommen und
nur als Bruchſtück in denen, die ohne Meberblid in die Wechfel-
wirkungen verflochten find, welde fih um ihre Stellung herum
entfpinnen, vollfommener nur in der Anſchauung deflen, welcher
die größte Menge fremder Stimmungen vergleichend beurtheilt,
ſo werden bier die verfchtevenen geiftigen Elemente, welche dieſes
Yebendige Syſtem zufammenfegen, verfchtevene Anfchauungen des
Ganzen entwideln, in welchem fie befaßt find; die vollfommenfte
aber wird in jenem Elemente entftehen, das durd einen urfprüng-
lichen Vorzug feiner Natur oder dur die Gunft feiner Stellung
zu den übrigen, als beherrfhende Monade, alle Wechſelwirkungen
der Theile des Ganzen am lebbafteften in ſich jammelt und am
lebhafteſten auf die fo ihm zu Theil gemorbenen Eindrlide zu⸗
rückzuwirken vermag.
Auf diefe Vorſtellungsweiſe führt in Wahrheit der Verſuch
zurüd, die Einheit des Bewußtſeins aus der Wechſelwirkung Vieler
abzuleiten. Selbft unter der Vorausfegung jenes ſeeliſchen Lebens
aller Materie gelangen wir auf diefem Wege zwar zu einer Aen-
derung, aber nicht zu einer Aufhebung des Gegenfages zwifchen
182
Leib und Seele. Denn allerdings eine qualitative Verſchiedenheit
ihre Naturen trennt beide unter dieſer Vorausſetzung nicht; aber
in Eins verſchmelzen ſie noch weniger; immer bleibt die eine und
individuelle herrſchende Seele in völliger Sonderung den gleidh-
artigen aber dienenden Monaden gegenüberftehen, deren verbundene
Menge den lebendigen Körper bildet. Es mag für den Augen-
blick dahingeftellt bleiben, ob für die Erflärung der Erfcheinungen
dieſe Auffaffung des Lebens, als einer Wechſelwirkung von Seelen
und Seelen, größere Vortheile bietet, als der Gegenſatz des
Geiftes zu dem körperlichen Stoff, den wir unfern Betrachtungen
zu Grund legten. Iſt die herrſchende Monade diejenige Seele,
welche unfer Ich bildet, und deren innere Regungen wir zu ver-
ftehen ſuchen, fo bleibt wenigftend uns, den Unterfuchenven, das
Innere jener andern Monaden völlig verfchloffen; wir fennen von
ihnen nur die Wechſelwirkungen, durch die fie uns als Materic
erfcheinen, und nur unter dieſem Titel und mit den Anfprücen,
die durch ihn begründet find, werben fie von uns in der Unter-
fuhung der einzelnen Vorgänge verwendet werden können.
Nicht daraus fchloffen wir die Einheit der Seele, daß wir
und als Einheit erfcheinen; fondern dies, daß ung iiberhaupt
etwas erjeheinen kann, überzeugte und von der Ungetheiltheit unfers
geiftigen Wefens. Ich werde vielleicht überzeugender fein, wenn
ich die unterfcheidende Natur des Bewußtſeins ausdrücklich her-
vorhebe, die ich bisher ſtillſchweigend vorausfegte. Die Borftellung
von dem Verſchmelzen mehrerer Zuftände zu einem mittleren,
‚von refultitenden Kräften oder Erfolgen, die aus der Kreuzung
einzelner Wirkfamfeiten entiprängen, haben nachtheilig genug auf
die Erflärung der inneren Erſcheinungen eingemwirkt; e8 tft der
Mühe werth, zu zeigen, wie ganz anders geartet die Natur des
Borftellens ift, und wie völlig uns auf dieſem Gebiete Die ge—
wohnten Betrachtungsmeifen der Naturwiſſenſchaften verlaflen,
183
denen das Bisherige noch cine unmittelbare Anwendbarkeit zu-
zugeſtehen ſchien.
Sehen wir in der Natur aus zwei Bewegungen bald Ruhe,
bald eine dritte mittlere entſtehen, in welcher fie unkenntlich un-
tergegangen find, fo bietet fih und Aehnliches im Bewußtſein
nirgends dar. Unfere Vorftellungen bewahren durch alle ver-
ſchiedenen Schickſale hindurch, die fie erfahren, denfelben Inhalt,
den fie früher befaßen, und nic fehen wir die Bilder zweier
Farben in unferer Erinnerung zu dem Gefammtbild einer dritten
ans ihnen gemifchten, nie die Empfindungen zweier Töne zu der
eines einfachen zwifchen ihnen gelegenen, niemals die Vorftellungen
von Luft und Leid zu der Ruhe eines gleichgültigen Zuftandes ſich
mifhen und ausgleichen. Nur fo lange verjchtedene der Außenwelt
entſpringende Reize noch innerhalb des körperlichen Nervengebictes,
durch defjen Vermittlung fie auf die Scele wirken, nad phyſiſchen
Geſetzen einen Mittelzuftand erzeugen, läßt uns diefer, al8 einfacher
Anftoß nun dem Geiſte zugeführt, auch nur die einfache Mifch-
empfindung entwickeln, ftatt der beiden, dic wir getrennt wahrgenom-
men haben würden, wenn die Reize uns gefondert hätten zukommen
können. So miſchen ſich für unfere Empfindung wohl die Farben
an den Rändern, mit denen fie im Raum fich unmittelbar berühren;
aber die Bilder der Farben, die in unferer Erinnerung raumlos
und ohne Scheivewand zufammen find, rinnen nicht in das ein-
fürmige Gran zufammen, das wir als Mittelergebniß erwarten
müßten, wenn überhaupt das Verſchiedene in unferer Scele fi
ausgleihend verſchmölze. Aber das Bewußtſein hält im Gegen-
teil das BVerfchiedene auseinander in dem Augenblide ſelbſt, in
welchem e8 feine Bereinigung verfucht; nicht in der Mifchung läßt
es die mannigfachen Eindrüde unkenntlich zu Grunde geben, fon-
dern indem es jedem feine urfprüngliche Färbung läßt, bewegt es
fih vergleihend zwiſchen ihnen und wird fich dabei der Größe
und der Art des Ueberganges bewußt, dur den ed von dem
einen zum andern gelangte. In Diefer That des Beziehens und
des Vergleichens, den erften Keimen alles Urtheilens, befteht das,
\
184
was auf geiftigem Gebiet, völlig anders geartet, der Refultanten-
bildung phyſiſcher Ereigniffe entfpriht; Hierin liegt zugleich bie
wahre Bedeutung jener Einheit des Bewußtſeins.
Wenn zugleich ein ftärferer und ein ſchwächerer Ton gleicher
Höhe und gleichen Klanges unfer Obr treffen, jo hören wir nur
denfelben Ton ftärker, nicht beide getrennt; ihre Wirkungen fallen
bereit8 in dem Gehörnewen zufammen und die Seele kann in
dem einfachen Reize, der an fie gelangt, keinen Grund‘zu einer
Spaltung in zwei Wahrnehmungen finden. Aber wenn beide
Töne nad einander erflangen, fo daß das Sinnedorgan ihre Ein-
drücke gefondert Ieiten konnte, fo entfteht aus ihren Vorftellungen,
welche die Erinnerung aufbewahrt und zu dem Zwecke der Ver—
gleihung in demfelben Augenblid beide wieder ind Bemußtfein
führt, nicht mehr die Vorftelung eines dritten Tones von größe-
ver Stärke, jondern beide, obwohl ohne Scheidemand in dem un—
räumlichen Auffaffen gegenwärtig, bleiben als gefonderte einander
gegenüber. Und entftände jener mitttlere Ton, fo wilrde er nicht
eine Vergleichung beider, jondern nur ein Zuwachs des zu ver-
gleihenden Materials fein für ein Bewußtfein, das zu vergleichen
verftände. Die Bergleihung, welche wir wirflih vollziehen,
beftebt in dem Bewußtwerden der eigenthümlihen Veränderung,
die unfer Zuftand erfährt, indem wir von dem einen Tone vor=
ftellend zum andern übergehen, und in ihr entfteht uns ftatt
eines dritten gleihen Tones ein ungleich größerer Gewinn: die
Borftellung eines intenfiven Mehr oder Minder. Roth und Gelb
verjhmelzen, wenn fie, ſchon im Auge ſich mifchend, nur als ein=
facher mittlerer Reiz unferer Seele fi nähern; in unferer Erin=
nerung bleiben die getrennt empfunbenen getrennt und es entfteht
nicht aus ihnen der Eindrud des Orange; entftände er, fo wäre
auch durch ihn nur vergleichbares Material vermehrt, nicht die
Bergleihung vollzogen. Sie wird vollzogen, indem wir ung der
Torm des Wechfeld bewußt werben, den unfer Zuftand in dem
Mebergang von Roth zu Gelb erfährt, und wir gewinnen durch
fie die neue Vorſtellung qualitativer Aehnlichkeit und Unähnlichfeit.
185
Vergleichen wir endlich einen Eindrud mit fich ſelbſt, fo ift nicht
das Ergebniß, daß der Doppelt gedachte zu einer Verdoppelung
feiner einfachen Stärfe führte, fondern indem wir die Thätigfeit
des Uebergebend wahrnehmen, ohne eine Aenderung in ihrem
Ergebniffe zu bemerken, erlangen wir die Borftellung der Gleich:
heit. Wir haben feinen Grund, diefe Beifpiele mehr zu häufen;
befannt genug ift Jedem das innere Leben, um fon bier die .
allgemeine Meberzeugung zu erweden, daß alle höheren Aufgaben
unferer Erkenntniß und unferer ganzen geiftigen Bildung auf
derfelben Schonung beruhen, mit melder das Bewußtſein das
Mannigfaltige der Eindrücke in ſeiner Mannigfaltigkeit, in allen
ünterſchieden ſeiner Färbung beſtehen läßt, und daß nichts ſo
weit von den nothwendigen Gewohnheiten der Seele entfernt ſein
kann, als jene Bildung reſultirender Miſchzuſtände, mit deren
Hülfe man ſo oft und ſo unbedacht alle Weiterentwicklung, ja
ſelbſt alle urſprüngliche Entftehung unſerer inneren Regungen er—
Hören zu können glaubt.
Diefe Thaten nun eined beziehenden und vergleichenden
Wiffens wird faum Jemand geneigt fein, noch al8 Handlungen
eines Aggregates Michrerer zu betrachten. Sp lange es fi nur
darum handelte, daß alle Borftellungen in demjelben Bewußtfein
verfammelt find, daß alle aufeinander Wechſelwirkungen ausüben
und wechfelfeitig fich verdrängen oder beroorrufen, fo lange fonnte
man ſich wenigftens leidlich darüber täuſchen, daß doch auch ſchon
dieſe Erſcheinungen die Einheit ihres Trägers nothwendig machen.
Man konnte das Bewußtſein als einen Raum anſehen, in welchem
ſich dies mannigfaltige Spiel drängt, und dahin geſtellt laſſen,
woher eigentlich die Beleuchtung des Gewußtwerdens ſtammt, in
der es ſich bewegt. Das thätige Element dagegen, welches von
einem zum 'andern übergehend, beides beſtehen läßt, aber ſich der
Größe, Art und Richtung ſeines Uebergehens bewußt wird, dieſes
eigenthümlichſte Band zwiſchen dem Vielfachen kann unmöglich ſelbſt
ein Vielfaches ſein; wie alle Wirkungen überhaupt nur in der
Einheit eines untheilbaren Weſens, in der fie ſich treffen, ver⸗
186
bunden werben, jo erfordert noch mehr dieſe befondere Weife,
Mannigfaches zu verknüpfen, die ftrenge Einheit des Verknüpfenden.
Jeder Verſuch, an ihre Stelle eine irgendwie verbundene Mehr-
beit zu fegen, würde auch bier nur zu den Folgen zurückführen,
die wir bereits: erwähnten, und durch deren Wiederholung wir
nicht ermüden wollen.
Die Notwendigkeit, für zwei unvergleihbare Kreife von
Erfheinungen zunächſt zwei gefonderte Erflärungsgründe zu ver-
langen, verbot uns jeden Berfuh, aus Wirkungen materieller
Stoffe, fo fern fie materiell find, das innere Leben als einen
felbftverftändlichen Erfolg ableiten zu wollen. Die andere Noth-
wendigfeit, die Thatfache der Einheit des Bewußtſeins anzuerkennen
und die Einfiht in die Unmöglichkeit, dieſe Einheit aus ber
Wechſelwirkung irgend welcher Vielheit zu erzeugen, ließ und auch
von der Annahme eines verborgenen feelifhen Lebens in alle
dem, was wir Materie nennen, feinen Bortheil für die Erflärung
der einzelnen Erfcheinungen hoffen. Wir drüden daher am ein=
fachſten das bisher erreichte Ergebniß in der Längft gewöhnlichen
Form einer Trennung der überfinnlihen Seele von dem finnlichen
Körper aus, gleichviel, worauf das Dafein oder die Erſcheinung
des Icgteren jelbft beruhen möge. Unſer Weg wird noch lang fein,
und mande feiner Wendungen wird uns vielleicht neue Anfichten
auch über das eröffnen, was wir jegt nur in dieſer erwähnten
Projection erbliden können. Für mißverftändlih aber würden
wir eine Sehnfucht nah Einheit halten, vie ſchon hier dieſen
Iharfen Gegenfag in irgend einem Höheren zu vermitteln eilte, und
in Wirflichkeit nur feine nothiwendige und deutliche Auffafjung ver-
dunfeln würde. Wir leugnen nicht, daß es einen jo hoben Stand⸗
punft der Betrachtung geben kann, für welchen der Unterſchied des
GSeiftigen und Körperlichen in feinem Werthe verblaßt, oder als
eine Zäufhung begriffen werben Tann. Aber das Gedeihen
187
unjerer Anfichten hängt weniger von der Erreichung dieſes Stand-
punftes ab, als es durch feine verfrühte Vorausnahme geſchmälert
wird. Auch die Kämpfe und Mühen des Lebens erſcheinen einem
geſammelten Ueberblicke zuletzt als eine Uebung, deren Werth
nicht eigentlich in der Erreichung eines Zieles liegt; die irdiſchen
Zwecke mögen in nichtige Kleinheit zuſammenſchwinden im Ber:
gleich mit der endlichen Beſtimmung, die wir ahnen; bittere
Gegenſätze unſeres Daſeins verlieren ihre Schärfe und Bedeutung,
an dem Ewigen und Unendlichen gemeſſen, auf welches unſere
ſehnſüchtigen Blicke ſich richten. Und doch werden wir in jenen
Uebungen fortfahren, dieſen beſchränkten Zielen alle Wärme unſeres
Gemüthes widmen, dieſe Gegenſätze empfinden und den Kampf
um ſie immer wieder erneuern müſſen; unſer Leben würde nicht
edler werden durch die Geringſchätzung ſeiner Verhältniſſe und
des Spielraums, den es unſerer ſtrebenden Kraft darbietet. So
mag auch jener Gegenſatz zwiſchen körperlichem und geiſtigem
Daſein kein letzter und unverſöhnlicher ſein, aber unſer gegen—
wärtiges Leben fällt in cine Welt, in der er noch nicht gelöſt iſt,
fondern als ungelöfter allen Beziehungen unferes Denkens und
Handelns zu Grunde liegt. Und cbenfo wie er beftändig dem
Leben unentbehrlich fein wird, ift er zunächſt wenigftens unent-
behrlih für die Wiſſenſchaft. Was ung als unvereinbar fich gibt,
haben wir zuerft jedes auf fein beſonderes Princip zu grünen.
Kennen wir den natürlihen Wuchs und die Verzweigung jever
einzelnen der Erfheinungsgruppen, die wir fo geſchieden haben, fo
wird e8 fpäter möglich fein, von ihrer gemeinfamen Wurzel zu
reden. Ste zu früh vereinigen wollen, würde nur beißen, ihre
Meberficht trüben und den Werth verfälichen, den jeder Unterſchied
auch dann bat, wenn cr nicht unaufheblich ift.
188
Zweites Kapitel.
Natur und Bermögen der Seele
Die Mehrheit ber Seelenvermögen. — Mängel ihrer Annahme. — Ihre Bereinbarfeit
mit der Einheit der Seele. — Unmittelbare und erworbene Vermögen. Unmöglichkeit
eined einzigen Urvermögend. — Borftellen, Fühlen und Wollen. — Beftändige
Thätigleit des ganzen Wefens ber Seele. — Niebere und höhere Rückwirkungen. —
Veränderlichfeit der Seele und ihre Grenzen. — Das bekannte und das unbefannte
Weſen der Seele.
Nur dazu haben uns die bisher betrachteten Erfcheinungen
bereshtigt, in der Seele jenes unbekannte Wefen zu eben, deſſen
ungetheilte Einheit die Mannigfaltigfeit des inneren Lebens zu—
fammenbält: fie haben noch Feine Aufflärung über die wefentliche
Natur gegeben, mit welcher die Seele dieſe leere Form der Einheit
ausfüllt und die buntfarbige Vielheit ihrer Zuftände entwidelt.
Eine vollftändigere Ueberſicht der inneren Erfahrung wird gleidh-
wohl der einzige Weg zur Löfung auch diefer Trage fein; wir
haben feine andere Einfiht in das Wefen der Seele außer der-
jenigen, welche uns die Rückſchlüſſe von den beobachteten That-
fachen unſeres Bewußtfeins gewähren. So müſſen wir ihre
Natur denken, wie fie fein muß, wenn fie das fol leiden können,
was wir als ihre Zuftände, und das leiften, was wir als ihre
Thätigfeiten in und vorfinden. Bon einer Bergleihung der
inneren Ereigniffe werden wir deshalb auögehen müſſen; Achn-
liches zufammenftellend, . Unähnliches ſondernd, werden wir das
Mannigfadhe in Gruppen fammeln, deren jede das in fidh ver-
einigt, was dur die Gleichheit feines allgemeinen Gepräges
zuſammengehört und von Anderögeartetem fich ſcheidet. Die
inneren Erfheinungen find abweichend genug von einander, um
es wahrfcheinlich zu machen, daß dieſe Vergleihung, fo Lange fie
feine anderen Gefichtspunfte einmifcht, mit ver Auffindung
mehrerer gefonderten Gruppen endigen wird, deren eigenthümliche
189
Unterjchtede auf einen gemeinfamen Ausdrud zurückzuführen nicht
gelingt. Bon den veränderfihen äußeren Bedingungen, melde
die Thätigfeit der Seele weden, werden wir wohl jene Heineren
Unterſchiede abhängig denfen, welche innerhalb jedes einzelnen
Kreifes die in ihm zufammengehörigen Aeußerungen trennen,
ohne die allgemeinere Achnlichfeit ihres Charakters aufzuheben.
Aber für das Ganze jedes Kreiſes von Erſcheinungen werden
wir doch der Seele eine eigenthümliche Anlage zufchreiben müſſen,
in der Weife thätig zu fein, die fih in allen feinen beſonderen
Gliedern gleihmäßig als herrſchend ermeifl. Wie viele auf
einander nicht zurüdführbare Gruppen der Ereignifie und mithin
die Beobachtung übrig läßt, fo viele gefchievene Vermögen der
Seele werben wir voraußfegen müfjen, aber wir werden über:
zeugt- bleiben, daß fie dennoch nicht als eine zufammenhanglofe
Mehrheit von Anlagen neben einander in ihre Natur eingeprägt
find, fondern daß zwiſchen ihnen eine VBerwandtihaft ftattfindet,
durch welche fie als verfchiedenartige Ausdrüde eines und defjelben
Weſens zu dem Ganzen feiner vernünftigen Entwidlung zuſam—
menftimmen.
So erwuchs die befannte Lehre von den Seelenvermögen,
mit ihren crften Keimen ſchon der gewöhnlichen Auffaffung des
täglichen Kebens angehörend. Lange als Lieblingsgegenſtand der
Wiſſenſchaft gepflegt: und mehrfach zu ausführlichen Lehrgebäuden
entwidelt, iſt fie allmählich in Mißachtung gerathen und kaum
würde man gegenwärtig mehr in ihr fehen wollen, als eine erfte
und vorläufige Heberficht der Thatfachen zum Zwecke einer Unter-
fuhung, Die nun erft auf fie folgen fol. Und in der That
werden wir zugefteben müfjen, daß fie für die Aufflärung der
Erfheinungen im Einzelnen allzumenig leiftet. Es würde eine’
Täufhung fein, wenn man in dem Begriffe der Seelenvermögen
ein ebenſo wirkſames Mittel der Unterfuchung zu befigen glaubte,
wie die Naturwiffenfchaft ein ſolches in dem Begriffe der wirkenden
Kraft gewonnen hatte Was diefem feine Fruchtbarkeit gibt,
fehlt jenem, der dagegen völlig die Fehler mwieberholt, um deren
190
willen der verwandte Begriff der Lebenskraft ſich in vergeblichen
Verſuchen zur Erklärung der lebendigen Erſcheinungen erſchöpft.
Wo die Phyſik Gebrauch von ihrem Begriffe der Kraft macht,
begnügt fie ſich nicht, dieſe durch die Form und das Ausſehen
ihres Erfolges zu charakteriſiren; ſie redet nicht von anziehenden
oder abſtoßenden Kräften überhaupt, ſondern ſie fügt ein Geſetz
hinzu, nach welchem die Größe ihrer Wirkſamkeit ſich ändert,
wenn genau angebbare Bedingungen, an die ſie gebunden iſt,
eine ebenſo beſtimmt zu meſſende Veränderung ihres Werthes
erfahren. Nur dadurch iſt ſie in den Stand geſetzt, das beſtimmte
Ergebniß zu berechnen, welches jede Kraft unter gegebenen Ver—
hältniſſen liefern wird; nur dadurch gelingt es ihr überhaupt, an
die beſtändig gleiche Wirkſamkeit derſelben Kraft die mannigfachſten
Erfolge zu knüpfen, die zunächſt zwar nur ihrer Größe nach ſich
unterfcheiden, aber in ihrem Zufammentreffen mit anderen in
gleicher Weife beftimmten Wirkungen zu einer unüberfehbaren
Bielheit auch der formwerfchiedenften Ereigniffe führen. Der
Begriff der Seelenvermögen bietet dieſe Vortheile nicht. infeitig
abgeleitet aus der allgemeinen Form, die einer Menge mannig=
faltiger Vorgänge gemeinfam zufommt, beftimmt natürlich auch
rückwärts jedes derjelben nur im Allgemeinen wicder die Form,
pie feinen Aenßerungen zufommt. So wird ohne Zweifel das
Borftellungsvermögen Borftellungen, das Gefühlsvermögen Ge—
fühle erzeugen, aber es fehlt an Regeln der Beurtheilung, die
über dieſe unnütze Gewißheit hinaus uns ſchließen lehrten, welche
Vorſtellung unter welchen Umſtänden entſtehen oder was geſchehen
wird, wenn mehrere Aeußerungen deſſelben Vermögens zufam-
mentreffen.
Meberall freilich Hat auch die Natuwwiſſenſchaft die Wirkungs-
gefege ihrer Kräfte nicht beftimmen können; aber wo fie es nicht
vermochte, gibt fie eben zu, für Die wirflihe Erklärung der Erfchei-
nungen noch nicht hinlänglich vorbereitet zu fein. Selbft in ſolchen
Fällen bietet ihr jedoch ihr Begriff der wirfenden Kraft noch Bor-
theile, die dem der Seelenvermögen abgeben. Die Wirkungen der
191
natürlichen Kräftg find untereinander ftet8 vergleihbar; denn wie
wunberfam verjchteden auch die inneren Zuftände der Elemente fein
möchten: die äußeren Veränderungen, in denen fie fihtbar werben
fönnen, werden ſich zulett immer auf Bewegungen im Raume zurid-
führen laffen, Die nur nach Geſchwindigkeit und Richtung unterfchie-
ben find. Deshalb ift die Phyſik im Stande, die allgemeinen Rech—
nungsregeln der Mathematik auf fie anzumenden und mit Beftimmt-
beit den Erfolg anzugeben, welden das Zufammentreffen mehrerer
Kräfte an demjelben Elemente hervorbringt; aus zwei einfachen
geradlinigen Bewegungen fehen wir bald das Gleichgewicht der Ruhe,
bald eine gleihförmige Geſchwindigkeit in mittlerer Richtung, bald
beftändige Kreisläufe in gefrümmten Bahnen entftchen. Und um
diefer Vergleichbarkeit der Kräfte willen iſt es felbft dann, wenn
ihre Gefege nicht genau befannt find, nod immer möglich, aus der
Form ihrer Wirkſamkeit wenigftens einen wahrfcheinlichen Ueber:
ſchlag des Erfolges zu entnehmen, den ihr Zuſammenwirken haben
wird, und defjen muthmaßlichen Werth zwifchen beftimmte Grenzen
einzufchliegen. Dem gegenüber erfcheinen Die Seclenvermögen als
unvergleihbar unter einander; war doch jedes von ihnen eben nur
aus dem eigenthümlichen Charakter feiner Aeußerungen abgeleitet,
den man verzweifelte, mit dem unterfcheidenden Gepräge der anderen
auf einen gemeinfamen Geſichtspunkt zurüdzubringen. Wie daher
eine That des Vorftellungsvermögens auf dad Vermögen der Ge-
fühle einwirken, wie dieſes ferner Strebungen veranlaffen oder hem⸗
men werde, das erratben wir zwar ohne die Wiſſenſchaft leidlich,
indem wir dem Inſtincte unferer inneren Erfahrung folgen; aber
in dem Begriffe diefer Vermögen Tiegt nichts, was uns befähigte,
dieſen Tact des richtigen Urtheils zu einer Haren wifjenfchaftlichen
Einficht in die gegenfeitige Abhängigkeit dieſer Vorgänge zu fteigern.
Fügen wir endlich noch eines Hinzu. Die Phyſik gibt mit Be-
ftimmtheit die Bedingungen an, unter denen überhaupt von einer
Wirkfamkeit der angenommenen Kräfte die Rede fein Tann. Sie
unterfcheidet jene Grundkräfte, Die als beftändig der Maſſe anhaf-
tend gedacht werben können, meil ihre Bedingungen beftändig reali-
192
firt find, und bie Deshalb ftet8 vorhanden nur noch auf einen Gegen-
ftand zu warten fheinen, an dem ihr Einfluß fihtbar werden kann;
fie ftellt ihnen jene anderen Leiftungsfähigfeiten gegenüber, die ein
Element nicht von Anfang an befigt, fondern unter Umftänden er⸗
wirbt, und die deshalb, jet auftretend, dann wieder verſchwindend,
eine wifjenfchaftlich zu verfolgende Geſchichte ihres Entſtehens haben.
Auch Hierin befindet fich die pfychologifche Lehre im Nachtheil. Ste
Tonnte Feines ihrer Vermögen als eine beftänbig von der Seele aus:
geübte Thätigkeit faffen; ein Vorftellen, das auf feinen Gegenſtand,
ein Gefühl, das auf feine Färbung, ein Wille, der auf fein Ziel
noch wartete, erſchienen zu auffällig als widerfinnige Annahmen;
man fühlte, daß fie ſämmtlich nur Leiftungen find, zu deren Aus-
führung die Seele erſt durch beftimmte Eindrüde angeregt und
befähigt wird; eben deshalb fegte man fie unter dem Namen ber
Bermögen den Kräften entgegen. Aber die Geſchichte ihres Zu-
ftandefommens aus dem Zufammentreffen jener Eindrücke mit der
Natur der Seele hat man zu wenig verfolgt, und der Mangel dieſes
Nachweiſes ließ ſich nicht dadurch ausgleichen, daß man claffifictrend
die verfchievenen Vermögen nad der größeren Allgemeinheit oder
Befonderbeit ihrer Acußerungen einander über- und unteroronete.
Denn immer erſchien fo Vieles glei urfprünglih und neben ein-
ander, was in Wahrheit durch die fortfchreitende Bildung des Le—
bens erft erworben und angeitbt, fehr verſchiedene Stellen nad) ein=
ander in ber wirklichen Entwidlung des geiftigen Lebens einnimmt.
Die unbeftimmten Vorftellungen enblih von einem Schlummer und
dem nachfolgenden Erwachen einzelner Vermögen waren nicht geeig-
net, für die im Allgemeinen fehlende Einfiht in das Zufammen-
greifen und Die gegenfeitige Unterftägung ihrer Wirkungen zu ent-
ſchädigen.
So verlor man den eigentlichen Zweck der wiſſenſchaftlichen
Unterſuchung aus den Augen, die Nachforſchung nach dem urſäch-
lichen Zufammenhange, durch welchen Schritt fiir Schritt jedes ein-
zelne Ereigniß des Seelenlebens aus feinen Borangängen entfpringt
und feinerfeit8 auf die Geftaltung des nächſten Augenblides Ein-
193
flug übt. Darauf aber muß jede Wiffenfchaft, der ihre zukünftigen
Anwendungen am Herzen Liegen, bedacht fein, daß es ihr möglich
werde, aus Dem vorhandenen Zuftande Vergangenes und Kommen-
des zu errathen. Und wo die uniberfehbare Verwidlung ber mit-
wirkenden Bedingungen, wie in dem Falle des Seelenlebens, die
erſchöpfende Löſung diefer Aufgabe ſtets unmöglich machen wird,
möüffen wir doch wenigftens nach einer ſolchen Ueberficht des urfäch-
lichen Zuſammenhangs ftreben, welche im Ganzen und Großen mit
mehr Sicherheit, als die unbeftimmte Schägung eines natürlichen
Inftinctes gewährt, bie Umriffe des Künftigen und die vergangenen
Gründe der Gegenwart erkennen lehrt. Nur diefe Kenntniß würde
ung befähigen, in der Erziehung die Gegenträfte in Bewegung zu
feßen, Die geeignet find, unerwänfchte Ergebniffe zum Beſſeren zu
wenden. Fur diefe Aufgabe bietet die Lehre von den Seelenver⸗
mögen feine Löſung; fie wiederholt uns eigentlich nur farblofer und
von ferne den allgemeinen Umriß der Erfehernungen, Die wir in der
vollen Mannigfaltigkeit ihrer lebendigen Localfarben unmittefbar in
uns beobachten, aber fie ſchweigt Aber die unferer Beobachtung ent-
zogenen Ereigniffe, die dieſes mannigfache Spiel eben fo ungefehen
beroorbringen, wie die unwahrnehmbaren Schwingungen des Aethers
die Welt des finnlichen Lichts und feiner wunderbaren Brechungen.
Nun konnte man geneigt fern, Diefe Mangelbaftigfeit nicht
dem Grundgedanken, fondern der noch unfertigen Ausführung ber
Lehre zuzurechnen. Vielleicht, nachdem forgfältige Beobachtung von
ben urfprünglichen Vermögen ber Seele diejenigen abgetrennt haben
wird, die augenfcheinlih nur im Berlaufe der Bildung erworbene
Fähigkeiten find, gelangt fie noch dazu, für jene Uranlagen die Gefege
ihrer Wirkſamkeit und ihres wechfelfeitigen Einfluffes zu entdeden.
Aber ehe wir diefer Hoffnung einen Schritt weiter nachgehen, müf⸗
fen wir eines Einwurfes gedenken, ber fie kurz abzuſchneiden droht.
Jede Mehrheit urfprünglicher Vermögen widerſpreche der Ein-
beit der Exele; fie zu Grunde zu legen, fei eben fo unvereinbar
Lotze I. 3. Aufl. _ 13
194
mit der nöthigen Strenge des Gedankens, als unerſprießlich für
die Abſicht der Erflärung, deren Befriedigung verkürzt werde, ſo—
bald man eine Mannigfaltigfeit von Leiftungen, deren Herleitung
aus einer einzigen Duelle eben das Geſchäft der Wiſſenſchaft fein
müßte, als neben einander vorhandene und einer Erläuterung ihres
Urfprungs unbebürftige binnehme. Man hat ſich fo ſehr gewöhnt,
hierin das Entſcheidendſte zu erbliden, was gegen die Lehre von den
Seelenvermögen eingeiwendet werben kann, daß wir faft zögern, eine
entgegengefegte Anficht gelten zu machen. Geſprochen bat man
von jenen Vermögen allerdings häufig fo, al8 wären fie fertige,
zufammenhanglo® neben einander der Scele eingeprägte Anlagen;
und mit Recht ftellt man diefer unvollkommenen Schilderung Die
Forderung. entgegen, alle verjchiedenen Eigenfchaften eines Weſens
nur als verſchiedene Ausdrücke feiner einen und ſtets ſich gleichen
Natur anzufeben, erſt durch die Wechſelwirkung ihr abgenöthigt,
in welche fie mit anderen Elementen geräth. Aber im Streit mit
jener nadhläffigen Redeweiſe ſchätzt man vielleicht Neuheit und Werth
dieſes Einmwurfes zu hoch. Daß die Körper nur farbig find im
Licht, Hart nur, wenn eine eindringende Gewalt ihren Widerſtand
weckt, flüffig in Diefer, feft in einer anderen Temperatur, das Alles
find Ueberlegungen, welche die gemöhnlichfte Erfahrung anregt. Leicht
mußte man von ihnen aus zu der Ueberzeugung gelangen, daß
wenigftens bie finnlihen Eigenfchaften der Dinge nicht fefte, ihnen
an ſich eingeprägte Beſtimmtheiten find, fondern werdende ent:
ftehende und vergebende Scheine, die fr uns ihre Natur unter
wechjelnden Bedingungen wechſelnd annimmt. Aber weit näher
lag e8 noch, diefelbe Anficht auf die Vermögen der Seele anzumen-
den, deren Name ſchon darauf deutete, daß fie nicht als fertige
Wirflichfeiten, fondern eben nur als die verſchiedenen Möglichkeiten
ber Aeußerung gelten follten, welche der einen Natur der Seele
zu Gebote ftchen, wenn fie von verfchievenen Reizen, deren noth—
wendige Mitwirkung man nicht vergaß, zur Thätigfeit veranlaßt
wird. Vielleiht thun wir Deshalb wohl, wenn wir manches in
diefer Frage begangene Ungefchid des Ausdrucks auf fih beruben
195
laſſen und e8 der hart angegriffenen Lehre zutrauen, daß fie na-
türlich von derfelben Ueberzeugung ausging, welche ihr jener Vor—
wurf gegenüberftellt. Den erften Theil deffelben wenigftens ver-
dient fie nicht; auch fie jah alle Vermögen als Folgen der einen
Natur der Seele an, nur daß fie nicht glaubte, fie auch unter
einander in ſolche Abhängigfeit bringen zu müſſen, Daß aus einem
einzigen alle übrigen hervorwüchſen. Ob fie nım darin Recht ge—
habt, und ob fie nicht die Anſprüche der Wiſſenſchaft verkürzt hat,
indem ſie fi zu früh mit der Annahme urfprünglicer Anlagen
begnügte und ihre wirkliche Zurücdführung auf einen Duell ver-
fäumte, dies ift ein anderer noch zu entfcheidender Zweifel. Aber
auch über diefen zweiten Theil des erwähnten Vorwurfes können
wir eine jegt weit verbreitete Meinung nicht völlig theilen.
Gewiß Tann unfere Wiffenfchaft nicht weiter gehen, als die
Mittel unferer Erkenntniß reihen, und fie muß das als eine Reihe
gegebener Thatſachen hinnehmen, was fie in Wahrheit aus einem
einzigen Grunde abzuleiten nicht vermag. Hierin um jeden Preis
zu Ende fommen zu wollen, führt nur in die Verſuchung, von dem
Gehalte des Thatjächlichen unbewußt etwas abzubrecdhen, um den
bequemeren Keft leichter zu erflären. Auch in diefer pſychologiſchen
Trage liegt eine ſolche Verſuchung nahe. Jene Forderung, melde
alle Aeußerungen eines Weſens nur als verſchiedene Folgen ſeiner
einen Natur anzuſehen befiehlt, erkennen wir als wohlberechtigt
an, aber wir ſind nicht im Stande, ihr durch die wirkliche Aus—
führung in der Wiſſenſchaft Genüge zu leiſten. Aus wenigen Orten,
bie ein Komet zu verſchiedenen Zeiten am Himmel einnahm, ſchlie⸗
gen wir auf die Bahn, die er ferner verfolgen muß; die Geſetze
ber himmlischen Bewegungen erlauben ihm nicht, dieſe Orte ein-
zunehmen, ohne in nothwendiger Folge Davon fpäter auch Die anderen
zu durchlaufen, die mit ihnen zu einer gefeglich beftimmten Krüm—
mung zufammengebören. Eine gleiche Folgerichtigkeit fegen wir auch
in dem Weſen der Seele voraus. Aeußert ihre Natur ſich gegen
den einen Reiz auf eine beftimmte Weife, fo ift nun auch die andere
Aeußerung, mit der fie einem zweiten antworten wird, nicht mehr
13*
196
unbeftimmt ober ihrer Wahl überlaffen; der eine Schritt entfcheibet
auch iiber alle übrigen, und welcherlei Eindrücke der verfchtebenften
Art fie betreffen mögen, ihr Benehmen gegen jeden berfelben tft
bedingt Durch das, welches fie gegen den einen beobachtete. So wer -
den auch in ihr Die mannigfachen Rückwirkungen, welche ihr ver⸗
fchiedenartige Anregungen abgewinnen, nicht beziehungslos unter
einander fein, fondern zu dem Ganzen ciner in folgeridhtiger Viel⸗
feitigkeit ſich ausdrückenden Natur zufammenftimmen. Aber diefe
Annahme, die wir hier fo unvermetblidh finden, wie bort, ift bier
nicht ebenfo fruchtbar, wie dort. Für ben Kometen kennen wir
die Gefege der Anziehung und der Beharrung als das verknüpfende
Band, welches alle Theile feiner Laufbahn unter einander in einen
nachweisbaren Zuſammenhang fest; für die Scele würden wir ein
ungleich tiefer Tiegendes Geſetz bedürfen, welches und verfchtedene,
ihrer Form nach nicht vergleichbare Thätigfeiten dennoch als Glie⸗
der einer und berfelben Entwicklungsreihe begreifen lehrte. Wir
müßten jagen Finnen, warum ein Wefen, das auf Bermlaffung
der Aetherwellen Licht und Farben fieht, nothwendig Töne hören
muſſe, wenn Luftſchwingungen auf feine Sinnesorgane wirken, oder
warum feine Natur, wenn fie unter gewiffen Eindräden anſchauliche
aber gleichgültige Wahrnehmungen erzeugt, folgerichtig in Gefühle
der Luft und Unluft unter dem Einfluß anderer ausbrechen müfk.
Kaum dürfen wir ausdrücklich erwähnen, Daß diefe außerordentliche
Aufgabe nie gelöft worden ift, und daß wir nirgends eine Ausficht auf
ihre mögliche Löſung ſehen; jeve Pfycholegie wird die Ueberzeugung
theilen, daß dieſe ununterbrodene Folgerichtigfeit in der Natur der
Seele ftattfindet, aber Feine wird ihr Gefeg auszuſprechen wifſen.
Als leitender Gefihtspuntt, der die Verknüpfung und die Führung
unferer Unterfuhungen im Allgemeinen beberricht, wird daher jene
Forderung nad) ſolcher Einheit der Seele ftetS gelten Können, aber
in der Ausführung unferer Erflärungen müſſen wir ums begnügen,
verſchiedene Aeußerungsweifen der Seele ald gegebene Thatſachen
hinzunehmen.
In der That haben die Verſuche, die der Lehre von den Ber⸗
197
mögen gegenübergeftellt worden find, mit ber Anerkennung einer
ſolchen Mannigfaltigkeit geendigt. Aber fie Haben unterſchieden zwi⸗
[hen der Bielheit Diefer einfachen, gleich urſprünglichen Thätig-
feiten, die nicht aus einander, fonbern nur gemeinfam aus ber
Natur der Seele hervorgehen, und zwiſchen jenen höheren Wirt:
famfeiten, die nicht gleich urſprüngliche Beſitzthümer derſelben bil-
den, fondern eben aus den Berfettungen jener einfachen Zuftände
entfpringen, und um deren Erklärung man die Wiſſenſchaft ver-
karze, mern man fie unmittelbar auf eigene ihnen gewidmete Ver—
mögen zurüdführe. Gegen diefen Bormurf fih in allen Fällen zu
rechtfertigen, wird der Lehre von den Seelenvermögen nicht gelingen.
Sehen wir zum Beifpiel unter diefen auch Urtheilskraft und Ein-
bildungsfraft neben anderen aufgeführt, fo werben wir ohne Be-
denfen zugeben, daß diefe beiden nicht zu dem angebornen Befik
der Seele gehören, ſondern Vertigkeiten find, die fich durch die
Bildung des Lebens, die eine langſam, die andere fchnell, ent-
wideln. Wir werben zugleich zugeftehen, daß zur Erflärung ihrer
Entftehung nichts als die Geſetze des Vorftellungslaufes nöthig
find, nad denen jede erworbene Wahrnehmung im Gedächtniß
beharren, und nachdem fie dem Bewußtſein verſchwunden ift, durch
Erneuerung anderer, mit denen fie früher verbunden mar, der Er—
innerung wiedergegeben werben kann. Im der Seele, bevor fie
Erfahrungen gemacht bat, werden wir die Fähigkeit nicht fuchen,
Aehnlichkeiten und Unterfchiede der anfommenden Eindräde mit
Leichtigkeit und Schärfe aufzufaflen und jeden fofort unter Die al-
gemeinen Gefichtspunkte unterzuoronen, die feinem Inhalte entipre=
hen. Aber jede im Gedächtniß feftgehaltene Wahrnehmung, durch
eine neue Ähnliche wieberermedt, führt auch Die anderen mit ihr ver-
bundenen in das Bemußtfein zurlid, die dem neuen Eindrud fremd
find, und fo fordert fle auf zu fondernden und verbindenden Berglei=
Hungen. Jede Wiederholung diefer einfachen Vorfälle vermehrt die
Anzahl der Geſichtspunkte, deren Erinnerung fpäter neuen Beobadh=
tungen entgegenfommt und ihre Ginorbnung in den Kreis ver⸗
wandten Inhaltes begänftigt. So entwidelt fih allmählich und
198
wachſend die Sicherheit des Urtheils, indem Schritt für Schritt
jede neu erworbene Erfenntniß zu dem Stamme von Einficht ge=
ſchlagen wird, durch deſſen zunchmende Verzweigung die anfangs
ſchwierige und oft fruchtlofe Arbeit zulegt mit der Leichtigkeit eines
fcheinbar angeborenen Bermögens erfolgt. Noch weniger möchten
wir von einer urſprünglich fertigen Fähigkeit die Leiftungen ber
Einbildungskraft abhängig machen, Leiftungen von fo buntfarbig
verichiedenem Anſehen, daß zu ihrer Ausführung weit weniger die
Folgerichtigkeit einer einzigen an ein beftändiges Wirkungsgefeg ge=
bundenen Kraft, als vielmehr eine allgemeine Ungebundenheit der
Kräfte förderlich ſcheinen Könnte. In der That freilich Tiegt der
Grund diefer Fähigkeit nicht in einer ſolchen Geſetzloſigkeit, aber
doch darin, daß nicht eine beſondere Kraft ihre Erfolge vermittelt.
Eine glüdlihe Mannigfaltigfeit der gemachten Erfahrungen bat
dem Borftellungslauf einen hinlänglichen Reichthum von Eindrüf-
fen zugeführt, mit denen er fchalten kann; günftige andere Umftände,
der Eörperlichen Bildung und dem geiftigen Naturell angehörig,
vereinigen fich zugleich, um feinem Spiele alle jene Beweglichkeit
zu laſſen, mit welcher er von ſelbſt die mannigfachſten Verbin-
dungen der VBorftellungen erzeugt, Verwandte einander anklingen
Yäßt, Entgegengefetes contraftirt und angefangene Gedanfenreihen
fortfegt. So haben dieſe beiden Vermögen ihre Geſchichte; mir
können ihre Ausbildung durd die machfende Erfahrung, ihre Ver—
fümmerung durch ärmlichen Inhalt der Eindrüde, ihre Mißleitung
durch einfeitige Führung des Lebens und krankhafte Hemmungen
verfolgen, und zur Erflärung diefer Ereigniffe bedürfen wir nicht
der Annahme befonderer Anlagen, die diefen Leiftungen gewidmet
- wären. Beide jegen zur Durchführung ihrer Verrichtungen die
Thätigfeit anderer Vermögen voraus; aber ihre eigenen Arbeiten
laſſen fih aus dieſen auch vollftändig begreifen.
Laßt fih nun diefelbe Betrachtung weiter fortfegen, fo daß zus
legt nur eine einzige urfprängliche Aeußerungsweiſe der Seele zu⸗
199
rüdbliebe, aus deren gemeinfamer Wurzel die übrigen fheinbaren
Bermögen hervorwüchſen? Sind diefe vielleicht den Blättern, Ylü-
then und Früchten ähnlich, die, ſämmtlich Erzeugniffe derjelben Trieb—
kraft, ihre abweichenden Formen theils der Berfchiedenheit der äuße⸗
ren Reize verdanken, theils der Gunft der Umftände, die dem höheren
Erzeugniß geftattet, die Vollendung des nächſtniedrigeren zu feinem
Ausgangspunkt zu nehmen? Dieſe Frage bat die frühere Pfycho-
logie verneint; fie bat vor Allem geglaubt, daß Gefühl und Wille
eigenthümliche Elemente enthalten, welche weder aus der Natur des
Borftellens fließen, noch aus dem allgemeinen Charakter des Be-
wußtſeins, an dem beide mit diefem zugleich Theil haben; dem Ber-
mögen de8 Vorſtellens wurden fte deshalb als zwei chenfo urſprüng⸗
liche Fähigkeiten zugefellt, und neuere Auffafjungen fcheinen nicht
glüclich in der Widerlegung der Gründe, die zu Diefer Dreiheit
der Urvermögen veranlaßten. Zwar nicht das können wir behaup-
ten wollen, daß Vorftellen, Gefühl und Wille als drei unabhängige
Entwicklungsreihen mit geſchiedenen Wurzeln entfpringend ſich in
den Boden der Secle theilen, und, jede für fi fortwachiend, nur °
mit ihren Testen VBerzweigungen fih zu mannigfaden Wechſel⸗
wirkungen berühren. Zu deutlich zeigt Die Beobachtung, daß mei-
ſtens Ereigniffe des Vorftellungslaufes die Anknüpfungspunfte ber
Gefühle find und daß ans diefen, aus Luft und Unluft, fich
begehrende und abftoßende Strebungen entwideln. Aber diefe offen
" vorliegende Abhängigkeit entfcheidet doch nicht darüber, ob hier das
porangehende Ereigniß in der That als die volle und hinreichende
bewirkende Urſache aus eigener Kraft das nachfolgende erzeugt,
ober ob ed nur als veranlaffende Gelegenheit dieſes nach fich zieht,
indem c8 zum Theil mit dev fremden Kraft einer unferer Beobach⸗
tung entgehenden, im Stillen mithelfenden Bedingung wirkfam
ift. Die genauere Zergliederung des gegebenen Thatbeftandes
muß diefen Zweifel befeitigen. Wo es uns gelingt, in dem Ges
gebenen Punkt für Punkt alle Keime und Beftanbtheile des Künf-
tigen zu finden und diefe Keime zugleich in ihm in einer Bewe—
gung anzutreffen, aus deren Fortfegung von felbft Die neue Geftalt
a
des fpäteren Erfolges ſich herausbilden muß, da werden wir Das
Frühere als die genügende Urſache deſſelben betrachten Dürfen.
Wo der Erfolg dagegen einen Reſt zeigt, der nicht aus den bedingen-
den Umftänben fich erzeuigen läßt, fondern fremd zu ihnen Hinzutritt,
da merben wir fohließen, Daß jene Umftände allein nicht den vollſtän⸗
bigen Grund der fpäteren Erſcheinung enthielten, fondern daß un⸗
beobachtet von und eine außer ihnen liegende Bedingung, die wir
nun aufſuchen müfjen, zu ihrer Ergänzung hinzugetreten war. -
Die Vergleihung jener geiftigen Erſcheinungen nöthigt ung,
wenn wir nicht irren, zu dieſer Iegteren Annahme. Betrachten wir
die Seele nur als vorftellendes Weſen, jo werben mir in feiner
noch fo eigenthümlichen Lage, in welche fie dur die Ausübung
dieſer Thätigfeit gertethe, einen hinlänglichen Grund entdeden, der
fie‘ nöthigte, nun aus diefer Weife ihres Aeußerns hinauszugehen
und Gefühle der Luft und Unluft in fich zu entwideln. Allerdings
Tann e8 fcheinen, als verftände im Gegentheil nichts fo jehr fich
von felbft, als daß unverfühnte Gegenfäge zwiſchen mannigfadhen
-Borftelungen, deren Widerftreit der Seele Gewalt anthut, ihr
Unluft erregen und Daß aus diefer ein Streben nad heilender
Berbeflerung entfpringen mäffe. Aber nur uns feheint dies fo,
Die wir chen mehr als vorftellende Wefen find; nicht von jelbft
verfteht fi) die Nothwendigkeit jener Aufeinanberfolge, fon=
bern fie verfteht fih aus dem allgemeinen Herfommen unfjerer
inneren Erfahrung, die und längſt an ihre thatſächliche Unver-
meiblichfeit gewöhnt hat. Diefe allein läßt ung darüber hinwegſehen,
daß in Wahrheit bier zwiſchen jedem vorangehenden und dem folgen-
den Gliede der Reihe eine Lücke ift, die mir nur durch Hinzunahme
einer noch unbeobachteten Bedingung ausfüllen Binnen. Schen wir
ab. von diefer Erfahrung, fo würde die blos vorftellende Seele
feinen Grund in fi finden, eine innere Veränderung, wäre fie
ſelbſt gefahrdrohend für die Fortdauer ihres Dafeins, anders als
mit der gleichgültigen Schärfe der Beobachtung aufzufafien, mit
ber fie jeden anderen Wiberftreit von Kräften betrachten würde;
entftände ferner aus anderen Quellen doch neben der Wahrneb:
201
mung noch ein Gefühl, fo wiirde wieber die blos fühlende Seele
jelöft in dem höchſten Schmerze weder Grund noch Befähigung in fich
finden, zu einem Streben nad) Veränderung überzugeben; fie würde
leiden, ohne zum Wollen aufgeregt zu werden. Da dies nun nicht fo
it, und damit es anders fein könne, muß die Fähigkeit, Luft und
Unluft zu fühlen, urſprünglich in der Seele liegen, unb bie
Ereigniſſe des BVorftellungslaufes, zurückwirkend auf die Natur
der Seele, weden fie zur Aeußerung, ohne fie erft aus fi
zu erzeugen; welche Gefühle ferner das Gemüth beherrſchen
mögen, fie bringen nicht ein Streben hervor, fondern fie
werden nur zu Beweggründen für ein vorhandenes Vermögen
des Wollen, das fie in der Seele vorfinden, ohne «8 ihr jemals
geben zu können, wenn es ihr fehlte. Diefe Heberzeugung wilrben
wir keineswegs fiir erfegt halten durch ein Zugeftänpnif, mit
dem man und entgegentommen könnte: daß ja allerdings irgend
eine thatſächliche Lage des Vorftellungsverlanfes noch nicht felber
das Gefühl der Luft oder Unluſt oder das Streben fei, das aus
ihr heworgehe, daß aber doch eben Gefühl und Streben nichts
Anderes ſeien, als die Formen, unter welchen jener Thatbeftand von
dem Bemußtfein aufgefapt werde. Wir würden vielmehr hin-
zufigen müfjen, daß gerade biefe Formen der Auffaffung nicht
unbedeutende Beiwerke find, deren man gelegentlich gedenken
könnte, als fpielten fie nur neben jenem Thatbeftand des Vorſtel⸗
Inngslaufes, in dem allein das Wefen der Sache läge, nebenher;
das Wefentliche Liegt hier vielmehr eben in dieſer Art des Er-
ſcheinens. Als Gefühle und Strebungen find die Gefühle und
Strebungen von Werth fir das geiftige Leben, deſſen Bedeutung
nicht darin befteht, daß allerhand Verwicklungen der Borftelungen
eintreten, die beiläufig unter jenen Formen zum Bewußtfein kom⸗
men, fonbern darin, daß die Natur der Seele im Stande ift, ſich
irgend etwas als Gefühl und Streben erfheinen zu lafſen.
So wärben nun diefe drei Urvermögen ſich als ftufenweis
höhere Anlagen barftellen, und die Aeußerung ber einen die Thä-
tigkeit der folgenden auslöfen. Aber dies wird doch nur dann
202
die Vorſtellung fein, die wir von ihnen erwecken wollen, wenn wir feft-
halten, daß uns in dem Wefen der Secle dennoch für Eines gilt,
was für unfere Erkenntniß in diefe Dreibeit auseinderfällt. Nicht
fo ſtückweis tritt fie felbft in ihre Aeußerungen ein, daß einer ihrer
Theile erwachte und die anderen fortſchlummerten; in jeber Form
ihres Wirken ift vielmehr die ganze Seele thätig; fie läßt ſchon
im Vorſtellen nicht nur eine Seite ihres Wefens wirken, fondern
gibt dem ganzen einen einfeitigen Ausdruck, weil fie einer beftimm-
ten Anregung nicht mit allen, fondern nur mit einer beftimmten
Möglichfeit der Heußerung antworten Tann. Bergleichen wir die
Bier mit der Fünf, fo zeigt fie ſich um eine Einheit Feiner, aber
unaufgefordert fegt fie nicht Hinzu, daß fic auch die Hälfte der
Acht und das Doppelte der Zwei fei; es bedarf neuer Vergleich-
ungen, damit fie auch an diefe Berhältniffe erinnere; aber in jedem
berfelben drückt fich doch die ganze Natur der Bier aus, nur einfeitig
nach der Richtung allein, in welcher ihr Beranlaffung gegeben war.
Oder kehren wir noch einmal zu einem früher gebrauchten Ver:
gleiche zurüd. Faſſen wir einen bewegten Körper in einem einzigen
Punkte feiner Bahn ins Auge, fo kann Niemand fagen, mit welcher
Richtung und Geſchwindigkeit er durch ihn hindurch geht, und den⸗
noh wirkt in ihm aud in diefem Augenblide vollftändig die
Bewegung, welche über die Fortfegung feiner Bahn im nächſten
entſcheidet. Beobachten wir die Scele nur in ihrem BVorftellen,
jo liegt in Diefem einen Element ihres Lebens filr und nicht ihre
ganze Natur ausgefprochen, aus der im nächſten Augenblide ver
Uebergang in Gefühl und Streben erfolgen kann; dennoch tft auch
in dieſem Bruchſtück ihres Entwidlungsganges diefe volle Natur
wirffam vorhanden. ine göttliche Einficht würde nicht erſt aus
einem ausgebehnten Theile feiner Bahn die Bewegung eines Kör-
pers erkennen, fondern fie unmittelbar in jedem untheilbaren Punkte
anſchauen; fie würde chen fo im jeder einzelnen Aeußerung ber
Seele ihre ganze Natur gegenwärtig fehen und die Nothiwendig-
feit in ihr wahrnehmen, welche unter anderen Bedingungen zu
anderen Formen der Wirkſamkeit führen muß. Unferer menſch⸗
203
lichen Erfenntniß bleibt nichts übrig, als dieſe Fälle nah und
nad zu erihöpfen und eingebent zu fein, daß, wo wir eine Mehr:
heit der Anlagen fehen, dennoch in der Natur der Seele nur die
Einheit eines Wefend zu Grunde liegt. Indeſſen haben wir
doch nicht Urfache, dieſe Annahme verſchiedener Vermögen lediglich
als einen Behelf für die Schwäche der menfchlihen Erkenntniß
anzufehen; fie entfpricht vielmehr in gewiſſem Sinne dem Weſen
der Sache. Auch eine göttliche Einſicht fände vielleicht in dem
Begriffe des Vorſtellens allein keine Nothwendigkeit, um deren
willen das Gefühl aus ihm folgen müßte; fie würde nur in dem
ganzen vernünftigen Sinne des Seelenlebens klarer als wir den
Grund jehen, der beiven Erfcheinungen zufammenzufein und auf
einander zu folgen gebictet, gleich der belebenden Idee eines Ge-
dichtes, die feft und mit zwingender Gewalt mannigfache Beftand-
theile an einander feffelt, deren feiner aus eigener Macht den
anderen aus fich entmidelt hätte.
Bielleicht zu lange ſchon haben wir diefen Ucherlegungen nad:
gehangen, aber fie treffen fo jehr Die wefentlichften Vorftelungen,
bie unferen Gedanken über das Leben der Seele zu Grunde
liegen, daß wir noch einen Augenblid bei der allgemeinen Anſicht
ber inneren Ereigniffe verweilen müffen, die als nächte Folge aus
ihnen hervorgeht. Wir haben erwähnt, daß jede Auffaffung zulegt
mit ber Anerkennung einer Bielbeit auf einander nicht zurüdführ-
barer Aeußerungsweiſen der Seele ſchließt. Eine Lehre, welcher
die Piychologie große Fortſchritte verdankt, beſchränkt jedoch dieſe
Anerkennung auf jene Rückwirkungen, gjucldhe die Seele in un-
mittelbarer Wechſelwirkung mit äußeren Reizen entiwidelt, auf die
einfachen Empfindungen. Diefe urjprünglichften Aeußerungen,
mit denen das. Reben der Seele anhebt, betrachtet auch fie ale
nit zurüdführbear anf einander, und fie meint nicht, jagen zu
Tünnen, warum das Wefen, dem Licht und Farben ericheinen,
u /
204
andere Eindrüde als Töne auffaflen mäüfje. Alle anderen höheren
Tätigkeiten dagegen, die in der Verarbeitung und der gegenfeitigen
Wechſelwirkung diefer inneren Zuftände entftchen, follen zugleich
auch ‚völlig and ihnen entftehen; nachdem die Seelc einmal jenes
urfprünglide Material, die Welt der Empfindungen, aus ihrer
Ratur erzeugt, zieht ſich ihre wirkende Thätigfeit zurück; fie über:
läßt dieſe Erzeugnifle ihres Thuns fich felbft und den allgemeinen
Geſetzen ihrer Wechfelwirtung, ohne wieder mit ihrer vollen Natur
ſelbſt handelnd einzugreifen und den berbeigeführten Verhältnifſen
neue Wendungen zu geben, bie nicht von felbft aus ihnen nad
der Folgerichtigkeit ihres mechaniſchen Verlaufes hervorgingen.
So tft die Scele nur noch der Schauplag fr das, was zwifchen
ben Empfindungen und Vorſtellungen geſchieht, allerdings ein
folder, der alles auf ihm Geſchehende mit Bewußtſein begleitet,
aber ohne viel anderen Einfluß darauf auszuüben, als den des Um-
fafiend und Zufammenhaltens, womit jeder Rahmen bem um⸗
hloffenen Gemälde dient. Dies ift der Punkt, dem unfere Be—
tradgtungsweife entgegen treten möchte. Nicht nur einmal, nicht
nur in der Entwidlung der einfachen Empfindungen ift Die Seele
in dieſer ſchöpferiſchen Weiſe thätig; mögen dieſe erften Exrzeugniffe
immerhin einem gefeglihen Mechanismus anheimfallen, und der
Lauf der Borftellungen feine Verknüpfungen und Trennungen,
fein Bergefien und Wiedererinnern von felbft und ohne einen
neuen Eingriff der Seele zu Stande bringen, fo ift doch damit
das geiftige Leben nicht abgefchloffen, und die höheren Thätigfeiten,
auf denen fein Werth beruht, gehen aus dieſem mechaniſchen
Treiben nicht von ſelbſt hervor. Der ganze nothmendige Ab-
lauf dieſer inneren Ereigniffe erzeugt nur Veranlaffungen, bie
dadurch allein, daß fie auf Das ſtets gegenwärtige ganze Weſen
der Seele zurückwirken, aus Diefem neue Formen der Wirkung
hervorlocken, die fie für fih allein nicht erzeugt hätten. Gegen
jeden einzelnen ihrer inneren Zuftände befindet ſich die Seele ın
derfelben Tage, in welcher fie fich gegenüber den äußeren Empfin—
dungsreizen befand; auf jeden kann fie mit einer Geftalt der
205
Thätigfeit antworten, die wir nicht aus jenen Zuftänden ableiten
fönnen, weil fie in der That nicht im ihmen allein liegt, die wir
vielmehr an diefe Zuftände nur anfnüpfen können, nachdem une
die Erfahrung gelehrt Hat, daß eben biefe neue Form des Wir-
tens e8 ift, bie von ihnen als Reizen einer höheren Ordnung in dem
Weſen der Seele gewedt wird.
Bir wollen nicht vermeiden, denſelben Gedanken noch ein-
mal fo zu wiederholen, wie ihn eine naheliegende und doch gefähr-
liche Vergleichung des geiftigen Lebens mit der Entwidlung eines
organischen Gefchöpfes anregt. Die Seele bildet ſich nicht fo aus,
wie bie Pflanze. Die Geftalt der Iegteren gebt aus einer An-
zahl wefentlich geſchiedener felbftändiger Theile hervor, die äußer-
lich in beftimmter Form verbunden, nad den allgemeinen Geſetzen
bes Raturlaufes die fortjchreitende Geftaltung heroorbringen;
und auch das Leben der vollendeten Pflanze ift eine Summe von
Wirkungen, die zwifchen verſchiedenen, felbftänpig bleibenden
Theilen gejchehen und, wie das Leben einer Geſellſchaft, beftimmte
Formen des Verlaufs durch die Stellung und die Thätigfeit ihrer
zuſammenwirkenden Glieder annehmen. Solchen Theilen fünnen
wir die einzelnen Elemente des Seelenlebend nur mit vorfichtiger
Beſchränkung vergleihen; denn dieſe Elemente find nicht jelbflän-
dige Atome, jondern ftetd doch nur Zuftände des einen Weſens,
aus dem fie nicht heraustreten können. Für fie gibt es Daher
nicht einen gleichgüiltigen Schauplag, auf deſſen theilnahmlojem
Grund und Boden fie ungeftört fi ihren Wechſelwirkungen über:
laſſen Könnten, einzig den Geboten eines allgemeinen Mecdanis-
mus unterworfen. Für ihr fpätered Verhalten ift vielmehr auch
der Boden reizbar, auf dem fie fich bewegen; nicht nur einmal
bat die Natur der Seele fie hervorgebracht und entläßt fie dann,
jo wie man ſich oorftellt, daß Die Erde die Thiere erzeuge, um
ihren „freien ‚Bewegungen Fünftig nur als gebuldiger Schauplag
zu dienen; fie fühlt vielmehr jeden Schritt, den der Verlauf ber
Borftellungen in ihr thut, und durch ihn gereizt, tritt ſie hier
und da wieber ſelbſthandelnd hervor und führt in das fcheinbar
206
fich felbft überlafiene Getriebe derfelben neue Elemente ein, deren
Grund wir vergeblih in diefem allein ſuchen würden. Dies ift
feine Gefetzlofigfeit, fondern jene ©cjeglichkeit von mehr verwickelter
Form, die wir früher fhon als einen allgemeinen möglichen Fall
bezeichneten, und von welcher nur die Erfahrung uns verfidhern
fonnte, daß fie in der körperlichen Welt nicht in diefer Weife
ftattfinde. In der Entwidlung des Organismus ift daher der
Erfolg, den die Wechſelwirkung zweier Elemente haben wird,
völlig beftimmt durch Die allgemeinen Gefege des Naturlaufes
und die gegebenen Umftänbe des Augenblids; in dem geiftigen
Leben dagegen ift zu jeden zwei Zuftänden und zu den Gefegen,
die über ihre Werhfelwirkung gelten, die Natur der Seele ein
beftändig vorhandenes viertes Glement, das den kommenden Er-
folg jo mitbedingt und umgeftaltet, wie etwa die Berüdfihtigung
eines wiberftehenden Mittel8 die Berechnung einer Bewegung
umändern kann, die für einen lecren Raum gemacht worden war.
Es wird allerdings Reiben von Ereigniffen in unferem Innern
geben können, in deren Verlauf biefed vierte Element nicht um—
geftaltend eingreift, und diefe werden in einem fortlaufenden
Mechanismus fih völlig auseinander zu entwideln fcheinen; aber
nur eine genaue innere Beobadhtung kann uns über die Aus-
behnungsgrenzen dieſes Verhaltens aufklären, deſſen Vorkommen
allgemein anzunchmen wir nicht berechtigt find.
Wir verlaffen diefe Betrachtungen, aus denen einige Fol-
gerungen zu ziehen fpäteren Gclegenheiten aufgehoben bleibt, und
wenden uns einem längft zu erwartenden Zweifel zu, der an eine
ftillichweigend von uns benutzte Vorausjegung anknüpfen wird.
Offenbar ift fiir uns die Seele unter den Begriff eines teizbaren
Weſens gefallen. Nicht von felbft und ohne fremde Anregung
ftrebt ihre Natur zur Thätigkeit oder vermag fie, fih Ziel und
Richtung ihres Thuns vorzuzeichnen, fondern Eindrüde, die von
207
außen an fie gelangen, rufen fie zu Rückwirkungen auf, aus deren
weiteren Wechfelmirfungen die Mannigfaltigfeit des inneren Lebens
entipringt. Der eigenen Natur der Seele gehört dabei die eigen-
thümliche Form der Aeußerung an, fie bleibt die Quelle bes
Empfindens, der Gefühle, des Strebend; in den Reizen Tiegen
nur die Beweggründe, welche die beftimmte Reihenfolge ihrer
Aeußerungen bedingen und ihren an ſich unentfchiedenen Fähig—
feiten ihre Richtung geben. Aber wir können diefe Vorftellungen
nicht hegen, ohne, wie es fcheint, dem Wefen der Scele eine
Beränderlichfeit zugufchreiben, die uns in Widerfprucd mit jener
ftrengen Einheit zu bringen droht, in welde für Veränderung
fein Plag zu fein ſcheint. Wir können diefe Folgerung nicht
ablehnen; gewiß wird nur dann ein äußerer Reiz ein] zwingender
Beweggrund für die Entfaltung einer Rückwirkung fein, wenn er
im Stande gewefen ift, einen wirklichen Eindrud auf die Seele
hervorzubringen, von dem ihr Wefen etwas leidet. Nicht Die
bloße Drohung der Störung kann die Seele zur abwehrenden
Thätigfeit aufregen; denn jede Drohung, jo lange fie von dem
Bedrohten nicht empfunden wird, tft nicht für ihn vorhanden;
fobald fie ihm merklich wird, ift fie bereit8 zu einer Veränderung
feines Wefend geworden. Widerſpricht e8 den Gefegen unſeres
Denkens, aus der ſich gleichbleibenden Einheit eines Weſens von
ſelbſt Antriebe zu vielfältigen Handlungen hervorgehen zu laſſen,
fo ift e8 nöthig zuzugeben, daß die Seele, indem fie handelt, eine
andere ift, als zuvor, da fie rubte; denn nur weil fie verändert
ift, Kann fie der binlänglihe Grund für ein verändertes Ber:
halten fein. |
Es wird nicht möglich fein, Ddiefer Forderung zu entgehen
und von der Seele die Beränberlichkeit durch denſelben Runft-
griff abzuhalten, durch welchen Die Naturwiſſenſchaft die materiellen
Atome als völlig ſtarre und unwandelbare Träger der verjchieden-
artigften Erſcheinungen auffaffen Tann. So wie für unfer Auge
entfernte Gegenftände, im Raum zufammenrüdend, zu einem
Eindrude verfchmelzen, näher fommend fich wieder in die Vielheit
208
einzelner Theile auflöfen, fo mag überhaupt der Naturlauf fir
uns, die Beobadter, cine Menge ſcheinbarer Veränderungen ber-
beiführen, in denen doch in Wirklichkeit die äußeren Gegenftände
geblieben find, was fie waren. Indem dic Atome, innerlid
vollfommen unmandelbar, in wechlelnde und mannigfaltige äußere
Beziehungen zu einander gerathen, ihre Lage, Entfernung, Be:
wegung beftändig ändern, bringen fie auf uns Eindrücke ebenfo
wechfelnder Art hervor, und in der That flarr und undburd-
dringlich, feheinen fie für unfere zufammenfaflende Beobachtung
dald zu verſchmelzen, bald ſich zu trennen, bald in ihren Eigen-
haften völlig andere zu werden. Allein wenn wir auf dieſe
Weife die Veränderungen in der äußern Welt auf einen nur in
und erzeugten Schein zurüdführen, während die Wirflichfeit nur
unwefentlihe Beziehungen der unmandelbaren Elemente wechſele,
fo Können wir doch nicht wieder auch die Entſtehung dieſes Scheines
in und nur für einen Schein erflären, der einem zweiten Beobachter
wohl eine Aenderung unferes Weſens einzuſchließen ſcheine, ohne
daß fie wirflih in ung ftattfinde. Das beobachtende Weſen er-
fährt vielmehr wirflic eine Veränderung, nicht feiner äußeren
Lage, fondern feines inneren Zuftandes, wenn es vorftellend den
Wechjel des Aeußeren auffaßt und von einer Vorftellung zur
audern übergeht. Könnte es daher gelingen, die Beränderlichfeit
aus der ganzen Äußeren Welt zu entfernen, fo würde fle um fo
unvermeiblider an dem Wefen der Scele haften. Geben wir
deshalb dieſe Veränderlichleit zu und machen wir nicht den hoff-
nungslofen Berfuh, einen Kunftgriff zu entdeden, durch welchen
die Eigenſchaft einer unftörbaren Unveränderlichfeit verträglich
würde mit der Beflimmung cines Wefens, das zu einer inneren
Entwidlung berufen if. Wir glauben nicht durch dieſes Zuge⸗
ſtaͤndniß etwas einzubüßen, was wir im Intereſſe der Unterfuchung
beibehalten müßten. Suchen wir zu einem reife von Er—
fheinungen ein Weſen, das ihr Träger fei, fo müffen wir es
wohl feft und felbftändig genug denfen, damit es den mannigfal-
tigen Ereigniffen an fih einen haltbaren Stägpunft biete, aber
209
ihm jene unerfhätterliche Starrheit völliger Unbeweglichkeit beizu=
legen, haben wir feinen Grund; wir würden dadurch feinen Be-
griff vielmehr unbrauchbar machen. Indem wir einfeitig für feine
deftigfeit forgten, hätten wir c8 untauglich gemacht, Die viel
weientlichere Beſtimmung zu erfüllen, ein Mittelpunft der aus:
und eingehenden Wirkungen zu fein, aus denen der zu erflärende
Kreis von Ereigniffen befteht. Nur Weniges werben wir hinzu:
fügen müffen, um die Beforgniffe zu zeritreuen, die ſich an dieſe
Borftellung einer veränderlihen Seele knüpfen möchten.
Sie ſchließt vor Allem nicht Die Gefahr eines planloſen An-
derswerdens, einer beftändigen Aufeinanderfolge immer neuer Zu-
ftände ein, in deren Flucht alle Einheit des urfprünglichen Weſens
zu Örunde ginge. Kein Ding in der Welt ift ein gleichgültiger
kraftlofer Stoff, To daß nur äußere Eindrücke ihın feine Beichaffen-
beit gäben und er felbft nur als das Mittel diente, durch die
Härte feiner Realität diefen wechfelnden Inhalt in der Wirklichkeit
zu befeftigen, dem Hafen gleich, deſſen Haltbarkeit theilnahmlos
die verfchiedenften Gewänder tragen Tann. Kein Ding läßt ſich
durch die Reihenfolge äußerer Einwirkungen fo aus einer Geftalt
in die andere treiben, daß am Ende einer Anzahl von Mietamor-
phofen in dem völlig neu gewordenen Feine Erinnerung mehr an
feine frühere Natur zu finden wäre. Das, was ein Weſen zu:
nähft nur von außen zu leiden ſcheint, ift in Wirklichkeit doch
allemal eine Aeußerung feiner eigenen thätigen Natur, nur an-
geregt, aber nicht gemacht durch den fremden Anſtoß. In jedem
Augenblide feines Veränderungslaufes ift Daher der gegenwärtige
Zuftand eines Weſens zugleich eine mitwirffame und vieleicht die
mächtigſte Bedingung, welche den Erfolg des nächſtkommenden Ein-
druckes mitbeftimmt. Nichts hindert und num, Die urſprüngliche
Natur eines Weſens mächtig genug zu denfen, damit duch alle
Ölieder einer ausgedehnten VBeränderungsreihe ihr Einfluß als der
kräftigfte fortwirtt, und fie alle dadurch in einen folgerihtigen Zu—
ſammenhang treten, dem innere Einheit fo wenig fehlt, als ber
Melodie, die fih in einer Vielheit fi folgender Bartationen ent-
Loge l. 3. Aufl. 14
210
widelt. Ich weiß nicht, was und antreiben könnte, von einer Sub⸗
ftanz, die wechſelnden Erſcheinungen zu Grunde liegt, mehr ale
diefe Art der Einheit mit fich felbft zu fordern; die Seele aber
leiftet dennoch mehr. Sie iſt nicht allein der Träger ihrer Yu-
ftände, fondern fie weiß ſich auch als folden; und indem fic
im Gedächtniß das früher Exlebte neben den Eindrüden ber
Gegenwart aufbewahrt, bietet fie nicht allein für einen Beobachter
außer ihr das Schaufpiel einer folgerichtigen Veränderungsreihe,
fondern faßt in fich felbft die verfchiedenen Entwicklungen ihres
veränderlichen Weſens in eine Einheit von höherer Bedeutung zu:
fammen, als fie je der unergiebigen Starrheit einer unftörbaren
Subftanz zukommen würde.
Wir haben hiermit nur die allgemeine Form der Vorſtellung
angedeutet, in welcher wir dieſe Frage faſſen würden. Eine genaue
Ueberſicht der wirklichen Erſcheinungen des Seelenlebens würde uns
zeigen, daß es noch lange nicht jenen großen Spielraum der Ber-
änderlichkeit befigt, den wir durch dieſe Vorſtellungsweiſe verhtfer-
tigen könnten. In der Natur, wie wir früher ſahen, findet feine
bleibende Veränderung der Atome ftatt, feine folde wenigſtens,
die fih dur neue Formen der Wirfung nad außen verriethe;
mit dem Aufhören der ändernden Bedingungen fehren die alten
Eigenſchaften wieder. Dies ift gewiß nicht überall fo im Seelen-
leben, deſſen Entwidlungsfähigfert vielmehr auf der Beroollfomm-
nung der Rückwirkungen durch die gewöhnende Uebung beruht.
Aber ein großes Gebiet finden wir doch fogleidh, in welchem die
Stetigfeit des Verhaltens ſich der Weife der phyſiſchen Wirkungen
nähert. Alle Sinneseindrüde, fo oft fie auch bereit8 wahrgenom-
men fein mögen, erweden Doch immer wieder diefelben Empfin-
dungen; immer bleibt das Roth roth, immer find Druck und Hitze
ſchmerzlich und diefelben förperlihen Bedürfniſſe ermeden ſtets wie-
der Diefelben Strebungen. Dies Alles jcheint fih fo von felbft
zu verftehen, daß es befremden mag, c8 erwähnt zu fehen. Im
der That aber ift doch jede einzelne Empfindung eine Veränderung
in dem Wefen ber Seele; daß ihre Natur nun die Fähigkeit be—
211
fist, alle die Erſchütterungen, welche zahllofe Eindrüde ihr beftän-
dig zuführen, fo auszugleichen, daß fie jedem fpäteren mit derſelben
Unbefangenheit entgegenkommen kann, diefe Thatfache verftehen wir
zwar leicht in ihrer Zweckmäßigkeit für die Aufgaben der geiftigen
Bildung, aber ihr mechanifches Zuftandelommen, wenn wir jo fagen
dürfen, begreift fich nicht von felbftl. Wir können diefelbe Stetig-
feit in den Gefegen bemerken, nad denen Gedächtniß und Er-
innerung die Vorftellungen fefthalten, verknüpfen und wieberbringen;
unverändert bleiben ferner die Berfahrungsweifen des Berftandes
in der Verknüpfung und Beurtbeilung der gegebenen Eindräde ;
überall fehen wir, daß die unzähligen Einflüffe, welche die Seele
nicht ohne innere Veränderung aufnehmen Tann, doch die Beftän-
digkeit und Tolgerichtigfeit der Kräfte nicht ftören, mit denen jie
ſich bearbeitend auf diefe Eindrücke zurückwendet; nur eine größere
Gewandtheit fcheint allen diefen Kräften mit Der wachfenden Uebung
zu Theil zu werben, durch melde fie mit den Berwidlungen der
Gegenftände ihres Angriffs vertraut geworden find. So wenig
fehen wir alfo die Veränderung der Seele fafjungslos ins Unbe—
ſtimmte gehen, fo ſehr drängt fich vielmehr Die beftändige formgebende
Nachwirkung ihrer urfprünglichen Natur hewor, daß wir von
ihrer Veränderung überhaupt faft nur um des logiſchen Interefjes
willen ſprechen konnten, das uns ihre Entwidlung nit an den ihr
widerfprechenden Begriff innerlicher Unbewegtheit knüpfen ließ. In
Wahrheit aber, ihrer Bedeutung und ihrem Werthe nady ift Die
Solgerichtigfeit der inneren Entwidlung fo groß, daß fie ſtets uns
mehr das Bild beftändiger Gleichheit mit fi jelbft, als das
einer fortfhreitenden Umwandlung gewährt.
Worin aber befteht nun endlich das, was in diefer Entwid-
lung ſich gleich bleibt, worin jenes urfprüngliche Weſen und jenes
Was der Seele, deſſen nähere Darftellung der Anfang dieſes Ab-
ſchnittes zu verfprechen ſchien? Wir würden antworten: wie jedes
14*
212
Weſen fih nur nad den Folgen erfennen läßt, mit denen es in
unfere Beobachtung fällt, jo können wir aud von der Seele nur
fagen, daß fie das fe, mas die Fähigfett zu diefer Entwidlung ın
fi) trage. Diefe Antwort wird Niemand befriedigen. Alle Bor-
ftellungen, alle Gedanken, Gefühle und Strebungen, würde man
und einmwenden, find nur Handlungen der Secle, durch irgend welche
Bedingungen ihr abgenöthigt; wir aber wollen wiſſen, nicht wie Die
Seele handle, fondern was fic an ſich fein möge, um fo handeln zu
können, und welches ihre urfprüngliche Natur fein müffe, um biefe Fä-
higfeiten in fich begen zu können. Auf diefe verfhärfte Frage könn—
ten wir am einfachften zugefteben, daß dieſes Was der Secle ung
ftet8 unbelannt bleiben werde; allein wir würden durch Diefes Zu—
geftändnig den Schein erweden, als ginge durch diefe Unfenntnif
und Bieles verloren, worauf unjere Unterfuhung Werth Iegen
müßte, und als wäre uns in Bezug auf die Seele eine Schivierig-
feit unlösbar, die ın Betreff aller anderen Dinge fi) mit Leichtig-
feit hinwegräumen ließe.
Wie wenig zunächſt das Letztere der Fall iſt, kann eine flüch—
tige Ueberlegung der Kenntniſſe lehren, die wir über das Weſen
natürlicher Dinge zu haben glauben. Wenn wir klagen, daß wir
die Natur der Seele nie ſo zu Geſicht bekommen, wie ſie an ſich
und abgeſehen von jeder einzelnen Bedingung iſt, welche ihr eine
beſtimmte Aeußerung entlockt, jo müſſen wir dieſelbe Klage viel-
mehr auf unſere Vorſtellungen aller Dinge ausdehnen. Wir denken
zu wiſſen, was das Waſſer iſt und was das Queckſilber, und doch
können wir keines von beiden durch beſtändige Eigenſchaften kenn⸗
zeichnen, die ihm abgeſehen von allen äußeren Bedingungen zu—
kommen. Beide ſind bei gewöhnlicher Temperatur flüſſig, beide bei
erhöhter gasförmig, beide bei erniedrigter feſt; aber was ſind ſie
abgeſehen von aller Temperatur? Wir wiſſen es nicht, wir fühlen
ſelbſt das Bedürfniß nicht, es zu wiſſen, da wir einſehen, daß nie
in der Welt einer von beiden Stoffen ſich dem Einfluſſe
dieſer Bedingungen ganz entziehen kann; wir begnügen uns
daher, das Waſſer als den Körper anzuſehen, der bei dieſer
213
beftimmten Temperatur feft wird, bei jener andern kocht, und
der außerdem feine Gleichheit mit fich felbft durch die beftändi-
gen Rückwirkungen bemweift, die er unter gleichen Bedingungen
immer gleich ausübt. Und baffelbe gilt von Allem, was wir finn-
lich beobachten. Alles nehmen wir anfänglich in einem feiner ein-
zelnen möglichen Zuftände wahr, den wir fo lange für feine volle
beftändige Natur halten, bis die Erfahrung uns lehrt, daß andere
Bedingungen andere Zuftände herbeiführen. Dann verknüpfen wir
die verſchiedenen Erfcheinungen unter einander als die wanbdel-
baren mehreren Formen eines und beffelben Wefens, welches wir
fortfahren mit demfelben Namen zu nennen, obgleid wir es nicht
mehr durch eine einzige beftimmte Eigenſchaft bezeichnen, ſondern
nur noch al8 das Unbelannte auffaflen innen, das fähig ift, in
diefem Kreife von Formen ſich bin und her zu verwandeln, ohne
jemals Doch aus ihm herauszutreten und in Anderes überzugehen.
Nichts fo Feſtes und Unmwandelbares gibt e8, das dieſem Schid-
ſal fich entziehen könnte; alle unfere Definitionen wirklicher Gegen
ftände find hypothetiſche, und fie bezeichnen unvermeidlich das Ber:
langte al8 dasjenige, was unter der einen Bedingung fo, unter
einer andern fich anders darftellen wird. Geben wir deshalb zu,
daß das Wefen der Seele unbekannt fei, fo thun wir es nur in
dieſem Sinne, welcher zugleich die Unmöglichkeit einfchließt, zu jagen,
wie das Weſen irgend eines Dinges fein werde, wenn man jebe
Bedingung entfernt denkt, welche ihm Gelegenheit zu irgend einer
Aeußerung gäbe. Sp unfagbar e8 ift, wie die Dinge im Finftern
ausfehen, fo widerfprechend die Forderung zu wiffen, mie Die Seele
ift, bevor fie in irgend eine der Tagen eintritt, innerhalb deren
allein ihr Xeben ſich entfaltet.
Doc nichts fcheint hierdurch gewonnen, als daß wir für die
Piychologie den Vorwurf der Unwiſſenheit mildern, indem wir ihn
über die ganze menſchliche Exrfenntniß ausdehnen. Aber wenn es
wahr ift, daß das Wefen der Dinge in diefem Sinne und unbe=
214
Fannt ift, ift e8 dann gleich wahr, daß wir durch dieſe Unkenntniß
viel verlieren, und müffen wir in dieſem Wefen, Das und entgeht,
eben das Wefentliche fuchen, welches wir nit vermiffen möchten ?
Ich glaube nicht, daß wir Diefe Frage bejaben dürfen, und in ver
That denken wir über fie im Leben anders, als wir in der Wiſſen⸗
haft zumeilen denten zu ımüffen glauben. In der Summe ber
Kenntniffe, in der Stimmung des Gemüthes, den Gefinnungen bed
Charakters und in der eigenthümlichen Wechſelwirkung diefer Ele⸗
mente unter einander glauben wir die volle Perfünlichkeit eines An-
beren gegenwärtig; hat unfere Menſchenkenntniß dieſen Beftand
durchdrungen, jo meinen wir nicht, daß unfere Einficht in das in-
nerſte Wefen des Menfchen noch gewinnen würde Durch Den Nadı-
weis defjen, was er urfprünglich war, che ex im Lauf der Bildung
dieſe Fülle feines inneren Dafeind gewann, oder was er jetzt noch
“im Grunde ift und als was er ſich jet noch zeigen wine, wenn
man alle diefe Ergebniffe des früheren Lebens zugleich mit allen
Bedingungen, die nun noch auf ihn wirken könnten, von ihm bin-
wegnähme. Wohl geben wir zu, daß dieſes geiftige Leben fich nicht
hätte entrwideln können, ohne daß cine uranfängliche noch äuße⸗
rungslofe Scele vorangegangen wäre, um fih dem Einfluffe der er-
wedenden Lebensbedingungen darzubieten; aber fie, die uns fonft
als das eigentlichſte und tieffte Weſen der Sache erſcheint, kommt
uns bier nur noch wie cine unentbehrliche, aber an ſich felbft würbe-
loſe Berbedingung, als ein vorauszuſetzendes Mittel zu dieſer Ent:
wicklung vor, in welcher felbft erft aller Werth und alle weſentliche
Bedeutung liegt. Darin ſcheint uns jest das wahre Wefen zu lie-
gen, wozu das fi Entwidelnde geworben if, und fo wenig wir
glauben, an der entfalteten und blühenden Pflanze ein Geringeres
zu befigen, als an dem einförmigen und geftaltlofen Keime, dem fie
entiprang, jo wenig find wir bier geneigt, die Vorftellungen, die wir
mitdenken, die Gefühle und Strebungen, die wir mit aller Wärme
unferer Theilnahme begleiten und mit empfinden, als einen färg-
lichen Exfag für die Anſchauung des unentfalteten urfprünglichen
Was der Seele zu bedauern.
215
Faͤllt e8 und num dennoch fo ſchwer, da8 Suden nach diefem
Unauffindbaken ganz aufzugeben, fo rührt Dies von einem andern
Berlangen ber, das fih in der Frage nad dem Wefen eines Din-
ge8 verbirgt. Nicht blos der Keim foll es fein, aus dem die fpätere
Erſcheinung ſich entfaltet, fo dag wir in ihrem Inhalt auch den fet-
nigen hätten; fondern das Weſen muß zugleich das fein, was jenen
Inhalt in der Wirklichkeit befeftigt, ihm, dein an ſich nur denkbaren,
jene harte und ſtarke Realität gibt, durch Die er als Wirkenves und .
Leivendes in der Welt der Dinge Plag nimmt. Das Wefen tft
zugleich das Band, das mit feiner unveränderliden Natur die ein-
zelnen Erſcheinungen an ſich verjammelt, es möglich macht, daß
unfere Vorftellungen und alle unfere inneren Zuftände ſich erhal:
ten, dauern und zu fruchtbarer Wechſelwirkung zufammenftoßen kön⸗
nen. So zeigt fih, daß wir in dem Wefen der Seele nicht allein
ben Grund für die Form und den Inhalt der inneren Entwid-
lung ſuchen, fondern noch mehr vielleicht die Urfache, die beiden
. Wirklichkeit gibt. Das iſt es, was wir wiffen wollen, wie es zu=
gehe, daß Dies innere Leben fein fann, durch welchen Zauber es
dem fchaffenden Weltgeift gelinge, in der Mitte dieſer wandelbaren
Ereigniffe etwas Unauflösliches Teftes zu geftalten, das fie alle in
fich heat, an fich trägt und ihmen den Halt des Dafeins gibt, dem
Gerippe ähnlich, an deſſen Starrheit die blühende Fülle der Ge:
ftalt befeftigt ift. Diefe Frage natürlich ift jevem Nachdenken un⸗
löslich; nie werben wir entdeden, wie Sein und Dafein gemacht
wird, oder was das ift, woraus die Dinge beftehen. Aber dieſe
Frage wäre auch nur dann wichtig für und, wenn unfere Erfennt-
niß die Aufgabe hätte, die Welt zu fehaffen. Ihre Beftimmung
ift es jedoch nur, das Vorhandene aufzufaffen, umd gern geftebt
fie fih, daß alles Sein ein Wunder ift, das als Thatſache von
ihr anerkannt, aber nie in der Weife ſeines Hergangs enträtbfelt
werben kann. Im diefem Sinne ift das Defein aller Dinge fr
uns unergründlidh; aber Diefer Reft, ven unfer Wiffen läßt, befteht
nicht in dem Kerne der Dinge, fondern eher in einer Schale, nicht
m dem Inhalte ihres Wefens, fondern tn der Art der Setzung,
216
durch welche c& beftcht. Was die Dinge find, ift und deshalb
nicht unverſtändlich; denn Diefen Inhalt entfalten fie in ihrem Er-
ſcheinen; wie fie überhaupt fein und erfcheinen Können, ift das
allen gemeinſchaftliche Raͤthſel.
Drittes Kapitel.
Von dem Verlaufe der Vorſtellungen.
Das Beharren der Vorſtellungen und ihr Vergeſſenwerden. — Ihr gegenſeitiger Drud
und die Enge des Bewußtſeins. — Die verſchiedene Stärke der Empfindungen. —
Klarheitsgrade der Erinnerungsbilder. — Der Gegenſatz der Vorſtellungen. — Der
innere Sinn. — Leitung des Vorftellungslaufes durch bie Geſetze der Aſſociation und
Reproduction.
So wie im leiblichen Leben cine Zeit unbeobachteter Wirk—
ſamkeit vorangeht, in der überraſchende Neubildungen und Um—
geſtaltungen ſich drängten, während nach der Geburt kaum mehr
als ein gleichförmiges ſtilles Fortwachſen längſt feftgeftellter Formen
übrig bleibt, ſo finden wir auch in unſerer Seele die bleibenden
Gewohnheiten ihres Wirkens ſchon als gegebene Thatſache vor,
ſobald wir zuerft mit abſichtlicher Aufmerkſamkeit ihre Entwicklung
zum Gegenſtand unſeres Nachdenkens machen. Was noch vor
unſeren Augen geſchieht, das ſcheint uns Nichts zu ſein, als eine
beftändige Uebung von Kräften, die längſt gebe find, ein
immer zunehmender Anfag von Erkenntniffen, in Formen gegoffen,
die aus früherer, unbewußt gebliebener Arbeit des Geiftes nun
ſchon fertig ihnen entgegenfommen, cine Ausbreitung endlich
unferer Gefühle und Begehrungen über den wachſenden Kreis
von Beziebungspunften, den die Erfahrung, von Tag zu Tag
fih mehrend, uns für fie darbietet. In allen diefen Vorgängen
liegen ohne Zweifel noch ſehr entſcheidende Gründe, welche die
eigenthümliche Geftalt und den Werth der höheren menfchlichen
Ausbildung bedingen; aber da, mo es fi noch nicht um die
Entjtehung der Humanität handelt, fondern um Natur und Ent-
widlung der allgemeinen Seelenfähigleiten, aus deren befonberer
217
Anwendung dieſe hervorgeht, da ſcheint die innere Beobachtung
und wenig Aufihluß zu verjprechen. Das Meifte von dem, was
wir wiffen möchten, Tiegt gleich den erften großen Bilbungsepochen
unfere® Erdkörpers vor aller Erfahrung, und nur dur Ber:
muthungen können wir von den verhältnigmäßig doch immer ein=
förmigen und beſchränkten Borgängen, die unfer Inneres noch jegt
bewegen, auf die Ereigniffe zurückſchließen, durch welche Die Urzeit
unferer Eeele für die fernere Entwidlungden feften Boden bereitet hat.
Und noch weit mehr, als die Geologie, werben wir von
diefen Schwierigkeiten gedrückt; denn Dunkel find ſelbſt die Geſetze,
nad) denen das noch Geſchehende fi in und ereignet, und mit
deren Hillfe allein wir den früheren Thatbeftand errathen müßten.
Unzählige Eindrüde haben ſchon früher von uns Befig genommen
und ihre nachwirkende Kraft Abt in jedem Augenblide auf das
Schickſal jedes fpäteren einen mitbeftimmenden Einfluß, den wir
faum völlig von dem trennen können, was die ftet8 gleichen all⸗
gemeinen Geſetze des inneren Lebens für ſich allein gebieten
wirben. Und c8 ift uns nicht möglich, gleich der Naturwifien-
haft im Experiment kunſtlich Die verſchiedenen Kräfte zu fondern,
um den Beitrag zu beftimmen, den jede einzelne zu Diefem zu⸗
fammengefegten Erfolge Tiefer. Defin außer Stande, unfer
vergangened Leben ungefchehen zu machen, können wir un® nie
von dem dunflen, feiner Zergliederung fähigen Drude befreien,
durch den e8 alle fpätere Gefchichte des Bewußtſeins mitbedingt;
und nie tritt für und eine Gelegenheit cin, jene einfachen und
elementaren Wirkungen zu beobachten, aus denen der unendlich ver⸗
wickelte Zuftand, in dem wir und befinden, beroorgegangen fein
muß. So bleibt und faum etwas Anderes übrig, als zunädft un
an die großen und nicht leicht zu mißdentenden Umriſſe deſſen
zu balten, was unfere innere Erfahrung noch darbietet. Indem
wir dann die allgemeinen Vermuthungen, die ſich aus diefer Ueber-
ficht entwideln, verfuchsweife ſchärfer ausprägen und die größere ober
geringere Uebereinftimmung ihrer Folgen mit dem Thatbeftande der
Beobachtung prüfen, können wir fo vielleicht auf weitem Umwege
218
zu einer beftimmteren Einficht in bie Gefege des getftigen Lebens
gelangen.
So unendlich verſchieden nun dieſes Leben für jeden Einzelnen
verläuft, fo Hat doc der übereinſtimmende Eindruck aller Selbſt⸗
beobachtung zeitig und allgemein die Vorftellung von einem Me-
chanismus hervorgebracht, dem der Lauf ber inneren Exeiguiffe
vielleicht überall und ficher in großer Ausdehnung unterworfen
fet, in anderen Formen zwar und nad anderen befonderen Gefegen,
als fie der äußere Naturlauf darbietet, aber mit gleicher Durd-
gängiger Ahhängigfeit jedes einzelnen Ereigniſſes von feinen voran-
gehenden Bedingungen. So deutlich indeſſen dieſer pfychifche
Mechanismus fi in den Erſcheinungen des Gedächtniſſes und
ber Wiedererinnerung, in der Abhängigkeit unferer Gefuhle und
Strebumgen von gewiffen Einprüden zeigt, durch welche fie regel
mäßig heroorgerufen werben; fo fider und mat richtigem Tact
wir ſelbſt im alltäglichen Leben auf feine unbeirrte Wirkfamkeit
rechnen, fo wenig find wir doch im Stande, die Regeln, benen er
folgt, mit der Schärfe von Noaturgefegen anzugeben. Denn bie
Schwierigkeiten der inneren Beobachtung, deren wir fhon gedachten,
werden dadurch vermehrt, daß Feine allgemeine, für fich felbft
gewiſſe Lehre über die nothwendigen Wechfelwirkungen, in denen
die Zuftände jedes Weſens unter fich fliehen müßten, uns bier
aushelfend entgegenfommt. Die meiften der Grundzüge, Die wir
in dem Verhalten des geiftigen Lebens bemerken, können wir
nur als. thatfächliche Einrichtungen anfehen, deren Werth fir bie
höhere Ausbildung wir zwar häufig volflommen begreifen, aber
wir Können nicht nachmweifen, daß gerade diefe Formen des Be-
nehmen für jedes überfinnliche Wefen, das eincr unbeftimmten
Vielheit äußerer Eindrücke offen ftebt, die nothwendigen Yolgen
Diefer ferner Natur fern müßten. Man flebt Teicht, wie nach⸗
thetlig diefe Lage der Sachen für die Bedirfniffe der Erflärung
ift. Sind wir nur auf eine Sammlung erfahrungsmäßtger That⸗
ſachen angewieſen, fo dürfen wir nicht über Das hinausgehen, was
die Erfahrung felbft und fagt; vermöcten wir dieſelben That⸗
219
ſachen in ihrem nothwendigen Hervorgehen aus der Natur ber
Seele zu verfolgen, fo würden wir ihnen leicht einen firengeren
umd tieferen Ausdrud geben können, der und den Zugang zu
einer Menge jet verfagter Folgerungen eröffnete. Diefe Schwie—
rigfeiten iſt man fehr geneigt geringer zu ſchätzen, als fie find;
durch die Erfolge der Raturwiſſenſchaft verwöhnt, pflegt man zu
oft Säge, die für die Erklärung phyſiſcher Vorgänge eine unbe—
ftrittene Geltung befigen, für allgemeine und nothwendige Wahr-
heiten anzufehen, und vergißt Darüber, daß alle unbefangene Beob-
achtung des inneren Lebens und durhaus andere, mit den Natur-
erfheinungen faum noch vergleihbare Formen des Gefchehens und
Wirkens darbietet. Ueber die Bewegung des Stoffes befisen wir
eine Summe wiffenfchaftlich genauer Gefege, Über die Aeußerungen
der Seele eine Anzahl empirifcher Anfchauungen, aber noch fchlt
und das Dritte und Höhere, deffen wir bedürften: eine allgemeine
Xehre, die uns Die Geſetze aufwieſe, nad) denen die Zuſtände der
Weſen überhaupt fich richten, und aus welcher als zwei verſchie⸗
bene Anwendungen die Wiſſenſchaft vom Naturlauf und die von
dem geiftigen Leben heroorgehen könnten.
Zu den einfachſten Thatfachen, in denen der pfychiſche Me-
chanismus fi zeigt, gehört die befannte Wahrnehmung, daß von
den unzähligen Vorftellungen, die wir äußeren Eindrüden ver-
danken, in jedem Augenblide nur wenige uns gegenwärtig find;
die meiften find dem Bemwußtfein verfchwunden, ohne deshalb zu-
gleich Der Seele iiberhaupt verloren zu fein; denn ohne Erneuerung
des äußeren Eindrudes kehren die vergeffenen der Erinnerung
wieder. Man hat dieſe Thatfachen jo gedeutet, daß man die
ewige Fortdauer jeder einmal erregten Vorftellung als das natür-
licherweiſe zu erwartende Verhalten anfah; nur für das Vergeffen-
werden fuchte man cine Erflärung und glaubte fie leicht in dem
wechſelſeitigen Drude zu finden, durch welchen die mannigfaltigen
einander begegnenden Borftellungen fih aus dem Bewußtſein zu
220
verbrängen ftreben. Aber vergeblih würden wir verfuchen, jene
Unvergänglichfeit der Vorftellungen als die felbftverftändliche Folge
eines allgemeinen Geſetzes der Beharrung darzuftellen, nad
welchem jeder einmal erregte Zuftand eines Weſens, ſich felbft
überlafien, fo lange fortdauern müßte, bis cine neue dazwiſchen
fommende Wirkung ihn änderte oder aufhöbe. Die Analogie der
Naturwiſſenſchaft, die ſich dieſes Geſetzes als eines der vorzlg-
Yichften Hülfsmittel in der Lehre von den Bewegungen der Körper
bedient, reicht um eines nahe liegenden Unterſchiedes in der
Natur Beiver Fälle willen niht aus, feine Anwendbarkeit auf die
Borgänge des Seclenlebens zu fihern. Denn der. Körper leidet
nichts von feiner Bewegung, die für ihn nur ein äußerlicher
Wechſel der Orte ift, von denen Teiner fiir ihn mehr Werth hat
al8 der andere; dieſem Wechfel zu widerſtehen wird mithin feine
eigene Natur weder Grund noch Fähigkeit befigen. Das Bor:
ftellen dagegen ift als inneres Ereigniß nothwendig zugleich für
das Weſen, in dem es gefchieht, eine Störung feines urſprüng⸗
lichen Zuſtandes; mit dem gleihen Rechte nun, mie c8 fcheint,
mit welchem wir ein ewiges Beharren der einmal erregten Vor:
ftellung erwarten, fünnten wir dafjelbe Gefeß auf die Natur der
Seele anwenden; wir könnten in ihr cin Beftreben zur Feſt—
haltung ihres früheren Zuftandes vermuthen, durch welches fie
jeden ihr aufgedrängten einzelnen Eindrud nad dem Aufhören
ber äußeren Gemalt, die ihn erzwang, wieder zu befeitigen fuchte.
Ohne in das unentfchiedene Für und Wider einzugeben, in welches
der Streit diefer Anfihten auslaufen würde, wollen wir ung ein-
facher mit dem Belenntnig begnügen, daß die Thatfachen des
Bewußtſeins die Annahme jener Fortdauer der Eindrücke nöthig
machen, und der Zukunft möge der Verſuch überlaffen bleiben,
diejes thatſächliche Verhalten als die unvermeidliche Folge des
Weſens der Seele zu begreifen. Fremdartig und als eine ſonder⸗
bare Einzelheit tritt es auch für uns nicht auf; beruht doch auf
diefer Fefthaltung der Eindrücke die Erfüllung des Berufes, der
dem geiftigen Leben gefallen ift: zu vereinigen, was in Raum und
221
Zeit beziehungslos auseinanderfällt, und dem Vergangenen einen
mitwirkenden Einfluß auf die Gegenwart durch fein zurüdgeblic-
benes Bild zu fichern, lange nachdem es felbft aus der Wirklid-
feit des Naturlaufes ausgefchieden ift.
So wenig wir nun die Beharrung der Borftellungen Teugnen,
fo wenig fünnen wir auch zögern, in dem Einfluffe, welchen fie auf
einander äußern, den Grund ihrer Berbrängung aus dem Bemwußt-
fein anzuerkennen. Aber während die Erfahrung überall zur An-
nahme dieſes Einfluffes drängt, find wir fehr wenig im Stande,
einen Grund für die Nothmwendigfeit feines Vorkommens nachzuwei⸗
fen. &8 reiht nicht hin, fih auf Die Wefenseinheit der Seele zu
berufen, welche ihren verſchiedenen Zuftänden nicht geftatte, unver-
bunden und wirkungslos neben einander zu verlaufen. Denn diefe
Einheit ließe und zunächſt nichts Anderes als das Beftreben erwar⸗
ten, alle Unähnlichkeit der inneren Zuftände in einen gleichförmigen
Sefammtzuftand zu verſchmelzen. Aber wir wiffen, daß eine foldhe
Neigung weder in dem bewußten Borftellungslauf vorhanden ift,
denn alle Mannigfaltigfeit der Eindrüde bleibt in ihn erhalten, noch
daß jie in jenen unbewußten Zuftänden vorkommen kann, in welde
die verſchwindenden Vorftellungen ſich verwandeln, denn fie kehren
aus dieſer Vergeffenheit mit ungetrübter Schärfe der Gegenfähe
wieder, die fie im Bewußtſein befaßen. Völlig würden wir ung
alfo in jener Erwartung getäufcht haben, die wir auf die Einheit
der Seele gründen zu können glaubten, und dies Mißlingen madıt
und darauf aufmerkfam, daß überhaupt wohl die Einheit eines We-
ſens im Allgemeinen zu einer Wechfelwirkung feiner verſchiedenen
Zuftände drängen möge, daß aber die beftimmte Form ober ber
Sinn, in welchem diefe Wirkung gefchteht, von der befonderen Na—
tur jedes einzelnen Weſens abhänge. Daß die Vorftellungen fid
nicht zu einem Mittleren miſchen, fondern nur die Beleuchtung
durch das Bewußtſein einander ftreitig machen, davon müſſen wir
ben Grund in dem fuchen, was die Seele zur Seele macht, oder in
bem, wodurch das Bewußtſein fih von anderen Neuerungen ihrer
Thätigfeit unterfcheidet.
222
Ueber die Schwierigkeiten nun, welche die Natur des Bewußt⸗
ſeins darbietet, tröften wir und im täglichen Leben mit fo unvoll-
fommenen Vorftellungen, daß wir baum Beranlafjung hätten, auf
diefe gewöhnlichen Auffafjungen zurüdzufommen, wenn nicht die
Auffäligkeit ihrer Mängel uns die Räthfel verbeutlichte, welche fie
ungelöft laſſen. Wir betrachten wohl das Bewußtſein als einen
Kaum von begrenzter Weite, in welchem die Eindrüde fi ihre
Pläge ftreitig machen; wir kümmern uns wenig dabei um den
Grund, welder der Ausdehnung dieſes Raumes Schranken zieht,
und cbenfo wenig um Die Urfache, welde die Eindrüde veranlagt,
in ihn einzubringen; indem wir endlich an dem Bilde körperlicher
Seftalten hängen, deren jede freilich durch ihre Undurchbringlichkeit
der andern den Pla entzieht, den fie felbft einnimmt, finden
wir es felbftverftändlic, daß in dem begrenzten Raume des Be-
wußtfeins auch nur eine endlihe Menge der Vorftellungen neben-
einander fein könne. So haben wir Iediglic unter dem Schuße
eines ganz unberechtigten Bildes den Gedanken an eine Unver:
träglichfeit der Borftelungen untereinander und an die Nothwen-
digkeit eines Drudes, den fie gegenfeitig ausüben, nebenher er-
lichen. Oder wir fprechen von dem Bemwußtjein wie von einem
Lichte von vielleicht veränderlicder, aber doch immer nur endlicher
Stärke der Helligkeit, und finden es dann natürlihd, daß fein
Borrath von Erleuchtungsfraft fi über die vorhandene Menge
der Eindrücke vertheile, duch Zerſtreuung auf eine größere Viel—
heit ſich abſchwächend, durch Einſchränkung auf Weniges fi deut-
licher fammelnd. Und bei diefer Vergleihung verläßt und fogar
das Bild, dem wir folgen wollten. Denn jedes Licht, rundum
fi) verbreitend, erleuchtet das Biele nicht ſchwächer als das
Wenige, und man fieht nicht feine. Strahlen von dem Puntte,
wo fie nichts zu beleuchten fanden, in frummlinigen Bahnen um-
ſchwenken, um ſich geſammelter auf die geringere Anzahl vorban-
dener Gegenftände zu werfen. Nur dann merden die vielen
ſchwächer beleuchtet, wenn fie einander deckend ſich das Licht ent-
ziehen, und gerade dies war es, was zu erklären war, wie e8
223
geſchehen könne, daß zwiſchen den Borftellungen Verhältniſſe ein-
treten, in denen bie eine der andern die Möglichkeit des Gewußt⸗
werdens entziche. Und nur wenig wilrden wir gewinnen, wenn
wir, dieſe räumlichen &leichnifle verlafiend, das Bewußtſein über⸗
haupt als eine erichöpfbare Kraft bezeichneten, die nur einen be—
grenzten Aufwand von Thätigfett machen könne. Denn immer
würde der Grund dafür mangeln, daß einzelne Borftellungen
allein won ihr lebendig erfaßt, andere ganz fallen gelaffen werben;
wir würden nicht wiflen, warum flatt einer Dämmerung, die
mit immer abnehmender Helligkeit ſich über eine ſtets anwachſende
Zahl der Einprüde verbreitete, Diefer Wechfel voller Beleuchtung
und völligen Dunkels eintreten mäßte, in welchem die Borftellun-
gen auftauchen und wieder verſchwinden.
Doch auch für diefe Frage hat unfere gewöhnliche Meinung
eine Antwort, die etwas tiefer eingehend aud und zu weiterem
Eingehen nöthigt. Bon allen jenen Reigen, welde der Seele
von außen zulommen, läßt man in ihr zunächft Eindrücke ent-
ftehen,, die als ſolche noch nicht Empfindungen, neh nicht Vor-
ftellungen find, ſondern als eine angehäufte Summe innerer
Buftände eines Bewußtſeins noch warten, das fie wahrnehmen
und durch fein Wahrnehmen fie erft zu Empfindungen verklären
wird. Bon der Eigenthümlichkeit diefer Eindrücke können wir und
natürlich nie eine Anſchauung bilden, weil fie als Das, was fie
find, ftet8 dem Bewußtſein entzogen bleiben, und aufhören zu
fein, was fie waren, ſobald fie von ihm ergriffen werden; ihre
unendliche Anzahl aber erfcheint uns als eine verkleinerte und
angenäherte Wiederholung der äußeren Welt, zwar in Das
Innere der Seele verfegt, dem Bemußtfein jedoch nod eben jo
fremd, wie Alles, was noch ohne eine Wechſelwirkung mit uns
in äußerer Ferne ruht. Bon diefen Eindrücken gelte das Geſetz
beftändiger Beharrung; einmal entftanden, vergehen fie nicht
wieder; aber veränderlich fer ihr Verhalten zu der willenden
Thätigfeit unferes Geiftes, die wie ein wandelndes Licht bald
dem einen, bald dem andern fi) zuwendend, fie bald wahr-
224
nehme, bald in das bemußtlofe Dafein verborgener Eindrüde
zurückfallen Taffe.
Es ift nicht ohne Intereſſe, den verſchwiegenen Vorausſetzun⸗
gen nachzugehen, auf denen dieſe Auffaſſung beruht. Wo wir
durch einen äußeren Reiz irgend ein Element zu einer Berän-
derung bewogen fehen, deren beftimmte Geftalt dieſes nur aus
feiner eigenen Natur, nicht aus der bed Neizes entlehnt, da
werden wir das Ganze deſſen, was in dem Elemente geſchieht,
in Gedanken ſtets als eine Aufeinanderfolge zweier Ereigniffe,
eines Eindrudes und einer lebendigen Rückwirkung gegen ihn,
betrachten können. Unfere Beobachtungen im Leben pflegen fi
nun auf zufammengefegte Gebilde zu beziehen, und hier bebarf
es einiges Zeitverlaufes, ehe die Erſchütterung des einen Theiles,
den der Eindrud zunädft getroffen hat, fi über das Ganze
verbreitet und durch Anregfing der übrigen einen Rückſchlag
gegen die urfprünglige Störung hervorruft. So gewöhnen wir
uns an die Borftellung einer Kluft zwifchen dem Leiden und ber
Thätigfeit, die ihm antwortet. Wenden wir nun unjere Gedanken
auf die einfache Natur der Seele, fo erſcheint dieſelbe Vorftelung
nicht mehr gleich zwingend. Gewiß wird jeder äußere Reiz fie
nur dadurch zum Handeln bringen, daß fie von ihm leibet, denn
er wäre nicht für fie vorbanden, litte fie nicht; gewiß werden
auch ihre inneren Veränderungen, ihr Leiden fowohl als ihre
thätige Rüdwirkung fih nur in einem Zeitverlauf entwideln ;
aber nothwendig wentgftens iſt es nicht, daß diefe beiden fiir
unfere denkende Auffaſſung unterſcheidbaren Theile des ganzen
Vorganges in verſchiedenen Zeitabſchnitten auf einander folgen,
oder daß zu dem Eindrucke der äußeren Reize erſt noch irgend
eine andere ergänzende Bedingung hinzutreten müſſe, um ihm,
dem an ſich unbewußten, die Aufmerkſamkeit des Bewußtſeins
zuzuwenden. In jedem untheilbaren Augenblicke vielmehr können
wir beide als gleichzeitig, als ſo in einander verſchmolzen betrachten,
daß die verſchiedenen Namen, die wir ihnen geben, nicht mehr
zwei Vorgänge bezeichnen, ſondern den einen und ungetheilten
225 .
unter verfchiebenen Geſichtspunkten auffaffen. Denn aud das, mas
wir Leiden nennen, iſt ja nicht eine fertig in das Leidende ge-
brachte Veränderung, von der es nur einen Drud überhaupt em-
pfände, ohne fi in einer beftimmten Form und Weife bebrüdt
zu fühlen. Unter demſelben Eindrud leiden verſchiedene verſchie—
den; fo nun zu leiden und nicht anders, ift felbft ſchon eine Rüd-
wirkung, in der fi) die innerfte Natur eines jeden lebendig gel-
“ten mad.
Wenden wir uns num zu ber unmittelbaren Empfindung,
welche uns ein äußerer Sinnesreiz veranlaßt, fo müffen wir ge-
ftehen, daß das ganze Ausfehen dieſer einfachen Vorgänge wenig
für jene trennende, weit mehr für Diefe vereinigende Auffaſſung
ſpricht. Wir wiffen nit, warum die Lichtwelle, die unfer Auge
trifft, Durch ihre Nachwirkung auf die Seele zuerft einen unfagba-
ren unbewußten Eindruck heroorbringen müßte, dem nun erft als
eine Rüdwirkung die Empfindung folgte, für die er als Blau oder
Roth erſchiene. Das Schen diefer beftimmten Farbe, dad Hören
dieſes beftimmten Tones läßt fi unftreitig unmittelbar als ber
eine ungetheilte Zuftand fafjen, in den die Seele geräth, und wir
nennen ihn Eindrud, wenn wir an feine Verurſachung durch einen
äußeren Reiz denken, lebendige Rückwirkung aber, fobald wir ung
erinnern, daß derfelbe Reiz in anderen Naturen andere Zuftände
rege gemacht haben wilde, die Form des hier vorhandenen mithin
von dem Wejen diefer Seele abhängt. Nicht anders fcheinen wir
dieſe Vorgänge auffaflen zu müffen, als fo, wie wir aud die Mit-
theilung der Bewegung zwiſchen unelaftiichen materiellen Punkten
beurtheilen. Wir meinen nicht, daß der geftoßene Körper zuerft
nur empfangend die Geſchwindigkeit und Richtung aufnehme, die
ihm der Stoß zu geben ftrebt, und daß er dann erft vermöge der
Bewegung, in welcher er fich bereits befand, auf dieſen Eindruck
zurückwirkend, jene mittlere refultivende Bahn beftimme, die er
wirklich durchlaufen wird. Vom erften Augenblide des Stoßes
an kommt vielmehr nichts in ihm zur Wirklichkeit, als dieſe eine
und ungetheilte Bewegung, in welcher der mitgetbeite Eindrud
Lotze I. 3 Aufl.
226
and die Wirkſamkeit des urfprünglichen Zuftandes ununterfcheib-
bar verſchmolzen find. Bon folchen Ueberlegungen geleitet, würden
wir e8 ablehnen können, unbewußte Erregungen in der Seele der
bewußten Empfindung voranzudenten; nicht nur müßig, fondern
vieleicht widerfinnig erjchiene es, in bem Geifte, der lauter Be-
wußtfein und Licht fei, einen dunflen Grund der Racht zu fuchen,
aus dem als eine ſpätergeborne Erſcheinung ſich Die Helle der Ge—
banken entwidle. Und in ber That hat hieraus fich eine pfycho—
logiſche Anficht gebildet, welche die bemußten Empfindungen als
die Urvorgänge des Seelenlebens betrachtet und alle übrigen Ereig-
niffe aus ihren Wechſelwirkungen ableitet.
Die nöthige Rüdfiht auf die vergeffenen Vorftellungen än—
dert einigermaßen diefen Stand der Sache. Gewiß dürfen wir
e8 dent Sprachgebrauche nicht verargen, wenn er das, was einft
Borftellung war, auch dann noch fo zu nennen- fortfährt, wenn
e8 längſt das wejentlihe Merkmal eingebüßt hat, um deswillen
ihm, diefer Name zukam. ber die erflärende Unterfuhung muß
ſich Doch der Ungenauigfeit diefer Ausdrucksweiſe erinnern; fie muß
zugeben, daß die Namen der vergefjenen oder unbewußten Vor—
ftellungen etwas bezeichnen, was in feiner Weife mehr Borftellung
ift, und daß dieſe in fich widerſprechenden Benenmungen nur als
Erinnerungen an den Urfprung, aber nicht al8 Behauptungen über
die gegenwärtige Natur der durch fie angebeuteten Zuftände zu
dulden find. Wie fehr man dann auch fortführe, alles unbewußte
Gefchehen in uns nur aus der Hemmung der Vorftellungen ab-
zuleiten, immer würbe aud fo diefe Auffaflung das Geſtändniß
einfchließen, daß es doch eben außer dem Bewußtſein noch andere
Zuftände der Seele gebe, in melde das Bemwußtjein ſich verwan⸗
deln könne. Müſſen wir aber dies einmal zugeben, fo wird es
ſchwer fein, die Grenzen der Folgerungen zu beftimmen, bie ſich
baraus ziehen Yaffen. Eine beftändige Wechfelwirfung zwiſchen
dem hellen Leben des Bewußtſeins und dem dunklen Grunde des
Unbemwußten haben wir damit einmal zugeftanden, und nun ge=
winnt aud) die andere früher erwähnte Anficht wieder Boden, wenn
227
fie das Vorſtellen überhaupt als eine wandelbare Thätigkeit be—
trachtet, die zu dem aufbewahrten Reichthume unbewußter Ein-
drücke bald hinzutritt, bald ſich von ihnen abwendet.
In dem Gegenſatz dieſer beiden Meinungen liegt wohl einer
der hauptſächlichſten von jenen Gründen, welche die pſychologiſchen
Anfichten auch der Gegenwart nad) verſchiedenen Wegen ausein-
ander geben laſſen. Für beide muß e8 die wefentlichfte Aufgabe
fein, Erklärungen der beftimmten Reihenfolge und der Ordnung
überhaupt zu finden, die fi) in dem Wechſel unferer Borftellungen
zeigt. Die eine wird die Frage ſich fo ftellen, daß fie nad) den
Kegeln: des Mechanismus ſucht, durch welchen die bewußten Zu-
ftände einander verdrängen; die andere wird nach den Gründen
forfchen müffen, durch welche die einzelnen unbewußten Eindrüde
die Aufmerkſamkeit des Vorftellens auf fih ziehen und von anderen
ablenten. Beide werden in ihren Ergebniffen mehrfach zufammen=
treffen, wie fie denn beideivon der Betrachtung eined und defjelben
Thatbeftandes ſich müſſen leiten Yaffen; dennoch bleibt die Ver—
ſchiedenheit in der Art ihres Borgehens beträchtlich genug, um
noch einige Augenblide unfere Erwartung zu fpannen.
In der größeren oder geringeren Stärfe der PVorftellungen
wird natürlich die erfte Anfiht den Grund für das Maß des
drängenden Einfluffes finden, welchen fie auf einander üben. Doch
find die Vorftellungen nicht urfprüngli mit abſtoßenden Kräften
begabt; eine Nothmwendigfeit ihrer Wechfelwirfung überhaupt tritt
erft dadurch ein, daß die Einheit der Seele fie zu verbinden ftrebt,
ihre Gegenfäge unter einander aber dieſer Vereinigung wiberftehen.
Deshalb wird die Weite des Gegenfages, der zwei Vorftellungen
trennt, im Allgemeinen die Lebhaftigfeit ihrer Wirkung auf einan=
der, ihre Stärke dagegen das Maß des Leidens beftimmen, welches
in dieſer Wechſelwirkung jede einzelne der andern zuflgt oder
von ihr erfährt. Daß nun diefer Kampf, obwohl angeregt durch
15*
228
die Gegenfäge der Borftellungen, doch nicht mit einer Ausgleihung
berfelben endet, fondern daß nur die Stärke der ftreitenden Vor-
ftellungen ohne Nenderung ihres entgegengejegten Inhalts ver-
mindert wird, diefen Umftand wird die erwähnte Anficht am bep-
ten thun, für eine ebenfo unerwartete als unerflärliche Thatfache
auszugeben, zu deren Annahme die Beobachtung zwingt. Erft
nah dem Zugeſtändniß dieſes Punktes beginnt die Möglichkeit,
die vermwidelteren Erfcheinungen auf ihn zurüdzuführen; die innere
Nothwendigkeit feines eigenen Vorkommens entgeht uns völlig und
wir gewinnen nichts durch das Bemühen, dieſe Lücke durch täu—
ſchende Reben zu füllen.
Aber auch jene Begriffe der Stärke und des Gegenfages, an
die wir in der Berechnung phyſiſcher Ereigniffe gewöhnt find,
bieten bei ihrem beabfichtigten Gebraudye zur Erflärung des Vor-
ſtellungslaufes mehrfache Schwierigkeit. Den Empfindungen, d. h.
jenen Borftellungen, welche durch die gegenwärtige Einwirkung
eined äußeren Reizes in und erregt werben, kommt ohne Zweifel
eine gradweis verjchiedene Stärke zu, denn feine von ihnen ift
eine reine und gleichgültige Darftellung ihres Inhaltes; jede wird
vielmehr zugleich als eine größere oder geringere Erſchütterung,
al8 ein mehr oder minder eingreifender Zuftand unferes eigenen
Weſens von und gefühlt. Nicht nur an fi ift das blendende
Licht ein Stärkeres, als der fanfte Schunmer, fondern auch und
begegnet mehr, wenn wir jenes, als wenn wir dieſen jehen; nicht
blos an fi iſt der Tautere Klang ein größerer Stoff für unfere
Wahrnehmung, fondern auch feine Wahrnehmung ift ein ftärkerer
Eindrud in uns, als die des Teiferen Toned. Und nicht nur Die
Empfindungen deſſelben Sinnes find in dieſer Weife vergleichbar;
auch die Erregungen des einen können als größere ober geringere
Erſchütterungen unjeres Innern mit denen eines andern zufammen-
geftellt werden. Denken wir uns deshalb cine Seele, deren Be-
wußtfein noch von Feiner Erinnerung früherer Erfahrungen be—
herrſcht wird, einer Mannigfaltigfeit äußerer Reize zum erften
Mal ausgefegt, fo werben wir es wahrſcheinlich finden, daß die
229
Empfindung des ftärkeren Inhaltes die des ſchwächeren verbrängen
wird. In der ausgebildeten und durch Erfahrung erzogenen Seele
finden wir die Ereigniffe nicht mehr fo einfach; wir ‚wiffen, daß
ein leiſes Geräufch unfere Aufmerkſamkeit von lautem Lärmen ab-
zichen kann, und daß überhaupt die Macht, welche Die Vorftellun-
gen über die Richtung unſeres Gedantenlaufes ausüben, nicht
mehr im Verhältniß zu der Stärke bes finnlichen Inhaltes fteht,
den fie wahrnehmen. Im Bortichritt des Lebens hat fich vielmehr
an die Eindrüde ein überwiegendes Intereffe gefnüpft, das nur
noch an den Werth gebunden ift, welchen fie als vorbedeutende,
begleitende oder nachbildende Zeichen anterer Ereigniffe befigen.
Sp beftimmt fir die Zuhunft die Erfahrung, die für jeden eine
andere ift, auch für jeden die Werthe der einzelnen Borftellungen
anders und beftimmt fie felbft für den Einzelnen nicht unveränder-
lich. Nur die beharrliche Natur des Geifte8 und die nicht min-
der beftändigen Grundzüge ter körperlichen Organifation forgen
Dafür, daß diefe Verſchiedenheit nicht ind Ungemeffene gebt, indem
die überwältigende Kraft, mit melcher einzelne ſinnliche und in-
tellectuelle Eindrüde in Alle gleihmäßig eingreifen, überall die
Merthbeftimmungen des Vorgeftellten auf ein gewiſſes Maß der
Vergleichbarkeit und Berechenbarkeit zurüdbringt.
So Scheint es, als wenn wir dreifach unterjcheiden müßten,
zuerft das Mehr oder Minder des vorgeftellten Inhalts, dann
die Stärfe der Erregung, die er uns zufügt, endlich die Macht,
welche fein Eindruck über unfern Vorftelungslauf ausübt; und
nur in der Empfindung der noch crfahrungslojen Seele würden
dieſe verfchiedenen Beftimmungen vollftändig zufammenfallen. Aber
in unferer Erinnerung verſchwindet daß zweite diefer Glieder. In—
dem fie den Inhalt früherer Empfindungen getren nad Art und
Stärke wiederholt, wiederholt ſie nicht gleichzeitig Die Erſchütterung,
die wir von ihnen erfuhren, ober mo fie Dies zu thun jcheint, fügt
fie doch in Wahrheit vielmehr das bloße Bild des früheren Er-
griffenfeins als eine zweite Vorftellung zu der wiebererzeugten An-
ſchauung des früheren Inhaltes hinzu. Tas Rollen des Tonners
230
ift in unferer Erinnerung, fo deutlich fie auch feine Eigenthüm⸗
Yichfett und feine Stärke wiedergibt, doch Feine gewaltigere Erre-
gung als die gleich deutliche Borftelung des leifeften Tones; wir
gedenken vielleicht wohl der ftärferen Erſchütterung mit, Die der
heftigere Klang uns zufügte, aber auch dieſe Vorftellung der Icb-
hafteren Erregung ift nicht jegt wieder eine größere Bewegung in
und, als die gleich deutliche des geringeren Ergriffenfeind. Wir
unterſcheiden in der Erinnerung die verfchiedenen Gewichte zweier
Gegenftände, aber die genaue Wiedernorftelung des ſtärkern
Drudes, den und der eine verurfachte, ift nicht auch jegt wieder
ein ſtärkeres Ergriffenfein für uns, als das nicht minder genaue
Nachgefühl der geringeren Laſt. Die PVorftellung des Schmerzes
ift nicht Schmerz, die der Luft nicht Luft felber; leidlos und
freudlos erzeugt das Bemußtfein wie aus einer ficheren Höhe
herab den Inhalt vergangener Eindrüde mit aller Mannigfal-
tigkeit feiner inneren Berhältniffe, felbft mit den Bildern der
Gefühle, die fih an ihn knüpften, aber nie trübt e8 die Auf-
löſung feiner Aufgabe dadurch, daß es an der Stelle der Bilder
den Eindrud felbft wieverfehren liche. Ausdrücklich als abweſend
ſtellt es das DBorgeftellte vor, und ohne von dem Größeren
mehr als von dem Slleineren ergriffen zu werden, wiederholt
es mit gleicher Leichtigkeit beide, gleich zmeien Schatten, von
denen Feiner ſchwerer ift als der andere, wie verfchteven auch
die Gewichte der Körper fein mögen, denen fie entſprechen.
So würde mithin der Gedanfenlauf der Erinnerung zwar
großen und Heinen, ſtarken und ſchwachen Inhalt dem Bemußt-
fein wiederbringen, aber die worftellende Thätigleit, die er Dazu
verwendet, würde gradlos überall diefelbe fein. Und doch würde
nur von Unterfchieven dieſer Iegteren die Wechſelwirkung der Vor—
ftellungen, da ihre Inhalte ſich nicht mifchen, abhängig fein kön—
nen, denn nur in der unmittelbaren Empfindung würde Die Größe
des Vorgeftellten, da fie zufammenfällt mit der Stärke der Erre=
gung, den Sieg de einen Eindrudes über den anderen entkheiden.
Denn wir deshalb von einer Stärke der Vorftellungen fo ſprechen,
231
daß wir von ihr das Schidfal der Borftellungen im Streite gegen
einander beſtimmt denken, fo kann es nur nod in jener dritten
Bedeutung geſchehen, im melcher fie die Macht iſt, welche jede ein-
zelne Vorftellung auf die Richtung des Gedankenlaufes ausübt.
Aber diefe Macht ift nicht mehr eine vorher Mare Eigenfchaft,
durch welche wir den ferneren Erfolg erläutern Könnten, fondern
fie iſt die Fähigkeit felbft, deren Gründe wir fuchen. Bon einer
Stärke in diefem Sinne die Leiftungen der Borftellungen herzu:
leiten, wärbe nicht mehr Aufflärung gewähren, als die Behaup-
tung, daß im Kampfe derjenige zu flegen pflege, der aus unbekannt
bleibenden Gründen die Oberhand erhalte. Aber ehe wir Diefe noch
unbefannten Gründe anderswo fuchen, müſſen wir noch einige Ver⸗
hältniffe erwähnen, die dem Gedanken einer verinderlichen oder
verfchiedenen Stärke der Vorftellungen doch einige Unterftägung
zu gewähren jcheinen.
Man ift völlig an die Meinung gewöhnt, daß jeder Inhalt,
ohne daß er felbft verändert würde, in unzählig verichiedenen Gra—
ben der Klarheit oder Stärke gedacht werden fünne, und chen, in-
dem fie abwärts die Stufenreihe diefer Grade durchlaufen, follen
die Vorftellungen allmählich und ftetig ſich verdunkelnd aus dem
Bewußtfein verſchwinden. Aber dies ift die Befchreibung eines
Creigniffes, das Niemand beobachtet haben kann, da die beobach⸗
tende Aufmerkſamkeit eben die Möglichkeit feines Eintreten auf:
heben wilde. Exft fpäter, wenn wir inne werden, daß eine Bor:
ftellung eine Zeit hindurch in unferem Bewußtſein gefehlt hat,
beantworten wir und die Frage nad) der Art ihres Verſchwindens
durch Diefe Vermuthung eines allmählichen Erlöſchens, für deren
Richtigkeit Die wirkliche Beobachtung, fo weit fie. der Sache ſich
nähern kann, durchaus Fein Zeugniß ablegt. Erinnern wir uns
des inneren Zuſtandes, in dem wir uns befanden, wenn eine
ftark angeregte Vorftellung längere Zeit in uns lebendig war und
nad und nad) zu verfchwinden jchien, jo werben wir ftet8 finden,
daß fie nicht ftetig verdunfelt wurde, fondern mit vielen und fcharfen
Unterbrechungen bald im Bewußtfein war, bald nicht. Jeder nene.
⸗
232
Eindruck, deffen Inhalt in irgend einer Beziehung zu jener Bor:
ftellung ftand, führte fie augenblidlich wieder in bie Erinnerung
zurüd, durch jeden fremden, in feiner Neuheit auffallenden warb
fie augenblidlich wieder verdrängt; fo glich fie einem fchwinmen-
ben Körper, der durch wechſelnde Wellen bald plöglich verjchlungen,
bald ebenfo geſchwind gehoben, in dem einen Augenblid ganz ficht-
bar ift und im anderen gänzlich unfihtbar. Was wir hier als all-
mähliche Berbunfelung deuten, find zum Theil die wachſenden
Pauſen, welche die Wiebererfcheinungen der Borftellung unter-
brechen, theils eine andere Eigenthiimlichkeit, deren wir ſpäter ge—
denfen werben.
Theilen wir nun die vielgeftaltige Menge der x Borftellungen
in die einfacher Eindrüde der finnlichen Empfindung und in bie
- zufammengefegten Bilder, die aus dieſen durch mannigfache Ver—
knüpfung entfteben, jo würden wir nicht angeben fünnen, worin
für die erfteren Die Verſchiedenheit ihrer Stärke beftehen follte,
wenn wir nicht den vorgeftellten Inhalt unvermerft verändern.
Denfelben Ton von derfelben Höhe und Stärke, von gleichem
Rlange des Inftrumentes, können wir nicht mehr oder weniger
deutlich vorftellen ; wir haben entweder feine Borftellung, oder wir
haben fie nicht, oder endlich wir fehlen gegen unfere eigene Voraus⸗
jegung, indem wir die Borftellung eines ftärferen oder ſchwächeren,
alfo eines anderen Tones an die Stelle einer ftärkeren oder ſchwä⸗
cheren Borftellung deſſelben Tones jegen. Und ebenfo diefelbe Schat-
tirung derjelben Farbe können wir nicht in derſelben Helligkeit
ihrer Beleuchtung nun noch mehr oder minder deutlich vorftellen;
wohl aber, wenn fie und dur einen Namen oder eine Bejchrei-
bung angedeutet war, können wir in dem Verfuche, und ihrer zu
erinnern, ungewiß ſchwanken zwifchen mehreren verwandten Far-
benbilvern, die fi anbieten und von denen wir nicht wiſſen, wel-
ches das verlangte if. Dann deuten wir fälfchlih unferen in-
neren Zuftand fo, al8 hätten wir die Vorftellung wirklich, nur in
geringer Klarheit, während wir fe in der That nicht haben, fon-
dern fie herausſuchen aus einer Menge, mit deren Anzahl unfere
233
Ungewißheit, alſo die fcheinbare Unklarheit der Vorſtellung
wächft.
Noch weniger gehen unfere zufammengefegten Anfchanungen
durch ftetige Verdunkelung zu Grunde, dur welche ihr ganzes
Bild allmählich ſchwächer beleuchtet verblaßte; fondern fie werden
unflar, indem fie mie verweſend fich auflöfen. Bon einem gejehe-
nen- Gegenftande fallen in unjerer Erinnerung einzelne minder
beachtete Theile aus und die beftimmte Verbindungsweiſe, in der
fie mit anderen zufammengebörten, wird völlig vergeffen; bei dem
Verſuche, im Gedächtniß Das Bild nachzuzeichnen, irren wir rath—
[08 zwifchen den manderlei Möglichkeiten, die entftandenen Lücken
auszufüllen oder die Einzelheiten zu verknüpfen, die uns noch in
voller Klarheit vorjchweben. So entfteht auch bier eine ſcheinbare
Unflarheit der Borftellung, die in geradem Verhältniffe mit der
Weite des Spielraumes wächft, der unferer ergänzenden Phantafie
gelafjen iſt. Vollkommen Mar ift dagegen jede Vorftellung, deren
Theile volftändig und zugleich mit zweifellofer Beftimmtheit ihrer
gegenfeitigen Beziehungen gedacht werden, und diefe arbeit ift
an fich weder einer Steigerung noch einer Minderung fähig. Den—
noch ſcheint e8 uns häufig jo, als ob jelbft ein längſt vollftän-
dig vorgeftellter Inhalt noch an Stärke feines Vorgeſtelltwerdens
zunehmen könne; in der That aber wird er in foldhen Fällen um
einen neuen Gehalt vermehrt. So wie er unflar wirb durch ent-
ftehenve Rüden, die feinen Beftand verkleinern, fo ſcheint er an Klar⸗
heit noch zuzunehmen, fobald fiber feinen eigenen Beftand hinaus
noch die mannigfachen Beziehungen in Das Bewußtſein treten, die
ihn nad allen Seiten bin mit anderem Inhalte verfnüpfen. Es
ft nicht möglich, den Kreis oder das Dreied mehr oder weniger
oorzuftellen; man hat entweder ihr richtiges Bild oder hat es nicht;
aber gleichwohl ſcheint Die Anſchauung beider an Klarheit zu wach⸗
fen, wenn unfere geometrifhe Bildung die zahlreichen wichtigen Be-
ziehungen, durch die beide Figuren ſich auszeichnen, ſogleich mit
erinnert. Dies ift eine Rlarbeit in dem Sinne, in welchem wir
‚fie als gradweis verſchieden zugaben; eine Macht nämlich, die ber
234
Borftellung nicht aus einer eigenen Stärke, fondern aus ihren
Connerionen erwächſt. Unflarer fheint uns deshalb in unferem
Bewußtfein eine früher lebhafte VBorftellung dann zu werden, wenn
fie aus irgend einer Urſache allmählich abläßt, alle die anderen
in die Erinnerung mitzubringen, bie fih im erften Augenblide
ihrer größten Xebhaftigfeit an fie Mnüpften, ober auf deren Mit-
gegenwart eben dieſe Lebhaftigkeit ſelbſt beruhte. So verflingt,
wie wir oben erwähnten, eine angeregte Vorſtellung in uns, indem
ſie bald auftauchend, bald verſchwindend, bei jeder ſpäteren Rückkehr
einen kleineren Theil der Nebengedanken mit ſich führt, von denen
fte anfangs begleitet war. Deshalb ſcheint und auch nachher, wenn
wir auf einen vergangenen Borftellungslauf zurückblicken, ein einzel-
ner Eindrud nur mit geringer Klarheit oder nur in niebrigerer Höhe
durch das Bewußtſein gezogen zu fein, wenn er in der That zwar mit
derfelben grablofen Deutlichfeit, wie jeder andere, auftrat, aber zu me-
nige Nebenvorftellungen anregte, durch die er längere Zeit ſich hätte
halten und auf die Richtung unferer Gedanfen Einfluß üben können.
So fommen wir endlich zu der Behauptung zurück, daß die
Macht, mit welcher die mannigfachen Borftellungen einander be-
kämpfen, nicht abhängig tft von einem beftimmten Grade der Stärke,
den jede einzelne entweber urjprünglich gehabt hätte, oder bald
größer bald Kleiner in jedem Augenblid aus irgend welchen Grün-
den erlangte. Was wir als die Stärke der Vorftellungen bisher
fennen lernten, befteht nicht in einer grabweis beftimmbaren In-
tenfität des Wiffend um fie, fondern in einer, extenfiv meßbaren
Vollſtändigkeit ihres nothiwendigen Inhaltes und in dem veränder-
lihen Reichthum überzähliger Elemente, welche fih an ven In-
haltöbeftand jeder einzelnen anknüpfen. Doch findet vielleicht eine
genauere Nachforihung noch Etwas, was wir bisher in den That-
ſachen überjehen haben; aber ehe wir uns dazu wenden, bebarf
das andere Element, auf das man ſich in der Betrachtung des
Borftelungslaufes zu ſtützen pflegt, der Gegenfat der einzelnen
Eindrüde unter einander, eine kurze Berkdfichtigung.
In der Empfindung, fo lange wir alfo gegenwärtige äußere
235 -
Eindrücke wahrnehmen, fehen wir unfer Bemußtfein der größten
Mannigfaltigkeit zugänglid. Unzählige Farbenpunkte unterjcheidet
unfer Auge mit einem einzigen Blid, und wo dieſe verfchievenen
Eindrüde einander zu trüben feinen, haben wir Grund, diefen
Erfolg nicht von einer Wechſelwirkung der ſchon gebildeten Farben⸗
vorftellungen, fondern von Störungen abzuleiten, welche Die körper⸗
lichen Erregungen in den Elementen des Sinnedorganes durch ein-
ander erfahren, noch che ihre legte Endwirfung für die Seele zur
Beranlaffung der Empfindung wird. Am wenigften dürften wir
annehmen, daß in irgend einem früheren Alter die Zarbenpunfte
fiir das Auge, die Töne für das Ohr nur ein unterſchiedloſes Ge-
miſch darböten, aus welchem erft Die wachſende Aufmerkfamfeit die
einzelnen Elemente ſchiede. Denn meber einen Beweggrund würde
Diefe, nah eine Regel des Scheidens haben, wenn nicht der Ein-
druck verſchiedenartige Beftandtheile fhon erkennbar darböte, zwi:
ſchen denen ſie die Theilſtriche wohl vertiefen und zuſchärfen, aber da
nicht ziehen kann, wo ſie durch keine Andeutung vorgezeichnet ſind.
Ohne Zweifel iſt daher das Bewußtſein weder zu eng für eine
Vielheit von Empfindungen, noch iſt in ihm irgend eine Neigung,
die einmal gebildeten verſchiedenartigen Vorſtellungen zu irgend
einem Mittleren zu verſchmelzen. Dieſe mehrfach erwähnte Eigen:
thitmlichfeit nun macht uns zwar mißtrauifch gegen die Annahme,
daß der Gegenjag der Borftellungsinhalte gleichwohl maßgebend
fein folle für die Lebhaftigkeit, mit welcher fie fi) aus dem Be—
wußtſein zu verbrängen ſuchen; aber fie macht doch diefen Einfluß
nicht fo unmöglich, daß wir nicht zuvor Die Entſcheidung der Er-
fahrung einholen müßten. Sehr deutlich nun find unfere Selbft-
beobachtungen in diefem Punkte überhaupt nicht; dennoch fcheinen
fie jene Annahme in feiner Weife zu beftätigen. Es bat immer
große Schwierigkeiten, zwei Vorftellungen unverbunden neben ein-
ander zu fallen; jo weit es indeſſen gelingt, finden wir Die gleich—
zeitige Vorſtellung von Weiß und Schwarz nicht ſchwerer als die
von Roth und Orange, den Verſuch, Süß und Sauer zugleich zu
benfen, nicht mißlicher, als den, zwei ähnliche Süßigkeiten zu
236
vereinigen. Es ſcheint ung im Gegentheil, als wenn bie äufßer-
ften Gegenfäge, die wir in dem Inhalte der Vorftellungen errei⸗
chen können, mit größerer Leichtigkeit neben einander gedacht wür⸗
den, als Berfchievenheiten, deren Weite ein beſtimmtes Maß bat.
Die Borftellungen des Lichtes und der Finfterniß, des Großen und
bes einen, des Pofttiven und des Negativen, und unzählige äbn-
Yiche finden wir fo im Bewußtſein verbunden, daß das eine Glied
nicht ohne das andere gedacht wird, und wenn cd uns unmöglich)
ift, dieſe entgegengefetten als gleichzeitige Merkmale Eines und
Deffelben zu faffen, fo hat es dagegen feine Schwierigfeit, fie auf
Verſchiedenes zu vertheilen, und dies veiht hier völlig bin, wo
es ſich nicht um die Verträglichkeit der Eigenfchaften an den Din-
gen, ſondern um die Vereinbarkeit ihrer Vorftellungen in unferem
Bewußtſein handelt. Störten in der That die VBorftellungen ein=
ander nad Maßgabe der Gegenſätze in ihrem Inhalte fo, daß
bie unähnlicheren fich mehr von ihrer Klarheit raubten, als die
ähnlicheren, fo würde daraus die fonderbare Folge entipringen,
daß nun ‚auch unfere vergleichende Beobachtung die Fleinen Unter-
ſchiede Elarer faflen müßte als die großen. Aber alle Ausbildung
unferer Gedanken beruht vielmehr darauf, Daß das Bewußtſein voll-
fommen unbefangen durch den Inhalt bleibt, und daß es, um bie
Berhältniffe zwifchen dem gegebenen Mannigfaltigen unparteitfch
aufzufaffen, eben durch dieſe VBerhältniffe in feinen Verrichtungen
nicht gehemmt oder gefördert wird. Zugeben dürfen. wir wohl,
daß durch die verfhiedenen Beziehungen zwifchen den Vorftellungs-
inhalten Gefühle in uns erregt werben, welde das Maß der
Aufmerkſamkeit beftimmen, die wir dem einen von ihnen mehr
als dem anderen zumenden; allein abgefehen von diefen Wirkungen,
Die einem anderen Zwecke des geiftigen Lebens dienen, glauben wir
die Behauptung ausſprechen zu dirfen, daß für die gegenfeitige
Berdunfelung oder Verdrängung der Borftelungen durd einander
ber Gegenfaggrad ihrer Inhalte ohne alle Bedeutung if. Man
ann an diefem Ergebniß Anftoß nehmen, weil man e8 in Wider-
ftreit glaubt mit dem allgemein nothiwendigen Sage, nad welchem
” 237
entgegengefegte Zuftände eines und defjelben Weſens einander auf:
beben müfjen. Aber wie e8 fih auch um die Gültigkeit Diefes
Sates verhalten möge, jene Erfahrungen lehren uns eben, daß
die Thätigkeiten, durch welche wir entgegengefegte Inhalte vor-
fielen, entweder nicht entgegengefet find, oder nicht in einem
ſolchen Sinne, in welchem ihr vielleicht vorhandener Gegenſatz zum
Grunde einer Gegenwirtung werben müßte. Aud bier Ternen
wir nur, wie durchaus anders ſich das Geſchehen im Geifte ver:
hält, als die Ereigniffe in der Natur, und wie fehr und bie vor-
eilige Anwendung von Erkenntniffen irre führen muß, die in der
Naturwiffenichaft unbeftritten gelten, weil man die Punkte genau
fennt, auf die fie anzumenden find, während auf dem Gebiete des
geiftigen Lebens ihre vielleicht auch hier allgemeine Gültigkeit vor-
läufig nuglos für uns wird, da wir nicht die Urvorgänge, auf
die fte fich beziehen müßten, ſondern vielfach vermittelte Folgen
derjelben vor uns haben. Ä
Keine unferer Fragen ift bisher beantwortet. Für bie
Nothwendigkeit, daß überhaupt das Bewußtſein nur eine begrenzte
Menge von Borftellungen fafle, haben wir feinen zwingenden
Grund gefunden. Und fetten wir fie als cine Thatfache voraus,
fo ſchien weder in dem Begriffe ciner verfchtedenen Stärke ber
Borftellungen, noch in dem ihrer Inhaltögegenfäge ein Erflärungs-
mittel für die Größe der Macht gegeben, mit welcher jede der:
felben fich gelten macht und zu ihrem Theile die Richtung des
Gedantenlaufes bedingt. Noch einmal müffen wir verjuchen, in
dem jest verfleinerten Kreife möglicher Annahmen eine taugliche
zu finden.
- Gene Enge des Bewußtfeind nun, die den erften Gegen-
ftand -unferer Fragen ausmachte, findet im Grunde nicht ftatt
für die wirffihe Empfindung äußerer Eindrüde. Alle unfere
Sinne können zugleich thätig fein und eine unermeßlihe Mannig-
238
faltigfeit einzelner Reize aufnehmen, deren jeder, jo lange nicht
förperliche Zwiſchenwirkungen feine Fortleitung zu der Seele
hemmen, dur eine bewußte Borftellung wahrgenommen wird.
Man mag immerhin behaupten, daß von fo vielen Einbriden doch
Die meiften nur dunkel und unklar aufgefaßt werben; die Mög-
Yichkeit, fih ihrer und felbft ihrer Unklarheit fpäter zu erinnern,
beweift und doch, daß fie wirklich im Bewußtſein geweſen find,
nur daß fie weder durch eine überwiegende finnlihe Erregung
noch durch einen größeren Werth ihrer Bedeutung die anderen
verdrängen und fich als richtungbeftimmende Mächte im Gedan⸗
kenlauf heroorthun konnten. Es fheint völlig anders, wenn wir,
ohne von gegenwärtigen Sinnesreizen genöthigt zu fein, in ber
Erinnerung das abwefende oder vergangene Mannigfaltige zu
wiederholen ſuchen. Faſt nur nad einander kehren hier die
Theile des Gefebenen und Gehörten zuriid, die in der wirklichen
Empfindung gleichzeitig erfchtenen; und die Gedanken, welche
weniger unmittelbar ein Nachbild ſinnlicher Eindrüde find, bilden
in unjerem Inneren ftet8 einen ſchmalen und binnen Strom,
ber wohl häufig und in fharfen Sprüngen fi von einer Vor—
ftellung zur andern wendet und in furzen Abwechſelungen Biel-
faches durchläuft, aber faft ganz die Fähigfeit verloren zu haben
ſcheint, gleich dem Blicke des Auges eine unzählbare Vielheit zu—
gleich zu umfaſſen. So ift es, als weite nur der Zwang, den
die andringenden Reize der Außenmelt und antbun, das Bewußt⸗
fein aus, während es in der Erinnerung ſich felbft überlaſſen
fih zu einer Enge zufammenzieht, die faum Mehreres neben ein=
ander, fondern nur Mannigfadhes nach einander faßt. Dennoch
witrden wir zu wiel behaupten, wenn wir dies Letztere in voller
Strenge ausfprechen wollten. Denn obgleich es fehr ſchwierig
fein würde, durch unmittelbare Beobachtung zu enticheiden, ob
mehrere Vorftellungen zugleich im Bewußtſein vorkommen können,
und ob nicht vielmehr überall uns nur die Nafchheit der Wb-
wechfelung mit diefem Scheine täufcht, fo nöthigt uns doch bie
Thatfache, daß wir überhaupt Vergleiche anftellen können, zu ber
239
- Annahme einer möglichen Sleichzeitigkeit. Denn mer vergleicht,
geht nicht blo8 von dem Vorftellen des einen der verglichenen
Glieder zu dem Borftellen des andern über; um den Vergleich
zu vollziehen, muß er nothwendig in einem untheilbaren Bemwußt-
fein beide und zugleih Die Form feines Ueberganges zwiſchen
beiden zufammenfaffen. Wenn wir eine Vergleihung mittheilen
wollen, find wir durch Die Natur der Sprache genöthigt, Die
Namen beider verglichenen Glieder und die Bezeihnung ber Be—
ziebung zwiſchen ihnen zeitlich auf einander folgen zu laffen und
dies verurfacht und wohl die Täufhung, als fände in der Bor-
ftellung, Die wir mittheilen wollen, das gleiche Nacheinander
ftatt; aber zugleich rechnen wir doch Darauf, daß in dem Bewußt⸗
fein des Anderen unfere Ausfage nicht drei getrennte Vorftellungen,
jondern die eine Borftellung einer Beziehung zwifchen zwei andern
veranlaſſen wird, Obgleich wir endlich, gewöhnt an den Gebraud
der Sprache, auch unferen verſchwiegenen Gebanfengang in bie
Form eimer innerliden Rede bringen, fo ift doch offenbar aud
bier die Keihenfolge, in welcher zeitlih die Worte fur unfere
Borftellungen ſich verknüpfen, nur eine Nachzeihnung der Be
ziehungen, bie wir zwifchen ihren Inhalten früher vorftellten, und
diefe Gewohnheit bes innerlichen Sprechend verzögert eigentlich)
den Gedanfenlauf, indem fie das urſprünglich Gleichzeitige in
eine Reihe auflöft.
Bürgen und nun diefe Thaten des beziehenden Wiſſens für
die Gleichzeitigkeit einer Mehrheit von Vorſtellungen, fo ſcheinen
fie zugleich die Bedingungen des Stattfindens derfelben zu Iehren.
Nur für unverbundened Viele hat das Bewußtſein feinen Raum;
es ift nicht zu eng für eine Mannigfaltigkeit, deren Glieder wir
duch Beziehungen getheilt geordnet und verbunden denken. Zwei
Eindrücke zugleich, aber ohne irgend ein gegenfeitiges Verhältniß
vorzuftellen gelingt uns nicht; das Bewußtſein bedarf einer Un-
ſchauung des Weges, den e8 felbft von einem zum andern zurück—
zulegen hätte; mit diefer umfpannt e8 die größere Vielheit leichter
als die Fleinere ohne fie. Seine Faſſungskraft ift deshalb ftei-
240
gender Ausbildung fähig. Zufammengefegte finnliche Bilder wie-
derholt die Erinnerung leichter, je geübter wir waren, fchon
in der Wahrnehmung uns nicht nur leidend ihrem Eindrud bin-
zugeben, ſondern die BVerhältniffe ihrer Theile nachzuzeichnen.
Die gleichzeitigen Töne einer Muſik werden von Jedem als ſolche
empfunden, aber ſchwer von dem erinnert, für den fie nur eine
zufammenbanglofe Vielheit waren; das muſikaliſch gebildete Ohr
faßt fie von_ Anfang an als ein beziehungsreiches Ganze auf,
deffen innere Organifation durch den vorhergehenden Verlauf der
Melodie vorbereitet war. Jedes räumliche Bild haftet fefter in
unferm Gedächtniß, wenn wir im Stande find, feinen anſchau—
lichen Eindrud in eine Beſchreibung aufzuldfen. Wenn wir von
dem einen Theile eines Gebäudes jagen, daß er auf dem andern
ruhe, einen dritten ftüge, gegen einen vierten fich unter beſtimmtem
Winkel neige, vermehren wir zunädft die Menge der feftzubalten- -
den Borftellungen; aber in dieſem ſprachlichen Ausdruck durch
Säge verwandelt fi das ruhende Nebeneinander der Theile
in eine Reihe von Wechſelwirkungen, die zwiſchen ihnen ftattzu-
finden fcheinen und fie deutlicher gegenfeitig verbinden, als Die
unzergliederte Anſchauung. Je reicher die Bildung des Geiftes
. wird, je feiner fie die vercinigenden Beziehungen entlegener
Gedanken zu finden weiß, um fo mehr wächſt die Weite des Be-
wußtfeins auch für VBorftellungen, deren Inhalt nicht mehr durch
räumliche und zeitliche Formen, fondern durch Zuſammenhänge
innerer Abbängigfeit verbunden: ift.
Erſchien und nun in der Empfindung das Bewußtſein dur
die Gewalt der äußeren Reize, die gebieterifch ihre Berückſichtigung
verlangen, einer unbegrenzten Vielheit leiventliher Zuſtände zu=
gänglih, To ftellt ſich dieſes Wiffen der Erinnerung mehr als
eine von dem Geifte ausgeübte beziehende Thätigfeit dar. So
lange wir das Bewußtſein als einen Raum behandelten, in
241
welchem die Borftellungen aus eigener Kraft auf und ab fteigen,
fehlte e8 und an einem Grunde für die enge Begrenztheit feiner
Ausdehnung und die Vielbeit gleichzeitiger Zuſtände Eonnte uns
nicht unmöglich feinen ; natlirliher glauben wir dagegen voraus:
fegen zu müffen, daß die Einheit der Seele cine gleichzeitige
Menge unverbundener Handlungen ausfchließt, und daß fie nur
das umfaßt, was fie in der Einheit einer einzigen Handlung zu⸗
fammenbalten Tann. So fihiene die Anficht, melde das Vor⸗
ftellen als einen beweglichen inneren Sinn die Eindrüde hervor⸗
heben Läßt, Leichter zu der Enge des Bewußtſeins zu führen, nad
deren Gründen wir fragten. Doch enthält fie nod feinen Rad:
weiß Der Gefege, nad denen dies wandelnde Licht Der beziehenden
Aufmerkſamkeit die Richtung feines Weges wählt. Nicht unbe-
ftimmt in da8 Leere hinaus wird es fuchend gehen können, fondern
wenn es thätig feine Gegenftände zu erfaffen feheint, wird feine
Thätigkeit doch nur in der Wahl beftchen, mit der es von den
vielen Einbrüden, die fich ihm entgegenfommend aufprängen, die
einen aufnimmt und die andern fallen läßt.
Es find befannte Thatfachen, auf die wir hiermit hindeuten.
Daß ein neu erzeugter Eindrud die vergeffene Vorftellung eines
früheren gleichen wiederbelebt oder fie in das Bewußtſein repro⸗
ducirt, iſt das einfachfte der allgemeinen Gefege, welche den Lauf
ber Erinnerung beberrfchen. Aber diefe Wicdererwedung tft doch
nur infofern von Werth für unfer inneres Leben, als fie nicht
nur das Bergefjene wieverbringt, fondern zugleich das Bewußtſein
feiner Gleichheit mit dem neuen Eindrud vermittelt. Neues und
Altes darf deshalb nicht völlig zufammenfallen, ſondern beide
müffen als zwei geſchiedene Fälle der gleichen Borftellung aner-
kannt werden, und dies iſt nur möglich, ſobald beide durch Neben-
züge, die fih an fie knüpfen, unterfcheibbar find. Der Gewinn
jener unmittelbaren Reproduction beruht daher auf der Möglich⸗
feit, daß ber wiebererwedte Inhalt auch die andern mit ſich ind
Bewußtſein zuräüdführt, mit denen er früher verbunden mar, be⸗
fländen dieſe auch in Nichts weiter, als in dem dunklen Gefühl
Loge J. 3. Aufl. 16
242
_—-
der allgemeinen Gemüthslage, in welche feine frühere Wahrnehmung
fiel, und die verſchieden wäre von der Stimmung, welche feinen -
neuen Eindrud begleitet. Mit dem Namen der Affociationen
pflegt man dies gegenfeitige Haften der Einbrüde an einander zu
bezeichnen, das wir aud in ihrem unbewußten Zuftande als
fortbeftehend betrachten müffen, um ihr gemeinfchaftliches Hervor⸗
treten im Augenblide der Wiederbelebung zu begreifen. Vergeb-
ih würde jede Bemühung fein, von der Art und Weife dieſes
Haftens irgend eine anfchauliche Borftellung zu gewinnen; nur
in feinem Erfolge bemerkbar, ift e8 an fi aller Beobachtung
entzogen und hat nirgends eine Analogie in dem Gebiete der
Naturerſcheinungen. Ohne deshalb zu fragen, durch welches
Bindemittel die Haltbarkeit dieſer Borftellungsverfnüpfungen be-
wirkt werde, können wir nur die Bedingungen zu bezeichnen ſuchen,
unter denen fie auf Übrigens unbegreiflihe Weife ftattfinden.
Alle Affociationen der Vorſtellungen laſſen fih nun auf den
gemeinfamen Gefihtspunft zurüdführen, daß die Seele die Summe
aller ihrer gleichzeitigen Zuftände nicht chemiſch zu einem einförmi-
gen Mittelzuftand, wohl aber mechaniſch als Theile zu einem zufam-
menhängenden Ganzen verbindet, und daß fic ebenfo die zeitlich ab=
laufende Reihe ihrer Veränderungen zu einer Melodie verknüpft,
in welcher die Glieder am fefteften zufammenhängen, die ohne Da—
zwifchentreten anderer fih unmittelbar berühren. Jede Reproduc-
tion beruht dem entfprechend darauf, daß das Wiederbelebte nicht
allein auftauchen kann, fondern das Ganze mit ſich zu bringen
ftrebt, deffen Theil e8 früher bilvete, und aus dem Ganzen zunädft
den andern einzelnen Theil, mit dem e8 am engften verbunden mar.
Auf diefen gemeinfamen Ausdruck laſſen ſich die einzelnen Fälle
zurädführen, die man zu unterfcheiden pflegt. Er umfaßt vor
Allem nicht allein die Affociationen der Vorftellungen, auf Die unfer
Zufammenbang uns hier zunächſt führte, fondern ſchließt die zahl-
reihen Berfnüpfungen mit ein, die in ganz ähnlicher Weife zwiſchen
Gefühlen, zwiſchen Strebungen unter einander oder zwiſchen Vor⸗
ftellungen und Gefühlen, Gefühlen und Strebungen ftattfinden,
243
und deren mitbeftimmender Einfluß in einem vollftändigen Gemälbe
auch des Borftelungslaufes für ſich nie überſehen werden darf.
Wir finden ferner in ihn eingefchloffen die Afjociatton, durch welche
die Bilder einzelner räumlicher Geftalttheile einander und das
Ganze zurückrufen. Denn jeve Raumgeftalt läßt uns ihre Theile
entweder gleichzeitig überfehen, oder wir werben uns ihrer in einer
Reihenfolge nachbildender Bewegungen unferes Blickes bewußt.
Jede andere innerlichere Beziehung ferner, durch die wir früher
einmal Mannigfaches zu dem Ganzen eines Gedankens verfnüpft
hätten, würde ebenfo nur in einem gleichzeitigen Vorftellen oder
in dem ununterbrochenen Zuge eines zeitlich verlaufenden für uns
faßbar gewefen fein. Erinnert uns endlich oft ein Einvrud an
einen andern ähnlichen, mit dem er doch früher nie in gleichzeitiger
Wahrnehmung gegeben war, fo erfordert doch auch dieſer fchr häufige
Borgang keine bejondere Erflärung. Er beruht zum Theil auf der
unmittelbaren Wiederbelebung des Gleichen durch das Gleiche; Die
frühere Vorftellung deffen, was beiden Eindrüden gemeinfchaftlich
ift, ſtrebt zurückzukehren und führt nun durch mittelbare Reproduc-
tion auch die befonderen Züge mit ſich, um deren willen das Alte
dem Neuen nur noch ähnlich, nicht gleich ift. Einfache Vorftellun-
gen, deren Achnlichleit in einer ebenfo einfachen unſagbaren Ver-
wanbtichaft ihres Inhaltes befteht, rufen einander mit geringer Xeb-
haftigfeit hervor; cine Farbe erinnert nur wenig an andere Farben;
ein Ton faum an die Mannigfaltigfeit der Skala; viel fraftooller re-
produciren beide das Ganze, als deſſen Theil fie früher auftraten,
die Farbe die Geftalt der Blume, an der fie erfchten, die Töne die
Melodie, die mit ihnen begann. Das Wort, als eine Reihe von
Zönen, erinnert wohl am gleichgebaute, und wir verwechfeln es;
aber doch lebhafter an das Bild der Sache, mit dem es zu einem
affociirten Ganzen verbunden war. In zufammengefegten Vor—
ftellungen pflegt überall die Verbindungsform des Mannigfachen in
unferer Erinnerung über den Eindrud zu überwiegen, den die un-
mittelbare befondere Eigenſchaft der Theile giebt; dieſelbe Form der
Buchſtaben erkennt fhon das kindliche Auge wieder, ohne durch Die
16*
244
Verſchiedenheit ihrer Färbung fi aufhalten zu laſſen. Auf das
Lebhaftefte erinnern Daher Bilder an einander, deren vielleicht Kußerft
verſchiedene Beftandtheile doch in gleicher Art der PVerzeichnung,
nach einem gleichen Schema des Zuſammenhangs, ſich gruppirten.
Die Richtung, weldhe der Verlauf der geiftigen Ausbildung nimmt,
bevorzugt allmählich die eine diefer Neproductionsmeifen vor den
andern; je häufiger unfere Aufmerkſamkeit auf die gleiden und
ähnlichen Berfnüpfungsformen des Mannigfachen gerichtet gewefen
ift, um fo leichter itberficht fie das Verſchiedene, das felbft in
diefen vorfommt, und hält die allgemeineren Aehnlichkeiten feft;
fie gemöhnt fih, aud die innerlihen und unanſchaulichen Zuſam⸗
menbänge aufzufaflen, und für ihre Erinnerung wird das, was
unter allgemeinen Gefſichtspunkten begrifflih zufammengehört,
näher verwandt, als dasjenige, was feinem Wefen nad einander
fremd nur durch gleichzeitige Wahrnehmung fih im Bemußtfein
zufammenfand. Dann pflegt nicht felten Die Schärfe des Gedächt—
niffes für die Reihenfolge der Vorfälle des Lebens abzunehmen,
während feine Treue für die allgemeinen Bezichungen zwifchen
den Naturen der Dinge wächſt. Aber es muß hinreichen, an
diefe Verhältniffe erinnert zu haben, deren reihe Mannigfaltigteit
bier zu erfhöpfen völlig unmöglich fein würde.
Sp ift durd den Mechanismus der Affociationen dem Ge—
danfenlauf eine Vielheit möglicher Wege eröffnet, die er cinjchla-
gen kann und zwifchen denen er wählen muß. Indem nun jede
der eben vorhandenen Vorftellungen alle jene andern wiebergu-
bringen ftrebt, mit denen fie im Laufe des Lebens nah und
nach verknüpft worden tft, wird die Enticheidung darüber, was
von al diefer Fülle in jebem Augenblide zuerft in das Bewußt⸗
fein zurüdfehren fol, von einem Zufammenfluß verfchievener Be-
dingungen abhängen. Ye größer die Anzahl der ähnlichen Züge
ift, welche irgend eine vergeffene Vorftellung mit der eben herr:
Ihenden theilt, um fo Teichter wird fie durch biefe wieder erweckt
werden, denn um fo zahlreiher find die einzelnen Fäden des
Bandes, welches beide vereinigt. Aber die mwirffame Vermandt-
245
ſchaft zwifchen ihnen wird doch nicht allein in ver Aehnlichkeit
ihrer Inhalte beftehen; auch ohne diefe Uebereinftimmung Tann
in fehr mannigfaltiger mittelbarer Weife eine Vorſtellung mehr
oder weniger eng mit dem Sinne einer eben ablaufenden Gedan-
fenreihe zufammenhängen, mit welcher fie frühere Ueberlegungen
als wefentlihen Beziehungspuntt, als Beftandtbeil, als Beifpiel,
als begleitendes Phänomen, verbunden haben. Selbft eine form-
Iofe Stimmung des Gemüthes wird zwei BVorftellungsgruppen,
welche fie mit gleicher Färbung begleitete, trog der Verſchiedenheit
ihrer Inhalte einander verwandter erfcheinen laſſen, als andere
von ähnlicherem Gepräge. An die Stelle eines feften Gegen—
ſatzes zwifchen den Vorſtellungen, welcher maßgebend für die Leb—
baftigfeit ihrer gegenfeittgen Verdrängung oder Wiederbelebung
wäre, haben wir daher eine für jeden Yugenblid neu beftimmte
Größe ihrer Verwandtſchaft zu fegen, Die fich ändert, wie der
Contraſt zweier Farben mit dem Hintergrunde werhfelt, auf den
fie aufgetragen find. Und ebenfo wandelbar ift die andere Be—
dingung für die Richtung des Gedanfenlaufes, die Größe des In—
tereffes, die jeder Vorftellung zufommt, und welche die Stärfe
ausmacht, mit der fie im Bewußtſein fich gelten zu machen ſucht.
Kein fpäterer Augenblid bringt dieſelbe Gefammtjumme von Vor-
ftellungen, Gefühlen und Strebungen und dieſelbe körperliche
Stimmung wieder, im Zufammenhang mit denen früher dem
Eindrud die Höhe feines Intereſſes zugemeffen war. Nicht mit
dDiefem alten Werthe wirft er daher für Die Beftimmung des
weiteren Gedanfenlaufes mit, jondern mit dem neubeftimmten
Grade defjelben, den er zu gewinnen vermochte, indem er mit
jenem, welchen er früher befaß, in diefen neuen Streit mit neuen
Berhältnifen eintrat.
Die Entwidlung eines Vorſtellungszuges geftaltet fih unter
Diefen Bedingungen zu dem wandelbaren und veränberlichen Schau-
ipiel, das wir alle in uns kennen, und deſſen ſcheinbar vegellofer
Wechſel uns häufig in Verwunderung ſetzt, weil wir feine leiten=
den Gründe nie zu überfehen im Stande find. Denn ber voll-
246
ftändige Grund für die Geftalt jedes nächften Augenblides Tiegt
nur in dem vollftändigen Gefammtzuftande unferer Secle während
des gegenwärtigen; aber von ihm zeigt uns unfere Selbftbeob-
achtung immer nur wenige Bruchſtücke; wir werden uns wohl
ber Reihenfolge unferer vorangegangenen Borftellungen bewußt,
aber nie find wir in der Lage, zugleich die Eigenthlimlichkeiten
unferer Eörperlihen Stimmung, unferer Gemüthslage, unferer
Strebungen, endlich die befonderen Wechfelbeziehungen zu zerglie-
dern, in melde alle dieſe Elemente zu einander verflochten waren.
‚Und doch hängt nur von der Summe aller diefer Bedingungen
zufammengenommen aud der Fleinfte und unbebeutendfte Zug
unferes Borftellungslaufes ab; denn nicht in einem fonft leeren
Bemußtfein ereignet er fih ja überhaupt, fondern nur in der
ganzen vollftändigen lebendigen Seele, die immer zugleih in
jenen andern Richtungen thätig ift und im dieſen wieder nicht
thätig fein kann, ohne vermöge der Einheit ihres Weſens deſſen
auch in ihrem Borftellen eingedenk zu fein.
Bierted Kapitel.
Die Formen des beziehbenden Wifjen®.
Die VBerhältnifje zwifchen den einzeluen Borftellungen als Gegenftände neuer Borftel-
lungen. — Wechſel des Wiſſens und Wilfen vom Wechſel. — Angeborene Ideen. —
Die räumlich zeitliche Weltauffafjung ber Sinnlichkeit. — Die denkende Weltauffaf-
fung des Verſtandes. — Der Begriff, das Urtheil, ber Schluß. — Das zufammens
faffende Beftreben der Vernunft.
Jede Rede verftehen wir nur, wenn unfere Erinnerung die
früheren Worte aufbewahrt, während wir die fpäteren hören. Und
nicht dies allein; auch die Reihenfolge, in melcher die einzelnen
uns zugezählt werden, muß bis zum Schluffe der Rede irgendwie
in unferem Bewußtſein wirffam erhalten bleiben; denn nicht ohne
dieſe zeitliche Abfolge fonnte der Sprechende vollftändig die innere
Berfnüpfung des Borftellungsganzen bezeichnen, das er und mit-
247
zutheilen wünſcht, und der Hörende dürfte Die zeitliche Ordnung
der Worte erft dann vergefen, wenn er den Sinn dieſes Ganzen
in. fih aufgenommen bat. |
Zwei verfchiedene Leiftungen finden wir hierin eingefchloffen.
Ih erwähne diejenige zuerft, die in etwas reicherer Ausführung
zu den befannteften Erfheinungen gehört: die Fähigfeit, auch in
fpäterer Nacherinnerung eine Reihe von Eindrüden, eine Gejchichte,
Melodie oder Rede, in derfelben Aufeinanderfolge ihrer Beftand-
theile zurüdgurufen, in welcher eine frühere Wahrnehmung fie
darbot. Unmöglich wäre offenbar dieſe georbnete Wiederholung,
ebenfo unmöglich auch ſchon jene erfte verftehende Zuſammen⸗
foffung des Mannigfadhen in der Wahrnehmung, wenn die zu=
rüdbleibenden Erinnerungsbilver aller früheren Eindrücke mit denen
der jpäteren nur überhaupt in einen Knäuel verſchmölzen; irgend
eine beſtimmte Gliederung muß ſogleich zwiſchen ihnen geftiftet
worden fein und fie mit Auswahl und Abftufung gefondert und
verbunden haben. Nur unter diefer Bedingung kann e8 gefchehen,
daß der Hörende mit der Vielheit der nach und nach vernommenen
Worte einen Sinn verbinde, und daß dem Erinnernden jeßt diefe _
vielen nicht in einem formlofen Schwalle zurüdfehren, ſondern
in derfelben Reihenfolge, die fie in der urfprünglihen Wahr:
nebmung hatten, vor feinem Bewußtſein fich wieder entwideln,
Man hat weitere Rechenschaft von der Art diefer Glieverung
zu geben verfuht. Wenn eine Neibe finnlicher Reize nah und
nach auf uns einmwirkt, jo begegne fchon der erfte einer hemmen-
den Rückwirkung von Seiten des übrigen Inhalts, den er ſtets
im Bewußtfein bereitS vorfinde; unvermeidlich werde Deshalb bie
Stärfe des von ihm erzeugten Eindruds ſchon eine Verminderung
bis zu dem Augenblide erlitten haben, in welchem ber zweite Reiz
ber Reihe zu unferer Wahrnehmung fommt. Nicht mit dem
ursprünglichen Eindrud des erften Reihengliedes, fondern nur mit
dem noch vorhandenen abgeſchwächten Klarheitsreſte deffelben, ver-
bindet fih nun der Eindrud des zweiten Gliedes, denn biefen
Reſt allein trifft e8 im Bewußtſein noch wirklich an. . Auch diefe
248
Berbindung gber unterliegt demſelben hemmenden Einfluß, und
beide Beftandtheile derjelben werben eine neue Berminderung
ihrer Stärke bi8 zu dem Zeitpunkte erlitten haben, in weldem
der dritte Reiz unfere Wahrnehmung erwedt. Auch diefer dritte
verfuäpft ſich daher weder mit dem erften felbft, noch mit dem
zweiten felbft, am menigften gleich innig mit beiden; er kann fich
nur zu dem gefellen, was er jegt noch im Bewußtſein vorfinbet,
zu jener Combination nämlich, in welcher ein zweiter Klarheits⸗
veft des erften Eindrudd mit einem erften Klarheitsreſt des zmei-
ten verbunden ift. Die Fortfegung diefer Betrachtung würde mit-
hin zeigen, daß jeder fpätere Eindrud ſich mit einer Gruppe ver-
nüpft, die fiir feinen andern bie gleiche ift, und in welcher jedes
frühere Glied der Reihe durch einen um fo ſchwächeren Klarheits⸗
veft vertreten iſt, je länger die Reihe geworben und je näher es
jelbft an deren Anfange Liegt. Die Wiedererinnerung der Reihe
folgt dann denfelben Abftufungen. Das Anfangsglied, wenn feine
Borftellung im Bemwußtfein auf irgend eine Art erneuert worden
ift, hebt nicht auf einmal und wit gleicher Kraft alle übrigen
Slieder empor; erft wenn es felbft bis zu jenem erften Klarheits-
vefte gehemmt tft, mit dem in der urfprünglihen Wahrnehmung
fih das zweite Glied verbunden hatte, zieht e8 nun auch Dies
zweite in das Bewußtfein zurüd; erft dann taucht das britte
Glied auf, wenn gegen ben Widerftanb, den die übrige Anfüllung
des Bewußtfeins auch diefem Vorgang leiftet, die Wiederbelebung
des zweiten gelungen und die Combination ber erften beiden bis
zu dem Klarheitsreſte gehemmt ift, mit dem allein Died dritte
Glied fich früher verfnüpfen konnte.
Wenn e8 nur um einen Grund für Die Ordnung zu thun
wäre, im welcher Die Erinnerung die Glieder der mahrgenommenen
Reihe wiederholt, fo reichten einfachere Betrachtungen aus. Wenn
einmal eine Mehrheit von Eindräden der Seele in zeitlicher
Volge zukommt, fo werden diejenigen am innigften over ausſchließ⸗
lich fich verfnüpfen, die unmittelbar, ohne ein anderes Glied zwi⸗
ſchen ihnen, auf einander folgen. Denn worin auch immer Grund
249
und Weſen der Borftellungsverbindung, für die wir den Namen
der Afjoctation braucden, und worin aud immer die Abftufung
in der Innigkeit diefer Verbindung beftehen mag: unter allen
Umftänden wird doch ein mittlere® Glied zwiſchen zweien Das
befiere Recht der engen Verknüpfung mit jedem von beiden haben
and durch fein Dazwifchentreten beide von einander trennen. Wie-
berholt daher die Seele im zeitlicher Folge die einft ihr ebenfo
zugefommenen Wahrnchmungen, fo kann der Weg dieſes Erinnerns
von dem erften Gliede zu dem dritten nur durch das zweite gehen,
und nicht Die Innehaltung diefer Richtung, fondern nur die Ab—
weichungen von ihr würden beſonderer Exrflärung bedürfen. Allein
daß überhaupt die Erinnerung in zeitlicher Wbfolge die Eindrücke
wiederholt, welche die erfte Wahrnehmung zeitlich nad) einander
aufnahm, ift nicht ebenfo felbftverftändlih. Dies Nacheinander
- der Wahrnehmung war das Mittel und der Grund, die einzelnen
Eindrücke in Beziehungen von abgeftufter Innigfeit zu verbinden;
wenn aber zwiſchen dem Augenblid der vollendeten Wahrnehmung
und dem der Erinnerung Die ganze Reihe vergeffen ruht, fo ift
fie mit der ganzen jo erworbenen Gliederung aller ihrer Beitand-
theile gleichzeitig und auf einmal vorhanden. Warum ermedt nun
die Erinnerung nit das Ganze auf einmal, als eine gleichzeitige
Mannigfaltigfeit, deren Theile unter einander nur mit jenen Ab⸗
finfungen der Engigkeit verbunden find? Auf diefe Trage fuchte
die Anfiht zu antworten, deren wir gebachten. In den Hem—
mungen der Borftellungen durch einander und in der Anftrengung,
durch welche gegen jolche Hemmung eine vergeflene Borftellung
wieder in das Bewußtſein zurädgebradt wird, ſah fie Vorgänge,
die an ſich des Zeitverlaufs zur Erreichung ihres Zieles bedürfen;
nur nach und nad, indem tm beftiunmten Zeitpunkten beftimmte
Llarbeitögrößen der Borftelungen wiebererrungen worden find,
treten daher die wirkſamen Beranlaffungen wirflidh ein, welche der
Heike nad) die mit jenen Klarheitsreſten verbundenen Glieder der
uriprünglihen Wahrnehmungskette zuräidführen.
Aber wichtiger ift und die andere zweite Leitung, Die wir
250
oben ſowohl in dem erften verftehenden Anhören einer Rede als
in ber Nacerinnerung ihres Ablaufs nachzuweiſen verfprachen.
Zum Berftändniß reichte e8 nicht bin, daß die gehörten Worte
nad einander folgen; die früheren mußten aufbewahrt bleiben
neben den fpäteren; auch Die Erinnerung einer Reihe bringt nicht
in jedem Augenblid nur cin Glied wieder, ſodaß vor und hinter
ihm Nichts im Bewußtfein wäre; vor dieſem Gliede fenfen fich
noch die ſchwindenden Bilder der früheren, hinter ihm beben fich
bereits die auffteigenden der fpäteren Eindrüde. Aber das Ver—
ftänbniß erfordert mehr; e8 veicht nicht Hin, daß diefe georbneten
und abgeftuften Beziehungen zwifchen den einzelnen Borftellungen
befteben, over daß in regelmäßiger Abfolge die Erinnerungs-
bilder derjelben im Bewußtfein vorüberzichen. Käme Nichts an-
deres Hinzu, jo wäre die Seele nur ein .Schauplat, auf welchem
thatjächlic ein Zuſammenhang des Borftellend oder ein Wechſel
. des Wiffens ftattfände; ein Vorftellen dieſes Zuſammenhangs aber
oder ein Wiffen von diefem Wechfel würde erft in einem Beob-
achter entſtehen Fünnen, der mehr verftände, als Zuftände in ſich
auf einander folgen zu laſſen; der e8 verftände, in einem zweiten
und höheren Bewußtfein jene Thatſachen, die ftattfindenden Be-
ziehungen zwifchen jenen gleichzeitigen oder abmechfelnden Borftel-
lungen, zufommenzufaffen und zu beurtheilen.
In der That nun bedürfen wir freilich Diefes andern Zu—
ſchauers nicht; denn dadurch ift Die Eecle ja Seele, daß ſie An-
deres und fich felbft zu beobachten vermag. Aber dazu glauben
wir dennod Grund zu haben, diefe ihre eigenthümliche Fähigkeit
ausdrücklich im egenfage zu dem Mechanismus der Wechſel⸗
wirfungen zwiſchen ihren unmittelbaren Vorftellungen hervorzu-
heben. Man täufcht fi gewiß, und nicht ohne nachtheilige Fol-
gen des Irrthums, wenn man dies Wiffen vom Wechſel des
Wiſſens blos aus dem Begriffe der Seele als eines vorftellenden
Weſens und aus der Einheit ihrer Subftanz als eine felbftver-
ftänblige der Erwähnung kaum bebürftige Folge zu begreifen
glaubt. ‚Denn zuerft der leere Begriff diefer Einheit kann uns
251
wohl zu der unbeftimmten Forderung irgend einer durchdringen⸗
den Berfnüpfung zwiſchen allen Zuftänden veranlaffen, die Diefem
einen Wefen begegnen könnten; in welcher Form aber dieſe Ber-
knüpfung ftattfinden müßte, wirden wir nicht errathen; einer
fo menig charafterifirten Berpflihtung würde Die Seele in der
That Schon durch jene Verkettungen der Afjociation und Repro—
duction zu entfprechen ſcheinen können, die ja wirflic ihre Vor—
ftelungen in gegenfeitigen Zuſammenhang bringen. Auch dies
aber würde nicht ausreichen, die Nothwendigfeit des zufammen-
faflenden Wiffens vom Wechfel des Wiffens Durch den Zuſatz be-
gründen zu wollen, daß das einheitliche Wefen der Seele zugleich
ein vorftellendes Wefen ſei. Wahrſcheinlichkeit, obwohl nicht Ge-
wißheit, hat allerdings der Gedanke, daß die Seele die Fähigkeit
des Borftellens, in welcher ihre unterfheidende Eigenthümlichfeit
befteht, in der That auch auf jede Veranlaffung ausübt, welche
geeignet ift, zu ihrer Ausübung aufzufordern; wahrſcheinlich ift
es alfo an ſich ſchon, daß auch Die Verhältniſſe, welche zwiſchen
ihren einzelnen Vorſtellungen eingetreten find, zu neuen Reizen
für fie werden, auf welche fie wieder mit einer Handlung des
Borftelend antwortet. Und da die Erfahrung und nun lehrt,
daß wirklich gefhicht, was wir bier erwarten zu können glaubten,
fo entfteht allerdings der Schein, als ginge alles Wiffen um die
Zufammenhänge der Borftelungen und um ihren Wedel als
ſelbſtverſtändliche Zugabe aus der Thatſache Diefer Zufammenhänge
und dieſes Wechſels felbft hervor.
Wenn wir im Gegenfag zu dieſem Schein für nothwendig
halten, dies zufammenfaflende und beziehende Bewußtſein als cine
neue Thätigfeitsäußerung der Secle abzutrennen und auszuzeidh-
nen, jo winfchen wir durch diefe Sonderung eine Folgerung ab-
zufchneiden, die uns irrig ſcheint. Aus der Zergliederung eines
äußern Sinnedreized, und obne die Erfahrung zu befragen, Fön-
nen wir nicht vorher beftimmen, ob er als Ton oder als Farbe
werde empfunden werben. Vergleichen wir aber zwei ähnliche
Reize, von denen wir aus Erfahrung wiffen, daß fie um ihrer
252
Form willen beide als Töne gehört werden, und Dürfen wir vor:
außjegen, daß bie Thätigkeit des Hörens unter-dem gleichzeitigen
Eindrude zweier Reize das Berfahren nicht ändert, mit dem fie
einen einzelnen für fih aufnehmen würde, jo innen wir daran
denken, das Ergebniß des Zuſammenwirkens beider Töne als Er:
folg ihrer Wechſelwirkung zu berechnen. Diefer Verſuch würde
dagegen fruchtlos werben, wenn die Thätigfeit des Hörens durch
jeden Wechfel in der Zahl und dem Verhältniß von Tönen, die
gleichzeitig an fie Anſpruch maden, zu einer Abänderung der Ge—
jege beftimmt wiirde, nach denen fie auf jeden einzelnen zurüd-
wirt. Was fie dann in jedem diefer Fälle wirklich hörte, würde
fih nicht aus der bloßen Berechnung der Eindrüde, welche die
Töne einzeln gemacht Haben würden, und ber zwifchen diefen
Eindrüden entfichenben Wechſelwirkungen errathen: man mußte
noch einmal fragen, wie dieſe ganze Summe“ von Thatfachen auf
die hörende Thätigkeit einwirkt, und welche neuen und eigenthilm:-
lichen Rückwirkungen fie in ihr veranlaft.
Ich habe an einer früheren Stelle (©. 204) diefe allgemeine
Betrachtung ausgeführt, nach welcher wir von den einfachen Vor-
ftellungen, die und für erfte Rückwirkungen der Seele auf uns
mittelbare Reize der Außenwelt galten, geiſtige Thätigfeiten
höherer Ordnung unterfchieden, als Rücwirkungen zweiten Gra⸗
des, angeregt durch die Berhältniffe, welche zwiſchen jenen ein⸗
facheren einzelnen Acten der Seele entftanden find. Immer von
neuem als Reize höherer Ordnung ſchienen und diefe Berhältniffe
auf das ganze Wefen der Seele einzuwirken und Fäbigleiten def-
felben zur Aeußerung zu Ioden, zu deren Ausübung jene ein-
facheren Reize erfter Ordnung feine Anregung gaben; nicht felbft-
verſtändlich aus der Betrachtung dieſer veranlafienden Urfachen
fchienen uns dieſe neuen Rückwirkungen ableitbar; fie fonnten in
Formen gefcheben, die aus der Beichaffenheit der Bedingungen,
die fie beroorriefen, unerllärbar wären, erklärbar nur aus ber
eigenthlimlichen Erregbarfeit der Seele, Die miterzeugend in ihnen
ih Außert. Diefe Betrachtungen nun wenden wir auf den ver-
253
Tiegenden Fall an. Käme es nur darauf an, das Wiſſen vom
Wechſel des Wiſſens als cin bloßes Gewahrwerden der Berbält-
niffe zwiſchen den Vorftellungen zu begreifen, ohne daß im Ge⸗
wahrwerden Neues zu ihnen binzufäme, fo wäre die Umftänblich-
feit unferer Ueberlegung überflüffig. Aber dies zufammenfaffende
Wiſſen geſchieht in Formen, die uns nicht in den zufammenzu-
fafienden Thatſachen bereit8 gegeben feinen, in Formen, melde
nicht fo einfache Erzeugniffe gewiſſer Borgänge im Borftellungs-
verlauf find, daß fie mit begreiflicher Nothwendigkeit überall ent-
ftehen müßten, wo dieſe Vorgänge fih ereignen; wir balten fie
für abhängig von einer neuen Seite in der Natur der Seele,
die bisher noch nicht zur Aeußerung kam, und die auch dann eine
befonbere Beachtung erfordert, wenn fie thatfächlih eine Aberall
vorhandene, nur in unferer Definition noch nicht berüdfichtigte
Eigenſchaft jeder Seele ift.
Frühere Zeiten haben von angeborenen Ideen geſprochen,
die, dem menschlichen Geifte vor aller irdiſchen Erfahrung ange-
Börend, einen unverlierbaren Theil feines Weſens bildeten. Ohne
immer genau zu prüfen, welde Merkmale es fein müßten, dur
Die cin Gedanke dieſen vorzeitlichen Urfprung bemeifen könnte,
bat man die Grenzen dieſes urſprünglichen Beſitzes von Erfennt-
niß weit genug gezogen und Alles, was dem gebildeten Menfchen
am höchſten gilt, ven Glauben an Gott, an die Unfterblichkeit
der Seele, an die Freiheit des Willens ſicherer zu fielen geſucht
durch Einreihung in den Schatz der Wahrheiten, meldhe nit Die
trägliche und unvollftändige Erfahrung, ſondern die ewig gleiche
Natur unferes geiftigen Weſens uns darbiete. Die Willkührlich⸗
feit folder Anfichten Hat der erfte Aufſchwung unferer nationalen
Philoſophie Durch die Annahme begrenzt, daß allerdings wohl dem
menſchlichen Geifte eine Mehrheit angeborner Ideen zufomme,
aber nicht folder Ideen, weldye irgend eine Thatſache oder einen
Y
254
einzelnen Zug des Weltbaues enthüllen, fondern nur folder,
welche Die allgemeinen Beurtheilungsgründe ausprliden, nach denen
unfer Denfen jeben noch zu erwartenden möglichen Gehalt der
Wahrnehmung auffaffen und verarbeiten muß. Aller Inhalt
unferer Gedanken komme uns mittelbar oder unmittelbar von ber
Erfahrung, aber nicht ebenfo die Regeln, nach denen wir bezie-
hend vergleichend, urtbeilend und folgernd diefen Inhalt verbin-
den und trennen, von einem zu dem andern übergehen. Ihre
Duelle fei nicht außer und zu ſuchen; das Gefühl ber nothiwen-
digen und unausweichlichen Gültigkeit, mit dem fie unferem Be-
wußtfein fich aufbrängen, bürge uns vielmehr dafür, daß fie von
dem abftammen, von dem wir uns nie trennen können, von der
eigenen Natur nämlich unſeres geiftigen Weſens. Ausgerüftet mit
diefen Weifen der Auffaffung ftehen wir der Mannigfaltigkeit der
Eindrüde gegenüber, welche die Außenwelt in uns veranlaßt hat;
durch ihre Anwendung erft wird die thatfächlich vorhandene Summe
der innern Zuftände für und zur Erkenntniß. So bringen wir,
und eingeboren, die anſchaulichen Formen des Raumes und der
Zeit jenen Einvrüden entgegen, deren gegenfeitige Verhältniffe
fih nun für uns in das Nach- und Nebeneinander der finnlichen
Erſcheinungswelt verwandeln; fo treten wir mit der unabweisbaren
Borausfesung, daß alle Wirklichfeit auf der Grundlage bebarr-
licher Subftanzen beruhen müſſe, an welche fih abhängig und
unfelbftändig die wandelbaren Eigenfchaften knüpfen, mit der Ge-
wißheit ferner, daß jedes Ereigniß durch einen urſächlichen Zu-
fammenhang als Wirkung an feine VBorangänge gebunden fei:
mit diefer und eingeborenen Zuverficht treten wir zur Beobad-
tung des gegebenen Inhaltes hinzu und verwandeln feine Wahr-
nehmung, indem wir biefe Grundſätze unferer Beurtheilung auf
ihn anwenden, in die Erfenntniß eines durch innerlihen Zufam-
menhang in ſich abgejchloffenen Weltganzen.
Manches an dieſen Anſichten, die den Gedankengang unſerer
Wiſſenſchaft noch immer in weiter Ausdehnung beherrſchen, wird
innerhalb der Wiſſenſchaft ſelbſt anders gefaßt werden müſſen.
255
Der ungeeignete Name 'angeborener Ideen wird uns nicht ver-
leiten dürfen, jene Grundfäge unſeres Erfennens, oder die Be—
griffe, mit denen man fie kurz zu bezeichnen pflegt, die Vorftel-
lung des Raumes der Zeit des Dinges der Urſache und die
andern, die vielleicht von gleichem Werthe fi anfchließen, als
einen urſprünglich bewußten Befl des Geiſtes zu betrachten. So
wenig in dem Steine der Funke als Funke ſchon vorher ruht,
ehe der Stahl ihn heroorlodt, fo wenig werben vor allen Ein:
drüden der Erfahrung jene Begriffe vor dem Bewußtfein fertig
ſchweben und ihm in feiner Einfamkeit die Unterhaltung gewäh-
ren, die und etma die Betrachtung eined Werkeuges vor dem
Zeitpunkt feines möglihen Gebrauches verfchaffen fünnte. Selbft
in unferm fpäteren durch Erfahrungen ausgebildeten Reben treten
fie felten in diefer Geftalt vor unfere Aufmerffamteit; in uns
vorhanden ift nur die unbemußte Gewohnheit, nach ihnen zu han-
dein und in der Erfenntniß der Dinge zu verfahren; einer ab:
fihtlichen Weberlegung bedarf es, um fie, die Tange unbemerft bie
leitenden ZTriebfedern unferer Beurtheilungen geweſen find, ſelbſt
zu Oegenftänden unferes Vorftellend zu machen. In feinem an-
deren Sinne find fie mitbin angeboren, als in dem, daß in der
urjprünglihen Natur des Geiſtes ein Zug liegt, der ihn nöthigt,
unter den Anregungen der Erfahrung unvermeidlih diefe Auf-
fafjungsweifen des Erkennens auszubilden, und daß andererfeits
nicht der Inhalt der Erfahrung allein fie ihm ſchon fertig zur
bloßen Aufnahme überliefert, ſondern daß e8 chen diefer Natur
des Geiftes bedurfte, um durch die Eindrüde der Erfahrung zu
ihrer Bildung getrieben zu werben.
Und in folder Faſſung wird die allgemeine Richtigkeit die—
fer Anfiht kaum für widerlegt zu halten fein durch die mannig-
fahen Berfuche, die Entftchung aller jener Grundzüge des Den-
kens aus dem Mechanismus des unmittelbaren Vorſtellens allein
nachzuweiſen. Die Sprache, indem fie von einer Urfache von
einem Urfprung von Abhängigkeit und dem Hervorgehen der Folge
aus dem Grunde fpriht, erinnert und allerdings durch dieſe
256
Namen an die einzelnen Thatfachen und Formen der Erfahrung,
auf deren Veranlaffung wir und am leichteften des inneren Zu—
fammenhanges bewußt wurden, den jene urfpränglide Natur
unferer Bernunft zwiihen dem Mannigfachen vorausfegt. Aber
eine genauere. Ueberlegung wird ung doch ftet3 zu dem Glauben
zurüdführen, daß durch alle jene Beobachtungen dem Geifte mır
Gelegenheit gegeben murbe, ſich einer ihm eingebornen Wahrheit
zu erinnem, und daß fie felbft fir fih allein uns die allgemeinen
Grundfäge der Beurtbeilung aller Dinge nicht überliefern konn—
ten. In welchen fein abgemefienen Beziehungen auch immer
unſere Borftellungen fi befinden mögen, al ihre innere Orb-
nung würde nicht von felbft den Gedanken einer nothwendigen
Verbindung zwifchen ihnen erzeugen, wenn nicht die Natur des
Geiſtes ihrerſeits die Forde ung einer folden erhöbe, Niemals
wird die genauefte Kenntniß der mechaniſchen Wechſelwirkungen
zwifchen den einzelnen Vorftellungen zu einer Erflärung der Art
führen, wie jene allgemeinften Borausfegungen über den Zufam-
menbang aller Dinge in unfern Geift fommen, wenn wir nicht
in ihm einen Drang zu ihrer Erzeugung anerkennen, den wir in
unfern Begriff von feiner urfprüänglihen Natur mit aufnehnten
müffen. Darin befteht die wahre Einheit des Geiftes, die ihn
als Geift von der Einheit jedes andern Weſens unterjcheidet, daß
er nicht nur feine verjchtedenen Juftände zu einem Mechanismus
der Wechſelwirkung unter einander zufammendrängt, ſondern über-
dies durch die beziehende Thätigfeit, Die er in jenen Verfahrungs⸗
weifen des Erkennens ausübt, dieſes Mannigfaltige der Eindrücke in
dem Sinne eines zufammenhängenden Ganzen zu deuten und
es in das Bild einer Welt zu verwandeln ftrebt, in deren
innerliher Verknüpfung er den Widerfhein feiner eigenen Ein-
heit findet.
257
Berfuhen wir die einzelnen Leiftungen zu überbliden, in
welchen die Aufgabe dieſes vereinigenden und bezichenden Wifjens
nad) und nach gelöft wird, fo gedenken wir zuerft jener Einheit
der Seele noch einmal, die noch nichts Anderes bedeutet, als Die
Identität des wahrnehmenden Subjects, in welchem die Eindrücke
aus verſchiedenen Theilen der Außenwelt und aus verſchiedenen
Zeiten ſich ſammeln. Sie bildet die erſte nothwendige Bedingung
für jede That des Beziehens, die ſpäter möglich werden ſoll, aber
ſie iſt nicht die zureichende Bedingung für die Entſtehung ſolcher
Thaten. Nun blieb allerdings unſere Ueberlegung nicht bei die—
ſem leeren Gedanken einer ſubſtantiellen Einheit der Seele über:
haupt ſtehen; die Erfahrung lehrte uns Geſetze des Wirkens ken⸗—
nen, durch welche die innern Zuſtände dieſes geiſtigen Weſens und
ihre wechſelſeitigen Einflüſſe ſich auszeichnen; wir ſahen, wie der
Mechanismus der Aſſociation und Reproduction einzelne Eindrücke
enger verband als andere, und wie in die bunte Menge der auf:
bewahrten Eindrüde eine Gliederung kam, die Aehnliches zufam-
menbrachte, Unähnliches von einander ſchied. Doch auch dieſe
zweite Leiſtung, alle dieſe Geſetze des Vorſtellungsverlaufs ſchufen
an ſich nur Beziehungen zwiſchen den einzelnen Acten der vor-
ftellenden ZThätigfeit, georbnete Gegenftände einer fpäteren mög-
Yihen Anſchauung; fie ließen den beobachtenden Blick vermifien,
der diefe Orbnung wahrnimmt und fie deutet. Diefer Bli des
geiftigen Auges begegnet und zuerft in einer dritten Leiftung, in
den Anſchauungen des Raumes und der Zeit, in welde Das
vereinigende und beziehende Thun des Geiſtes die gegenfeitigen
Berhältniffe der Eindrüde wie in eine eigne neue Sprache
überfegt.
Wohl mag e8 feinen, als wenn jede zeitlich ablaufende
Reihe von Einprüden eben dadurch, daß fie abläuft, von felbft
und als ein zeitliche Nacheinander auch erſcheinen müſſe; und
ebenfo mirde die räumliche Ordnung des Mannigfaltigen nur
bes Gewahrwerdens überhaupt bedürfen, aber feiner befonbern
Thätigfeit des Geiftes, welche dies Gegebene anderte, oder die
Lotze J. 3. Aufl.
258
Formen erft aus ſich felbft erzeugte, in denen es ihm erfcheinen
wird. Aber vielmehr, eben fofern eine Reihe von Eindrüden zeit-
ih in uns abläuft, ift fie niemals in unferem Bewußtſein als
ein Ganzes, fie ift auch nicht in ihm als cin zeitlich geordnetes
Mannigfache vorhanden; ihres Vorübergehens und ihrer inneren
Gliederung im Vorübergehen werben wir doch nur inne, wenn
wir in einer ungetheilten That des Wiffens ſchon vergangene und
noch gegenwärtige Glieder der Kette zufammenfaffen und ihre
gegenfeitigen Berhältniffe auf einmal überfeben. Berlaufen daher
unfere inneren Zuftände wirklich in zeitlicher Ordnung, gegen
welche natürliche Annahme wir fchwer zu behandelnde Einwürfe
nicht "hier bereit8 vorbringen wollen, jo find doch diefe wirklichen
Zeitverhältniffe unferer Eindrücke nur Bedingungen, welche unfere
Seele nöthigen, durch eine neue und eigenthümliche Rückwirkung
nun aus ſich felbft au die Anſchauung der Zeit herborzu-
bringen, und welche fie zugleich befähigen, in dieſer angefchauten
Zeit jedem einzelnen Eindrude die ihm zufommende Stellung an-
zuweiſen.
Was uns ſchwieriger hier ſcheint, iſt uns deutlicher an dem.
andern Beiſpiele, dem Raume. Denn eine räumliche Ausdehnung,
Größe und Lage werden wir den Eindrücken der Dinge in uns
nicht beizulegen meinen; wie groß der vorgeſtellte Inhalt ſein
mag, unſere Vorſtellung von ihm breitet ſich doch nicht in unſerer
Seele zu gleicher räumlicher Ausdehnung aus. Mögen wir da—
her unentſchieden laffen, ob die Welt außer uns dieſe räumliche
Wirklichkeit, in der wir fie zu ſehen glauben, an ſich felbft be-
fit oder nicht befigt: die Eindrücke, die fie und mittheilt, find in
unferem Geiſte in beiden Fällen raumlos neben einander mie die
gleichzeitigen Töne einer Mufif, und alle mechjeljeitigen Beziehun-
gen zwiſchen ihnen find nicht Verhältniſſe der Lage, der Richtung
und der Ausdehnung, fondern den abgeftuften Verwandtichaften
zu vergleihen, die auch die Töne durch unräumliche Intervalle
von einander ſcheiden und auf einander beziehen. Aus dieſer
Welt der raumloſen Eindrüde bildet Die Seele die Anſchauung
259
der räumlichen Welt, nicht weil das Aeußere räumlich war, fon-
dern weil der Raum ein Wort ihrer eigenen Sprache ift, .ın
welche fie die unräumlihen Erregungen überfegt, die fie von jenem
empfing. Und ebenfo wie wir, an die Ausbrudsmeife der finn-
lihen Anfhauung gewöhnt, und die harmoniſchen Bezichungen
der Töne in die räumlichen Symbole der Höhe und Tiefe, des
Auf- und Abfteigens durch Intervalle zurücküberſetzen, fo ließ Die
Seele dur die urfprünglichen überfinnlichen Beziehungen der
Eindrüde fi darin leiten, jedem einzelnen zu jedem anbern feine
Stellung in der von ihr gefhaffenen Raumwelt des Vorſtellens
anzumeifen. Beide mithin, Zeit und Raum, zeitliche uud räume
liche Berhältniffe der Einbrüde find nicht etwas Fertiges, das
unfere wifjfende Thätigfeit auf ihrem Wege fände und aufläfe;
Beides erzeugt fie ſelbſt. Ob wir Recht hatten, zu jagen, daß
fie die Beziehungen der Eindrüde und der äußeren Gegenftände
in eine neue, nur. ihr felbft eigene Sprache überfeße, mag dahin
geftellt bleiben. Vielleicht ift die Außenmelt an fich jelbft eine
räumliche; vielleicht verlaufen Ereignifje wirklich in einer Zeit;
dann bat unfer Bemwußtfein, indem e8 feine eigene Sprache redete,
zugleich die getroffen, welche die Sprache der Dinge ift; aber
feine Thätigfeit war darum meder eine andere nod) eine weniger
eigenthümliche. Denn aud wir, die wir unter einander diefelbe -
Sprache und daſſelbe Denken haben, flößen nicht dem Andern
unmittelbar den fertigen Sinn unferer Gedanken ein; aud er
. bernimmt zunächſt nur den an fid) beveutungslojen Schall des
Worte und muß durch eigene Thätigfeit aus ihm fich biefelbe
Borftellung bald eines finnlihen Gegenſtandes, bald einer über-
finnlihen Beziehung, bald eines Ereigniffes wieder erzeugen, die
wir ihm mitzutheilen ftrebten.
Es ift eine unbewußte Wirffamfeit unſeres Geiſtes, durch
welche auf Diefe Weife das räumliche Bild einer umgebenden Welt
und die Anſchauung eines zeitlichen Fluſſes der Ereigniffe um
und und in und entſteht; niemal® werden jene urfprünglichen
Berhältniffe der Eindrüde, deren Abftufungen wir in diefen For-
17*
260
men beuten, in ihrer eigenen wahren Geftalt Gegenftände unſeres
Bewußtfeind; niemals fehen wir unferer eigenen Thätigkeit zu,
wie fie diefe räumlich zeitlihe Welt aufbaut, die vielmehr ſtets
fertig und unmittelbar gegeben fheint und uns einen müheloſen
Einblid in ihre Mannigfaltigfeit geftattet. Aber in anderer
Weiſe verräth dieſe finnlihe Weltauffaffung doch überall die
Spuren eines beziehenden Wiſſens, das iiber ihre einzelnen Theile
fih verbreitet hat. Denn niemals beichränft fie ſich in der That
auf die Darftellung eines räumlichen Nebeneinander und einer
zeitlichen Folge; felbft dies finnlihe Bild der Welt ift übergll
von Gedanken einer ſtufenweis geglieverten inneren Abhängig-
feit durchzogen, ohne welche feine anfchauliche Ordnung für uns
unverftändlich fein würde. Nicht nur wie ein Spiegel gibt das
Bewußtſein die Geftalt de8 Aeußeren; indem e8 einzelne Theile
berfelben zu kleineren Ganzen zufammenfaßt und fie gegen ihre
Umgebungen abgrenzt, bringt e8 Theilſtriche an, die jo nicht in
dem unmittelbar gegebenen Bilde Tiegen, fondern von der Voraus:
fegung einer ungleihen inneren Zufammengehörigfeit ausgeben,
die zuweilen wohl das Entferntere ftärker verknüpft, als das Be-
nachbarte. Zu dieſer neuen Ordnung des Sinnes und der Be-
deutung, in welche wir das finnlih Wahrgenommene bringen,
führt uns zum Theil der natürliche Mechanismus unferer Bor:
ftellungsaffociationen, ohne doch allen dieſes Werk zu vollenden.
Indem er die früheren Wahrnehmungen fefthält und fie wieber
auftauchen Täßt, wenn der veränderte neue Eindrud doch durch
einzelne beibehaltene Züge an fie erinnert, bringt er nach und
nad das Material zu einer zufammenhängenden Erfahrung her:
bei, deren wirfliche® Zuftandefommen doch nur durch bie eingrei⸗
fende Thätigkeit des Denkens erfolgt.
261
Gar Vieles führt die äußere Wahrnehmung räumlich und
zeitlich verbunden unferm Bewußtſein zu, was durch Teine Ge-
meinfchaft des Sinnes verknüpft, ſondern frembartig unter ein-
ander, nur einem befonderen Zufalle fein augenblidliches Bei-
fammenfein verdankt. Die Erinnerung wiederholt treu und un-
befangen, ma8 ihr die Wahrnehmung bot; fie bringt das Zu—
fammenhanglofe mit gleicher Genauigfeit wieder, wie das innerlich
Berwandte, und wirft unfern Borftellungslauf durch ungeeignete
Affociationen, die fih an einzelne Eindrüde gefnüpft haben, aus
der.ftetigen Richtung heraus, die er durch die Reihenfolge ein—
ander begründender Gedanken nehmen könnte. Aber der Geift
begnügt ſich nicht damit, fih von dem Mechanismus der Wahr-
nehmung und Erinnerung Verbindungen der Borftellungen auf:
drängen zu laſſen; als eine beftändige kritiſche Thätigkeit fucht
das Denken jede berfelben auf die Rechtsgründe zurüdzuführen,
welche die Berbindung des Berbundenen bedingen und das Zu—
jammenfeiende als ein Zufammengeböriged erweifen. So trennt
es von einander die Eindride, die ohne inneren Zufammenhang
fid in der Secle zufammenfanden, und erneuert beftätigend die
Berfnüpfung derer, denen die innere Berbindung ihres Inhaltes
ein Recht auf beftändige Gefellung gewährt. In allem diefen
Thun wird c8 geleitet und unterftügt durch denfelben mechanischen
Borftellungsverlauf, den es berichtigt; denn er felbft, indem er
durch neue Wahrnehmungen den früheren widerſpricht oder fie
beftätigt, führt feine eigene Verbefferung durch die allmähliche
Sonderung herbei, die auf dieſem Wege unvermeidlich das Freimd⸗
artige jcheidet und das Verwandte zufammenbringt. Dennoch ift
er allein nicht da8 Denken und vollzieht nicht felbft die Auf-
gaben, die wir diefem ftellen.
Dft wiederholte ähnliche Vorftellungen werden nicht allein
in ihrer ganzen Eigenthümlichkeit aufbewahrt, fondern neben ihnen
bilden fi zugleich allgemeinere und unbeftimmtere Bilder, welche
das Gleichartige der einzelnen auffammeln und ihre Unterſchiede
verwifhen. Aber die bloße Gegenwart diefer Bilder, welche Der
262
mechaniſche Vorſtellungslauf fir ſich erzeugt, ift noch nicht gleich-
zufegen dem Begriffe, in deſſen Form das Denken diefelbe Man-
nigfaltigfeit auf ihr gleichartige Allgemeine zurüdführt. Denn
in diefem ift überall der Nebengedanke einer gejeggebenven Regel
mitvorhanden, durch welche die einzelnen Züge des Allgemeinen
nicht nur als eine thatfächliche Verknüpfung, die in vielen Ein-
zelnen fich wiederholt, fondern als ein zufammengehöriges Ganze
erſcheinen, in ihrer Verbindung durch den untheilbaren Sinn des
Weſens verbürgt, deffen Bild fie find. Es kommt wenig darauf an,
wie ausgebildet unfer Wiffen um den Grund und die Bebeutung
dieſer Zufammengehörigfeit ft; daß fie überhaupt von uns gefühlt
wird, und daß wir die bloße Summe vercinigter Merkmale, welche
uns der Borftellungslauf an ſich bietet, in den Gedanken eines
Ganzen verwandeln, fcheivet binlänglich unfere Auffaffung von
dem bloßen Bilde felbft. Diefe Verwandlung aber vollzieht be-
ftändig auch das ungeübtefte Denfen, wenn e8 einen Namen
der Sprache ausfpriht; no mehr, wenn es dem Namen den
Artikel voranfhidt und das Wahrgenommene als irgend ein Das
bezeichnet, bat es ſchon Fräftig genug und unverkennbar diefe Ver-
einigung der zufammengefellten Züge des Bildes in den Gedan-
fen eines innerlich untheilbaren Ganzen vorgenommen.
Der Lauf der Wahrnehmungen zeigt uns oft zwei Eindrüde
verbunden, die eine bald kommende neue Empfindung uns getrennt
darftellt, während eine britte ihre frühere Verknüpfung wieder
beftätigt. Kein Grund konnte und veranlaflen, in jener erften
Wahrnehmung das Verbundene zu trennen, wir nahmen ed un-
befangen als an einander hängend bin; der legten erneuerten
Wahrnehmung diefer Verbindung ftellt ſich Dagegen die Erinne—
rung an die inzwiſchen gemachte Beobachtung ihrer Auflöfung
entgegen; beide Eindrüde werden nun nicht mehr in jener arg-
Iofen Weife, wie fie uns die erfte Anfchauung darbot, an einander
baften, fondern durch den Nebengevanfen ihrer möglichen Tren-
nung aus einander gehalten werden. Der Baum, zuerft blübend
oder belaubt geſehen, wird uns ein einziges Bild gewähren, deſſen
263
Pd
Theile alle mit gleicher Innigfeit zufanmmenbängen; die folgende
Wahrnehmung des entlaubten ftört dieſes Bild, und auch mo es
neu durch wirkliche Anfchauung gegeben wird, tft es nun für
und in die Borftellung der feftftehenden Form des Stammes
übergegangen, an den als veränderliche, vergängliche Theile die
Blätter fih knüpfen. Sole Trennungen und Verbindungen der
Borftellungen find das, was wir denkend in der Form des Ur-
theil8 ausdrücken; aber wir jagen im Urtheil mehr, als fie felbft
enthielten. Indem wir vom Baume jagen, er fei grün, faflen
wir ihn unter der Form eines felbftändigen Dinges, an dem bie
Farbe in jener Weife veränderlih und abhängig bafte, in welcher
überhaupt Eigenſchaften ihren Trägern zulommen. Dieſes mitge-
dachte Verhältniß zwiſchen Ding und Eigenfchaft ift der Grund,
auf welchen wir jene eigenthümliche Verknüpfung unferer Vorftel-
lungen zurüdführen, die ebenfo fehr da8 Verbundene auseinander-
hält, wie fic es vereinigt; in der Natur jener inneren Beziehung,
welche die Subftanz mit ihren Attributen zufammenfaßt, Tiegt die
Nothwendigkeit, welche auch hier den Inhalt der Borftellungen in
diefer bejondern Form zufammenfpannt. Nicht anders, wenn in
unferer Wahrnehmung auf die Anſchauung der Bewegung, mit
der ein Körper fih und nähert, der Schmerz des Stoßes folgt.
In unferer Erinnerung werden beide Eindrüde ſich aſſociiren,
aber das Urtheil, daß der Körper uns ftoße, enthält mehr als
die bloße Wiederholung der Thatſache, daß beide Eindrücke ſich
in uns zu folgen pflegten. Indem es den Körper als die thätige
Urfache, den Stoß als die Wirkung bezeichnet, führt es das Zu—
fammenfein auch diefer Verbindung der Borftellungen auf einen
inneren Grund ihrer Zufammengehörigfeit vechtfertigend zuräd,
auf jenen Cauſalzuſammenhang, defjen allgemeine Herrichaft über
alle Ereignifie eine der urfprünglichen Borausfegungen unferes
Geiftes über die Verknüpfung der Welt ift.
Aus der öfteren Wiederholung einer Wahrnehmung endlich,
in welcher eine Begebenheit auf die andere folgte, wird ſich Die
Gewohnheit der Erinnerung ausbilden, bei dem Wiedereintritt
264
der einen von ihnen auch die Wiederkehr der andern zu erwarten.
Solche Erwartungen Hoffnungen oder Befürchtungen über die
Zukunft, einfache Erzengniffe des mechaniſchen Borftellungsverlau-
fes, beherrſchen uns im täglichen Leben überall, und ein großer
Theil unferer Handlungen wird ohne Zweifel durch dieſe unmit-
telbaren Borftellungsverbindungen ohne weitere Ueberlegung ihres
Urſprungs ebenfo geleitet, wie wir es von der Seele des Thieres
poraudzufegen pflegen, der wir mit Recht oder Unrecht jenen Me-
chanismus allein, nicht aber die höhere Thätigkeit des Denkens
zugeftehen. Und in der That werben jene Erwartungen dem
Thiere fir die praktiſchen Zwecke feines Lebens ziemlich diefelben
Dienfte leiften, die e8 von einer denfenden Wiederholung defiel-
ben Inhaltes in der Form eines Schluffes hoffen Fünnte. Aber
dennoch liegt in dem Schluſſe eine ganz andere geiftige Arbeit,
al8 in jener inftinctiven Erwartung. Indem wir die erneuerte
Wahrnehmung zum Ausgangspunft einer Vorausſicht benugen,
rechtfertigen wir im Scluffe das Zufammenfein des Ermwarteten
mit dem Wahrgenommenen durch den Gedanken eines allgemeinen
Geſetzes, durch deſſen Gebot beide zuſammengehören. So bringen
wir auch bier die Thatſache der Berfnüpfung entweder auf den
Grund zuräd, der in der eigenen Natur der Sache Yiegend fie
nothmendig macht, oder wir überzeugen und, daß feine mefentliche
innere Beziehung beide Glieder mit einander zuſammenſchließt und
daß jene Erwartung eine der vielen Täufchungen tft, welche der
Mechanismus des Borftellungslaufes uns zuführt, indem er bie
mannigfachen Eindrüde nicht nach der Verwandtſchaft ihres In-
haltes, fondern nad) dem Zufall ihres gleichzeitigen Eintretens in
unfer Bemußtfein aneinanderfügt.
Bon den Ergebniffen diefer fichtenden, kritiſchen Thätigfeit
des Geiftes ift nun unfere finnlihe Weltauffaffung überall be:
reit8 durchdrungen; fie ift nirgends eine rein finnliche, fondern
zugleich eine verftändige. Nirgends ſchweben uns die Erſcheinun—
gen als bloße Bilder vor, wir glauben die Dinge mit zu fehen,
deren Einheit und Selbftändigfeit fie zu einem zuſammengehörigen
265
Ganzen als Eigenfchaften verbindet; mie tritt in der Beobachtung
eines Ereignifies der nächte Zuſtand für uns nur an die Stelle
des früheren, höchftens in umjerem Bewußtfein durd die Erinne-
rung an dieſen begleitet, fondern wir glauben den urſächlichen
Bufammenhang mit zu beobachten, der beide durch die Stetigfeit
einer inneren Verknüpfung verbindet; wo endlich größere Gruppen
der Begebenheiten einander folgen, ſcheint uns in ihrer Ordnung
unmittelbar der Zwang einer durchdringenden Geſetzlichkeit offen-
bar, der jevem Grunde feine Yolge, jeder Urſache Größe und Art
ihrer Wirkung zumißt. Doc dieſes allgemeine Beftreben des
Berftandes, Die finnliche Wahrnehmungswelt als ein innerlich
zufammenbängendes Ganze aufzufaflen, erreicht felbft feine Be—
friedigung nur dur die Beihülfe der Erfahrung. Indem wir
den Erfcheinungen Wefen, den Ereigniffen Urfachen, ihrem Zu-
fammenbange Gefege unterlegen, greifen wir doch häufig fehl in
der Bezeihnung defien, was das eigenthümliche Wefen der ein-
zelnen Erſcheinung, die befondere Urfache des beſtimmten Ereig-
nifjes, das inhaltoolle Geſetz eines begrenzten Zuſammenhanges
iſt. Nur indem eine glückliche Mannigfaltigkeit der Beobachtun⸗
gen und eine ſtetige Aufmerkſamkeit auf ihre Unterſchiede und
Aehnlichkeiten uns von den zufälligen Vorſtellungsverknüpfungen
befreit, welche die einzelnen Wahrnehmungen in uns bewirken,
lernen wir allmählich die allgemeineren und weſentlichen Zuſam⸗
menhänge erkennen, und unſere Weltauffaſſung thut in wachſen⸗
der Annäherung dem Verlangen des Verſtandes Genüge, die Vor—
ausſetzungen, die er mit Nothwendigkeit über allen Zuſammen⸗
hang der Dinge madt, an der Mannigfaltigfeit des Wirflichen
in der That zur Geltung gebracht zu ſehen. Aber die Gefchichte
diefer allmählichen Entwidelung gehört nicht zu den Gegenftän-
den, die diefer erfte Ueberblick unferes geiftigen Lebens umfaffen
fol. Nur der Betrachtung der Hilfsmittel gewidmet, aus deren
Gebrauch die mewfchlihe Bildung entftchen kann, muß er fich
begnügen gezeigt zu haben, wie wenig diefe Bildung fertig in
uns Tiegt, und wie felbft das, was als angeborne Anlage uns
266
zufommt, nur dadurch feine Aufgabe erfüllt; daß feine Kraft im
Gebrauche wähft, indem jede gewonnene Erkenntniß das Ber:
mögen des Geiſtes zu ihrer Erweiterung vermehrt.
Ueber die wahrnehmende Sinnlichkeit und den beziehenben
Berftand hinaus hat eine weit verbreitete Anficht noch ein höheres
Streben der Erfenntnig in dem menfchlichen Geifte zu finden
geglaubt, die Thätigfeit der Vernunft, die, auf Einheit unferer
Weltauffaſſung gerichtet, die Erfahrung zum Abſchluß zu bringen
ſuche. Welche Zweifel es auch erweden möchte, fie als neues
und höheres Vermögen dem Berftande überzuordnen, mit defien
Gewohnheiten ihre eigenen Zorderungen jogar in Streit zu ge—
rathen fcheinen, jo drückt doch Ddiefer neue Name in der That
eine neue und eigenthlimliche Form des beziehenden Denkens aus,
die in dem wirklichen Leben des Geiſtes zu bebeutfam bervortritt,
um nicht bier hervorgehoben zu werden, noch ehe wir ihrem Ur-
fprunge meiter nachforſchen können.
In jedem einzelnen Falle, den uns die Erfahrung darbietet,
ift der Berftand befchäftigt, nach jenen Gefegen des Zufammen-
hanges, bie er als allgemein geltende Nothiwendigfeiten voraud-
fegt, nach dem nächſten ergänzenden Gliede zu forichen, auf wel-
ches die Wahrnehmung Hinmeift und welches fie fordert. Zu
jedem einzelnen Schein der Eigenfchaften fucht er ein Wejen, das
ihn wirft, zu jedem einzelnen Ereigniß die Urfache, Die es her—
vorbrachte, und die Wirkungen, die es felbft begründen wird, zu
jeder Gruppe von Thatſachen das Geſetz, welches fie beherrſcht.
So von Punkt zu Punkt fortichreitend, wie weit ihn die Beran-
loffungen der Wahrnehmung treiben, verknüpft ev auch nur im
Einzelnen Punkt mit Punkt; aber er. legt fih nicht die Frage
vor, welches endliche Geſammtbild der Welt und ihres Zufamnen-
hanges nun zulegt entftehen werde, wenn biefelben Regeln ber
Beurtheilung auf alle wirflihen und denkbaren Fälle der Wahr-
nehmung und auf jeden einzelnen fo oft wiederholt angemanbt
267
würden, als jeder nad feiner Natur zur Erneuerung diefer An-
wendung veranlaffen könnte. Es befümmert den Verftand nicht,
wie die Reihe der Urfachen, welche auffteigend jede Urfache eines
einzelnen Ereigniffed von Neuem verlangt, irgendwo abfchliegen
werde, in melden Zuſammenhang die unzähligen Fäden gefeß-
licher Berfnüpfung, die er neben einander fharffinnig verfolgt,
zulett in einander verflochten fein mögen, an welchem Dafein von
unbedingter Natur endlich die vielfachen bedingten Wirflichfeiten
bangen, deren Wechfelverhältniffe unter einander, nachdem fie vor:
banden find, fi feinen Gefegen unterworfen zeigen.
Es kann eine fpielende DVertheilung der Arbeiten fcheinen,
wenn wir von dem Berftande behaupten, daß er diefe Fragen
fih nicht ftelle, und wenn wir nun hinzufügen, daß aus ihrer
Beantwortung die Bernunft ihre Aufgabe macht. Und gewiß
find beide darin verwandt, daß fie eine Zufammenfaffung des
Mannigfachen verfuchen, aber der leitende Gedanke, den die Ber:
nunft hierbei befolgt, die Gewißbeit, daß die Summe der Wirk-
lichkeit nur als vollendete Einheit und Ganzheit Beſtehen haben
fönne, ift doch nicht derfelbe Grundfag, nach welchem der Ber:
ftand nur die Form der Verknüpfung zwifchen je zwei Gliedern
unterſucht, ohne über die Geſtalt, welche aus der Vereinigung
aller hervorgehen wird, einen Ausfpruch zu thun. So wie ber
architektonische Stil, den wir bauend wählen, die Verfettungsart
jedes Baugliedes mit jedem andern beftimmt, aber völlig unbe-
ftimmt die endlihe Form des Gebäudes läßt, deſſen Plan viel-
mehr nur der Zweck vorzeichnet, dem wir cd widmen: fo zeigen
und die Grundſätze des Verſtandes wohl den Stil des Welt-
baues, aber nicht die Geftalt der Umriffe, die fein vollenvetes
Ganze befigt. Daß die Vernunft diefes Räthſel löſe, werben wir
ebenjo wenig behaupten, als wir dem Berftande jemals das voll-
ftändige Gelingen feiner geringeren Aufgabe nachrühmen dürfen.
Schon über den Sinn der allgemeinen Gefege, die er dem Zu—
fanımenhange der ‘Dinge vorjchreiben zu können glaubt, täufchen
ihn oft die Gewohnheiten einer beſchränkten Erfahrung; an den
268
Beifpielen der Ereigniffe haftend, welche uns ber für jeden end-
lichen Geift nur bejchränfte Kreis der Beobachtung vorführt,
nehmen wir zu oft die beftimmte Form, unter der ſich in befon-
deren Fällen der gefeglihe Zufammenhang der Dinge äußert, für
die reine und allgemeine Nothwendigkeit an, die wir überall wie-
berfinden müßten; fo gerathen wir in manderlei Unklarheiten
über den wahren Sinn und die GültigfeitSgrenzen der Grundfäge,
die wir auf einen gewohnten Erfahrungsfreis lange mit dem voll-
ften Gefühle ihrer Nothmendigfeit und unmittelbaren Klarheit
anmendeten. Um fo weniger, je mehr ſchon dieſe Schwierigkeiten
und drüden, vermag die Vernunft das Bild eines Weltganzen zu
begrenzen, deſſen Einzelnbeiten ihr nur unvollftändig überliefert
werden; fie fann nur allgemeinfte Forderungen ausfprechen, denen
Genuge zur leiften fie von jedem Verſuche dieſes Wagniſſes verlangt,
und auch fie wird, bebrängt von dem mannigfad, widerftreitenden
Interefje, mit dem unfere Wünſche und Bebitrfniffe in den That—
beftand der Wirflichlett verwidelt find, den Sinn deſſen häufig
mißverſtehen, was fie verlangen muß. Noch mehr wie die ver:
ftandesmäßige Betrachtung der Welt werden diefe Beftrebungen
der Vernunft, wie fie im unmittelbaren Leben des Geifted vor-
fommen, eine geordnete Aufflärung über ſich felbft durch die Hülfe
der Wiffenfhaft bebürfen, und noch weniger als jene find fie,
ohne die Zucht einer abfichtlich geleiteten Bildung, nur als na-
türliche Anlage des Geifted zur Erreichung ihres Zieles fähig.
Aber in dem Anlauf, den fie nehmen, verratben fie doch ein
eigenthiimliche8 der Beachtung witrdiges Thun des Geiftes, deſſen
Duelle wir nicht mehr allein in der vorftellenden oder beziehenden
Natur der Seele, fondern in einem andern Zuge ihres Wefeng,
dem wir uns nun zuwenden, glauben fuchen zu müſſen. i
269
Fünftes Kapitel.
Bon den Gefühlen, dem Selbftbewußtfein und dem
Willen.
Entftehung und Formen der Gefühle — Ihr Zufammenhang mit der Erkenntniß. —
Die Weribbeftimmungen ber Bernunfi. — Selbftbemußtfein ; empirifches und reines
Ih. — Triebe und Strebungen. — Der Wille und feine freiheit. — Schlußbe⸗
merfung.
Sp wie die Farbe eines Gemäldes den Eindrud feiner Zeich-
nung belebt und fteigert, fo durchdringen Gefühle der verfchieden-
ften Arten alle die mannigfadhen Ereigniffe des Vorſtellungslebens,
die wir bisher ſchilderten. Wie wenig wir ihren Urfprung unmittel-
bar aus den Berwidlungen der Borftellungen ableiten können, die
zu ihrem Hervortreten Veranlaffung geben, baben wir uns früher
überzeugt. War e8 eine urfprüngliche Eigenthümlichkeit des Get-
ſtes, Veränderungen nicht nur zu erfahren, fondern fie worftellend
wahrzunehmen, fo ift c8 ein ebenfo urfprünglicher Zug defielben,
fie nit nur worzuftellen, fondern in Luft und Unluft auch des
Werthes inne zu werden, den fie für ihn haben, indem fie bald
in dem Sinne feiner eigenen Natur ihn anregen, bald ihm For⸗
men und Berfnüpfungen der Zuftände zumuthen, die dem natür—
lichen Ablauf feiner Thätigfeiten zumiber find. Denn darauf wird
Doch zuletzt alle Luft beruhen, daß dem Geifte, defjen Beſtimmung
nicht die Ruhe, fondern die Entwidlung ıft, Erregungen zugeführt
werben, die, mit der Richtung den Bedingungen oder der Form
feiner Icbendigen Entfaltung itbereinftimmend, ihm nicht nur die
Sicherheit des Unangefochtenſeins fondern eine Förderung feines
eigenen Thuns verfchaffen. Und ebenjo, wie die Secle als ver:
änderliches und thätige8 Weſen im Gefühle der Luſt ſich Diefer
Uebung ihrer Kräfte als einer Steigerung in dem Werthe ihres
Daſeins bewußt wird, ebenfo befigt fie die Fähigkeit, die Stö—
rungen, die von ihrem eigenen Wege fie nblenfen möchten, weder
blos zu leiden noch an ihnen zu Grunde zu gehen, fondern fie
270
im Gefühle der Unluft als das was fie find, als Störungen ihres
beftändigen Sinnes, zu empfinden und von der natürlichen Ent-
wicklung ihres Weſens abzutrennen.
Wir find es freilich zunächſt, die Unterfuchenden, melde Die
Entftehung der Gefühle found deuten; wir vollziehen jene Berglei-
hung des Eindrudes mit den Bedingungen, die dem Leben der
Seele aus ihrer eigenen Natur vorgefchrieben find; wir glauben
in dem Unangenchmen den Wiberftreit der gefchehenen Erregung
mit dem, was diefe Bedingungen fordern, in der Luſt die Meber-
einftimmung beider zu finden. Die fühlende Seele felbft macht
weder überall, noch unmittelbar im Augenblide des Gefühle dieſe
Bergleihung. Sp wenig fie fih der vermittelnden Creigniffe in
ihrem Körper bewußt wird, aus denen die finnliche Empfindung
entfteht, jo wenig ficht fie vor dem beginnenden Gefühle dem
Streite oder der Mebereinftimmung der Eindrüde mit den Be
dingungen ihres Xebens zu, um nun erft nad) dem Ergebnif Die-
fer Vergleichung Luft oder Unluſt an fie zu Inüpfen. Unbelannt
mit jenen Bedingungen, wie fie unbekannt ift mit den Ereigniffen
in den Sinnedorganen, würde fie felbft diefe Vergleihung nicht
ausführen können; und wie von allen Vorgängen, melde die Em:
pfindung begründen, nur das legte Ergebniß, die Empfindung
jerbft, in dem Bewußtſein auftaucht, ebenfo fteigen die Gefühle
in und auf, ohne die innere Bewegung der Seele zu verrathen,
aus der fie entfpringen. Aber einmal vorhanden, werben fie doch
immer von uns fo gedeutet werden, wie wir e8 gethan haben,
und nie wird ed dem natürlichen Bewußtfein zweifelhaft fein, daß
in irgend einer unbefannten Förderung, die unfer Leben erfahren
hat, die Luft, in irgend einer Störung die Unluft wurzele. Und
ebenfo endlich, wie Die wachfende Erfahrung unfere Borftellungsver-
knüpfung berichtigt, wird auch diefer Rückſchluß durch fie näher be—
ftimmt. Die augenblidliche Förderung, die ung ein Eindrud bereitete,
bürgt nicht für die Heilfamfeit auch der fpäteren Nachwirkungen, mit
welchen er in das Ganze unſeres Lebens eingreift, und der einzelne
Bortheil, den und die eine’Eigenfchaft eines Reizes bereitete, hin-
271
dert nicht die Gefährlichkeit der Einflüffe, die von den übrigen
ausgehen können. Das Gefühl wird Recht behalten, wenn es
die Süßigfeit eines Giftes Tiebte und die gerechte Strafe Bitter
fand, denn immer Yag in jenem Geſchmacke eine augenblidliche
Mebereinftimmung des Eindrudes mit der Thätigfeit des Nerven,
und in dem Schmerz der Strafe eine feindliche Störung unferer
Stimmung. Die Erfahrung nimmt diefe Urtheile nicht zurück;
fie warnt nur, fih auf fie allein zu verlaffen, und lehrt uns
über den Geſammtwerth eines Eindrudes erft Dann zu urtheilen,
wenn wir au die Gefammtfumme feiner Folgen und der Stö-
rungen oder Förderungen, die fih an fie knüpfen, gezogen haben.
Die Formen find verjhieden, unter denen die Gefühle im
finnlihen wie in dem geiftigen Theile unſeres Dafeins ſich dar-
bieten. Bald treten fic hervor, an einen beftimmten Eindrud ge-
knüpft, deſſen Inhalt und Form noch außerdem durch eine beut-
liche Borftellung wahrgenommen wird, bald breiten fie ſich ohne
Hare Erinnerung an ihren Urſprung als allgemeine Stimmungen
über das Gemüth aus, den Beleuchtungen ähnlich, die von einem
verborgen bleibenden Lichtquell durch unzählige Zurückwerfungen
der Strahlen entftehen. Berknüpft mit manderlei förperlihen Zu—
ftänden, von denen fie entweder veranlaßt werden, oder beren Ver:
anlaffungen fie jelbft find, begleitet bald von einem ärmeren Er-
innerungöfreife, defjen jeder einzelne Theil das eigenthümliche In—
tevefje wiederzuerwecken fucht, weldes feinem Inhalt anhaftete,
durchzogen endlih von mancherlei ihres Zieles entweder gemiffen
oder unbeftimmt fuchenden Strebungen, nehmen die Stimmun-
gen de8 Gemüthes eine Mannigfaltigfeit fein fchattirter Formen an,
bie weit entfernt find von der trodenen Vergleichbarkeit eines blo-
ken Mehr und Minder allgemeiner Luft oder Unluft. Der Ber-
lauf ver Bildung, wie er die Weite des Bewußſeins für die Zu-
fammenfaffung mannigfadher Vorſtellungen vergrößert, ftcigert aud)
die Seinheit dieſer Durchkreuzungen ber Gefühle und bringt jene
272
unermeßliche Bieljeitigfeit der Gemüthsregungen hervor, deren
- Darftellung faum der Kunft und nie den unvollfommneren Mitteln
der wiſſenſchaftlichen Zergliederung gelingt.
Ohne dieſes Labyrinth jett zu betreten, in welches und Die
Betrachtung der menſchlichen Eultur fpäter und zu vertiefen nö-
thigen wird, möchten wir drei Richtungen namhaft maden, in
denen das Gefühl als cine der weſentlichſten Kräfte in dem Zu-
fammenhange unſeres geiftigen Lebens wirkſam wird. Man wird
vor Allem ſich entwöhnen müfjen, die Geflihle als Nebenereignifie
zu nehmen, die im Verlauf der inneren Zuftände zumeilen einträ-
ten, während der größere Theil der letztern in einer gleichgültigen
Reihe leid- und Iuftlofer Veränderungen beftände. Außer der völ-
Tigen Ruhe würden wir und feinen Zuftand- benfen Fönnen, der
nicht mit den eigenen Entwidlungsbedingungen der Seele entweder
übereinſtimmte oder in irgend einer Weife ihnen zumider wäre.
Welche Erregung daher die Seele auch immer erfahren mag, von
jeder werben wir einen Eindrud der Luft oder Unluft erwarten
müffen, und eine genauere Selbftbeobachtung, fo weit fie die vei-
blaßten Farben dieſer Eindrüde zu erfennen vermag, beftätigt Diefe
Bermuthung, indem fic feine Aeußerung unferer geiftigen Thätig-
feit findet, die nicht von irgend einem: Gefühle begleitet mwäre-
Berblaßt find jene Farben allerdings in dem entmwidelten Gerhüth
vor dem übermächtigen Intereffe, das wir einzelnen Zwecken -un:
fever perſönlichen Beftrebungen zuwenden, und nur eine abfichtliche
Aufmerkjamteit findet ſie wieder auf, ebenfo wie unfere mikroſkopiſche
Beobachtung die regelmäßige Bildung unſcheinbarer Gegenftände,
über die unfer Blick gewöhnlich unachtfam binmegfieht. Jeder einfachen
finnliden Empfindung, jeder Farbe, jedem Tone entjpricht urfprüng-
lid ein eigner Grad der Luft oder Unluft; aber gewöhnt, dieſe
Eindrüde nur in ihrer Bedeutung als Merkmale der Gegenftände
aufzufafien, deren Sinn und Begriff und wichtig ift, bemerken
wir den Werth des Einfachen nur dann no, wenn wir mit gefam:
melter Aufmerkſamkeit uns in feinen Inhalt vertiefen. Jede Form
der Zufammenfegung des Mannigfaltigen erregt neben ihrer Wahr
%
273
nehmung in und einen leifen Eindrud ihres Uebereinftimmens
mit den Gewohnheiten unferer eigenen Entwidlung, und diefe oft
unflaren Gefühle find e8, melde für jedes einzelne Gemäth jedem
einzelnen Gegenftand feine bejondere Färbung geben, fo daß er,
mit demfelben Thatbeftande der Merkmale für alle, doch für jeden
von uns ein anderer ſcheint. Aber ſelbſt die einfachften und fehein-
bar trodenften Begriffe des Denkens find nie von dieſem neben
hergehenden Gefühle ganz entblößt; wir faflen den Begriff der
Einheit nicht, ohne zugleich ein Glüd der. Befriedigung zu genie-
gen, das fein Inhalt einfchließt, den des Gegenfages nicht, ohne
zugleich die Unluft der Feindfeligfeit mit zu empfinden; Ruhe
Bewegung und Gleichgewicht beobachten wir weder an den Din-
gen, noch entwideln wir uns ihre Vorftellungen, ohne und mit
unferer ganzen LXebenbigfeit in fie hinein zu verfegen und en
Grad und die Art der Förderung oder der Hemmung mitzufühlen,
die fiir und aus ihnen hervorgehen könnte. Auf diefer Allgegen-
wart der Gefühle beruht cin guter Theil unferer höheren menfch-
lichen Ausbildung; fie ift der Grund der Phantafte, aus der die
Werke der Kunft geboren werden, und welche das Verſtändniß aller
natürliden Schönheit eröffnet; denn in nichts Anderem befteht
diefe fhaffende und nachſchaffende Kraft, als in der Feinfinnigfeit
des Geiftes, welche die Welt der Werthe in die Welt der Formen
zu kleiden, oder aus der Verhüllung der Form das in ihr ent-
haltene Glück berauszufühlen verfteht.
| Aber das Gefiihl enthält zugleich den Grund jener eigen=
thümlichen und höchſten Thätigkeit, welcher wir in dem Gebiete
der Intelligenz begegneten, jener Vernunft nämlich, die von dem
Ganzen der Wirklichkeit Formen des Dafeind befolgt wiffen will,
in denen fie allein den Werth des Wirflichen verbirgt findet.
Wenn wir von dem Weltall ebenſowohl die zählbare Endlichkeit
einer beftimmten Größe als die unvollendete und unvollendbare
Srenzenlofigfeit abhalten möchten, wenn wir von feiner Vorftellung
verlangen, daß fie ein Ganzes und innerlich abgeſchloſſenes Eine
Darbiete, das doch zugleich das. Umfaffende aller Eingelnen fei, fo
Loge J. 3. Aufl.
274
folgen wir in diefer und in anderen Forderungen nicht mehr ber
bloßen Neigung eines gleichgültigen Berftandes, dem fein Gegen-
ftand ohne dieſe Bedingungen undenkbar würde, fondern wir
folgen. den Eingebungen einer werthempfindenden Vernunft, die
auch Das Denkbare abmeift, fo lange es nur denkbar ift und nicht
durch die innere Würde feines Inhaltes zugleich Die Anerkennung
feiner Gültigkeit in der Welt erringt. Gar Vieles würde ber
Berftand für fih allein mögli und den Gejegen feines PVer-
fahrens entfprechend finden, was die Vernunft dennoch um feiner
inneren Unglaublichfeit willen verjhmähen wird; vieled Andere
wird fie verlangen können, was dem Berftande in feinen eigenen
Denkformen aufzufaffen mißlingt. Blicken wir auf unſere Welt-
auffaffung, wie fie fih im Laufe unferer wirklichen, nicht allein durch
die-Schlüfje der Wiffenfchaft, fondern auch durch die Erfahrung
des Lebens zu Stande gekommenen Bildung entwidelt bat, fo
werben wir fie reichlich eben jo fehr von diefen oft nur verftohlen
mitwirkenden Forderungen unferer Vernunft, als von den völlig
aufflärbaren Grundfägen unſeres Berftandes beftimmt finden.
An den Räthſeln, welche uns die Veränderung der Dinge, die
Mannigfaltigfeit ihrer Eigenfchaften, die Lebendigkeit und Freiheit
aller Entwidlung darbieten, an diefen Schwierigkeiten arbeitet die
wiſſenſchaftliche Kraft des Verſtandes fi) müde, nicht fruchtlos
zwar, aber außer Stande doch, die Begriffe der Iebendigen Frei:
heit und Thätigfeit fo klar zu vechtfertigen, wie die unvermwält-
liche Zuverfiht der Vernunft zu ihrer nothmendigen Gültigkeit
verlangen würde. Dem menſchlichen Gemüthe ift jene glückliche
Sneonfequenz gegeben, zwei Gebanfenrichtungen arglos zugleich zu
folgen, ohne den Widerfprud zu empfinden, in welchen fie zulest,
nicht immer freilich in größter Nähe, zufammenftoßen. So geben
wir und im Laufe der gewöhnlichen Erfahrung ohne Bedenken
den Berfahrungsweifen des Berftandes hin, mit denen wir fiher
find, immer Einzelned mit Einzelnem gefegmäßig verbinden zu
fönnen, und mit denen wir zugleich ficher fein könnten, wenn wir
e8 eben bemerften, niemals jenes Bild des Weltganzen zu er:
275
reihen, das während aller diefer Bemühungen unfere Vernunft
gleichzeitig fefthält oder zu gewinnen ſucht.
Nicht immer allerdings laſſen ung die Ereigniffe des Lebens
in diefer Vergeflichkeit; in dem Dafein der Einzelnen wie in dem
der Geſchlechter fehen wir unvermeiblid an einzelnen Wendepunk—
ten das Bewußtfein der großen Lücke auftauchen, die zwifchen
unferer wifjenfchaftlihen Erfahrung im Gebiete des Enplichen
und unjerem Glauben über den Inhalt und die Form des Ewigen
fih ausdehnt. Mber weder diefen Kampf in dem einzelnen
Gemüthe, nod die großartigeren Formen, die er in der Gefchichte
der Eultur und Speculation angenommen bat, mögen wir in
dieſem vorläufigen Weberblid einer fpäteren Schilderung vorweg⸗
nehmen. Wie man au immer geglaubt bat, ihn entſcheiden zu
müſſen, dieſe verfchtedenen Urtheile haben im wirflihen Leben, in
welchen die Evidenz unferer Gedanfen noch eine anbere und
anders vertbeilt ift, als innerhalb der Schranken der Wifjenfchaft,
niemals die Zuverficht zu trüben vermocht, daß in jenem Gefühl
für die Werthe der Dinge und ihrer Verhältniſſe unfere Vernunft
eine ebenfo ernft gemeinte Offenbarung befigt, wie fie in den
Srundfägen der verftandesmäßigen Forfhung ein unentbehrliches
Werkeug der Erfahrung bat. Aber zugleich würde und eine
Meberficht jener Urtheile lehren, daß feine Quelle der Offenbarung
trüber fließt, Feine fo ſehr einer feften Faſſung bedarf, als Diefe,
welche ihre Behauptungen über die nothiwendige Form der Welt
nur aus dem Gefühle des Werthes zu begründen vermag, den
fie in ihr zu entbeden, in anderen denfbaren zu vermiflen glaubt.
Unzählige Umftände fünnen ung bier täufchen; unzählige unver:
merft entftandene Gewohnheiten des Denkens und der Anfhauung,
aus individueller Eigenthümlichkeit, aus dem Bildungsftande der
Zeit, aus der Beichränktheit unferer Xebenserfahrung hervorge-
gangen, können uns verleiten, das, was wir mit Recht in einer
allgemeinen Weife verlangen würden, eigenfinnig in einer einzelnen -
beftimmten Form oder unrichtig und uns felbft mißverftehend in
völlig falſchem Sinne zu fuhen. Mögen daher diefe höheren
18*
276
Anfichten der Dinge, wie man fie zu nennen liebt, immerhin bie
belchende und erwärmende Macht in allen menſchlichen Beftre-
bungen fein, fo werben fie doch immer die Berwandtidaft der
werthbeftimmenden Vernunft mit der künſtleriſchen Phantafie be-
ftätigen; was fie hervorgebracht haben, darin tritt überall das
- Gefühl einer poetifchen Gerechtigkeit an die Stelle der Einficht
in die Gründe ber Gewißheit. Ste bilden einen großen, aber
fhmer zu gemeinfamer Verftändigung zu verwerthenden Schat
unferes Innern, und die Wiffenfhaft muß vieleicht zufrieden fein,
wenn ihr der Nachweis gelingt, daß die Klaren und unmwiberleg-
lichen Grundſätze des Verſtandes eben nichts find, als felber Die
aufflärbaren und zum Gebraud; fertig ausgebildeten Theile jenes
Schages, nicht ihm frembartig zugefellt, ſondern aus ihm felbft her⸗
vorgehend, als die einzigen Verfahrungsweiſen, denen es von un:
ferem menfhlihen Standpunkte aus gelingen kann, den eigenen
Sinn und Zwed der Vernunft, die Verbindung der Wirflichfeit in
die Einheit eines zufammengehörigen Ganzen, durchzuführen.
Entiprehen nun dieſe Verſuche unſeres Geiftes, aus der
Welt der Werthe die Welt der Formen zu deuten, der auffaffenden
Thätigkeit der Phantafie, welche das Wirkliche aus feiner eigenen
Schönheit, wie aus einer wirkenden Kraft, nachzuſchaffen fucht,
fo fteht der Fünftlerifchen Erzeugung der Schönheit die handelnde
Bernunft zur Seite. Verſchiedene Zeitalter haben verjchiedenen
Spealen der Kunſt nachgetrachtet; aber mie abenteuerlich auch die
Geftalt fein mochte, in welcher zumeilen ihre wenig feinfinnige
Phantaſie ſchon den Ausdruck des Höchſten erreicht zu haben meinte:
alle empfanden eben als Ideal, was fie verehrten. - Kaum weni-
ger verſchieden find in der Mannigfaltigfeit der Zeiten und der
Eulturftufen die fittlihen Ideale der handelnden Vernunft geive-
fen; aber was auch ihr Inhalt fein mochte, man empfand es
als Pflicht, ihn durch Thaten zn verwirklichen, und die fittlichen
Grundfäge jeder Zeit wurden ſtets von dem Gemüthe in einer
anderen Weife gebilligt, al8 die Wahrheiten ver Erfenntniß; aud
fie waren Ausſprüche eines werthempfindenden Gefühles. Eine
277
Bildung, die von den verfchiedenften Seiten her die mannigfad-
ften Aufflärungen über Die Sellung des Menſchen in der Welt,
über Maß und Bedingungen feiner Kräfte und über den Reich—
thum des realifirbaren Guten empfangen hat, glaubt vielleicht
über diefen Standpunft hinaus zu fein, der auch das Bewußtſein
unferer moraliſchen Berpflihtungen aus einem fittlichen Gefühle
entfpringen ließ. Uns allerdings erfcheint der Inhalt der wefent-
lichften fittlihen Gebote fo Mar, daß wir meinen, ihre innerliche
Nothwendigkeit müſſe ſich ebenfo unmittelbar aufdrängen, wie fi
die einfachften Grundfäge der Erkenntniß wenigftend ald unbewußte
Uebung allen Bölfern aufgedrängt haben. Aber doch aud uns be-
lehrt die Erfahrung des Lebens wenn gleich in geringerem Maßſtabe
von der Verſchiedenheit des Inhaltes, den einzelne Gemüther mit
gleicher Ueberzeugung und Religioſität als die verpflichtende Auf:
gabe ihres Handelns feftbalten; eine ausgevehntere Ueberficht aber
würde bei der Vergleihung verfchievener Völker und Culturen
faum etwas Anderes finden, als die Thatſache, daß überall auch
Gefinnungen und Handlungen Gegenftände einer wertbbeftimmen-
den Vernunft find, aber daß die Fähigfeit diefer Vernunft, den
Werth ihres gefuchten Ideal in den beftimmten Formen des
Handelns wiederzuerfennen, ähnlichen Täufchungen unterliegt, wie
ihnen Die Verſuche zu höherer Erkenntniß der Dinge ausgefegt
find. Auch die Welt der fittlichen Ueberzeugungen tft ein Ergeb-
niß der Bildung; daß fie nicht ohne die zahlreichen Einflüffe
diefer entftehen konnte, davon haben wir in dem weiten ®e:
mälde der Humanität, dem diefe Betradjtungen zum Eingange die-
nen, die bezeichnenden Züge zufammenzuftellen; daß fie aber auch
nicht durch die Bildung allein entftand, fondern ihre Wurzeln in
dem innerften Wefen des Geiſtes hat, baran allein war bier zu
erinnern Beranlaffung. Weit entfernt, al8 eine nebenherlaufende
Zugabe nur aus der Hebung unferer vorftellenden Thätigfeit zu
entftehen, beruht das Sittliche vielmehr auf biefem Grunde bes
Gefühles, das weit eigenthlimlicher als die Erfenntniß die wahre
Natur des Geiftes bezeichnet und mit feinem Einfluß auf die
278
offenbarſte Weife, wie wir gefehen haben, auch in die Bemühun-
gen unſeres erfennenden Verſtandes hinübergreift.
Aber wir wollten die Wirkſamkeit des Gefühl! nach drei
Seiten hin beftimmen, und die eben gemachte Aeußerung erinnert
und an die zweite diefer inneren Erfcheinungen, die wir nicht
ohne die Orundlage des Gefühls begreifen Finnen, obwohl fie am
häufigften als eine Thatſache des bloßen Erfenntniflebens aufge:
faßt wird. Ich meine das Sebſtbewußtſein, in weldem wir
und als Ich von dem Nicht-Ich der übrigen Welt unterjcheiden
und die Mannigfaltigfeit der inneren Zuſtände auf dies Ich, als
den zufammenhaltenden Mittelpunft aus- und eingehender Wir-
fungen, bezieben.
Früheren Anfihten hat es oft geſchienen, als bilde gerade:
das Selbftbewußtfein jenen wejentlihen und angeborenen Charak—
ter, ohne deffen urfprängliches Vorhandenfein der Geift jelbft un-
denfbar fein würde, oder durch deſſen Befig er mwenigftend von
der felbftlofen Scele des Thieres ſich unterſcheide. Man hat all-
mählich dieſe Annahme aufgegeben und fi gewöhnt, das Selbft-
bewußtſein als das Ergebniß eines nicht kurzen Bildungslaufes
zu betrachten, ſei es, daß man ein Streben zu ſeiner Entfaltung
überhaupt als die treibende Kraft in aller geiſtigen Entwicklung
anſah, oder daß man als ein glückliches Nebenerzeugniß aus dem
Mechanismus des Vorſtellungsverlaufes unter anderen auch das
Bewußtſein des eigenen Ich hoffte hervorgehen zu ſehen. Zwiſchen
dieſen Auffaſſungen hindurch ſcheint doch die Natur der Sache
einen anderen mittleren Weg zu fordern. Gewiß kann Niemand
ernſtlich das Selbſtbewußtſein ſo für ein angebornes Beſitzthum
des Geiſtes halten, daß wir das, was wir ſelbſt ſind, in einer
deutlichen Vorſtellung abgebildet von Anfang an vor uns ſähen.
Kommen wir doch, durch alle Bildung des Lebens und durch alle
Aufmerkſamkeit abſichtlichen Nachſinnens unterſtützt, nie zu dieſer
279
vollkommenen Erfenntniß, vor deren erfchöpfender Auskunft alle
weiteren Tragen nad der eigentlicheren Natur unferes Weſens
verftummten. Niemals zeigt unfer Bewußtfein uns dies Bild als
ein gefundenes; nur hingemwiefen werben wir auf einen mehr oder
minder dunflen Punkt, in dem das Tiege, was wir als unfer Ich
ſuchen. Aber daß wir e8 eben fuchen können, daß wir dies fo
unvolftändig Erkannte doch mit der entjchievenften Lebhaftigfeit
immer von der Außenwelt trennen, diefen Trieb können wir nicht
verftehen, ohne ihn al8 unabhängig von den Umftänden zu ben-
fen,’ welche die fortichreitende Vervollkommnung unferes Wiſſens
um und jelbft bedingen. Wie kommen wir alfo dazu, die Mannig-
faltigfeit alles Vorſtellbaren in dieſe zwei Theile zu feheiven, das
eine Ich und ihm gegenüber die unzählbare Fülle alles Uchrigen ?
Unterfcheiden wir uns von der Welt, fo ift e8 nicht ein Unter-
fcheiden, dem ähnlich, durch welches wir zwei andere Gegenftände
auseinander halten; diefer Gegenfat ‚vielmehr zwifhen ung und .
dem, mas nicht wir find, erſcheint und nad Sinn und Größe als
ein unbebingter und umvergleihbar mit allen übrigen.
Und died aus fehr natürlihem Grunde, wird man jagen:
enthält doch er den befondern und völlig einzigen Ball, in welchem
dasjenige, welches dieſe entgegenfegende Beziehung denkt, felbft das
eine Glied des Gegenfages bildet. Dies Zufammenfallen des “Den-
fenden und des Gedachten, der weſentliche Zug deflen, mas wir
das Ich nennen, vechtfertige das befondere Gewicht, welches wir
auf diefen Unterjchied legen. Aber genauer betrachtet erflärt dieſer
Umftand ſehr wenig das Näthfel des eigenthiimlichen Intereffes,
das wir an diefem Unterfchtede nehmen, und das fehr wenig mit
der bloßen Theilnahme an ber intereffanten Eigenthümlichkeit eines
befonderen Falles gemein hat. Nicht darin liegt die Bedeutung
des Selbftbemußtfeind, daß Denkendes und Gedachtes zufammen-
fallen; denn diefer Zug bezeichnet nicht unfer Ich allein, fondern
die allgemeine Natur jed cs Ich, von der mir eben das unfere
wodurch nun eigentlich unterfcheiden ? Dadurch gewiß, daß es das
Dentende unferer Gebanten if. Aber mad meinen wir damit,
280
wenn wir irgend welche Gedanken als unfere bezeichnen? Darüber,
was unfer ift, muß e8 offenbar eine unmittelbare Gewißheit geben,
und fie kann uns nicht aus der allgemeinen Borftellung von der
Natur des Ich fließen, von welcher unfern eigenen Tall zu unter:
ſcheiden gerade die weſentliche Leiftung unferes Selbftbewußtfeins
ift. Und nun wird man leicht verftehen, wie wenig eine immer
vollflommenere Ausbildung unferer Einfiht in das Wefen unferer
Seele die Rüde ausfüllen würde, die wir hier vorfinden. Denn
jelbft wenn wir genau und zutreffend alle die eigenthimlichen
Merkmale verzeichnen könnten, durch die in der That unfere Seele
ſich von allem Anderen unterfcheidet, fo würde doch noch immer
und jeder Beweggrund fehlen, die jo gewonnene Borftellung für _
mehr, als für das gleichgültige Gemälde eines Wefens zu nehmen,
das irgendivo vorhanden wäre und von einem zweiten fi) ebenfo
vollſtändig unterſchiede, wie ein dritte von einem vierten. Und
wenn nun ferner auch dies felbft unferer Wahrnehmung nicht ent-
ginge, daß dies in fo vollftändiger Erkenntniß durchſchaute Weſen
zugleich eben daſſelbe ift, welches in diefem Augenblide diefe An-
ſchauung feiner felbft vollzieht, fo würden wir mit diefer that-
ſächlich vollendeten Selbftbefpiegelung zwar das Bild jenes Weſens
durch den letzten ihm eigenthümlichen merkwürdigen Zug ergänzt
haben, aber noch immer würden wir gleich weit entfernt fein von ber
Bedeutung deffen, was wir in unferem wirflihen Leben als Selbft-
bewußtjein kennen und genießen. Wohl wäre für dieſe vollkom⸗
mene Erkenntniß ihr eigenes Weſen in völliger Klarheit gegen-
ftändlich geworden, aber auch fo gegenftändlic, daß ihr eigenes
Selbft ihr nur als ein Gegenftand unter anderen erſchiene; un-
befannt und unverftändlich würde ihr die Innigfeit bleiben, mit
der wir in unferem wirklichen Selbftbewußtfein den unendlichen
Werth diefer Zurückbeziehung auf uns jelbft empfinden. Wie alle
Werthe des VBorgeftellten, fo wird auch diefer nur durch Gefühle
der Luft und Unluft von uns ergriffen. Nicht indem jenes Zu-
fammenfallen des Denkenden mit dem Gedachten von uns gedacht,
fondern indem es in dem unmittelbaren Werthe, den e8 für und
281
hat, gefühlt wird, begründet es unfer Selbftbewußtfein und hebt
unwiderruflich den Unterſchied zwiſchen und und der Welt iiber alle
Bergleihung mit den Gegenjägen hinaus, durch die ein Gegenftand
ſich vom andern fondert.
Und hierzu reihen einfache finnliche Gefühle ebenſowohl aus
als jene feiner geglieverten intellectuellen, durch welche entwideltere
Geifter zugleich den Werth und das eigentbitmliche Verdienft ihrer
Berfönlichkeit fih zur Anſchauung bringen, Wie reich oder wie
ärmlich die Vorftellung der Seele von fich ſelbſt iſt, wie treffend
fie ihr Bild entwirft oder e8 ganz verfehlen mag: völlig unab-
hängig davon ift die Lebhaftigfeit und Innigkeit, mit welcher der
Inhalt diefes Bildes von allem Andern unvergleihbar verſchieden
gefühlt wird. Der getretene Wurm, der fih im Schmerze krümmt,
unterfcheidet fein eigenes Leiden gewiß von der übrigen Welt, ob-
gleich er weder fein Ich noch die Natur der Außenwelt begreifen
mag. Aber die vollendete Intelligenz eines Engeld, fehlte ihr
jenes Gefühl, würde wohl fharfe Anſchauungen des verborgenften
Weſens der Seele und der Dinge entwideln und in lihter Klar:
beit die Erſcheinung ihrer eigenen inneren Selbftipiegelung be-
obachten, aber fie würde nie erfahren, warum fie auf ihren Uns
terichied von der übrigen Welt jemals einen größeren Werth legen
follte, als auf die zahlreichen Verſchiedenheiten der Dinge über:
haupt, die ſich ihrer Erkenntniß ebenfo darbieten. So gilt uns
das Selbſtbewußtſein nur für die Ausbeutung eines Selbftge-
fühls, deſſen vorangehende und urfpringliche Lebendigkeit durch
bie Ausbildung unferer Erfenntniß nicht unmittelbar gefteigert wird;
nur der Reihthum und die Klarheit des Bildes, das wir von
unferem Wefen und erfennend entwerfen, erhöht ſich im Fortſchritt
unferer Bildung. Und ebenfo allerdings wächft mit ihm die Summe
ber Gebanfen, die den Äußeren Gegenftänden eine Beziehung zu
unferem Streben und Wollen geben; nicht nur klarer wird ber
Inhalt unferes Ich, fondern er dehnt fi aus über einen zunehmen
den Umfang; fo wächſt mittelbar auch die Lebhaftigfeit des Selbft-
gefühles, indem die gebilvete Seele reizbar wird für unzählige Ver⸗
282
hältniffe, die ihr als Störungen ober Förderungen ihres eigenen
Weſens gelten, während fic dem unentwidelten Gemüthe nur
gleihgültige Beziehungen zwifchen dem Aeußeren fcheinen.
Auch diefen Bildungslauf zu fhildern, müffen wir der Dar-
ftellung der menfchlichen Lebensverhältniffe, durch die er bedingt
wird, zurücklaſſen, und nur mit wenigen Worten gebenfen wir
einiger Punkte deſſelben, durch welche hindurch wir uns dent leß-
ten Gegenftande diefer Meberficht nähern. E8 ift Leicht begreiflich,
wie im Anfang das Bild des eigenen lebendigen Körperd eine
bevorzugte Stelle in unferm Gedankenlaufe einnehmen muß.
Werkzeug aller Wahrnehmungen und aller Bewegungen, ift er in’
jede Aeußerung unferes Lebens verflochten, und jede Erinnerung
eines Eindrudes, einer Handlung, eines Leidens oder Genuffes
führt mit ſich auch fein Bild zurüd und gewöhnt und daran, Die
Regſamkeit unferes Weſens unmittelbar in der bewegten und
beweglichen Geftalt des Leibes zu ſehen. Aber eben fo einfach
find doch die Erfahrungen, die und bald davon überzeugen, daß
das Lebendige in ihm nicht er felbft ift, daß wir wohl in ihm,
aber nicht aufgehen in feine fichtbare Form, eine bemegende
Kraft fuchen müſſen, die gleichzeitige Urfache feiner eigenen Ver—
änderlichfeit und der lebendigen Ummwanblungen ber inneren Welt,
in der unfere Borftellungen, Gefühle und Strebungen einander
drangen. Mit dieſer unvolllommenen Auffaflung begnügt fich
ohne Zweifel die größte Anzahl der, Menjchen, mehr hinausgemie-
jen über die Vorftellung des Körpers, als hingewieſen auf irgend
einen andern beftimmten Punkt. Wohl verfuht die Wiſſenſchaft
diefe Lücke zu filllen, indem fie dies dunkle gefuchte Wejen in der
Form eines Dinges, einer überfinnlichen Kraft, einer immateriellen
Subftanz zu fallen ftrebt; aber diefe Verfuche Tiegen itber den
Umfang des natürlichen und unbefangenen Gebanfenganges hin:
aus, und indem fie die allgemeine Natur der Seele feftzuftellen
283
ſuchen, führen fie ohnehin nicht dazu, jedem Einzelnen die unter-
ſcheidende Natur feines eigenen Ich aufzuhellen. Deshalb ift das
natürliche Bewußtfein wenig geneigt, diefem grübelnden Nachden⸗
fen nachzuhängen; e8 freut ſich feiner Individualität vielmehr,
indem e8 durch die Erinnerung an feine körperliche Erſcheinung,
an bie Gefchichte ſeines Lebens, an feine Leiden und Freuden,
feine Leiftungen und Hoffnungen, an feine ganze eigenthiimliche
Stellung in der Welt ſich als dieſes einzelne Ich von jedem an=
dern unterſchieden weiß.
Aber e8 erfährt auch, wie die Welt ihm Widerftand leiftet,
wie wenig e8 im nächften Augenblid das werben kann, was es
im vorigen werden wollte; fein Wifjen und Können findet e8 ab-
hängig von den BZufällen feines Bildungsganges, feine ganze ihm
felbft beobachtbare Individualität erfiheint ihm als angethan durch
Umftände, die nicht es felbft find. So fommen wir dazu, dieſem
Icharfgezeichneten Bilde des empirifchen Ich ein anderes gegenitber-
auftellen, in. welchem wir jene beftändigen Züge zu ſammeln glau⸗
ben, die den wahren Gehalt unſeres Wejens bilden und unabhän-
gig von der beftimmten Form find, in welde die äußeren An=
regungen uns weiter ausgeprägt haben. Sp wie wir in ber
Betrachtung aller Dinge die zufällige Geſtalt, die ihnen eine fremde
Einwirkung gegeben bat, von den unveränderlichen Eigenfchaften
ſcheiden, durch welche fie jegt eben zu diefer und unter anderen
Umftänden zu ganz anderen Formen der Erfcheinung befähigt
‚ ‚werben, fo juchen wir jegt unfer wahres Ich in den dauernden
Gewohnheiten und Eigenthiimlichleiten unferes geiftigen Wirkeng,
die immer ſich würden gleich geblieben fein, auch wenn die äuße—
ven Bedingungen ihrer Ausbildung völlig andere geweſen wären.
Nicht durch das mithin, was wir wiffen, was wir gethan und er-
lebt haben, glauben wir jegt unfer Ich zu erſchöpfen, fondern in-
dem wir ausprüdlich die ganze Mannigfaltigfeit diefer Entwid-
lung nur für cine der vielen möglidy gewejenen Ausbildungen
unferes Weſens halten, finden wir ung felbft vielmehr in der all-
gemeinen Stimmung unferer Geflihle, in dem Temperament, das
284
wir mit Niemand vollkommen ähnlich theilen, in der ganzen Ma—
nier und Gewohnheit, der Gewandtheit oder Schwerfälligfeit unfe-
res Berhaltens, in der eigenthümlichen Weife, in der wir mit
dem Inhalte unferes Erfennens fchalten und walten. Dies Alles,
meinen wir, würde völlig fich ſelbſt gleich geblieben fein, welchen
Entwidlungsgang aud die Schickſale des Lebens uns vorgezeichnet
hätten, und wenn wir gern jede ſchöne und vorziigliche Ausbildung,
die unfere wirfliche Lage uns möglich gemacht hat, zu dem eigenen
Berdienfte unferer Natur zählen, fo zweifeln wir doch nicht, Daß
alles Berfehlte und Ungerathene den hemmenden Umftänden allein
zuzurechnen fei. Das empirifche Ich erfcheint uns wie die Belau⸗
bung eines Baumes, deren File und Schönheit von der Gunft
und Ungunft des Jahres abhängt; ftreifen wir fie ab, fo bleibt in
dem Stamme die treibende Kraft, immer fich felbft glei und
unter glüdlicheren Bedingungen zu der Hoffnung befferer Ent:
widlung berechtigt. In diefer Weife, durch dieſes äfthetifche Bild
unſeres beftändigen Naturells, pflegen wir am meiften unfere Per:
ſönlichkeit uns felbft anfhaulich zu maden, und gewiß erreichen
wir dadurch ein treueres und fprechenderes Gemälde unferes We-
ſens, als durch Die zerftreute Mannigfaltigfeit unferer empirifchen
Erinnerungen, welche des VBergangenen und Zufälligen zu viel,
und von dem Zufünftigen zu wenig einſchließt. Aber wir finden
doch bald, daß auch diefe VBorftellung und das noch nicht gewährt,
was wir in gefteigerter Bedeutung des Wortes als unfer wahres
Ich fuchen. |
Denn nur in zu großer Ausdehnung finden wir unfer Tem:
perament, die beftändige Stimmung unſeres Gemüthes, die eigen-
thümliche Richtung und die Lebhaftigfeit der Phantafie, endlich
die heroorragenden Talente, welche zunäct den Beftand unferer
individuellften Perjönlichkeit auszumanen ſchienen, abhängig von
der körperlichen Conftitution und ihren Veränderungen; ſelbſt als
ererbte Anlage ift Vieles davon nur das Ergebniß eines Natur:
laufes, der lange vor unferem eigenen Dafein ſchon einzelne Züge
unſeres fpäteren Lebens unwiderruflich beftummte. Und felbft wenn
285
es nun nicht der Zuſammenhang phyſiſcher Wirkungen wäre, dem
wir auf dieſe Weife verſchuldet find, wenn vielmehr unabhängig
von ihm fich Die wefentliche Natur unferer Seele gebilvet hätte:
immer würde felbft dann ihre wifprüngliche Anlage uns als ein
Gegebenes, al8 eine Mitgift der fchaffenden Kraft erfheinen, aus
welcher unfer Dafein floß, und wo wir irgend unfer eigenes
Selbft zu erfaffen meinten, wilrden wir e8 doch nur finden als
ein durch eine fremde Macht feftgeftelltes, nicht fo als unfer Ei-
genthum, wie wir das befigen, was aus unferer eigenen Anftren-
gung und freien Thätigkeit entflanden if. So bilvet ſich jene
Sehnſucht aus, über allen Inhalt unferes Ich binauszugehen und
in einem reinen noch beftimmungslofen und fich felbft geftaltenden
Triebe das wahre und tieffte Weſen unferer Perſönlichkeit zu fu-
hen; nur das glauben wir jegt wahrhaft zu fein, wozu wir uns
jeldft gemacht haben. Wir wollen nicht den feltfamen Widerfprü-
hen folgen, zu welchen in der wiſſenſchaftlichen Forſchung dieſe
Richtung der Gedanken nothwendig führen mußte; die natürlichere
Meinung des unbefangenen Gemüthes bejheidet fi hier und
verlangt nicht, daß aus unferem Weſen Alles entfernt werde, was
nicht unfere eigene That fei. Indem fie zugefteht, was fie nicht
leugnen Tann, daß ohne unfere Wahl der Umkreis aller unferer
möglichen Entwidlung durch äußere Umftände, durch Die Eigenthüm—
lichkeit des Gefchlechtes, dem wir angehören, der leiblichen Con-
ftitution, die und mitgegeben ift, des Zeitalters, in dem wir ge—
boren werben, endlich durdy die allgemeinen Geſetze des geiftigen
Lebens, welche für Alle gleich gelten, unverſchiebbar beftimmt ift,
verlangt fie nur noch, daß in der Mitte aller diefer gefeglichen
Nothwendigkeit ein Punkt der Freiheit wenigftens vorhanden fei,
von dem aus unfere Thätigfeit diefen uns dargebotenen Stoff des
Daſeins zu einem uns allein angehörigen Beſitzthum geftalten
könne. Bedingt in allem Uebrigen, in den Formen der Erfennt-
niß, dem Laufe der Borftellungen und Gefühle, wollen wir frei
wenigftens im Wollen und im Handeln fein.
286
Wir haben früher Die Heberzeugung ausgeſprochen, daß neben
dem Borftellen und dem Gefühl das Wollen ein eigenthimliches
Element geiftiger Regſamkeit enthalte, nicht ableitbar aus jenen
beiden, obwohl von ihnen als Veranlaffungen feines Hervortre-
tens abhängig. Indem wir jedoch jegt zu einer genaueren Be—
trachtung dieſer neuen Thätigkeitsweiſe der Seele geführt werben,
müffen wir das Zugeſtändniß vorausihiden, daß unter den man⸗
nigfaltigen Erfcheinungen, die man unter verſchiedenen Namen ihr
entweder unmittelbar zuorbnet ober doch als verwandt an fie an-
Inüpft, viele fih befinden, in denen wir nur befonvere Formen
des Vorſtellens und des Gefühle zu erkennen vermögen. Mit
dem Namen des Wollend und Strebens find wir unleugbar zu frei=
gebig und bezeichnen mit ihm mandes Ereigniß, zu melden bie
Seele fih nur als beobachtendes Bewußtſein, nicht als bandeln-
des Weſen verhält; Bewegungen der Vorſtellungen und Gefühle,
Die in und auf mancherlei Veranlaſſungen des allgemeinen pfycht-
ſchen Mechanismus nur gejhehen und als gefchehende von uns
bemerkt werben, fafjen wir iwrig als Thätigfeiten, die unfer ent-
ſchiedener Wille oder doch ein weniger ausprüdliches Streben un-
ſeres Ich ind Werk gefegt habe.
Prüfen wir die Mannigfaltigkeit der finnlichen Triebe, fo
werden wir al8 ihren eigentbümlichen Kern immer nur ein Ge-
fühl antreffen, das in Luft oder Unluft uns den Werth eines
vielleicht nicht zu bewußter Einficht kommenden Eörperlihen Zu:
ftandes verräth. Nur weil wir Erfahrungen gemacht haben, die
nun der Mechanismus der Erinnerung ung wieder vorführt, fo
daß die Vorſtellungen der Bewegungen oder der Gegenftände, die
früher die Luft verlängerten oder die Unluft verkürzten, jegt dem
Bewußtſein wiederkehren, nur dadurch geht das Gefühl in eine
Bewegung über, auf die Wievererlangung diefer günftigen Um:
ftände gerichtet. Aber was hier zunächſt entfteht, das ift nicht
eine Aeußerung unferes Willens, fondern völlig willenlo8 und mit
mechanischer Abfolge regt das Gefühl jelbft und die mit ihm ver-
bundenen Borftellungen fogleih die Anfänge ber Teiblichen Be:
-
287
wegung an, die jenem Zwede dienen, und was wir nın Trieb
nennen, ift nicht ein Wollen, durch welches wir den Körper Ien-
fen, fondern eine Wahrnehmung feines Leidens und der unmill-
führlih in ihm entftehenden Bewegungen, durch welche nun auch
die übrigen Thätigkeiten unferes Bewußtſeins zu entiprechender
Wirkſamkeit veranlaßt werben. So ift mithin der Trieb nur das
Innewerden eines Getriebenwerdens; und wenn irgend ein Wille
in ihm vorkommt, fo ift es einfach Diefer, dem natürlichen Ab-
lauf diefer inneren Veränderungen nicht zu widerſtehen, fondern
fih ihnen binzugeben.
Aber wir können dieſe Betrachtung nicht auf finnliche Triebe
befchränfen; der größte Theil deſſen, was wir im täglichen Leben
unfere Handlungen nennen, geſchieht völlig in derjelben Weife.
Borftellungen tauchen in uns nad allgemeinen Gejegen auf und
an fie nüpfen fih theils unmittelbar, theil durch das Mittel:
glied verfchtevenartiger Gefühle allerlei Bilder körperlicher Be—
wegungen, die bald als Mittel zur Erreihung eines äußeren
Gegenftandes, bald als Linderungen eines vorhandenen Wehes
unjerem Bemwußtfein vorſchweben. In den feltenften Fällen wird
durch diefen Andrang innerer Reize ein wirkliches Wollen aufge-
regt; von felbft geht meiftens die Vorftelungsreihe in äußere
Bewegung über, und eine große Anzahl jelbft zuſammengeſetzter
Handlungen Läuft in diefer unmwillführlihen Weife ab, ohne daß
auch nur die Reihe der Bermittelungsglieder, durch welche fie von
dem urſprünglichen Anlaß abhingen, vollftändig ſich vor dem Be-
wußtjein entfaltet hätte. Kein Grund ift vorhanden, dieſe Er-
eigniffe duch einen befonderen Namen von jenen Wirkungen ab-
zutrennen, die wir in jedem zufammengefegten Organismus in
gleicher Formenmannigfaltigfeit und mit gleicher mechaniſcher
Nothivendigkeit der Abfolge zu Stande kommen fehen; und in der
That pflegen wir geneigt zu fein, den Thieren, deren Neußerun-
gen wir uns ausfchlieglich auf dieſe Weiſe begrüindet denfen, jeden
eigentlichen Willen abzufprehen. Nur da find wir überzeugt, e8
mit einer That des Willens zu thun zu haben, wo in deutlichen
288
Bewußtſein jene Triebe, die zu einer Handlung drängen, wahr:
genommen werben, die Entſcheidung dariiber jedoch, ob ihnen ge-
folgt werden foll oder nicht, erft gefucht und nicht der eigenen
Gewalt diefer drängenden Motive, fondern der beftimmenden freien
Wahl des von ihnen nicht abhängigen Geiftes überlaſſen wird.
Sp nahe zeigt fich der Begriff der Freiheit mit dem des Willens
verfnüpft; denn in diefer Entfcheidung über einen gegebenen That-
beftand befteht allein die wahre Wirffamfeit des Willens. Aller
mögliche Inhalt des Wollend dagegen wird überall durch den un-
willführlichen Verlauf der Vorftellungen und Gefühle herbeigeführt,
und ohne an fich felbft ein nad außen gerichtetes, geftaltendes
und ſchaffendes Streben zu fein, muß der Wille ſich mit der Frei-
heit unbejchränfter Wahl zwifchen dem begnügen, was ihm von
dorther dargeboten wird.
Wäre e8 nun unmöglich, dieſe Freiheit zu denken oder ihre
Annahme zu rechtfertigen, würden wir dann noch Veranlaſſung
haben, überhaupt den Namen des Willens beizubehalten? Wie
jehr auch die eigenthümliche Berwidlung der Ereigniffe im geiftt-
gen Leben Die des Naturlaufes noch übertreffen mag, ihr Zu—
ſammenhang ſchiene dann doch dem Weſen nad in Nichts mehr
von der volllommenen und blinden Nothwendigfeit eines ununter:
brochenen Mechanismus abzumeichen. Dennoch glauben wir, daß
ſelbſt unter diefer VBorausfegung das Wollen als eigenthlimliches
Element fi) aus der Reihe der Übrigen Aeußerungen geiftiger
Thätigkeit nicht würde hinwegdeuten laſſen, obmohl feine Stel-
lung eine jehr befrembliche fein würde. Wenn die Sprache der
Menſchen für einfache, nicht aus einer Vielheit von Borftellun-
gen zufammengefeßte, jondern manche Bielheit vielmehr zu einem
Ganzen erſt verbindende Vorgänge einen eigenthümlichen Namen
ausprägt, jo mag fie häufig in feiner Anwendung irren und fehl-
greifen in der Begrenzung der Erſcheinungen, in denen fie Dies
Bezeichnete wieder zu finden glaubt; aber das, was fie meinte,
wird fie ſchwerlich aus der Luft greifen, ohne daß es etwo in der
Welt wirkliches Dafein hätte. Denn zulegt kann fih Doc alles
289
unſer Vorftellen nur des Inhaltes bemädtigen, den wir trgenb-
wie erleben, und wie wir nichts völlig Neues erfinnen, fo fünnen
wir uns auch kaum auberd irren, als in der Verbindung und
Benutzung der einfachen Elemente, welche dieſe innere Erfahrung
und dargeboten bat. Nur ein Borurtheil der Schule kann des:
halb, wie e8 fcheint, den Verſuch machen, Die Natur des Wollens
auf ein bloßes Wiſſen zurüdzuführen und die Behauptung zu
vertheidigen, der Sag: ich will, fei gleichbedeutend mit dem Haren
und zuverfichtlihen Bewußtſein des andern: ich werde. Nur die
Gewißheit vielleicht, daß ih handeln werde, mag gleichgeltend
fein mit dem Wiffen meines Wollens, aber dann wird in dem
Begriffe des Handelns jenes eigenthiimliche Element der Billigung,
der Zulaffung oder Abfiht eingefchloffen fein, welches den Willen
zum Willen macht, und welches wir in der bloßen Borausficht
des zufünftigen Eintretens einer von uns ausgehenden Wirkung
vermiffen. Bergeblich fucht man deshalb das Borhandenfein des
Wollend zu leugnen, ebenfo vergeblih, als wir uns bemühen
würden, feine einfache Natur, die nur unmittelbar fich erleben
Laßt, durch umfchreibende Erklärungen zu verbeutlihen. Diefe
Biligung nun, durch welche unfer Wille den Entfchluß, welchen
die Drängenden Beweggründe des Vorftellungslaufes ihm barbieten,
als den feinigen aboptirt, oder Die Mißbilligung, mit welcher er
ihn von ſich zurückweiſt, beide würden denkbar fein, auch wenn
feine von beiden die geringfte Macht befäße, beftimmend und
verändernd in den Ablauf der inneren Ereigniſſe einzugreifen.
Ebenſo wie der Menſch dur äußere Verhältniffe zu einer Weife
des Berhaltend gebrängt wird, der jede Theilnahme, jede Zu⸗
flimmung feines Innern fehlt, jo könnten auch in feinem Innern
ſelbſt mit ununterbrochener Nothmendigfeit die einzelnen Ereig-
niffe ſich verketten und unaufhaltſam Handlungen erzwingen,
welche das Gewiffen mit machtloſer Reue ſchon im Augenblide
ihres Geſchehens begleitete.
Diefe Vorftellung, fo befremdlich fie im erften Augenblide
erſcheinen mag, Yiegt doc, nicht jo weit von den Gebanfen ab,
Zope I. 3. Aufl. 19
290
bie mir im Leben zu begen gewohnt find. Faſt nur die wiffen-
ſchaftliche Unterfuhung pflegt die unbeſchraͤnkte Freiheit des Wol-
lens mit der grenzenlofen Fähigfeit des Vollbringens zu verwech⸗
feln; unfere lebendige Erfahrung dagegen mahnt uns an unfere
Schwäche im Streit mit der drängenden Gewalt unwillführlicher
Strebungen, und wir glauben eines höheren Beiftandes bedürftig
zu fein, um über fie zu fiegen. In der That ift es ein Irr—
thum, von dem Willen mehr zu verlangen, als daß er wolle, und
bie Schwierigkeiten, die man der Ueberzeugung von feiner Frei—
heit entgegenftellt, geben am meiften, obwohl aud fo nit un=
übermwindlich, aus diefem Borurtbeile hervor. Wie oft bat man
nicht von dem freien Entſchluſſe eines befeelten Wefens, wenn es
nicht gelänge, auch ihn wieder als eine nothiwendig bedingte Folge
in den übrigen Zufammenhang des Weltlaufes einzufchalten, eine
Zerftörung aller Ordnung der Wirklichkeit beforgt! Man vergaß,
wie eng die Grenzen der Macht aud dann noch dem endlichen
Geſchöpfe gezogen fein würden, wenn fein Wille nit nur frei
im Wollen, fondern aud die Mittel ber Förperlihen Organtfation
feinen Entjchlüffen unbedingt dienftbar wären. Man vergaß,
daß jeve Wirkung, wie unberechenbar frei aud ihr Beweggrund
geweſen wäre, doch, fobald fie als Wirkung beroortritt, wieder in
den Kreis der berehenbaren den allgemeinen Naturgefegen unter=
worfenen Ereigniffe eintritt, und daß Feiner Freiheit mehr Spiel-
raum des Erfolges gegeben ift, als die unverrüdte Orbnung der
Dinge nad ihrem eigenen Rechte ihr zugefteht. Und wenn man
endlich bejorgte, daß dennoch die Vorgänge, melde ber befeelte
Wille nad) feiner Wahl in den Ablauf der Wirklichkeit einführt,
allmählich fich jummirend, dem Plane der Natur zumider fich
ausbreiten Eönnten, fo überjah man doc, daß felbft der ununter-
brochene freiheitlofe Zufammenhang aller Zuftände im Geelen-
leben diefe Gefahr nicht mindern wilrde. Denn mo läge Die
Burgſchaft dafür, dag in jedem einzelnen Gemüthe die Borftel-
lungen die Gefühle die Strebungen ſich jeverzeit in fo glüdlicher
Form und Miſchung zufommenfänden und aufeinander wirkten,
“ 291
um zulegt immer einen Ausſchlag zum Handeln zu geben, welcher
mit dem eigenen Sinne des Naturlaufes übereinftimmte? Greifen
wir nicht jo wie wir wirklich find, frei oder unfrei, in der That
flörend oder verwüftend in den Beftand der Natur ein, mannig-
fache Spuren unferer eigenwilligen Thätigfeit deutlich zurücklaſſend,
obne freilih im Großen die Ordnung der Dinge erfchlittern zu
innen? Und wenn wir nun annehmen, daß ein völlig unbe-
rechenbarer und freier Wille unfere Handlungen lenkte, würden
wir dann, ſobald wir Rückſicht auf die Grenzen unferer Macht
nehmen, eine viel beträcdhtlihere Störung in der Orbnung der
äußeren Welt befürchten müſſen? Und eben fo wenig, wie bie
Natur um und, wiirde durch eine unbebingte Freiheit unjerer
Entjchlüffe unfer eigenes Wefen, wie man fo oft meint, jeden in=
neren Zuſammenhang verlieren. Denn immer würden ed nur
die Entichlüffe fein, die wir jener Freiheit überlaſſen hätten; auf
dem angebornen Gemeingefühl unferer Eriftenz, auf der Eigen:
thümlichkeit unſerer Talente, der Summe der empfangenen Ein-
drücke, auf der Erinnerung des Erlebten, auf der fortdauernden
Stimmung, auf den immer wieder wirkſamen allgemeinen Ge-
ſetzen unferes Borftellungslaufes würde die Einheit und Stetigfeit
unferes perſönlichen Bewußtfeins breit und fiher beruhen, denn
über alle dieſe Elemente unſeres geiftigen Lebens würde jene
Freiheit Feine Macht befigen. Iene Größe der Veränderlichkeit
dagegen, die in der That durch die Unberehenbarkeit der Entjchlüffe
und noch übrig bliebe, dürfte leichter zu der Entwidlungsfähig-
feit gehören, die wir wünſchen muſſen, als zu dem Wechſel, den
wir zu fliehen haben.
Aber das allgemeine Geſetz der Cauſalität, welches zu jeder
Wirkung die genügende Urſache hinzuzuſuchen befiehlt, wird es
nicht zuletzt jeder Annahme einer Freiheit entgegenſtehen und
unerbittlich den Zuſammenhang des ganzen Weltalls in eine
unendliche Kette blinder Wirkungen verwandeln? Wir möchten
meinen, je deutlicher ſich diefe Verwandlung als die nothwendige
Tolgerichtigkeit jener Auffaſſung des urſächlichen Zufammenhanges
19 *
292 *
zeigt, um fo deutlicher ſei auch die Unrichtigkeit der Auffafſung
ſelbſt. Daß die Gefammtheit aller Wirflichfeit nicht die Unge—
veimtheit eines überall blinden und nothwendigen Wirbeld von
Ereignifien darftellen könne, in welchem fr Freiheit nirgends
Blag fer: Diefe-Ueberzeugung unferer Vernunft fteht und fo un:
erichütterlich feft, daß aller übrigen Erkenntniß mur die Aufgabe
zufallen kann, mit ihr als dem zuerft gemiffeh Punkte den wider:
fprechenden Anfchein unferer Erfahrung in Einklang zu bringen.
Wir leugnen nicht, daß dieſe Aufgabe der Wiffenfchaft noch weit
von der klaren Löſung entfernt ift, die wir für fie wünſchen, und
ohne hier in Unterfuchungen einzugehen, deren Führung ſchwer
und deren Ergebniß zweifelhaft fein würde, mögen wir der ge
wöhnlicyen Ueberzeugung nur einzelne Punkte zu wiederholter
Ueberlegung einwerfen.
Wenn das Caufalgefeg mit Recht zu jeder Wirkung eine
Urfache verlangt, jo ift c8 Dagegen unfere Schuld, wenn wir in
jedem Ereigniß eine Wirkung fehen, oder wenn wir Die gefundene
Urſache überall jelbft wieder als Wirkung einer anderen betrach⸗
ten. Die unvollendbare Reihe, in welche wir uns hierdurch ver:
wideln, muß uns darauf aufmerffam machen, daß jener Sag im
Grunde weniger ausfagt, al8 er ſcheint. Wenn wir behaupten,
daß jede Subftanz ungerftörbar ſei, fo fagen wir etwas Richtiges,
fobald wir in dem Begriffe der Subftanz eben das Merkmal der
Ungerftörbarkeit eingefchloffen haben; aber wir brüden damit nicht?
aus, was eine unmittelbare Geltung hätte; denn es wird fih
dann eben fragen, ob e8 Subftanzen in dieſem Sinne gibt, umd
ob die Erfahrung, die uns allerdings nöthigt, zu jedem Kreife
von Eigenfchaften und Entwidlungen ein Subject al8 Träger ber:
ſelben hinzuzudenken, uns auch überall dazu nöthige, dies Sub-
ject felbft in Geftalt einer fo gearteten Subftanz aufzufaflen.
Ehen fo verlangt ohne Zweifel Alles, was wir einmal als Wir
fung denfen und bezeichnen, feine Urfache, aber es ift fraglich, ob
wir ein Recht haben, jedes vorkommende Ereignig als Wirkung
in diefem Sinne zu betrachten. Eben jene Unvollendbarkeit ber
293
Cauſalreihe überzeugt uns von dem Nichtvorhandenſein dieſes
Rechtes, denn fie führt nothwendig auf die Anerkennung eine®
urfpränglichen Seins und einer urfprünglicen Bewegung zurück.
Nicht darin befteht die unbebingte Guültigkeit des Cauſalgeſetzes,
daß jeder Theil der endlichen Wirflichfett immer nur im Gebiete
diefer Endlichfeit jelbft durch beftimmte Urfachen nad) allgemeinen
GSefegen erzeugt werden müßte, jondern darin, daß jeder in dieſe
Wirklichkeit einmal eingeführte Beftanbtheil nach dieſen Gefegen
weiter wirkt. Sprechen wir gewöhnlich nur Davon, Daß jebe
Birkung ihre Urſache habe, ſo follten wir im Gegentheil das
größere Gewicht auf den andern Ausdruck des Satzes legen,
darauf, daß jede Urfache unfehlbar ihre Wirkung hat. Darin
befteht, nicht allein zwar, aber wie mir foheint zum mefentlicheren
Theile der Sinn der Eaufalität, daß fie jevem aus irgend welcher
Duelle einmal entftandenen Elemente der Wirklichkeit fein thäti-
ge8 Eingreifen in den übrigen Beftand der Welt, zu welcher 8
nun gehört, fichert, und zugleich ihm verwehrt, innerhalb berfel-
ben anders thätig zu fein, als in Uebereinftimmung mit jenen
Allgemeinen Gefegen, die in ihr alles Gefchehen beherrihen. So
glihe die Welt einem Wirbel, zu dem von allen Seiten her,
nicht von ihm felbft angezogen, mit von ihm erzeugt, neue
Fluten fih einfinden; aber einmal in ihn eingetreten, find fie
nun gezwungen, an feiner Bewegung Theil zu nehmen. So
Baben wir ferner ein Bild deſſelben Vorganges an dem Berhal-
ten unferer eigenen Seele zu den Werkzeugen bes Körpers; eine
Menge Entichlüffe, Anfangspuntte künftiger Bewegungen, erzengt
die Seele in fi; Feiner von ihnen braucht bedingt und begrün-
det zu fein durch Ereigniffe in dem leiblichen Leben, auf welches
ex zurückwirkt; aber jeder, in dem Augenblide, in welchem er in
dieſes Leben übergeht, ordnet fih nun den eigenen Geſetzen deſ⸗
felben unter und erzeugt fo viel over fo wenig Bewegung umd
Kraft, als diefe ihm zugeftehen, und Bewegung in diefer und in
feiner andern Richtung, als in welcher fie es ihm geftatten. Der
Anfänge, deren Urfprung nit in ihm felbft enthalten ift, kann
294
der Weltlauf in jedem Augenblide unzählige haben, aber Feinen,
deſſen nothmendige Fortfegung nicht in ihm anzutreffen wäre.
Wo aber ſolche Anfänge Liegen, können wir nit im Voraus
beftimmen; überzeugt und die Erfahrung, daß jedes Ereigniß
der äußeren Natur zugleich eine Wirkung ift, die ihre Urfache in
vorhergehenden Thatfadhen hat, fo bleibt die Möglichfeit unbe:
nommen, daß der Kreis des inneren geiftigen Lebens nicht gleich
Durchgängig einen ftarren und nothwendig ablaufenden Mecdanis-
mus bilde, fondern daß in ihm neben unbeichränkter Freiheit
des Wollend auch eine beſchränkte Macht des unbebingten An-
fangens gegeben fei.
Indem wir nun dieſes Gemälde abſchließen, in welchem wir,
weit entfernt, die Fülle des geiftigen Lebens erfchöpfen zu wollen,
vielmehr nur die großen Umriffe feines Zuſammenhanges in ſich
jelbft zu bezeichnen fuchten, möchten wir einen Punkt hauptſächlich
als den Gewinn diefer Betrachtungen fefthalten: die Ueberzeugung
nämlich von der durchgehenden Berfchievenheit, welche das Ber:
halten des inneren. Lebens von den Eigenthimlichleiten bes
äußeren Noturlaufes trennt. Nicht nur feine Elemente find an:
dere al8 Die der Natur; Bewußtfein, Gefühl und Wille haben
feine Achnlichfeit mit den Zuſtänden, die unfere Beobachtung und
in den materiellen Maſſen entweder nachweiſt oder anzunehmen
nöthigt; auch die Formen der Thätigfeit, alle jene Aeußerungen
einer beziehenden Zufammenfafjung des Mannigfaltigen, deren
Werth wir kennen gelernt haben, bieten Feine Analogie mit den
Wechſelwirkungen, die wir zwiſchen jenen verfolgen können. Wie
ſehr wir auch Durch die weit überwiegende Ausbildung der Na-
turwiffenfchaften daran gewöhnt fein mögen, die Grundoorftellun-
gen, welche dieſe entwidelt haben, als die überall anwendbaren
Hilfsmittel der Unterfuhung anzufehen: wir müflen und dennoch
zugefteben, daß wir bier ein völlig anderes und neues Gebiet
295
betreten haben, deſſen eigenthiimliche Natur auch die Gewöhnung
an neue und eigenthlimliche Gefichtspunfte von uns verlangt.
Man würde irren, wenn man diefe Forderung nur gegenüber
dem Materialismus ausgefprochen glaubte, der folgerecht, indem
ex die Selbftändigfeit des geiftigen Wefens leugnet, auch die Ber-
pflichtung abweifen muß, neue Betrachtungsweiſen für einen
Gegenſtand zu ſuchen, der ihm nicht neu erfcheint; viel weiter
breitet fich Diefelbe Neigung, die wir tadeln, aud durch Anſich⸗
ten hindurch aus, die gemeinfam mit der unferen auf dem Zu—
geftänbniß der jelbftändigen Urfpringlichfeit des Geifligen ruhen.
So jehr find wir in der Betrachtung der Natur an bie mittel-
baren Wirkungen und an ihre Erflärung durch Zufammenfegung
einzelner Beiträge, jo fehr an die Zurückführung inbaltooller
Unterſchiede der Eigenſchaften auf unbedeutende Veränderungen in
der Größe und Berbindungsweife gleihartiger Elemente gewöhnt,
daß uns zulegt das Berftändnig alles Unmittelbaren abhanden
kommt und eine allgemeine Suht, Alles zu conftruiren, Allem
eine verwidelte Mafchinerie feines Entftehend und Dafeins unter
zufchteben, fi unferer Gedanken unwillkührlich bemächtigt. Taft
möchten wir dann behaupten, daß auch in unferem Innern nichts
vorhanden fei, als eine äußerliche Aneinanderkettung von Ereig-
niffen, ähnlich der Mittheilung der Bewegung, durch melde wir
in der Außenwelt. cin Element das andere ftoßen fehen; und
was fonft no in uns vorkommt, Bemwußtfein, Gefühl und Stre-
ben, wir würden faft werfucht fein, e8 nur als einen beiläufigen
Schein anzufehen, den jenes wahre Gefchehen in uns wirft, wenn
nicht dann doch wieder Etwas da fein müßte, für welches und
in welchem biefer Schein entfteht. Dieſes Etwas ift nun ba;
jede einzelne Yeußerung unferes Bewußtſeins, jeve Negung un-
jerer Gefühle, jeder keimende Entihluß ruft uns zu, daß mit
unüberwindlicher und unleugbarer Wirklichkeit Ereigniffe in ber
That geichehen, die nach keinem Maße naturwiſſenſchaftlicher Be⸗
griffe meßbar find. So lange wir dies Alles in uns erleben,
wird der Materialismus zwar im Bereiche der Schule, die fo
296
viele vom Leben fi abwendenden Gedanken einſchließt, fein Da—
fein friften und feine Triumphe feiern, aber feine eigenen Belen-
ner werden durch ihr Tebendiged Thun ihrem falfhen Meinen
widersprechen. Denn fie werben alle fortfahren, zu lieben und zu
haſſen, zu hoffen und zu fürchten, zu träumen und zu forſchen,
und fte werben fi) vergeblich bemühen uns zu überreden, daß
- Dies mannigfaltige Spiel der geiftigen Thätigfeiten, welches felbft
die abfichtliche Abwendung vom Ueberfinnlichen nicht zu zerftören
vermag, ein Erzenguiß ihrer körperlichen Organtfation fer, oder
daß Das Imterefje für Wahrheit, welches bie einen, die ehr:
geizige Empfinblichfeit, welche andere verrathen, aus den Berrid-
tungen ihrer Gehirnfafern entjpringe. Unter allen Berirrungen
Des menfchlichen Geiftes iſt dieſe mir immer als die ſeltſamſte
erſchienen, daß er dahin kommen konnte, fein eigenes Weſen,
welches er allein unmittelbar erlebt, zu bezmeifeln oder es fi
als Erzeugniß einer äußeren Natur wieder ſchenken zu Yaffen, die
wir nur auß zweiter Hand, nur durch das vermittelnde Wiſſen
eben des Geiſtes kennen, den wir lengneten. |
Drittes Bud.
Das Reben.
Erftes Kapitel.
Der Zufammenbang zwifhen Leib und Seele.
Verſchiedene Stufen ber Weltauffaffung; bie wahren und bie abgeleiteten Stanbpuntte.
— Das allgemeine Band zwiſchen Geiſt und Körper. — Die Möglichkeit und bie
Unerflärlicgkeit ber Wechfelwirtungen zwiſchen Gleihartigem und Ungleichartigem. —
Die Entftehung ber Empfindungen. — Die Lenkung ber Bewegungen. — Der geftalts
bildende Einfluß ber Seele.
Weit ab von den Pfaden, auf denen ſich die Erklärung
der Naturerſcheinungen zu bewegen pflegt, hat uns die Beobach⸗
tung des inneren Lebens nach andern Richtungen geführt. Aber je
größer die Eigenthümlichkeit des geiftigen Dafeins ift, jo groß,
daß nur"die unbedachteſte Gemöhnung an die Formen der Sin-
nenwelt feine Entftehung aus den Gegenwirkungen der Stoffe
denkbar fand, um fo lebhafter drängen fich jegt die muhſam zu-
rüdgehaltenen Fragen nad) der Möglichfeit des gegenfeitigen Ein-
flufje8 hervor, in welchen wir beide fo ſcharf geſchiedene Gebiete
des Geſchehens doch überall verwidelt finden. Wie groß und
Ihwerwiegend die leitende Macht ift, welche in jedem Einzelnen
der Wechſel der Förperlihen Stimmung über Größe und Nic-
. tung der geiftigen Regſamkeit ausübt, davon überzeugt uns, hin⸗
reichend um jede weitere Erwähnung unnöthig zu machen, bie
gewöhnlichfte Erfahrung; ich meine jene Erfahrung, die auch dann
noch übrig bleibt, wenn wir die leihtfinnigen Webertreibungen
abziehen, mit denen mande Anſicht unferer Zeit, als ſei ihr
jedes Andenken an Selbftbeberrihung und Entfagung abhanden
gekommen, in allen Negungen des Seelenlebend nur den gleich⸗
Inutenden Widerhall phuftfher Vorgänge zu finden verfichert. Wie
300
ſehr anderfeitS alle höhere Cultur von den unzähligen Wechfel-
wirfungen abhängt, die, alle zulegt durch Körperliche Thätigkeiten
und Bebürfniffe vermittelt, zwifchen uns und der Außenwelt aus-
getaufcht werden, und wie mädtig die umgebende Natur bald
durch Teichte Gewährung bald durch eigenfinniges Berfagen neue
Entwidlungen unferer Kräfte anregt oder verkümmern läßt: da—
von hat jedes Zeitalter überzeugende Beifpiele gegeben, aber nod
feinem ift fo lebhaft wie dem unferen diefe Abhängigkeit zu vol-
lem und klarem Bemußtjein gelommen. Ob dies im Ganzen
und günftiger ftelt, als frühere Geſchlechter, ob dieſe bewußte
und in dem Umfange ihrer Anftrengungen großartige Ausbeutung
der Außenwelt für den Fortfchritt des allgemeinen Wohlbefindens
auch den Sinn für die Höhe der Zwecke Iebendig laſſen wird,
für die doch alle dieſe Acußerlichkeit der Cultur zum Mittel be
rufen ift, müſſen wir der Zukunft anheimftellen; gewiß hat bis
jet die Haft dieſes Fortſchrittes nicht die Theilnahme fur bie
ernften Fragen zu erftiden vermocht, die und über Den großen
Zuſammenhang der geiftigen Weltordnung mit dem Naturlauf
und im Kleineren über die Verknüpfung unferer perſönlichen Seele
mit ihrer leiblichen Hülle immer von Neuem auffteigen.
Aber von je mannigfaltigeren Intereffen das nad außen
gerichtete Leben bewegt wird, aus beffen Geräufch wir uns ſelbſt
fammelnd zur Ueberlegung diefer Fragen zurückkehren, befto viel
geftaltiger find auch die Bedürfniſſe nad) Aufflärung und bie
verſchwiegenen Erwartungen, die wir zu ihrer Unterfuchung mit⸗
bringen, deſto verſchiedenartiger bie verftohlenen Keime von Mif-
verftändnifien, die fpäter mit widerſprechender Lebhaftigkeit ihrer
Anſpruche anwachſend unfere Bemühungen zu verwirren drohen.
Allen diefen ihrer ſelbſt fo oft ungewiſſen Anforderungen dei
Gemüthes zu genügen, wird jeder Anftcht ſchwer fallen; am
ſchwerſten dann, wenn wir ohne Theilung der Aufgaben auf ein
mal die verfchtedenen Zwecke erfüllen wollen, die jede wiſſenſchaft⸗
liche Erörterung fich überhaupt ftellen kann.
Denn unſere Wünfche können entweder auf das Berftändniß
301
ber Erfcheinungen und auf die Nachempfindung ihres wejentlichen
Sinnes, oder auf die genaue Erfenntniß der äußerlihen Formen
ihres Zufammenbanges und ihre gegenfeitige Berechenbarkeit aus-
einander gerichtet fein; aber mehr als eine Unvollfommenheit der
menſchlichen Natur ſcheint und das völlige Verſchmelzen beider
Richtungen unferes Forſchens zu eimer untheilbaren Einheit des
Wiſſens zu verfagen. Auf die legten und tiefften Gründe in dem
Weſen der Dinge zurädzugehen und jebe Unflarheit ber Erſchei⸗
nungen, die und beläftigt, aus den urfprünglichften Gefegen alles
Wirkens in der Welt und aus dem vernünftigen Sinne des
Planes aufzuklären, der die einzelnen Ereigniffe zu der Ordnung
eines bedeutungsoollen Ganzen zufammenfaßt: dieſe ideale Auf-
gabe möchten wir weder dem begeifterten Streben verkümmern,
das immer wieder zu ihrer Löſung zurückkehrt, noch möchten wir
fle der Unempfänglichkeit gegenüber, die ſich geringfchägend von ihr
abwendet, für ıninder werthvoll anerkennen, als fie if. Dennod
müfjen wir zugefteben, daß dieſe Begeifterung fir das Höchfte felten
die Mutter einer genaueren Erfenntniß des Niedrigeren geweſen
ift; indem fie dem Gemüthe die eigenthümliche Befriedigung einer
. fiheren Ruhe in dem allgemeinen Grunde aller Dinge gewährte,
bat ſie nicht zugleich die ſcharfſinnige Beweglichkeit gefteigert, mit
welcher der menſchliche Geift, für die Erfüllung feiner Lebensauf⸗
gaben auch auf die Berfettung der endlihen Welt angewieſen,
das Hervorgehen des Einzelnen aus Einzelnem zu erforihen ein
ſo großes Intereffe bat. Ueberall mo Zwecke des Handelns zu
den Aufgaben der bloßen Erfenntnig Hinzutreten, wo es und
daranf ankommt, den Ablauf der Ereigniffe nicht allein bewun-
dernd zu verftehen, fondern umgeftaltend in ihn eingreifen zu
können, da tritt an Werth die Einfiht in die höchſten Gründe
der Dinge, die allen gemeinfam find, binter die Kenntniß der
nächftliegenden Regeln zuriid, melde in dieſem einzelnen Gebiete
unferes möglichen Handelns herrſchen. Nun gelangen wir mohl
leicht von der Betrachtung des Einzelnen zu dem Allgemeinen
und Höheren, das fi} ber ihm ausbreitet, aber ſchwerer finden
302
wir den Rückweg aus der Unbeftimmtbeit des Allgemeinen in
alle jene Berwidlungen des Einzelnen, um defien genaue Beherr⸗
[hung uns zu thun iſt. Nicht dieſen Weg fehen wir daher die
Wiffenfchaften einfchlagen, denen wir bisher die bleibendfte und
fruchtbarfte Erweiterung unferer Einfichten verdanken; fie gehen
in ihrer Arbeit nicht von den Punkten aus, die auch ein fpätere®
ausdrückliches Nachdenken als die höchſten ihrer felbit gewiſſen
Grundlagen aller Folgerungen, als die eigene weſentliche Wahr:
heit ber Dinge zugeftehen müßte. Manches laſſen fic vielmehr
unentſchieden und bahingeftellt, am meiften die endliche Recht⸗
fertigung der Grundfäge, die fie der forgfältigen Zergliederung
der Erfahrungen als wohlbeglaubigte, obgleich in ihrem Urfpunge
dunkle Unterlagen für die weiteren Schritte ihrer Erklärungen
entlehnen; immer vorwärts auf die zunehmende fihere Herrſchaft
uber das Einzelne gerichtet, mögen fie befhaulichen Gemüthern
weniger Kopf zu befigen fcheinen, aber gewiß haben fie mehr
Hand und Fuß, als jene höheren Anfichten der Dinge, Die meift
mit. undurchführbaren Anfprüden, immer fehr verſchwenderiſch
mit Forderungen, und Nichts felber gemährend, ihnen gegenüber:
treten. Es gelingt uns vielleicht zumeilen, indem wir alle Be
dingungen eines Naturereignifjes berüdfichtigen, eine Formel zu
finden, welche das vollftändige Geſetz derſelben erſchöpfend aus-
drückt; aber die Gleihung, die wir fo erlangt haben, vermögen
wir vielleicht nicht. aufzuldfen, und die Wahrheit, Die wir an ihr
befigen, bleibt ein unbenugbar verjchloffener Schag. In ſolchen
Fällen befcheidet ſich die Wiſſenſchaft, und indem fie einige ber
Bedingungen, die geringen Einfluß auf die Begründung der Er⸗
ſcheinung und großen auf die Verwicklung der Formel baben,
aus ihrer Unterfuhung hinwegläßt, zieht fie aus. der vereinfad-
ten und lösbar gewordenen Gleihung Folgerungen, die nur ans
nähernd richtig, aber deshalb, weil man fie haben kann, nütz⸗
licher find als die vollfommen genauen, die man nicht haben
kann. Auf ähnliche Weife finden wir vielleicht eine glaubliche
Aufflärung über die höchſten Zwede der Welt; aber die bisherigen
303
Verſuche dazu haben und mit dem Mißgefchid vertraut gemacht,
daß wir aus diefen hohen Aufgaben fehr wenig den vertwidelten
Geſchäftsgang abzuleiten verfiehen, durch welchen der Naturlauf
fie zur Erfüllung bringt, und doch Liegen die meiften praftifchen
Beweggründe zu unferen Unterfuchungen auf Diefem Gebiete, bef-
fen Gefeglichfeit fih einem. weniger hochfliegenden Gedankengange
nicht unerforſchlich zeigt.
Mit diefer natürlichen Vorliebe nun für die Dinge, die fich
ausführen laſſen, verbindet fi fir und noch eine doppelte Be⸗
trachtung, die uns überredet, bie Aufgabe, welche uns obliegt, zu
theilen. Je weiter wir und von den gegebenen Thatfachen ent-
fernen, um aus ihrer verallgemeimnernden Vergleihung die höch-
ften Grundfäge zu finden, Die und wieder zu ihnen zurädführen
follen, um jo zahlreicher werden unvermeidlich die Quellen mög⸗
licher Irrthumer; ihre Menge wächft mit ber fleigenven Anzahl
der Bermittlungsglieder, durch die unfere Schlüffe das Gegebene
mit dem gefuchten Höchften verbinden. Nur ein verhängnißvolles
Zutrauen zu ihrer eigenen Unfeblbarfeit kann daher die Wiffen-
ſchaft verleiten, ihre Erfenntniß über einen reich gegliederten In-
halt mit Vorliebe an die möglich geringfte Anzahl von Grund-
fügen oder an ben dünnen Faden eines einzigen Princips zu
Inüpfen, mit defien Riß das Ganze fallen müßte. Anftatt ihren
Bau auf die ſcharfe Schneide einer einzigen Grundanſchauung zu
ftellen und das fonderbare Kunftftüd der möglich größten Labili-
tät mit immer tieffinnigeren Mitteln auszuführen, wird fie nlg-
Yicher arbeiten, wenn fle für bie breitefte Grundlage ihres Auf-
fteigen® forgt und das Gegebene mit befcheidenerem Anlauf zuerft
auf die nächſtliegenden Erklärungsgründe bringt, die feine deutlich
erkennbare Eigenthümlichfeit verlangt. Sie wird fi vorbehalten,
diefe Ergebniffe erfter Ordnung zum Gegenftand einer höher ftei=
genden Yorfhung zu machen; aber indem fte fi erinnert, wie
in dieſer Höhe allmählich die Schärfe der Umriffe in den Gegen-
ftänden der Frage und bamit bie Sicherheit unferer Beurtheilung
abnimmt, wird fie Die Möglichkeit des Irrthums zugleich zugeben
304
und zugleich feine Schänlichfeit minbern. Denn es wird ihr
frei ſtehen, dieſe höheven Gebiete wieder aufzugeben, bie fie mit
unzureichenden Mitteln ſchon erfämpft zu haben glaubte, und fid
auf jene niedrigeren noch immer unabhängig für ſich haltbaren
Standpunkte zurüdzuzichen, Deren Ausſicht, obwohl fie nicht bie
Ausfiht vom Gipfel ift, doch immer auch eine Wahrheit und
Wirklichkeit bleibt.
Und endlich, felbft wenn wir und getrauten, den Weg bis
zum Gipfel der höchſten Höhe fehlerlos zurückzulegen, würden wir
doch eine Beranlaffung haben, ihn nur felten zu gehen. Denn
um bie Höhe zu erreichen, würben wir gendtbigt fein, gar mande
von jenen Vorftellungsarten der Dinge aufzugeben, auf beren
Anwendung fiy uns alle Klarheit und Anfıhaulichfeit in unferm
täglichen Verkehr mit den Gegenftänden beruht. So gewiß wir
nun dieſe Berzihtleiftung auf die Richtigkeit des uns fo vertraut
gewordenen Scheines entichloffen durchführen müflen, eben fo
gewiß werben wir doch dann, wenn wir von jenen höchſten Stand-
punkten zu ber Ebene der und umgebenden endlichen Melt zus
rückkehren, auch die Sprache des Scheines wieder vorziehen müß
fen. Klarheit und Einfiht erreichen win, nicht, indem wir in
jedem einzelnen alle die gewohnten Formen menſchlicher Auf
faſſung aufgeben und die Sprache einer höheren Wahrheit an ihre
Stelle ſetzen, ſondern dadurch, daß wir einmal auf den Grund
der Dinge zurüdgehen und aus ihm Die Grenzen verftchen lernen,
innerhalb deren mir.eben jene gewohnten Auffaffungsformen «ld
gelenfige Werkzeuge unferer Erkenntniß als angenäherte uud ber
Handhabung fühige Abkürzungen bes wahren Verhaltens ohne
Irrthum anwenden bürfen. Niemals Bortheil, fondern nur ben
Nachtheil beängftigenver Unklarheit bringt e8 mit fi, wenn wir
in befondere und einzelne Unterfuchungen unmittelbar die höchſten
Prineipien einmifhen, von denen alle Entſcheidung freilich zulegt
abhängt; Niemand ift im Stande, zugleich Die ganze Reihe ber
Weiterbeftimmungen im Auge zu behalten, durch welche doch eigent-
lich auch jene höchſten Gründe erft zu dem werben, wovon Der
305
gegebene Fall zunächſt abhängt. Obwohl die Afteonomie den
Stillftand der Sonne und die Bewegung der Erde entjchieden hat,
fo vermeidet unfer Sprachgebrauch doch die Geſchmackloſigkeit, dem
Auf- und Untergang der Sonne den jchrwerfälligeren Ausprud des
wahren Verhaltens vorzuziehen; obwohl von den Kräften, mit
welchen die kleinſten Theilchen gegen einander wirken, die größere
oder geringere Fähigkeit der Körper abhängt, ihre geftörte Geftalt
wieber berzuftellen, fo gehen wir doch nicht bei jedem Anlaß auf
die Berechnung derſelben zurüd, fondern freuen uns, in dem Be-
griffe der Elafticität und in ihren erfahrungsmäßig gefundenen
Gefegen näher Tiegende Mittel zu bequemerer Beurtbeilung zu
befigen; obwohl endlich jcde Veränderung, durd welche unſere
Speifen genießbar werden, ohne Zweifel auf allgemeinen chemi—
Then Gefegen beruht, jo warten wir doch nicht, bis dieſe entvedt
fein werben, und vermuthlid wird die Kochkunſt felbft dann die
Kunftgriffe der Erfahrung als beffere Bürgichaften des Erfolges
den Vorſchriften der Wiſſenſchaft vorzichen. Die geringe Neigung,
melde bisher die höheren Unterfuchungen gezeigt haben, den Schatz
ihrer vielleicht fehr vollwichtigen Ergebniffe in dieſe gangbare
Kleinmünze behaltbarer Gedanken und faßlicher Abkürzungen aus—
zuprägen, hat ihnen nicht allein die allgemeine Theilnahme ent-
zogen, fondern zu ihrer eigenen Unflarheit mitgewirkt. Es iſt
fein volllommener Zuftand der Geſellſchaft, wenn die Entſcheidung
jeder ftreitigen Kleinigkeit und Die Anmeifung zur Beforgung bes
geringften Geſchäftes unmittelbar von der höchften Behörde einge-
holt werben muß; wie man hier der gejegebenden Gewalt und
ber leitenden Regierung einen mohleingeübten Mechanismus ber
Berwaltung unterordnet, fo bedarf auch die Wiffenfchaft einer Ab-
ſtufung der Gefihtöpunfte, und die nicht genügenden Entſcheidun⸗
gen ber niedrigeren müfjen zwar ben höheren zu beflerer Auf:
klärung überwiefen werben können, aber nicht überall muß die
Recht ſuchende Forſchung zu dem weiten Wege bi8 an ben legten
Urfprung der Dinge zuräd genöthigt fein.
Loge J. 3. Aufl. 20
- 306
Keine Frage dürfen wir ficherer erwarten, als die nach dem
‚Bande überhaupt zwifchen Leib und Seele; fie pflegt die erfte zu
fein, die man in dieſen Betradgtungen aufwirft, und zu ihr kehrt
man im Verlaufe derfelben zurüd, indem man unbefriedigt durch
alle Beftimmteren Auseinanderfegungen wie mit einem tiefen Athent-
ſchöpfen nun noch einmal die eigentliche Schwierigfeit der Sache
in ihr zufammenzufaffen meint. Und doc Tann faum etwas bin-
derlicher fein, als eben das Mißverſtändniß, welches dieſe Fafſung
der Frage ſelbſt einſchließt. Denn was iſt ein Band Anderes,
als ein Mittel äußerlicher Verknüpfung für das, was nicht von
felbft aneinander haftet und wegen des Mangels jeder innerlichen
Beziehung keine Wechſelwirkung auszutauſchen geneigt iſt? Und
wäre e8 uns nun gelungen, dieſes allgemeine und zwar dieſes
eine Band zwiſchen Leib und Seele zu entdeden, welches Bebirf-
niß hätten wir dann eigentlich befriedigt? Keine der zahlloſen
Wechſelwirkungen, die wir zwifchen beiden gejchehen jehen, würde
ihrer Geftalt und Art na aus dieſer Außerlihen Umſchnürung
erflärbarer fein, als ohne fie; ja felbft die Möglichkeit jedes gegen—
fettigen Einflufjes würden wir noch eimmal mit einem ganz neuen
Anlauf der Unterfuhung aus der Natur des VBerbundenen zu be=
greifen fuchen müſſen, da wir fie in ber unbeftimmten Vorftellung
des Bandes nicht finden. - Und jedes Band überdies, durch welches
neue Bindemittel find feine eigenen Beftandtheile verknüpft, um
nun mit ihrem Zuſammenhang auch Anderes binden zu Können ?
Wie weit mir aud in das Kleine hinein den Behelf eines immer
ernenerten Kittes wiederholen mögen, zulegt werben wir zugeftehen
müfjen, daß nicht ein vorangehendes Band die legten Elemente
zur Wechſelwirkung befähigt, fondern daß eben die Wechſelwirkung
ſelbſt fie unmittelbar aneinander heftet und fie befähigt, Bänder
zu werben für Anderes, deſſen eigene gegenfeitige Verwandtſchaften
zu kraftlos find, um feine Vereinigung im Kampfe mit wiber-
flreitenden Hinderniffen zu bewirken.
Aber hat nicht dennoch Die Forderung, jenes allgemeine Band
aufzuzeigen, ben richtigen Sinn, eine Bedingung zu verlangen,
307
die für das Zuftandefommen der Wechfelwirkung vorher gewährt
fein muß? Das Gefäß, welches zwei chemifche Stoffe umschließt,
wirft e8 nicht als ein Band, das beide zunächſt zu gegenfeitiger
Berührung zufammenzwingt und dadurch erſt ihnen Gelegenheit
gibt, die Einflüffe auszuüben, deren beftimmte Art und Größe
freilich nur in ihrer eigenen gegenfeitigen Verwandtſchaft begründet
ft? Gewiß, die Elemente, deren Wechfelbeziehungen nicht fo Ieb-
baft find, um fie einander aufſuchen zu laſſen, bebürfen einer
leitenden Hand, um fie zufammenzuführen; aber nun, nachdem fie
zufommen find, ift es weber jene Hand mehr noch das Gefäß,
was fie verbunden bält, ſondern ihre eigenen Wechjelwirkungen
verfnüpfen fie, und oft zu einer größeren Feſtigkeit, als jenes
äußerlihe Band ihnen je hätte geben Fünnen. Und fo mag es,
um das Gleihniß zu verlaffen, eine der Aufmerkſamkeit mirdige
Frage fein, auf welche Weife in der erften Bildung des Lebens
Leib und Seele vereinigt worden find; aber in dem einmal ge=
bilveten und fich erhaltenden Xeben, deſſen Aufflärung notbmendig
unfer nächfter Gegenftand fein muß, da wir nur aus der Kennt-
niß feines Beſtehens Vermuthungen über feine Entftehung ent-
wideln können: auch in ihm ein fortdauerndes Band zwifchen Leib
und Seele zu verlangen, das von der lebendigen Wechſelwirkung
beider noch verſchieden wäre, ift eine gleich überflüffige und arm—
felige Vorſtellung. Ste ift ebenſo überfläfftg, ald wenn wir das
Band der Freundſchaft, das zwei Gemlither verknüpft, noch be—
ſonders als eine fihtbare Umſchnürung wahrnehmen wollten, wäh-
vend ed eben die Freundichaft ſelbſt ift, welche das Band bildet;
fie ift armfelig, weil fie e8 ift, die vecht eigentlich auf ganz äu—
ferliche Weife Leib und Seele aneinanderfetten möchte und nicht
daran denkt, daß ftatt bes einen formlofen Bandes vielmehr
das feingegliederte Geflecht unzähliger Beziehungen beide auf das
Sinnvollſte zu gegenfeitigem Eingehen auf ihre Zuftände und Be—
bürfnifie befähigt. Denn jede einzelne Wechſelwirkung, die zwiſchen
ihnen ausgetauſcht wirb, ift ein Baden deſſen, worin ihr Band be—
fteht, und die fpottenden Einwürfe, die jo oft der Anficht von der
20*
308
Zufammenfegung der menjhlihen Natur aus Leib und Seele ge
macht werben, weil fie unjer Wefen aus ber Addition zweier Be:
ftandtheile erzeugen wolle, tragen nur diefe Kümmerlidhkeit ihrer
eigenen Borftellung von einem allgemeinen Bande mit Unrecht auf
die unbegrenzte Mannigfaltigfeit diefer organifirten Wechſelwirkung
über. Laffen wir deshalb dieſe nutzloſe Anficht auf ſich beruhen,
wie fie theil® in gröberer Form fih nad) einem ftoffartigen Cement
ſehnt, das vielleicht in Geftalt einer ätherifchen Materie Leib und
Seele verfitte, theil8 in feinerer und doch nicht wahrerer Ausbil-
bung bie Seele jelbft als Mittelglied zwifchen Körper und Gef
ftellt und durch dies Alles nur die Anzahl der Fugen vermehrt,
deren Verkittung fie doch wünſcht.
Aber dieſe Wechſelwirkungen ſelbſt, gehören fie nicht zu dem
Unerklärlichſten, oder gäbe es ein Mittel, ſich eine Anſchauung da⸗
von zu machen, wie die Eindrücke vom Körper zur Seele übergehen
und von dieſer zurückkehren? Auch dieſe Frage enthält des Mif-
verftändlichen viel, und in der That ift fie nur eine neue Form
des Ausdruckes fitr die falſche Meinung, die der vorigen zu Grunde
lag. Denn unerklärlich ift jene Wechfelmirkung allerdings, aber
fie gehört nicht zu den Vorgängen, deren Wirklichkeit wir um ihrer
Unerklärlichkeit millen bezweifeln dürfen, weil es ihre Pflicht fein
würde, nad und befannten Gefegen ſich erklären zu Lafjen; fie
jelbft ift vielmehr der Begriff jenes einfachen und urfprünglicen
Geſchehens, auf welches jede Erläuterung zufammengefetter Ereig-
niffe und zurüdführt, und welches wir nun, uns felbft mißver:
ftehend, aus feinen eigenen Folgen begründen möchten. Ober ver:
langen wir mit jener Frage vielleicht etwas Anderes al die aus:
führliche und anfchauliche Beſchreibung der Arme, mit denen bie
Seele thätig in den Körper übergreift, der phyſiſchen Werkzeuge,
durch welche der Körper ihr feine Eindrücke beibringt, kurz jener
ganzen Mafchinerie, welche hier, wie in anderen Fällen der Wed
309
jelwirkung, die wir genauer zu kennen glauben, den Uebergang
ded Einfluffes von einem zum andern vermittele?
Prüfen wir uns unbefangen, fo können wir nicht leugnen,
daß in unferer Weltauffaffung jehr oft die Neugierde an die Stelle
der Wißbegierde tritt, und Daß die reiche Befriedigung der einen
durch die unftrhaltende Mannigfaltigkeit aufeinanderfolgender Bil-
der und nur zu oft vergeflen läßt, wie völlig ungeftillt die andere
bleibt. Wir ſchätzen die Gründlichkeit unferer Einfiht ſehr ge-
wöhnlich nad der Menge der Einzelheiten, die wir in irgend einer
Unterfuhung kennen gelernt haben; je mehr innerliche Mafchinerie,
je mehr Zufammenfegung unfere zergliedernde Aufmerkſamkeit in
irgend einem Gegenftande findet, defto vollftändiger glauben wir
Weſen und Wirkungsweife defjelben begriffen zu haben. Wir den⸗
fen nicht daran, daß dieſe Mannigfaltigkeit zufammenbängenber
Glieder eigentlich Doch nur die Summe deſſen vermehrt, was einer
Erklärung eben bebürftig wäre, und daß jeder Nachweis von Mit-
telgliedern zwifchen erfter Urſache und Enderfolg das Räthſel, wie
nun überhaupt Wechſelwirkung zwifchen verſchiedenen Elementen
möglich fei, nicht Löft, fondern nur vervielfältigt. Haben wir eine
Machine, deren Wirkumgsmweife und zunächſt völlig unbegreiflid
fehien, in ihrem Innern betrachtet, und gefchen, mo jedes Rad des
Getriebes in das andere eingreift und feine cigenen Bewegungen
in beftimmten Richtungen auf andere Elemente überträgt, fo glau=
ben wir nun alle Räthfel gelöſt. Und doch haben wir nit im
Geringſten eine Kenntniß der Art erlangt oder des inneren Vor⸗
ganges, durch melden hier die wirkenden Kräfte ihren Erfolg ber=
oorbringen; wir haben nur das große unanſchauliche Geheim-
niß der ganzen Mafchine in jene einzelnen Geheimniffe der ein—
fachen Naturwirtung zerlegt, in Betreff deren wir und einmal
entſchieden haben, fie als Mar gelten zu laſſen, obwohl fie doch
für jede nähere Betrachtung fich zu völliger Unbegreiflichkeit ver
Dunkeln.
Denn alle Mafchinenwirtung beruht anf der Mittheilbarkeit
der Bewegung und auf der Feftigfeit des Gefüges und bed Zu-
310
ſammenhanges in den Maſſen, zwifchen denen fie Übertragen wer: '
den fol. Welche von dieſen beiden Bedingungen verftehen wir
nun? Wiffen wir anzugeben, was in der Mittheilung der Bewe⸗
gung geihieht, und mie der treibende Körper ed anfängt, um durch
Stoß oder Drud den anderen in Bewegung zu fegen und einen Theil
feiner Gefhwindigkeit an ihn zu übertragen? Ober ift e8 und
vielleicht Klar, wie und wodurch die einzelnen Theile eines Trieb:
rades fo aneinanderhaften, daß der Stoß, der dem einen von ihnen
gegeben wird, aud die andern nöthigt, mit ihm in Gemeinschaft
fih zu bewegen und die Freisfürmige Ummwälzung um eine Are
bervorzubringen, die nun zu neuen nüglichen Effecten verwendet
wird? Vielleicht berufen wir uns auf die Wirkung anziehender
Kräfte, welche alle Theilhen zu einem Ganzen verbinden. Aber
dieſe Wechſelwirkung der gegenfeitigen Anziehung, worin befteht
fie felbft und worurd wird fie hervorgebracht? Wie fangen jene
Kräfte e8 an, über die Grenzen des Körpers hinauszugreifen, dem
fie angehören, und über einen andern, deſſen Eigenthum fie nidt
find, dieſe Macht auszuüben, daß er ihrer Anziehung folgen muß?
Wir befürchten nicht, daß man auch hier noch einmal won einem
Bande ſprechen werde, das Sonne und Planeten zufammenhalte:
man wirb der Frage, dic ſich fogleich erneuern würde, mie fle es
nun machen, dies Band bald zu verfürzen, bald .zu verlängern,
Durch das offene Zugeſtändniß ausweichen, daß hier eine der ein-
fohen Wirkungen vorliege, Durch deren Zufammenfegung man wohl
die Geftalt verwidelter Erfolge erflären könne, während fie jelbft
durch Feinen neuen Zwiſchenmechanismus beutlicher werden als
ohne ihn. Sowie wir wohl wiffen, was wir meinen, wenn ir
jagen, daß etwas fei, aber nie erfahren und ergründen \werben,
wie Sein gemacht wird, fo wiffen wir, was wir meinen, wenn
wir vom Wirken fpredjen, aber nie werben wir angeben können,
wodurch das Wirken überhaupt zu Stande kommt. Nichts wird
unfere Wiſſenſchaft Teiften Können, als daß fie genau die Bebing-
ungen aufſucht, unter denen dieſes unbegriffene und unbegreifbare
Wirken entfteht; und wie großartig und wichtig ihre Leiftungen
.311
in der Entwirrung und Berglieverung verividelter Zufammen-
hänge fein mögen: wenn fte die einfachen Wechſelwirkungen er-
veiht bat, auf deren Zufammenfegung fie jenes Mannigfaltige
-zurüdführt, wird fie überall befennen müſſen, daß der eigentliche
Act des Wirkens in allen denkbaren Fällen feines Vorkommens
uns gleich unerflärher bleibt.
Aber man wird dies nur zugeftehen, um es ſogleich wieder
zu vergeſſen, ſobald die beſtimmte Frage nach der Wechſelwirkung
zwiſchen Körper und Seele aufgeworfen wird. Obgleich eine kurze
Durchforſchung der Natuwiſſenſchaft uns lehren kann, daß in der
That in allen Formen der Gegenwirkung zwiſchen Stoff und Stoff
die gleiche Dunkelheit herrſcht, iſt es doch eine kaum zu überwäl⸗
tigende Gewohnheit geworden, den gegenſeitigen Einfluß zwiſchen
Leib und Seele als einen beſonderen unglücklichen Ausnahmefall
zu betrachten, in welchem uns wider Erwarten das nicht klar wer⸗
den wolle, was in jedem Beiſpiele blos phyſiſcher Wirkungen uns
ganz deutlich ſei. Wie wenig es nun dort deutlich iſt, haben wir
zwar gezeigt; aber dennoch wird dieſe Klage ſich wiederholen, denn
der Eindruck der Unklarheit wird bier geſchärft durch die Unver—
gleichbarkeit der Glieder, die auf einander wirken ſollen. Den
materiellen Beſtandtheilen des Körpers ſteht die überſinnliche Na-
tur ber Seele gegenüber; mie kann nun der Stoß und Druck ber
Maſſen, oder ihre hemifche Anziehung, die einzigen Mittel, mit
denen fie wirken zu können fcheinen, Eindruck auf die Seele ma-
chen, die ihnen wie ein nichtiger Schatten feinen Angrifföpunft ges
währt? Und wie möchte umgefehrt das Gebot der Seele, ein Ges
bot, dem an fich Feine ausitbende Gemalt des Stoßes zur Seite
ſteht, Maſſen bewegen, die nur fo bandgreiflihen Antrieben ges
horchen würden? Nur von Gleihartigem zu Gleihartigem ſei
ein Austauſch der Wirkungen denkbar. Aber bei näherer Ueber:
legung zeigt ſich Doch auch dieſes Verlangen nach Gleichartigkeit aus
dem Srrthume hervorgegangen, als feien Stoß, Drud, Anzieh-
ung und Abſtoßung oder chemische Wahlverwandtſchaft erflärende
Bedingungen der Wechſelwirkung, da fie doch nur Formen find,
312
in denen die Wirkung auf unbegreifliche Weife erfolgt. Die völlige
Gleichheit zweier Kugeln macht an fi die Mittheilung ihrer Be-
wegung im Stoße nicht begreiflicher; fie gemährt Lediglich unferer
Anſchauung den Bortheil, die beiden wechſelwirkenden Elemente
gleich deutlich vorftellen zu können und die räumliche Bewegung
zu fehen, mit der fie fi nähern; d. h. fie madt uns ein Bil
des Thatbeftandes möglich, wie er vor aller Wechfelwirkung if,
aber ſie erflärt das Zuftandelommen des Wirkens um nichts bef-
fer. Jener Bortheil der Anſchaulichkeit nun entgeht uns zunächſt
allerdings. Wir witrden getröftet fein, wenn wir Die Seele fprung-
fertig der Materie gegenüber fehen könnten, um auf fie einzu-
dringen, oder ſich ausbreitend, um den Stoß derjelben aufzufangen;
wir würden dann das Bild erreicht haben, nad dem wir uns fo
ſehr fehnen, ohne für das Verſtändniß des Herganges das Ge
ringfte gewonnen zu haben. Vielleicht führt und nun eine fpätere
Wendung unferer Unterfuhung zu einem Standpunkte, auf wel-
chem dieſe Ungleichartigkeit der itberfinnlichen Seele und des finn-
lich mahrnehmbaren Stoffes ohnehin verfchtwindet; aber auch wenn
fie nicht verſchwände, witrde fie nicht im Ernſt eine Vergrößerung
der Schwierigfeit für uns fein. Denn der Act des Wirkens, ba
er ſelbſt Fein ſinnlich anſchaulicher Vorgang ift, kann audy keine
andere Gleichartigkeit der wechſelwirkenden Glieder verlangen, als
eine ſolche, die reichlich dadurch gewährt tft, daß die Seele als
wirkliche, des Thuns und des Leidens fähige Subftanz den Ato-
men des Stoffes gegenüberfteht, die wir ihrerſeits chenfo als reale
Mittelpuntte aus⸗ und eingehender Wirfungen betrachten. Jede
Forderung noch weiter gehender Aehnlichteit wiirde nur auf dem
Irrthum beruhen, welcher den Act des Wirkens als einen Uebergang
fertiger Zuftände aus einem Element in das andere anfieht und
deshalb freilich auf Aehnlichkeit oder Gleichheit beider dringen muß,
uam dem auswandernden Zuftande da, wo er einmandert, eine gleich
große und gleich geftaltete Bebaufung wieder anbieten zu Können.
Und endlich, müſſen wir hinzufügen, gibt es nicht Wechſel⸗
wirkungen überhaupt, fo wie es nicht eine Berknitpfung überhaupt
313
gab. Jede Wirkung ift eine befondere, nah Form und Größe
beftimmte, und wir haben feinen Grund zu der Annahme, daß
alle Verſchiedenheit der Erfolge in der Welt immer nur von ver-
ſchiedenen Zufammenfegungd- und Benutzungsweiſen eines und
defjelben gleihartigen Wirkens herrühre. Iſt Died nun fo, was
würden wir für die Aufhellung der Erfcheinungen gewonnen haben,
wenn wir die allgemeine Möglichkeit des Wechſelwirkens zmifchen
Leib und Seele irgendwie erklärt hätten, wenn wir aber aus
ihr nicht entwideln könnten, warum unter verfchiedenen Umftän-
den bald dieje, bald jene eigenthiimliche Art der Wirkung zwiſchen
beiden ſich entfpinnen müßte? Im Imtereffe der Wiflenichaft kann
es deshalb nur wenig liegen, Diefe allgemeinfte Frage weiter zu
verfolgen. Sie wird zugeftehn und vorausfegen, daß die Art, wie
Wirkungen überhaupt in der Welt möglich feten, in allen Fällen
und auf jedem Gebiete der Ereigniffe gleich undurchdenkbar bleibe;
Das wahre und ergtebige Feld der Unterſuchung liege in der Nach—
forſchung darnach, unter welchen beftimmten und angebbaren Be—
dingungen ebenfo beftimmte und angebbare Wirkungen allgemein
und gefeglich eintreten. Während fie e8 aufgibt, zu erfahren, wo—
durch und wie überhaupt Wirfungen von ihren Urfadhen hervor-
gebracht werden, richtet fie ihre Aufmerkſamkeit auf die andere
nüglichere Frage, welche Wirkungen von welchen Urſachen ausgeben.
Indem fie die Sorge für das Zuftandelommen der Ereigniffe einer
allgemeinen und gefeglihen Naturnothwendigfeit überläßt, deren
Gebote feinen Widerſtand finden, welchen hinwegzuräumen bejon-
dere Mittel nöthig wären, hat ſie an diefem Gedanken einen
ebenſo reichen und ergiebigen Gegenftand der Unterfuchung, wie
die Aſtronomie einen foldden in der Vorſtellung der allgemeinen
Anziehung befigt, von deren Zuſtandekommen fie nichts weiß, aber
aus welcher fie unter Berüdfihtigung der mannigfachen Umftänbe,
unter denen ihre unbegreifliche Wirkung auftreten kann, eine Fülle
der verwidelteften Erſcheinungen zu erklären vermag.
Man wird diefe Anficht richtig bezeichnen, wenn man jte mit
dem Namen des Decafionalismus belegt, aber man wird Unrecht
314
haben, e8 im Sinne eined Tadel zu thun. Wir nennen eine.
Lehre jo, die Alles, was unferem unbefangenen Blide als die
hervorbringende Urfache eines Erfolges erfcheint, nur als die Gele-
genheit auffaßt, bei weldher auf unbegriffene Weife diefer Erfolg
hervortritt. Died Bewußtfein num möchten mir eben erweden,
daß alle unfere befte Kenntniß der Natur überall nur ein genaues
Studium der Gelegenheiten ift, bei denen burcdh einen Zufammen:
hang des Wirkens, deſſen innere bewegende Nerven wir nicht
verftehen, die Ereigniffe bervortreten, jedes nach allgemeinen Ge—
fegen an eine ihm allein zugehörige Veranlaſſung geknüpft, und
jedes nad) ebenfo beftändiger Hegel fich mit der Veränderung diefer
Beranlafjung verändernd. Wir ftehen nicht außerhalb des Kreifes
naturwiſſenſchaftlicher Auffaffungen, wenn wir den Wechjelmwirkun-
gen zwifchen Leib und Seele diefe Betrachtung unterlegen, fondern
wir dehnen nur die Gewohnheiten der Naturerfenntniß folgeredht
auf dies neue Verhältniß aus. Ya die Hare Einficht, daß auch
unfer Wiffen um die phyſiſchen Ereigniffe kein wefentlich tiefere®
ift, wird uns num felbft erlauben, jene Anſchauungen der täglichen
Beobachtung, deren Wegfall in diefer Frage wir oben bevauerten,
ohne Beflichtung eincd Irrthums wieder anzumenben.
In der That warum follten wir und verfagen, von dem
Drud und dem Stoß der Maffen auf die Seele, von der Anzieb-
ung und Abftoßung beider durch einander zu fpredhen, ſobald dieſe
Ausdrüde, obwohl fie feine Aufklärung enthalten, doch dazu dienen,
unfere. Borftellungen des Sachverhaltes bequem und anſchaulich
abzukürzen? Was wir unter jenen Worten im gewöhnlichen Leben
zunächſt verftchen, das find die äußerlichen Formen, welche Die
Wechſelwirkung größerer und zufammengefetter Maſſen gegenein-
ander annimmt. Hier fheint ed uns, als wirkten die Maſſen
durd den Stoß, durch den Drud. Wber geben wir auf die
einfachen Atome zurüd, die das Gefüge diefer Körper bilden, fo
treffen wir innerhalb der phyſikaliſchen Anfchauungen auf die Vor⸗
ftellung von großen Zwiſchenräumen, die auch in der Dichteften
Maſſe die Hleinften Theile trennen, und deren Größe zwar durch
315
mannigfaltige Kräfte verkleinert, aber nie bis zu völliger Berüh—
rung ber Atome vernichtet werden könne. Dann würde der Stoß
zweier Atome anders zu fafen fein. Noch ehe eine Berührung
erfolgt, würde die Annäherung des einen in dem andern eine
zurüdftoßende Kraft erweden oder fteigern, und die nun erfolgenve
Wirkung, die und früher durch den bandgreiflihen Anprall des
Stoßes wie durch ein Mittel ihrer Verwirklichung zu entftehen
fchien, würde in der That von einem mechfelfeitigen Einfluß ber
Elemente aufeinander abhängen, für deſſen Zuftandefommen wir
gar Feine weitere Mafchinerie mehr aufzuzeigen wiffen. Die Er:
fcheinung des Stoßes würde nur noch die Folge eines inneren
unvermittelten Berftändnifjes der Dinge untereinander fein, kraft
deſſen fie ihre Zuftände nach allgemeinen Geſetzen auf einander
wirken laſſen. Warum alſo follte nicht ein Atom des Nerven-
ſyſtems ebenfo auf Die Seele oder fie auf jenes ftoßen und drüden
können, da doch jeder gemeine Stoß und Drud ſich für Die nähere
Betrachtung nicht als ein Mittel zur Wirkung, fondern nur als
die anfchauliche Form eines viel zarteren Ereigniffes zwiſchen den
Elementen ausweift?
Doch ohne allzuviel Werth auf den Wiedergewinn dieſer
Ausdrüde zu legen, wollen wir vielmehr die nächſte allgemeine
Folge hervorheben, die aus unferer Anſicht fi für die Behand-
lung der einzelnen Fragen ergeben wird. Wir haben eben des
ſeltſamen Vorurtheils Erwähnung gethan, welches den Vorgang
des Wirkens als die Uebertragung eines fertigen Zuſtandes von
einem Element zum anderen betrachtet. Wie wenig aus einer
folden Borausfegung fih die Mannigfaltigfeit der Ergebniffe
würde erflären Iaffen, welche der Eindruck eines Reizes in ver-
ſchiedenen Gegenftänden weckt, auf die er trifft, bedarf Feiner
weiteren Erörterung; beftände fein Wirken nur in der Aus:
ftrahlung eine8 fertigen Zuftandes, der von jenen als folder
316
aufgenommen würde, jo könnte ihm auch nichts antworten, als
ein ganz gleichlautenves Echo, ebenfo vielftimmig, als Gegen-
ftände vorhanden waren, die diefem gleichen Eindruck ſich öffneten.
Mag es fein, daß von dem wirkenden Punkte immer nur eine,
ibm und feinem Zuſtande entfprecdende Bewegung ſich ausbreitet,
fo muß doch offenbar der Erfolg, den fic haben wird, verſchieden
fein nad) der Berfchievenheit der Weſen, auf welde fie trifft.
Die Anficht, die wir feftzuhalten befchloffen haben, legt uns jenen
Irrthum nicht nahe; fie führt ung vielmehr ohne Umſchweif Dazu,
jeden äußeren Einfluß, der von irgend einem Element auf ein
anderes überwirkt, immer nur als einen veranlaffenden Reiz zu
betrachten, welcher in dieſes zweite nicht einen fertigen und ihm
fremden Zuftand Hineinträgt, jondern in ihm nur wedt, mas in
feiner eigenen Natur ſchon begründet war. Die hölzernen Taſten
des mufilalifchen Inftrumentes enthalten nicht felber die Töne,
die fie durch ihren Anfchlag aus den Saiten hervorloden, lediglich
die Spannung der legtern ift es, die Durch jenen Stoß in toner-
zeugende Schwingungen übergehen kann. Ebenſo find alle Ein-
brüde des Körpers nur Anftöße für die Seele, aus ihrer eigenen
Natur die inneren Phänomene der Empfindung zu erzeugen, bie
ihr von außen nie mitgetheilt werden fünnen. Denn auch wenn
e8 nicht die Bewegung einer Zafte, ſondern felbft fchon eine
Shallihwingung wäre, mad die Saite zum Mittönen brächte,
‚immer würde doch diefe den Ton nur durch ihre eigene Spannung
wieder zu erzeugen fähig fein, gleichviel ob das, was fie in Exzitte-
rung verfegte, ein diefer Schwingung ähnlicher oder unähnlicher
Borgang war. Nicht anders würde es fich verhalten, wenn wir
auf irgend eine Weife die Empfindung als einen ſchon in den
Rerven vorhandenen Zuftand faflen mollten; er würde im ber
Seele doch von Neuem entſtehen müfjen durch irgend cine An-
vegung, die der empfindende Nero ihr zukommen ließe, und er
würde nie durch äußere Eindrüde in ihr entftehen können, wenn
nicht ihre cigene Natur zur Entfaltung diefer eigenthümlichen
Form des inneren Geſchehens an fich felbft befähigt wäre. Jede
317
Borausfegung mithin, die das, was in der Seele entftehen fol,
auf irgend eine Art ſchon außer ihr als vorhanden vorausfegt,
ift doch genöthigt auf diefen Gedanken zurüdzulommen und das
Aeußere nur als eine Beranlaffung, das innere Ereigniß dagegen
al8 ein aus der Natur defien, in welchem es geſchieht, hervor⸗
gehendes zu betrachten. Die Nothmwendigfeit diefer neuen Ent:
ftehung deſſelben kann durch jene Annahme eben fo wenig ver-
mieben werben, als etwa bie Erkenntniß einer Wahrheit ober bie
Begeifterung eines Gefühls fih von einem Geifte an den andern
ohne eine wiebererzeugende Selbftthätigfent des letztern mittheilen
läßt. Im wie vielgeftaltiger Weiſe daher die Einwirkungen des
Teiblichen Lebens die Entwidlung des geiftigen bedingen, fo führen
fie doch weder das Bewußtſein überhaupt, noch irgend eine ein-
zelne Empfindung oder Vorftellung der Seele fertig, als das ſchon
gewonnene Refultat körperlicher Vorgänge zu; alle jene Einwirk—
ungen find nur Signale, auf deren Eintreten die Seele nad un-
veränberlichen Gejegen nur aus der Natur ihres eigenen Weſens
beftimmte innere Zuftände erzeugt; aber die feine Organifation
des Körpers, die es ihm möglich macht, jene Signale in einer
beftimmten, den wirklichen VBerhältniffen der Dinge entſprechenden
Gruppirung und Reihenfolge zu überliefern, Teitet auch Die Seele
zu einer Abwechfelung und Verknüpfung ihrer Empfindungen an,
in welder fie alle Wahrheit erreicht, Die überhaupt durch bie bloße
Auffaffung des Gegebenen noch ohne denfende Bearbeitung feines
inneren Zufammenhanges möglich ift.
Sp wie nun das Ganze der Empfindungswelt eine innere
Entwidlung ift, nicht von Außen bereingelommen, fondern in der
Einheit des vorftellenden Wefend durch die Viclheit fremder An-
ſtöße nur angeregt, fo tft auch die Mannigfaltigfeit der körperlichen
Bewegungen, die auf den Anlaß der Seele entftchen, eine Entfal-
tung wirkuagsfähiger, in ber leiblichen Organifation begrünbeter
Berhältniffe, angeregt wohl durch die inneren Zuftände der Seele,
aber nit von ihr als fertige auf die Werkgeuge des Körpers
übergetragen. Bon jenen äußeren Reizen, welche eine Empfin-
318
bung beroorrufen, kennt unfer unmittelbare Bewußtſein weder
ihre Natur noch die Mittel, durch welche fie einen Eindrud auf
und erzeugen; erſt die Wiſſenſchaft hat nach Tanger fruchtlojer
Bemühung die Eigenthümlichkeiten der Licht: und Schallwellen
aufgeflärt, denen wir Ton und Farbe verdanken. Aber felbft
von jenen Vorgängen, die durch dieſe Reize in unferem Nerven⸗
ſyſtem hervorgebracht, die nächſte Beranlaffung unferer Empfin-
dungen find, wiffen wir nichts, und auch die phyſiologiſche Unter-
fuhung hat fie bisher nicht kennen gelehrt ; nichts tritt in unſerem
Bemußtfein hervor, als das Ende aller diefer VBermittlungen, bie
bewußte Empfindung des Tones oder der Farbe ſelbſt. So
wenig verfteht die Seele die Entwidlungsgefchichte ihrer Vor:
ftellungen; fie erzeugt fie nicht als freie, mwählende und ihres
Thuns fi bewußte Thätigkeit, fondern durch ein allgemeines
und bindendes Naturgefeg ift fie als ein fo geartetes Weſen ge-
nötbigt, diefem Eindruck mit diefer, einem beftimmten andern
fiet8 mit einer beftimmten andern Empfindung zu antworten.
Ganz ebenfo wenig weiß und verfteht die Seele von dem Bor:
handenſein, der Lage, der Verknüpfung und ber Wirkſamkeit der
Werkzeuge, durch welche fie ihre Bewegungen ausführt; fie Ternt
wohl bald die äußere Geftalt der beweglichen Gliedmaßen kennen,
aber nicht unmittelbar, ſondern nur durch die Hülfe der Wiffen-
haft erfährt fie, und immer unvollfommen, die innere Einridh-
tung der Muskeln und der Nerven, die zu ihrer Bewegung
dienen. Nicht durch dieſe mangelhafte Kenntnig wird fie zu
ihren Handlungen befähigt; nicht fie ift e8, welche die vorhan—
denen Mittel überblidend, wählend und im Einzelnen Alles leitend,
fih zur Ausführung einer Bewegung die nöthigen Muskeln aus-
ſucht. Hätte ſie jelbft diefe gefunden, fie würde Doch rathlos
fteben, wie fie diefen Werkzeugen die hinlänglihe Größe eines
Anſtoßes zulommen laſſen follte; weiß doch felbft die Wiſſenſchaft
nod nicht zweifellos, Durch welche Form des Vorganges der be=
wegende Nero feine Erregung den Muskeln mittheilt. Auch hier
muß die Seele jenem Zuſammenhange vertrauen, der in allem
319
Naturlauf nad unveränderlicden Gefegen Zuftand mit Zuftand
verbunden bat und der auch die inneren Regungen, zu Denen
ihre Natur fähig tft, ohme ihr mithelfendes Zuthun mit Verän-
derungen ihres Körpers verknüpft. Sobald das Bild einer be-
fiimmten Bewegung in unferem Bewußtfein verbunden mit dem
Wunſche ihres Geſchehens auftaucht, fo ift Dies der innere Zuſtand,
an den diefe durchdringende Gefeglichkeit der Natur als nothwen=
dige Folge die Entftehung diefer beftimmten Bewegung gelettet
hat und fie geſchieht nun, nachdem diefe Anfangsbedingung ihres
Eintretens gegeben ift, ohne unfer Mitwirken, ohne unfer Zu—
thun, ſelbſt ohne alle Einficht unferfeits in den Gang des Me:
hanismus, den und ber Zufammenhang der Natur zu Gebot
geftellt hat.
Und nicht immer gehen Bewegungen aus unferem Willen
hervor; fie erfolgen als Ausdruck Teivenfchaftliher Erregungen in
unſern Geſichtszügen und in allen Theilen unſeres Körpers häufig
ohne, felbft gegen unferen Willen; fie erfolgen in Bormen, deren
Bedeutung oder deren Nuten zum Ausbrud oder zur Kinderung
diefer inneren Erregung wir nicht verftehen; wir weinen und
lachen, ohne zu wiſſen, warum das eine der Freude, das andere
der Trauer ein nothmwendiger Ausdruck fein müßte; das Schwanken
unferer Gemüthsbewegungen verräth fih in taufend Abwechſe—
lungen unſeres Athmens, und wir fünnen nicht nachweiſen, weder
auf welchen Wege, noch zu welchem Zwecke fi dieſe Yörperlichen
Erjhütterungen an die unfere8 Innneren nüpfen. So find offen-
bar viele geiftige Zuftände, nicht allein Entſchlüſſe des Willens,
fondern auch willenlofe Gefühle und Vorftellungen, von dem alles-
umfafjenden Naturlauf zu bedingenden Anfangspunkten gemacht
worden, die allerdings unfere Seele zum Theil wenigſtens jelbft-
. tbätig aus ihrem eigenen Innern erzeugt; nachdem ſie aber
erzeugt find, bringen fie die ihnen entfprehende Bewegung
mit der blinden Sicherheit eines Mechanismus, ohne unfer ein-
richtendes und leitendes Mitwirken, felbft ohne unfere Kenntniß
von der Möglichfert dieſes Wirkens hervor.
320
Man täufcht fi daher, wenn man mit einem belichten
Gleichniſſe den Leib als das bewegliche Schiff, Die Seele als
feinen Führer bezeichnet. Denn der Iegtere kennt, oder kann
wenigſtens den Bau kennen, deffen Bewegung er leitet; ex fieht
vor fi den Weg, den er ihn führen fol, und indem er in jedem
Augenblid die Richtung, in der er ſich bewegt, mit der Bahn
vergleicht, die er durchlaufen fol, kann er nicht nur die Größe
der nöthigen Ablenkung berechnen, fondern fieht wor ſich Die me:
chaniſchen Handhaben des Steuers, durch welche fie zu bewirken
ift, und feine eigenen Arme, welche jene Handhaben drehen
können. Weit entfernt von diefer verhältnißmäßig volllommenen
Einfiht in den Gang der Mafchine, gleicht Die Seele vielmehr
einem untergeordneten Arbeiter, der wohl an dem einen Ende eine
Kurbel zu drehen oder Kohlen aufzuſchütten verfteht, aber gar nichts
von der inwendigen Mebertragung der Bewegungen weiß, burd
welche das andere Ende des Getriebe ein fertige Product liefert.
Oder wollen wir bei jenem Gleichniß bleiben: das Verhältniß
zwiſchen Seele und Leib gleicht nicht dem zwifchen dem Führer
und der Mafchine, fondern natürlich dem zwiſchen der Seele
diefes Führers und feinem Leibe;. der Führer erfüllt feine Auf
gabe nur, weil ihm zu den verftändlichen Bewegungen, die et
feinem Werkzeug mittheilen fol, die unverftandene Beweglichkeit
jeiner eigenen Arme als Mittel zu Gebot ſteht. So täufät
jenes Gleichniß oberflächlich, weil es das unbegriffene Verglichene
ſtillſchweigend einfchließt.
Man wird wenig geneigt fein, dieſer Anficht rückhaltlos
zuzuftimmen. Zu fehr hat man fi) gewöhnt, die Seele als Die
freiherrfhende und fchaltende Gebieterin anzufehen, deren Gebot
den Körper zwinge. In dem Schwunge, den wir dem Arme
mittheilen, glauben wir unmittelbar das Ueberſtrömen unfered
Willens in die Organe zu fühlen, wie er fie werkthätig in Be
wegung fest; und diefer Anftoß follte nicht genügen? Eine all
gemeine Naturnothwendigkeit ſollte dem Willen die Folgfamkeit
der Glieder erft zum Geſchenk machen müflen? Und doch iſt es
321
fo; in jenem Schwunge des Armes fühlen wir nichts fo wenig,
als das Uebergehen der Kraft; was wir empfinden, ift nichts,
als die Veränderung, welche durch Die ſchon gefchehene Anregung
die Muskeln während ihrer Zuſammenziehung erfahren, und von
welcher eine Wahrnehmung, der Müdigkeit ähnlich und in fie
übergebend, zu unſerem Bewußtſein zurückkehrt. Nicht die Reben:
dDigfeit des Willens und auch nicht die Thatfache feiner Macht
über die Glieder wird durch unfere Auffaffung bebroht; aber feft-
geftellt wird, daß die Natur des Willend nur im Tebendigen
Wollen, nit an fi zugleih im Vollbringen befteht; fo wenig
unjer Wille unmtitelbar über die Grenzen unferes Körpers hin-
ausreicht und als thätige Gewalt die entfernte Außenwelt ver-
ändert, fo wenig reiht er in unferer Berfönlichkeit an fi über
unfere Seele hinaus; wenn er dennod eine Macht ausübt über
den Körper, den ihm die Natur als Werkzeug zugefellt hat, fo
iſt es, meil diefelbe Raturnothwendigfeit es feitgefett hat, daß an
feine Gebote, die an ſich machtloſen, eine gefetslich geordnete Folg⸗
ſamkeit der Maſſen fich Tnüpfe.
So ift alfo, um zu unferem Anfange zurldzufehren, Die
Monnigfaltigfeit unferer Bewegungen eine Entwidlung der zweck⸗
mäßigen Verhältniſſe unferer körperlichen Organifation, nicht aus⸗
gedacht, nicht im Einzelnen überwacht und ins Werk geſetzt durch
die Seele, fondern von ihr einficht8lo8 angeregt. Wohl Tann die
Seele, indem fie eine Reihenfolge folder inneren Zuftände in
fich erzeugt, die der allgemeine Naturlauf zu Anfangspunften von
Bewegungen gemacht hat, auch eine Reihenfolge der letzteren in
einer Ordnung und zwedmäßigen Gruppirung hervorrufen, für
welche an fich die Einrichtung des Organismus feinen hinläng-
lichen Grund enthält; aber alle ihre Herrichaft ber den Körper
fommt in diefer Beziehung doch nicht über eine unendlich man-
nigfach variirte Benugung und Zufommenfegung elementarer Be⸗
wegungen hinaus, von denen fie feine einzelne zu erfinnen ober
zu. begreifen weiß. Sie verfnlipft zweckmäßige Elemente zu einem
zweckmäßigen Gebraud, wie die Sprache ihre Book und Conſo⸗
Lotze 1. 3. Aufl.
322
nanten zu einem unendlichen Reichthum ber Worte und des
Wohlflanges; aber wie die Sprache ihre Laute vorfand, fo findet
die Seele die einfachen zweckmäßigen Bewegungen vor, leicht er-
vegbar durch einen inneren Zuftand, den fie herbeizuführen weiß,
aber in der übrigen Weife ihrer Entftehung und Durchführung
ihr völlig dunkel und von ihr unabhängig.
Als wir die Vorftellungen prüften, welche über den Grund
der zwedmäßigen Bildung des lebendigen Körpers nach und nad
heroorgetreten find, haben wir bereit$ jener Anficht gedacht, welde
feine Harmonie nur aus der thätigen Mitwirkung eines geiftigen
Weſens ableitbar glaubte. Wir haben damals gejehen, Daß dieſe
Meinung ihr Ziel verfehlte, wenn fie durch die Hülfe der Seele
die Entwidlung bes Körpers dem Gebiete des merhanifchen Ges
ſchehens zu entziehen ſuchte. Denn das, wodurch allein Die Seele
mehr ift, als der blinde Mechanismus, die verftändige Ueber:
legung und die willkührliche Wahl der Zwecke und Mittel, konnte
nad Allem, was die Erfahrung uns Lehrte, nicht als mitwirkend
bei dem allmählichen Aufbau der körperlichen Geftalt betrachtet
werden. Die Formen des Leibes werben in einem Zeitraum
endgültig feftgeftellt oder vorbereitet, in welchem alle diefe Thätig-
feiten der Seele ihrer Ausbildung noch entgegenjehen; Alles, was
fie jelbft daher zur Begründung des körperlichen Lebens beitragen
fonnte, vermochte fie nur, fofern fie als ein Element neben an:
bern in den Zufammenhang der mechanischen Wechſelwirkungen
mit verflodhten war, aus deren zufammenftimmender Thätigfeit
mit blinder Nothmwendigfeit die vorherbeſimmte Form des Orga⸗
nismus hervorging.
Dieſe nöthige Zurüdweifung einer falſchen Vorſtellung über
die Form, in welcher die Seele an dem Ausbau des Körper
theilnimmt, wurde an ſich nicht hindern, diefen Antheil groß und
. 323
wichtig zu denken. Immer würde die Seele durch die bedeutungs-
vollere Natur ihres Wefens ein bevorzugtes Element in der Mitte
aller übrigen fein, und obgleich auch ihre Mitwirkung nur in
nothmendigen Rücdwirkungen beftände, zu denen fie in jedem
Augenblide durch die Summe ihrer Beziehungen zu jenen ge=
zwungen wird, jo könnte doch eben die Tiefe ihrer eigenen Natur
fie befähigen, auch auf dieſe Weiſe Einflüffe von ſich ausgehen
zu lafjen, deren Nuten für den Fortſchritt der Organifirung die
Berbienfte aller übrigen Beftandtbeile überböte. Sehen wir nun,
wie noch innerhalb der Grenzen unferer Beobachtung die An-
regung des Willens die Muskelfaſern zur Verkürzung bringt, wie
alſo offenbar einem Wechſel in den Zuftänden der Seele auch
eine Veränderung in den Lagenverhältniffen Fleinfter Maffentheil-
chen des Körpers nachfolgt, fo können wir im Allgemeinen die
Möglichkeit durchaus nicht bezweifeln, daß in einer früheren Bil—
dungszeit, in weldjer die Elemente des Körpers noch nicht die fefte
Structur und Lage angenommen haben, weldye fie im Erwachjenen
befigen, Die inneren Regungen der Scele aud auf die erft noch
zu gewinnende Lagerungsform der Theildhen, mithin auf Die Aus:
bildung der Geftalt, einen beträchtlichen Einfluß ausüben könn—
ten. Allerdings wird der Anfangspunkt dieſes Einfluffes nicht
die bewußte Vorftellung der Bewegung von Gliedmaßen fein fün-
nen, von deren Dafein und Verwendbarkeit die Seele in Diefem
BZeitraume noch feine Erfahrung haben Könnte; aber wie wir auch
noch in der fertigen Geftalt Gemüthsbewegungen unwillkuührlich
fih mit der Gemalt ihres Eindrudes auf einzelne Theile werfen
und die Ragenverhältniffe diefer ſchon verfeftigten Elemente durch
mimifche Bewegungen verändern fehen, jo könnten ohne Zweifel
auch die formlofen, noch auf feine beftimmten Handlungen be-
zichbaren Erregungen, welche Die unentwidelte Seele des werben-
den Organismns erſchüttern, nad) ihrer qualitativen Natur einen
ähnlichen Einfluß auf die erfte Feſtſtellung einzelner Tormverhält:
niffe äußern.
Aber im Ganzen müffen wir und doch zugeftehen, daß dies
21*
324 _
Alles nur Möglichkeiten find, oder vielmehr, wenn allerdings aud)
nad unferer Anfiht ein Mangel aller Theilnabme der Seele an
den Wechſelwirkungen, durch welche ihr Körper entfteht, unmög-
lich ift, fo find wir doch durch die Analogien der Erfahrung nicht
befähigt, den Umfang zu ſchätzen, in welchem jene Theilnahme
wirflich ftattfindet. In dem ausgebildeten Körper ift die Macht
der Seele über die Geftaltbilbung eine fehr geringe, und felbft
fo weit fie ftattfindet, fcheint fie nur mittelbar ſich durch eine
Abänderung der Verrichtungen zu äußern, auf welde, wie auf
Herzſchlag, Athmung und Berdauung oder auf einzelne Muskel-
gruppen, der Wechſel der Gemüthszuftände oder Die Hebung ge=
wiſſer Bewegungen näher oder entfernter Einfluß bat. Die,
Wirkungen der Seele find deshalb meift über den ganzen Körper
verbreitet und ändern mehr feine Haltung, als feine Geftalt.
Geben wir gern zu, daß die Veredlung des geiftigen Xebens zu:
legt auch die körperlichen Formen veredelt, feine Berwilberung fie
verwildern läßt, fo möchten wir hierauf auch den Einfluß der
Seele beichränfen. Er entwidelt bis zu gewiffen Maße Schön-
heit und Häßlichkeit der Geftalt durch Teife Veränderungen, melche
er den an fich ſchon feftftehenden Proportionen einprägt; daß aber
die erfte Bildung der organiſchen Form in überwiegendem Maße
aus der geftaltenden Kraft der Seele hervorgegangen fei, ift eine
poetiſche Lieblingsmeinung Vieler, für welche die zahlreichen Bei-
jpiele der Nichtübereinftimmung zwifchen den geiftigen Anlagen
und dem körperlichen Baue nicht vorhanden find.
325
Zweites Kapitel.
Bon dem Site der Seele,
Bedeutung ber Frage. — Beſchränkter Wirkungskreis ber Shlele. — Gehirnbau. —
Art der Entſtehung von Bewegungen. — Bedingungen der räumlichen Anſchauung.
— Bedeutung der unverzweigten Nervenfaſern. — Allgegenwart der Seele im
Körper.
In dem Begriffe der Seele, welchen wir bisher benugt ha-
ben, dem eines untheilbaren Wefens, deſſen Natur zur Entmid-
lung von Vorſtellungen Gefühlen und Strebungen fähig ift, Liegt
nichts, was auf Raum und räumliche Beziehungen hindeutete,
Aber die Gegenwirkungen, in welche die Seele zu den Maffen
bes Körpers tritt, erregen das natürliche Verlangen, nicht nur
die Möglichfeit und Art diefes MWechfeleinfluffes im Allgemeinen,
fondern auch die gegenfeitige Stellung beider wirkfamen Glieder
dieſes Verhältniſſes mit jener räumlichen Anfchaulichfeit vorftellen
zu können, welche unfere Beobachtung der Natur zwar nicht die
Sache eigentlich erflärend, aber mohl unfere Vorftelungen über
fie aufflärend, überall begleitet. Man wird nad dem Site ber
Seele fragen.
Der Sinn diefer Frage ift einfach; laſſen wir dahin geftellt,
ob e8 möglich jet, dem untheilbaren Wefen eines wahrhaft Seien-
den irgendivie räumliche Ausdehnung in dem Sinne zugufchreiben,
in welchem wir fie den materiellen Stoffen beilegen zu können
glauben, fo werden doch alle Meinungen darin fich vereinigen
dürfen, daß auch dem unausgebehnten Wefen ein Ort im Raume
zulommen könne. Da wird es. vorhanden fein, bis wohin alle
Eindräüde des ihm Fremden fich fortpflanzen müffen, um es mit
ihrer Wirkſamkeit zu erreichen, und von wo aus rückwärts alle
326
die Anregungen Tommen, durch welche e8 unmittelbar feine Um—
gebung, mittelbar durch dieſe die weitere Welt in Bewegung ſetzt.
Diefer Punkt des Raumes ift der Ort, an welchem wir in die
unräumliche Welt des wahrhaften Seins hinabfteigen müſſen, um
das wirkende und leivende Weſen zu finden; und in diefem Sinne
wird jede Anficht einen Sig der Seele fuchen Dürfen, auch wenn
fie ihr außer dem Orte nicht zugleich die Ausdehnung einer räum-
lichen Geftalt zugeftehen zu dürfen glaubt.
Abber unſere Begriffe über die Wechſelwirkung der Dinge
unter einander laffen in Bezug auf die räumliche Erfcheinung
mehrere Möglichkeiten zu. Wir können uns denken, daß ein Wejen
“mit der Geſammtheit der übrigen Welt nicht nur überhaupt in
Beziehung ſtehe, fondern mit jedem Theile derfelben in gleich
inniger unabgeftufter Beziehung. Nicht nur mit wenigen wirb
, e8 dann unmittelbare Wechſelwirkungen austaufhen, um durch
deren Vermittlung hindurch erft die übrigen zu beherrſchen, ſon—
dern mit allen zugleich fteht e8 in jener lebendigen Verbindung,
welche die Zuftände bes einen unmittelbar auf die des andern
- wirken läßt. Drüden räumliche Lagen und Orte die Enge oder
Roderbeit diefer inneren Verbindungen aus, jo wird dieſes Wefen
nicht einen begrenzten Sig im Raume haben, ſondern allen
Theilen der Welt innerlich gleich nahe, wird es äußerlich in ihr
allgegenmwärtig zu fein ſcheinen. So ftellen wir und das Daſein
Gottes vor. Er, der Schöpfer des Ganzen, ift jedem ſcheinbar
verlorenen Punkte des Gefchaffenen gleich nahe; feine Kraft hat
nit einen Weg zurüdzulegen, um zu erreichen, worauf fie wir-
fen will, und die Zuftände der Dinge brauchen nicht ihn aufzu—
fuchen, um feiner Vorſehung ſich anzuvertrauen, von der fie über—
all gleih innig umfchloffen find. Aber wir faflen doch dieſe
Allgegenwart nicht fo, daß wir dem Wefen Gottes die unermeß-
liche Ausdehnung felbft zußhrieben, die feine Macht beherrſcht;
mit richtiger Enthaltſamkeit von dieſer ſinnlichen Anſchaulichkeit
denken wir ihn als das überſinnlich geſtaltloſe Wirken, für welches
dieſe Unermeßlichkeit eben nichts iſt, weder eine Schranke ſeiner
327
unmittelbaren Gegenwart, noch eine Eigenfhaft, Die der Fülle
ſeines Weſens etwas hinzufeste.
Die Naturwiffenfhaft hat uns an einen zweiten denkbaren
Fall gewöhnt, den von Weſen, welche zwar. mit der Gefammtheit
aller ihres Gleichen unmittelbar, aber mit den verſchiedenen doch
in abgeftufter Innigkeit der Beziehungen in Wechſelwirkung ſtehen.
So erſtreckt ſich Die anziehende Kraft jedes gravitirenden Theil-
chens auf alle andern und bi8 in jede unendliche Entfernung bin-
aus unmittelbar; aber die Größe der Kraft nimmt mit der mad:
jenden Entfernung ab. Und aud jene molecularen Wirkfamtfeiten,
deren Erfolg ſchon bei den geringften merflihen Abſtänden ber
wechſelwirkenden Elemente für unfere Wahrnehmung verſchwindet,
Jaffen wir doch ins Unendliche hinaus mit raſch befchleunigter
Abnahme reihen; ſchon in geringften Entfernungen mag ihre
Stärke fi dem Verſchwinden nähern, aber es kann feinen abfo-
luten Werth der Entfernung geben, welcher fie völlig vernichtete.
Ueber die Räumlichkeit fo wirkender Wefen find verfchievene Vor-
ftellungen glei zuläſſig. Man kann fie allgegenwärtig im Raume
nennen, denn in der That bedarf ihre Wirkfamfeit Feiner fort-
leitenden Vermittlung, um jeden Punkt des Raumes zu erreichen, '
Man kann ihnen ebenfo wohl einen bejchränften Ort von punkt⸗
fürmiger Kleinheit zujchreiben, wenn man die Abftufung ihrer
Wirkſamkeit bedenkt. Dann werben fie an der Stelle des Raus
mes ſich zu befinden ſcheinen, auf defien berlihrende Umgebung
fie das Marimum ihrer Kraft äußern; fie werben dagegen ben
übrigen unendlihen Raum nur mit abnehmender Macht zu be=
herrſchen fheinen, ohne in ihm vorhanden zu fein. Diefe dop⸗
pelte Möglichkeit zeigt, daß die Frage nur ein irriged Intereſſe
hat, ob in dem Falle ſolches Wirfens dem Weſen eine endliche
oder unendliche Ausdehnung zufomme; ihm felbft wird gar fein
Prädicat räumlicher Größe beigelegt. Wir dachten Gott nicht
ebenfo groß als die Welt, bie er beberrfcht; wir denken auch dieſe
wirkenden Subftanzen weder unendlich klein, wie Die geometrifchen
Punkte, von denen ihre Wirkung ausgeht, noch unendlich groß wie
328
‚die Weite, über die fie fich erftredt. Sie felbft find, was fie find,
überfinnliche Wefen; nichts ift weiter über fie gejagt, als daß
nach dem Sinne, der ihnen im Ganzen der Welt zukommt, in=
nerhalb der räumlichen Erfheinung der Dinge ihre Kraft von
einer beftimmten Stelle auszugehen und abuchmend die entfernten
zu erreichen fcheinen muß.
Man kann eine dritte Annahme verfuchen, nad) welcher ein
Weſen feine unmittelbare und unabgeftufte Wirkſamkeit auf ein
beftimmtes ausgedehntes Raumgebiet erftredte, mit allem aber,
was jenfeit der Grenzen dieſes Gebietes läge, nur in mittelbarer
Wechſelwirkung fände. Aber diefe Aunahme würde eine falfche
Borausfegung zu vermeiden haben. In dem leeren Raume
liegt Fein denkbarer Grund dafür, daß bie Kraft eines Weſens
fid nur bis zu einer Kugeloberfläche von beftimmten Halbmefler
verbreiten, über Diefe Grenze hinaus aber erlöfchen follte. Wenn
irgend eine Entfernung vor irgend einer andern ben Borzug vor-
aus haben fol, diefe einſchränkende Macht zu üben, fo kaun fle
ihn nur dem Realen verdanken, mit welchem bis zu ihr hin ber
Kaum angefällt ift, über fie hinaus nit mehr. Ohnehin darf
ja eine Kraft nicht wie ein Etwas vorgeftellt werden, das von dem
wirtenden Element immer ausginge, auch dann, wenn ein zweites
nicht vorhanden wäre, auf das fie wirken Könnte; fie entfteht in je-
dem Augenblide des Wirkens zwiſchen ven beiden Elementen, zwi⸗
ſchen melden eine Wechſelwirkung um ihrer qualitativen Natur willen
unvermeidlich ift. Sie wird deshalb überall fo weit in den Raum
hineinveichen, als in ihm Elemente anzutreffen find, denen ihve
innere Verwandtſchaft Diefe Nothwendigkeit des Wirkens auferlegt;
und man kaun deshalb nie jagen, ein Element entziehe fi durch
zu große räumliche Entfernung dem Einfluß einer Kraft, der «8
im Uebrigen um feiner Natur willen zu gehorchen verpflichtet wäre.
Mit andern Worten: es Tann feine Kraft geben, deren Wirkſam⸗
feit von Haus aus ſich anf ein endliches Raumgebiet, dann aber
auch auf Alles das erfivedite, was innerhalb deſſelben anzutreffen
wäre; wohl aber ift an einem Element eine Kraft denkbar, bie
329 -
fih nur anf eine gewiffe Art oder einen gewiſſen Kreis anderer
Elemente befhränft und gleichgültig voritbergeht an allen denen,
die nicht zu dieſer Art oder zu dieſem Kreife gehören.
Ich Schalte noch einmal die eindringliche Wiederholung einer
Behauptung ein, die allem Früheren zu Grunde lag; es tft durch⸗
aus nothmwendig, den oft gehörten Sag, ein Ding wirke nur de,
wo es fei, in den entgegengefegten umzukehren: es ſei da, wo es
wirke. Es tft durchaus ein Irrthum zu glauben, es heiße über-
haupt etwas, wenn wir fagen, ein Ding fei an einem Orte und
erlange in Folge defjen die Fähigfeit zu beftimmter Richtung und
Ausdehnung feines Witend. Schon die gemöhnlichfte Ueberleg⸗
ung des alltäglichen Lebens beſtimmt den Ort eines Dinges mur
nach feinen Wirkungen; dort ift ein Körper, von wo die Lichtftrah-
len ausgehen, die er nach verjchiedenen Seiten fendet; dort ift er,
von wo er der Hand, bie ihn zu beivegen ftrebt, widerftehenden
Drud entgegenftellt; dort endlich, von wo er auf andere Körper
anziehend fefthaltend oder zurüditoßend einwirkt. Und and dies
ift nicht jo zu verftehen, als feien alle diefe Wirkungen nur für ung
Erfenntnißgrände, durch welche wir des Körpers Sein an feinem
Orte gewahr würden, während dies Sein jelbft eine von den
Birkungen, die es kenntlich machen, unabhängige Bedeutung hätte.
Es ift vielmehr weder zu fagen noch einzufehen, warum von
einem Dinge, das gar nicht wirkte, mit größerem Rechte ein Sein
an biefem, als ein Sein an jedem andern Orte behauptet mwer-
den bürfte, oder wodurch ſich der Zuſtand eines Dinges, welches
ohne alle Wirkſamkeit an einem beftimmten Orte blos wäre, von
dem Zuſtand untericheiden fünnte, ın welchem es fich befinden
würde, wenn ed an irgend einen beliebigen andern Orte fi
aufhielte. |
Unter diefer Borausfegung laſſen fich die Borftellungen feft-
ftellen, die wir uns von dem angeführten dritten Fall bilden
innen. Ift ein Weſen da, wo ed wirkt, hängt e8 aber in
feinem Wirken nur von den innerlihen Beziehungen, die zwischen
ihm und andern Elementen ftattfinden, nicht von dem leeren
- 330
Raume und feinen Orten und Entfernungen ab, fo können wir
noch weiter hinzufügen: es ift Überall da, wo es mirkt, und
fein Ort ift Hein oder groß, ftetig oder discontinuirlich, je nach⸗
dem diefe andern Elemente im Raume vertheilt find, mit denen
e8 in dieſer unmittelbaren Gemeinfhaft der Wechſelwirkung fteht.
Welches aber auch und wie geftaltet der Ort eines wirkenden
Weſens fein mag, er tft nie eine Eigenfhaft des Weſens
jelbft; dies wird nicht groß mit feiner Größe, nicht klein mit
feiner Kleinheit, nicht ausgedehnt, weil er ausgedehnt ift, nicht
vielfach und theilbar, wenn er vielfach oder zerftreut if. Neh—
men wir an, um diefe Anfchauungen zu verdeutlichen, ein wir=
kendes Element a ftehe in Wechſelwirkung mit allen Elementen
der Art b und dieſe Wechſelwirkung fei unabhängig von ben
Entfernungen, in welden ſich in der Welt die einzelnen b vor⸗
finden, fo würde a einen fo vielfadgden Ort im Raume haben,
wie viele Elemente b in dem unendlichen Raume zerftreut find;
an jedem diefer Orte würde a eben fo vorhanden fein wie an
jedem andern, ohne daß deshalb die Einheit und Untheilbarfeit
feines Weſens Titte. Es ſchadet der Denkbarkeit diefer Vorftel-
lungsweiſe Nichts, daß wir in ber Weltorbnung für fie feinen
. Tall der Anwendung wiffen. Nehmen wir ferner an, a ftehe in
unmittelbarer Wechſelwirkung mit einer beftimmten Anzahl b von
Elementen, gleihartigen oder verſchiedenartigen, fo wird der Ort
des a überall fein, mo eines diefer Elemente ſich findet. - Dächten
wir fie alle auf der Oberfläche einer Kugel vereinigt, fo würde
der metaphyſiſche Ort des a diefe krumme Oberfläche fein, und
zwar jeder ihrer Punkte, der von einem der b realen Elemente
bejett wäre. Wir würden nicht eigentlich Recht haben, aber wir
fönnten unferer Einbildungskraft das Bild verftatten, a befinde
fih im Mittelpunkt der Kugel und übe von da eine Kraft aus,
deren Wirkungsfphäre durch den endlichen Halbmeffer der Kugel
beftimmt und begrenzt fer; wir würden durch dieſe Wendung des
Ausdrudes und die bleibende untheilbare Einheit des a anſchau⸗
licher machen, ohne fie im Grunde noch fiherer zu machen,
331
als fie ohnehin bleiben würde. Man würde ſich endlich vor-
ftellen fönnen, die Elemente b, mit welchen a in unmittelbarer
Wechſelwirkung fteht, feien im Raume zerftreut und zwiſchen
ihnen andere Elemente der Art c gelagert, mit welchen dem a
durch feine Natur keine wirkungserzeugende Beziehung zukomme;
dann wird a einen vwielpunftigen biscontinuirlichen Ort im
Raume haben, oder an vielen Punkten zugleid fein und es
wiirde jeßt, um der Zwiſchenſchaltung der Punkte willen, an denen
a nicht ift, unferer Phantafie zwar ſchwerer fallen, die Anfchau-
ung der Einheit des a feftzubalten, ohne daß beshalb in dem
Sachverhalt felbft eine größere Schwierigkeit derſelben läge.
Wenden wir diefe allgemeinen Betrachtungen auf den bejon-
bern Ball an, der uns befchäftigt, jo wird nur der glüdliche Glaube
an die Offenbarungen der Hellfeherinnen das unmittelbare Macht:
gebiet der Seele ind Unendliche noch bemerkbar reichen laſſen; die
Erfahrung des wachen Lebens hat nie darein Zweifel gefegt, daß
oor Allem der Umriß unferes Körper den Bezirf abgrenzt, in
welchem die Seele felbft thätig ift und von beffen Zuſtänden fie
leidet. Wir empfinden nur, was den Körper erſchüttert, wir be=
wegen nur ihn; durch feine Vermittlung wirkt die Außenwelt auf
ung und mir auf fie. Aber die mannigfadften Beobachtungen
haben uns ebenfo gewiß gelehrt, daß felbft in dem Körper der
Schauplag feiner unmittelbaren Wechſelwirkungen mit der Secle
no enger zu begrenzen ift. Verloren ift für Die Scele jeder
Zuftand des Körpers, der nicht einen Theil des Nervenſyſtems
zu erregen vermag, verloren für den Körper jede Bewegung der
Seele, fiir welche der Uebergang aus dieſem Syſtem in die folg-
famen Werkzeuge der Glieder verhindert if. So tritt die große
Maſſe des Leibes doch nur als cin mittelbar beherrfchtes Gebiet
der Außenwelt dem Nervengeflecgte als dem eigentlichen Site ber
Seele gegenüber. Aber auch in diefem Iehrt die Beobachtung
einen Unterſchied zwiſchen zuleitenden Theilen, die den Austaufch
ber Erregungen vermitteln und anderen wefentlicheren, in denen
332
die Wechſelwirkung felbft vollzogen wird. Trennt ein einfacher
Schnitt einen fenfiblen Nerven in feinem Berlauf zum Gehirn,
fo find die Eindrüde, die fein an der Oberfläche des Körpers
haftendes Ende nun noch von außen aufnimmt, fir di: Seele
verloren; trennt cin gleicher Schnitt einen motoriſchen Newen, To
geht der Willenseinfluß der Seele nicht mehr auf Die Glieder über, zu
deren Muskeln der durchſchnittene Nero verlief. Nicht mit jedem
Theile des Nervenſyſtems fteht daher Die Seele in unmittelbarer
Wechſelwirkung; nur die Erregungen der Centralorgane können es
fein, von denen fie in der That bewegt wird und welche fie umgekehrt
durch ihre eigene Kraft hervorruft; der gefammte Verlauf der Newen
ift nur ein Mittel, diefem engeren Bezirke wahrhafter Wechſelwir⸗
fung äußere Eindrüde, die an fich fiir die Seele unerreichbaren, an—
zunähern und ihre eigenen Strebungen, die an ſich machtlofen, auf
bie ausführenden Glieder überzuleiten. Die Fortfegung diefer Be—
obachtungen, zu denen Verſuche und Krankheitsfälle Gelegenheit
geben, verengt das Gebiet der Secle noch mehr; fie lehrt erken—
nen, daß eine Trennung zwiſchen Gehirn und Rüdenmarf die Em—
pfänglichkeit ded Bewußtſeins für dic Eindrüde, die tem letztern
Organe zufommen, und ebenjo die Herrſchaft der Seele über Die
Glieder aufhebt, die von ihm ihre zuleitenden Nerven erhalten.
Allerdings führen die enthanpteten Rumpfe namentlich kalt⸗
blätiger Thiere auf äußere Reize noch Bewegungen aus, deren
zweckmäßige Zufammenftimmung Bielen von nicht blos phyſiſchen
Ursachen abhängen zu können ſchien. Doc auch diefe Bewegun-
gen gefcheben nur, jo lange das Rückenmark und der Zufammen-
hang der zu bewegenden Glieder mit ihm unverlegt ift; fie wür-
den daher höchſtens beweifen, daß der unmittelbare Einfluß der
Seele oder ihr Sig nicht auf das Gehirn ſich beſchränkt, jondern
auch über diefen andern Theil der Sentralorgane ausdehnt. Mlein
daß die Unterbregdung der Verbindung zwiſchen Nüdenmarf und
Gehirn die Bewegungen der von dem erften allein abhängenden
Theile dem Bemußtfein ſowohl als dem Willen entzieht, ift eine
gewiffe Thatfache; daß dagegen die Bewegungen enthaupteter
x
333
Ruümpfe unmittelbar, oder in welcher Weife fie etwa mittelbar
von pfuchiichen Bedingungen abhängen, ift ungewiß. Webetlaffen
wir deshalb fpäterer Gelegenheit die Ueberlegung dieſer Erfchei:
nungen und balten wir vorläufig daran feft, Daß Einbrüde, die
unjer Bemußtfein nicht empfängt, nicht ohne andern Beweis als
Zuftände unferer Seele, Wirkungen, Die wir weder wollen nod
in ihrem Gefchehen wahrnehmen, nicht ohne andern Beweis fr
Thätigkeiten der Seele gelten fönnen. Unter diefer Borausfegung
beſchränkt ſich allerdings der Sit der Seele auf das Gehirn. Ju
diefem felbft endlich haben wir Grund, verſchiedene Theile von
verfhiedenem pſychiſchen Werth zu unterſcheiden; aber die größeren
und wohl unüberwindlichen Schwierigfeiten ber Unterſuchung ge-
ſtatten bier nicht mehr, die eigentlicheren Organe der Seele von
dem umgebenden Apparat blos zuleitender und hinwegleitender
Werkzeuge genau abzutrennen. Ziehen wir das Ergebniß dieſer
Betrachtungen, fo finden mir, daß Die erfte der oben verzeichneten
Borftelungsweifen auf das Verhältniß zwifchen Secle und Kör⸗
per unanwendbar ift: die Scele ift nicht fo in ihrem Leibe all-
gegenwärtig, wie wir und Gott in ber Welt allgegenmwärtig den-
fen; fie fteht in unmittelbarer Wechſelwirkung nur mit dem Ge-
bin; bier alfo hat fie in der Bedeutung, die biefem Worte zu
geben ift, ihren Sig.
Sehen wir nun zu, ob zur nähern Beftimmung dieſes Or-
tes die zweite Auffaffungsweife tauglicher ift. Bon einem einzigen
Punfte aus, an weldem ihre Wirkſamkeit ein Marimum ift,
würde nad ihr die Seele ihren Einfluß mit abnehmender Stärfe
über bie entfernteren Theile des Körpers gleich unmittelbar aus-
behnen. Wollte man diefe Abnahme der Kraft ſich zwar raſch,
aber Doch noch mit jo gemäßigter Befchleunigung erfolgend vorftel-
len, daß ihre Wirkungen in irgend wahrnehmbarer Entfernung von
jenem PBunfte des Marimum noch merklich blieben, jo würde fich
feine Erſcheinung finden, melde biefer Annahme günftig wäre.
Die zuleitende Verrichtung ber fenfiblen, die megleitende der mo-
torifchen Newen hört ftet8 auf, wie nahe aud immer an ben
334
Centralorganen ihr Zufammenhang mit diefen unterbrochen wird,
und niemals findet ſich die Spur einer auch nur ſoweit umnit-
telbar in bie Ferne veihenden Wirkung der Seele, daß durch
fie der geringe Abftand überflogen würde, den ein feiner Schnitt
zwifchen zwei nächſtbenachbarte Elemente eines Nerven gebradt
bat. Nur in der befondern Form würde daher dieſe zweite Bor:
ftellungsmeife bier anwendbar fein, in mwelder wir fie allerdings
auf den größten Theil des gewöhnlichen Verhaltens der Körper an:
wenden; fo außerordentlich fehnell müßte mit der Entfernung
von dem Funfte der größten Wirkung diefe Wirkung felbft ab:
nehmen, daß fie in merflichen Abftänden nicht mehr wahrnehmbar
würde. So wie ein Körper die Kihtftrahlen erft dann reflectirt
und vom Stoß erft dann in Bewegung gefegt wird, wenn beide
ihn an feinem Orte berührt haben, ebenfo würde die Seele nur
mit den Elementen verfehren, deren Einwirkungen ſich bis auf
unwahrnehmbar kleine Abftände dem Punkte ihrer größten Wir:
fung näherten, einem Punkte, den wir eben beshalb nahezu als
den einzigen Ort der unmittelbaren Wirkfamfeit der Seele, oder
als ihren ausſchließlichen Sig bezeichnen dürften.
Dies ift nun die Vorftellung, die man feit alter Zeit mit
Borliebe ausgebilvet hat. Der Bau des Nervenſyſtems im Großen
. begünftigte fie. Sihtlih ift der Verlauf der Nemwen beftimmt,
Eindrüde einem Orte im Gehirn anzunähern, um fie dort erft
zur Wechſelwirkung mit der Secle zu bringen, und bie motorifcen
führen Anregungen, die der Wille nur dort wirflih auf Maffen
überträgt, den Muskeln zu, die durch ihre räumliche Entfernung
dem unmittelbaren Einfluß feines Antriebs entzogen find. Man
hoffte cine Fortfegung defjelben Baues in dem Gehirn felbft zu
finden, einen foldhen Schlußpunft des ganzen Nervenfuftems, in
welchen alle zuleitenden Fäden zufammenliefen und aus welchem
alle hinwegleitenden Kanäle der Wirkungen ausjirahlten. Diefen
Punft würde man mit voller Befriedigung als den Sig der Seele
anerkannt haben. Aber die Anatomie hat ihn bisher nicht fin-
ben fönnen, und es ift feine Hoffnung, daß fie ihn fpäter finden
335
werde. Neben einander ftreihen die Fafern vorbei, durchkreuzen
fih und verflechten fi; aber fie verſchmelzen nicht untereinander
zu einem gemeinfamen Schlußgliede; nicht einmal eine gemeinfame
Endridtung nehmen fie an, mit der fie einem foldhen Punkte fich
näberten. Auch in dem Syſtem der Ganglienzellen, rundlider
Bläschen, welche das gefaferte Mark in größter Menge von außen
umgeben und zwiſchen feine Züge. eingeftreut find, fehlt jede Ans
deutung einer Sentralifation. Sie ftchen durch feine Verbindungs-
fäden unter einander in Verbindung; aber wir wifjen weder, ob
die Verkettung eine allgemeine ıft, noch welche Bedeutung den
Sanglienzellen überhaupt für die Aufnahme, Erregung und Um-
jormung der im gefaferten Mark geſchehenden Erregungen zu—
fommt.
Wer dennoch die Hoffnung hegte, daß gefchärftere Unter:
ſuchung diefen befhränften Sig der Seele finden werde, müßte
ih ohnehin zugeftehen, daß man ihn unter falſcher Form gefucht
hat. Wie fein aud) die einzelne Nervenfafer ift, eine gemeinfame
Durhichnittsftelle aller könnte doch nie ein untheilbarer Punkt,
fondern müßte ein kubiſcher Raum von ſehr wahrnehmbarer Größe
feines Durchmeffers fein. Diefen Raum müßte die Seele mit
unmittelbarer Wirkſamkeit beherrſchen; innerhalb defjelben würden
wir eine Yortfegung gefonderter Nervenfäden nicht erwarten; ihre
Iſolirung hätte nur die Aufgabe, die phnfifchen Vorgänge, die in
ihnen ſich ereignen, ohne gegenfeitige Vermifhung bis zu dem
Wirkungskreife der Seele zu bringen. Haben fie diefen erreicht,
fo ift ihre fernere Auseinanderhaltung unnöthig; denn in ber
Seele felbft gibt es doch ſchließlich keine Scheibemände, welche die
einzelnen Einbrüde fonderten, und fie muß e8 verftehen, die vielen
verſchiedenen ohne gegenfeitige Trübung in der Einheit ihres We-
jens zu beherbergen. Jeuen Mubifchen Raum, den Sig der Seele,
würde man fidh daher entweder ausgefüllt durch ein ungefafertes,
irgendwie homogenes Parenchym denken, durch welches hindurch
alle Erregungen der Nerven ſich allfeitig verbreiten, oder als einen
Höhlenraum, an deſſen Wandungen und innerhalb der Entfernung,
336
bis zu welcher die unmittelbare Wirkſamkeit der Seele reicht, Die
fämmtlihen Newenfafern oder eine hinreichende Anzahl Abgeord-
neter derſelben nur vorüberzugehen, aber nicht zu endigen brauch⸗
ten. In der That bat man häufig die letztgenannte Borftellung
gewählt und in der vierten Hirnhöhle den Sig der Seele, freilich
ohne die nöthige Beftätigung durch anatomische Thatfachen, zu
finden geglaubt.
Ich führe dieſe Möglichkeiten, denen ſich noch manche andere
beifügen Tiefe, theils in der Ueberzeugung von dem Nuten auf,
den allemal die Ausarbeitung jeder Anfiht bis zu vollſtändiger
Klarheit gewährt, theils in der anderen Ueberzeugung, daß aller-
dings die Anatomie zu einem völlig entiheidenden Endurtheil fiber
fie nody nicht befähigt iſt. An fih hat feine diefer Vermuthun⸗
gen einen fehr großen Werth; man wird leicht finden, daß jede
von ihnen, auch wenn fie thatſächlich richtig wäre, doch ihrem Be-
griffe nach eine Zurückführung auf Die Dritte ber oben verzeich—
neten Borftellungsmwetfen nothwendig machen würde. Denn was
hieße es doch zulest, daß die Seele in einem beftimmten Raume
enthalten fer und in Folge deſſen nur mit dem mwechfelmirkte, mas
diefen Ort berührt? Sie kann nit einen beftimmten leeren
Kaum einem andern leeren Raum vorziehen, um in ihm recht⸗
mäßiger ihren Ort zu haben, als in biefem; daß fie au einem
beftimmten Orte jet, bedeutet ja, wie wir gefehen haben, nichts
Anderes, als daß fie nur mit den realen Elementen, die ſich an
diefem Orte finden, in unmittelbarer Wechfelmirfung zu ftehen
dur ihre Natur genöthigt wäre. Diefe Wechſelwirkung, indem
fic gejhieht, macht eigentlich erft jenen Raum zum Orte ber
Seele, und wenn ed, wie ohne Zweifel vorauszuſetzen tft, wiele
Elemente find, mit denen die Secle in diefer wechſelſeitigen Be—
ziehung ftebt, To tft auch ihr Ort ebenfo vielfah. Nur aus Teicht
begreiflichem Bedürfniß der Anfchaulichleit, aber ohne Nöthigung
durch die Natur der Sache, ſucht dann zur diefen vielen Orten
unſere Phantaſie noch einen genmetrifhen Mittelpunkt ihrer Ber-
theilung ‚und möchte Diefen dann gern als den eigentlicften Sig
337
der Seele anfeben; aber fie wiirde nicht angeben können, in wel-
her innigeren Beziehung die Secle zu ihm ftände, als zu jenen, in
denen fie wirft. Ob daher die vielen Orte diefer Wirkfamteit fich
im Gehirn nahe zufammendrängen, ohne andere Orte der Un-
wirkſamkeit einzufchließen, ob fie alfo einen auch anſchaulich als
Einheit ſich darftellenden Sig der Seele bilden, oder ob fie zer-
ſtreut eine Vielheit von Punkten bleiben: Dies tft eine anato=
miſche Trage nach der Anordnung der wechſelwirkenden Elemente,
deren Beantwortung man der Erfahrung überlaffen kann. Wie
die Antwort auch ausfallen mag, fle ändert die allgemeinen Vor—
ftellungen nicht, die wir gewonnen haben.
Noch einer Bermuthüng erwähne ih, um hiermit abzufchlie-
en, der Borftellung nämlich von einer beweglichen Seele, deren
Ort innerhalb der Eentralorgane wechfele. Sie fheint mir von
geringem Bortheil Damit die Seele an den beftimmten Punkt
ſich hinbewegen könne, an welchem es eine anfommende Erregung
aufzufaffen gibt, müßte fie doch von der Richtung bereit8 Runde
erhalten haben, von welcher ber die Erregung zu erwarten if.
Um alfo zu dieſer Bewegung nad) der eben jett gereizten Nerven-
fafer und nach Feiner andern Richtung Hin beftimmt zu werben,
müßte fie ſchon aus der Ferne irgendwie von den inneren
Zuftänden derfelben auf andere Weife beeinflußt worden fein, als
von den Zuſtänden der anderen, in denen jett eben eine Erregung
nicht ankommt. Die Bewegung der Seele fünnte mithin nicht
als Mittel zur erften Ermöglihung einer Wechſelwirkung mit dem
erregten Element, fondern nur als Beihülfe zur Verftärkung einer
ſchon eingetretenen dienen. Noch unklarer bliebe, wie die Seele
es begönne, um ihre Richtung zu dem motorifhen Element zu
nehmen, dem fte jelbft ihre eigene Erregung erft mittheilen will.
Eine Schwierigkeit, die man bereitS empfunden haben wird,
nöthigt und noch zu einer ferneren auch jonft nich Anfruchtbaren
Loge l. 3. Aufl.
338
Umformung der gewonnenen Anfichten. Daß die Seele mit einer
befchränkten Anzahl der Nervenelemente ausfchließlich in unmittel-
barer Wechſelwirkung ftehe, bleibt fo Lange unwahrſcheinlich, als
wir in der Natur diefer bevorzugten Elemente feinen Unterſchied
von der Natur aller der übrigen finden fünnen, mit Denen die
Seele in gleicher Beziehung nicht ſteht. Nun tft es allerdings
eine in der Phyſiologie häufig worgetragene Anficht, Daß die Ver-
rihtung des Centralnervenmarks weſentlich verſchieden von ben
Venctionen der Nerven und auch verfchteden fei von den Thätig:
fetten derjenigen Gehirntheile, Die felbft nur als in Die Schädelhöhle
hinein verlängerte Fortfegungen der Newen zu betrachten wären.
Diefe Annahme würde die Borausfegifng einer irgend wie aud
bevorzugten Natur der Elemente einfchliegen, welche dieſen bevor:
zugten Verrichtungen dienen, obgleich eine unmittelbare Betätigung
für dieſe Folgerung durch anatomifche Beobachtung fehlt. Aber
gleichviel, wie e8 ſich hiermit verhalten mag: aus allgemeineren
Gründen finden wir die bisher gemachte Vorausfegung unzuläng:
lich, daß alle Nöthigung und Befähigung zur Wechſelwirkung
zwifchen zwei Elementen auf einer beftimmten Beziehung zwiſchen
dem beruhe, was wir ihre Naturen oder den qualitativen Inhalt
ihres Wefens nennen. Was das eine Element von dem andern
erfährt, wird nicht allein von dem abhängen, was dieſes andere
beftändig ift, fondern auch won Dem veränderlichen Zuftande, in
welchem e8 ſich eben befindet; daß überhaupt ein Element mit
dem andern zu wechſelwirken genöthigt ift, and Diejer wirkſame
Zufammenbang findet vielleicht nicht immer zwiſchen den conftan-
ten Naturen beider, fondern nur in. einzelnen Augenbliden zwi⸗
hen beftimmten Zuftänden beider ftatt; oder wenn für alle Zeit
und für alle Zuftände beide in dieſer Weife verfettet find, jo
liegt der Grund ihres Fireinanderfeind nicht in dem, was fie
beide find, fondern darin, daß fie vermöge deſſen, was fie find,
Zuftände erfahren können, welche nach dem Sinn und Plan ber
Weltordnung als erregender Grund und nachfolgende Erregung
zufammengehören. Ich verzichte darauf, diefen Gedanken in feine
339
metaphyſiſchen Zufammenhänge bier zu verfolgen und ziehe vor,
ihm einen deutlichen Ausdruck in engerer Beziehung zu unferem
befonderen Gegenftand zu geben: die Secle wird nicht in aus—
fchlieglicher und dann unabläffiger Wechſelwirkung mit einer be—
fonderen Art von Nervenelementen und allen beliebigen Zuftänden
diefer Elemente ftehen; fondern fie wird zuerft nur reizbar für
gewiſſe Arten des Geſchehens fein, auf jene Art und Zahl von
Nervenelementen aber ihre Wirkſamkeit und ihre Empfänglichkeit
deshalb befchränfen, weil nur in dieſen jenes Geſchehen verwirf-
licht wird, Und nun bleibt dahingeftellt, ob Diefe Elemente ihre
eigenthümliche Natur, oder ob ohne ſolche Eigenthümlichfeit Die
Gunſt ihrer Stellung zwiſchen andern fie ausſchließlich zu Schau=
plägen dieſes Gefchehens macht. In dem Yegtern Falle würde
es einer fpecififhen Verſchiedenheit zwiſchen den Elementen der
Gentralorgane und denen der Nerven nicht bedürfen; die Eigen:
tbümlichfeit der Structur würde Die erfteren ausfchließlih zum
Site der Seele maden, weil fie allein die Vorgänge möglich
machte, für welche dieſe die angebeutete ſympathiſche Reizbarkeit
befigt.
Es bleibt mir zu zeigen, daß die eben vorgetragene Anſicht
ihre Entftehung nicht allein den Weberlegungen über den Sit
der Secle verdankt, daß ſie vielmehr unabhängig hiervon auch in
der Betrachtung von pfuchifchen Ereigniflen wieder entfteht, welche
auf den erften Blick keineswegs mit ihr verträglich fcheinen.
Zu den gewöhnlichſten Vorftellungen über die Entftehung
der willführlichen Bewegungen gehört die, daß im Gehirn die Ur-
ſprünge der motorifchen Nerven mie eine Claviatur nebeneinander
ausgebreitet liegen, dem bewegenden Einfluß der Seele geöffnet.
Aber möge diefe Claviatur immer vorhanden fein: die Seele ift
unfähig auf ihr zu fpielen. Sie bat Fein Wiffen von der gegen=
feitigen Lage diefer Taften, und feine Kenntniß davon, daß Diefe
und nicht eine andere Tafte der beftimmten Bewegungsabſicht ent-
ipreche, welche fie hegt, jo wie etwa der Clavierfpicler gelernt hat,
die Tafte, die er ſieht, mit der gefehriebenen Note in Beziehung
22*
340
zu fegen. Und wüßte fie jelbft dies Alles, was follte es ihr
nügen? Wie finge fie ed doch an, nun ihre Wirkſamkeit auf diefe
- and nicht auf jene Tafte überzutragen? Kann doch der Spieler
Dies nur vermöge eben diefer noch unerflärten Folgſamkeit feiner
beweglichen Finger, die dahin greifen, wohin fein Wille fie weift;
und er würde es nicht können, wenn er auch biefen Webergang
feines beftimmten Wollend auf die ihm entfprechenden Nervenfä-
den ſelbſt erft durch feine Einficht vermitteln follte. Die Seele
Tann, wie wir geſehen haben, nicht8 Anderes thun, als einen in-
neren Zuſtand in fich erzeugen ober erleiden, an welchen ohne ihr
Zuthun der Naturlauf die Entftehung einer körperlichen Berände-
rung genüpft hat. Nur durch das, was er qualitativ ift, Tann
diefer Zuftand ſich von andern unterfcheiden; und von dieſer Dua-
lität muß nit nur die Größe und Art, fondern auch der Ort
‚ der Wirkung abhängen, die der Naturlauf an ihn knüpft. Freude
und Schmerz enthalten beide weder eine Kenntniß gewiſſer
Nerven und Muskeln, noch einen Trieb zu deren Bewegung; aber
fie find verſchiedenartige Erfehlitterungen des Gemüthes, und um
dieſes inneren Unterſchiedes willen folgt dem einen das Lachen,
dem anderen das Weinen. Weber bewußt noch unbersußt hat
hier die Seele um der Freude willen ihren Einfluß dahin, um des
Schmerzes willen dorthin gerichtet, fondern ohne al ihr Zuthun
hat der einen Art der Erregung diefe, der andern jene Bewegung,
der einen alſo eine Wirkung in diefen, der anderen eine Wirkung
zum Theil in andern Muskeln geantwortet.
Soll denn nun in der That, wird man fragen, die Seele
ihre inneren Zuftände fo gewiffermaßen nur klagend in's Blaue
hinausrufen, und erwarten, daß die geeignete Abhülfe blos durch
den verfchiebenartigen Ton ihrer Aeußerung zu Stande kommen
werde, ohne daß fie felber befühle, was eigentlich geſchehen fol?
Gewiß ift diefe Zummthung, die wir der Phantaſie ernſtlich ma-
hen mäfjen, ungewöhnlich genug; aber Doch wird fie ſich als eine
ausführbare erweifen laſſen. Bon den unzähligen Schallwellen,
welche Die Luft durchkreuzen, wird jede ohne Zweifel in einer ges
341
fpannten Platte, einer Fenſterſcheibe, welche fie trifft, irgend melde
Erſchütterungen bervorbringen; aber nur eine von ihnen wird bie
Platte zum Deittönen bringen, nur die nämlich, deren Schwing-
ungen regelmäßig zu wiederholen die Platte durch ihre eigene
Structur und Spannung befähigt if. Wenn e8 gilt, aus einer
flüſſigen Miſchung verfchiedener Stoffe einen einzelnen auszufchei=
den; bringen wir das Mittel, das zu feiner Fällung dienen fol,
nur überhaupt hinein und wir haben nit nöthig, nun diefem
noch ſelbſt eine beftimmte Richtung zu geben und mit ihm den
überall zerftreuten Theilchen des auszufcheidenden Stoffes nachzu⸗
gehen; indem e8 fi durch die ganze Flüſſigkeit verbreitet, geht
ed von ſelbſt theilnahmlos an denen allen vorliber, zu denen es feine
Wahlverwandtichaft befigt, und findet mit völliger Sicherheit Überall
die Theile desjenigen auf, mit dem es ſich zu einem Niederſchlage
verbinden kann. Nach der Ausfällung diefes einen wird ein zwei—
tes Reagens aus derfelben Flüffigkeit einen andern Stoff aus:
iheiden, überall indem das, mas durch feine qualitative Natur
aufeinander bezogen ift, fich zur Wechſelwirkung zufammenfindet
und auf Heine Entfernungen felbft gegenfeitig ſich anzicht, nie—
mals fo, daß dem einen von-Anfang an eine beftimmte Richtung
inwohnte und fein Erfolg fich verſchieden geftaltete nach Der
Natur deflen, was e8 in diefer Richtung anträfe. Läge der Seele
in der That die ganze Claviatur der motorischen Nervenenden
geordnet vor, jo könnte die Art ihres Einfluffes auf fie feine an-
dere fein. Ste würde nit in jedem Falle einen übrigens gleich—
artigen Stoß ausführen, dem fie nur eine beftimmte Richtung
gäbe, und der nun blos deswegen, meil er in dieſer Richtung auf
diefcs, nicht auf jenes Nervenende träfe, auch nur diefe, nicht eine
andere Bewegung erzeugen müßte; fie kann für jede beabfichtigte
Bewegung vielmehr nur einen eigenthlimlichen qualitativen Zuftand,
einen Ton von beftimmter Höhe in jenem Gleichniß, hervorbrin⸗
gen, und von der Wahlvermandtichaft, meldhe zwiſchen Diefem Zu—
fand und der eigenthämlichen Leiftungsfähigfeit eines beftimmten
Nervenuriprungs obwaltet, wird erft die räumliche Richtung ab-
342
hängen, welche der Einfluß ber Seele nimmt, und welche er nur
täufchend von Anfang an ſchon inne zu Halten fchten.
Nichts kann diefes Verhalten fo einfad Far machen, als Die
Erinnerung an die mimifchen Bewegungen. In dem Gefihtsaus-
druck erfcheinen in unendlich feinen Abftufungen und Miſchungen
die in unfern Stimmungen einander durchkreuzenden Gefühle
verförpert. Kaum wird Jemand geneigt fein, Dies unerjchöpflich
harakteriftiihe Spiel Fleiner Bewegungen und Spannungen von
einer bewußten oder unbewußten Thätigfeit der Scele abzuleiten, .
die eine große Anzahl Nervenurfprünge aufgefucht habe, um jedem
von ihnen eine den hier gemifchten Elementen der Luft und Un—
Luft entiprehende Anregung nitzutheilen. Weiß die Scele Doc
ohnehin nicht, aus welchem Grunde die Thräne beffer der Trauer
als der Luft und das Laden dieſer beffer als jener entſpräche.
Ohne Zweifel hat fie bier gar nicht gefucht und nicht gefunden ;
wie vielmehr jeder einzelne Gemiüthszuftand als eine Erſchütterung
der Seele feinen Weg zu beftimmten Organen feines Ausdruckes
nimmt, weil dieſe allein eben von dieſer Erſchütterung miterregt
werben, fo findet auch jene Mifchung der Gefühle von felbft ihren
permwidelten Weg zu den Theilen, in denen fie ihre leibliche Re—
fonanz erhalten fol. Aber dies Verhalten. ift nicht auf dieſe eine
Klaffe der Bewegungen beſchränkt. Auch jeder anderen willkühr—
ih von und ausgeführten Bewegung geht als ihr wahrer erzeu-
gender Anfangspunkt eine Vorftellung jener eigenthlimlichen Mo-
Dification des Gemeingefühls voran, die mit der gefchehenden Bewe—
gung, wie frühere Erfahrungen uns gelehrt, verfnüpft war. Wir
beugen den Arm nicht, indem mir feinen einzelnen Nerven be—
ftimmte Anſtöße zumeffen, fondern inden wir das Bild jenes Ge—
fühles in und wieder erzeugen, das wir in diefer Stellung des
Armes, bei diefer Faltung ber Haut, bei dieſem Spannungsgrabe
der Muskeln hatten; wir finden und dagegen ungeſchickt, cine Be-
wegung nadhzuahmen, die wir zwar beutlich fehen, ohne aber
uns fogleih in die eigenthiimlihe Empfindung hineinfühlen zu
fönnen, bie ihre wirkliche Ausführung uns gewähren würde.
343
— Bergeblich würden wir num verfuchen, von der Berbreitungs-
weife dieſer geiftigen Zuftände über die Fürperliden Organe und
von der Art, in welcher fie bier in einzelnen die ihnen entſpre—
chende Kefonanz hervorrufen, eine noch weiter ausmalende an-
Ihauliche BVorftellung zu geben. Wir müfjen wichnehr, wenn,
wie wir hoffen, die angeführten Bergleihe den Gedanken, den
wir hegen, Marer gemacht haben, felbft diefe Vergleiche wieder
zu vergefjen bitten. Denn eine nothmwendige und unvermeibliche
Geltung können wir nur dem allgemeinen Sage beilegen, daß
jede cerregende Wirkung der Seele auf den Körper von der quali=
tativen Beſtimmtheit eines geiftigen Zuſtandes ausgeht und erft
um ihretwillen eine Iocale Richtung nach einem beftimmten Or-
gane nimmt; jede weitere Ausführung oder Verbildlichung diefes
Borganges dagegen müſſen wir ablehnen. Denn allgemeine Be-
trachtungen, wie fie und bier möglich find, werden doch die Be-
dürfniſſe der Secle in ihrem Verkehr mit dem Körper nic fo
volftändig und genau errathen, daß wir aus unferer Einfiht in
das, was zweckmäßig fein würde, die vorhandenen Einrichtungen
im Boraus zu beftimmen vermöchten. Erft der wirkliche Befund
des Thatfählichen pflegt und hinterher auch die Zweckmäßigkeit
einſehen zu Iaffen, die in ihm liegt, und macht und aufmerkſam
auf Bedürfniſſe, die dann, nachdem wir fie aus den Anftalten
zu ihrer Befriedigung Tennen gelernt haben, uns freilih als
dringlihe und unabweisbare erjcheinen, ohne Doch vorher von und
im mindeften geahnt worden zu fein.
Ein Gegenftüd der vorigen Betrachtung veranlakt bie
Aufgabe des Bewußtſeins, eine große Anzahl von Empfindungen
nicht allein in ihrem qualitativen Inhalt wahrzunehmen, fondern
außerdem in beftimmter räumlicher Anorbnung fie unter einander
zu verbinden. Diefe Leiftung ſchien nothwendig vorauszufegen,
daß die einzelnen Eindrüde in derſelben gegenfeitigen Lage, in
344 °
welcher fie den Körper berührten, auch zu der Seele fortgepflanzt
werden, und daß an dem Sige ber legteren fich die ifolirten
Nervenfäden, deren jeder nur einen einzigen Eindrud leitet, in
derfelben regelmäßigen Nebeneinanderorbnung endigen, in welcher
fie in dem Sinnesorgan die anlommenden Reize aufnehmen.
Aber eine genauere Betrachtung wird uns bald lehren, daß Diefe
Borausfegung zu einer wirflihen Erklärung unferer räumlichen
Anſchauungen nicht dienen würde.
Sollen wir zunächſt ausdrüdlih erinnern, oder dürfen wir
dies als zugeftanden annehmen, daß von den Gegenftänden nicht
räumliche ausgedehnte Bilder, ihnen ähnlich und fie deckend, ſich
ablöfen, um in die Seele cinzutreten? Und daß, wenn dies wirf-
lich geſchähe, aus der Gegenwart diefer Bilder innerhalb derrSeele
ihr Wahrgenommenmerden noch jo wenig erflärlich wiirde, wie
aus dem vorherigen Dafein der Gegenftände außerhalb der Seele?
Sollen wir hinzufügen, daß ja doch dies, was wir ein Bild des
Gegenftandes in unferem Auge nennen, nichts ift, als die That-
face, daß in unferem Sinneöwerkgeug die neben einander liegen—
den Nervenenden in berfelben Ordnung von verichtedenfarbigen
Lichtftrahlen getroffen werden, in welder diefe Strahlen von den
Segenftänden felbft ausgehen? Daß endlich dieſe Thatſache eines
geordneten Nebeneinanderfeind verjchiedener Erregungen in ver=
ſchiedenen Nervenfafern doch noch nicht die Wahrnehmung diefes
Borganges, fondern nur der wahrzunehmende Vorgang felbft ift,
deſſen Möglichkeit, in feiner ganzen inneren Ordnung zum Be-
wußtjein zu kommen, chen den Gegenftand unferer Frage aus-
maht? Wir wollen die Borausfegung machen, daß und dies
wenigftens zugeftanden fe. Möge nun entweder, wie e8 Einigen
wahrſcheinlich dünkt, dieſes Bild im Auge ohne Verlegung feiner
Zeihnung dur die Sehnewen bis zu dem Gehirn an den Ort
der Seele fortgepflanzt werden, oder möge diefe felbft, wie es
Anderen denfbarer fcheint, unmittelbar in beiden Augen gegen-
wärtig fein: auf melde Weife kann dann in beiden Fällen die
beftimmte Lage dgr verſchiedenartig gereizten Nervenenden, mithin
345
bie gegenfeitige Lage ter Eindrüde für fie ein Gegenftand des
Bemwußtfeind werden? Und wäre die Seele felbft, damit wir das
Aeußerſte zugeben, ein ansgevehntes Weſen, den Umfang ber
Augen und die Ausbreitung der Haut mit ihrer Gegenwart
füllend, fo Daß jeder Farbenpunft, der die Neghaut, jeder Drud,
der die Oberfläche des Körpers trifft, zugleich aud eine räumlich
beftimmte Stelle der Seele träfe: mie würde fie jelhft dann inne
werden, daß e8 jegt die ſe Stelle ihrer eigenen Ausdehnung ſei,
welche der Reiz berührt habe, und nicht jene? in einem andern
Augenblide aber jene und nicht dieſe?
Wollen wir nicht ein unmittelbar fertiges und unerflärbares
Wiffen der Seele von ihrem eigenen Umfange oder von der Ge-
ftalt "des Körpers voraußfegen, jo werden wir zuzugeben haben,
daß irgendwo der Zeitpunkt fommen muß, in welchem die räum-
lihe Lage der wahrzunchmenden Bildpunkte, fo lange und ſo
forgfam fie auch von dem Sinnesorgan feßgehalten worden fein
mag, dennoch bei ihrem Uebergang in das Bewußtſein gänzlich
verfchwinden muß, um in diefem völlig von Neuem nicht als
räumliche Lage, fondern als Anfhauung einer folhen wieder ge-
boren zu werben. Die Nothwendigkeit diefer Annahme ift in
feiner Weife von der Vorftellung, die wir und von der räumlichen
oder unräumlihen Natur der Seele machen, fondern einzig
von dem Begriff des Bewußtſeins abhängig, welches wir dieſer
wie auch immer beichaffenen Natur zufchreiben. Möchte die Scele
immerbin felbft fih im Raume ausbreiten und als eine feine
Durchduftung den Körper bis in feine legten Enden durchdringen:
ihr Wiffen und Wahrnehmen mird doch ftet8 eine intenfive
Thätigkeit fein, die wir nicht ſelbſt wieder ftoffartig ausgebreitet
denfen können. In dem Bewußtfein hören alle jene Scheidewände
auf, welche in dem Zörperlichen Sinnedorgan die einzelnen Ein-
drücke von einander trennten; in ihm kann felbft jene Mannig-
faltigfeit der örtlihen Lage nicht mehr vorkommen, durch welche
etwa an der ausgedehnten Subftanz der Seele die ihr eingeprägten
Eindrüde fih noch unterſchieden; feine unräumlihe Einheit ift
346
nur no empfänglih für qualitative Verſchiedenheiten der Er—
regungen, und alle jene farbigen Punkte des Auges, alle Drud-
punfte der gereizten Haut können zunädft in ihm nur fo ortlos
zufammen fein, wie die gleichzeitigen und Doch unterjheidbaren
Töne einer Harmonie.
Sol die Seele dies Mannigfadhe in eine räumliche An-
ſchauung wieder auseinanderoronen, fo bebarf fie zweierlei. Sie
muß zuerft in der Natur ihres Weſens cine Nöthigung, Yähig-
fett und Drang zugleich, befiten, Raumoorftellungen überhaupt
zu bilden und das Vielfache ihrer Empfindung gerade in Diefer
Form der Berbindung und Sonderung aus und an einander zu
rücken. Vielleicht vermag die Philofopbie einen höheren Grund
dafür zu finden, daß die Seele oder daß wenigftend die menjc-
lihe Seele dieſe Form der Anfhauung aus ſich entwideln muß;
vieleicht vermag fie es auch nicht; wir jedenfalls ſetzen dieſe
Fähigkeit als eine gegebene Thatſache voraus und unfere Be—
trachtungen haben nicht die Abficht, fie felbft, fondern nur ihre
möglihe Anwendung zu erflären. Damit e8 nämlich zu Diefer
Anwendung kommen könne, damit die Seele in ihrer allgemeinen
Raumanſchauung, mit welcher fie jedem möglichen Inhalt Der
Wahrnehmung ganz gleihmäßig entgegenfommt, jedem einzelnen
Eindrude feinen beftimmten Platz anzumeifen im Stande fei,
dazu bedarf fie offenbar eines Anftoßes, der von den anzuord-
nenden Eindrüden felbft berfommt, und durch welchen dieſe ihre
gegenfeitige Lagerung im Raume verlangen. Dieſes zweite Be-
dürfniß allen iſt e8, deſſen Befriedigung hier den Gegenftand
unferer Frage ‚bildet; nur hierauf hat die Meberzeugung Bezug,
welche wir ausſprachen, daß der ziwingende Grund, um deswillen
die Seele jedem Eindrud feine beftimmte Lage in dem Raume
anmweift, welchen fie worftellt, nicht in der Lage felbft Liegt, welche
der Eindrud im Sinnesorgan bat, denn dieſe räumlichen Ver:
hältniffe des Wahrzunehmenden Finnen nicht wie fie find, nicht als
räumliche in das Bewußtſein übergehen; daß vielmehr jener
Grund einzig in einer qualitativen Eigenfchaft irgend welcher
347
Art Viegen kann, welde der Eindruck um der eigenthänlichen
Natur ded Ortes willen, an welchem er den Körper berührt, zu
feiner übrigen qualitativen Beftimmtheit hinzu erwirbt. Nur für
folche Unterfchiede ift das Bewußtſein zugänglich, und fie werben
ihm als Merkmale oder als Rocalzeihen dienen, nad deren An—
leitung e8 in der Wieverausbreitung der Eindrüde zu einem
räumlichen Bilde verfährt, zu unmittelbarer Nähe diejenigen zu-
fammenftellend, deren Localzeihen nächſtverwandte Glieder ciner
abgeftuften Reihe find, andere um beftimmte Entfernungen aus-
einanderräüdend, deren Merkmale eine größere Verſchiedenheit dar-
bieten.
So lange diefe Kennzeichen fehlten, würde der Eindrud zwar
feinem Inhalte nad) wahrnehmbar, aber nicht an eine beftimmte
Stelle des Raumes Iocalifirbar fein. Kann doch jede Farbe nad
und nady an jeder beliebigen Stelle unferes Geſichtsfeldes erjchei-
nen, jeder ftärfere oder ſchwächere Drud auf jeden Theil unferer
Körperoberflähe wirken; durch feinen unmittelbaren Inhalt, fo
_ und nicht anders gefärbt zu fein oder diefen beſtimmten Grad der
Stärke zu befigen, kann deshalb kein Eindrud einen beftimmten
Drt in unferer Raumanfhauung verlangen. Neben diefem In—
halt vielmehr und ohne fhn zu ftören, muß in jeder Erregung
eine harakteriftiiche Nebenbeftimmung vorhanden fein, welche aus-
Schließlich dem Punkte entfpricht, in welchem der Reiz die enpfäng-
liche Fläche des Sinnesorganes traf, und welche anders fein würde,
wenn der gleiche Reiz eine andere Stelle des Organs berührt
hätte. cher einzelne der Secle zugeführte Iocalifirbare Eindruck
befteht daher in einer feften Affociation zweier Elemente; das eine
von ihnen ift jener-phnfifche Vorgang, welcher das Bewußtſein
zur Erzeugung einer beftimmten Empfindungsqualität, zum Sehen
dDiefer Farbe, zum Fühlen dieſes Wärmegrades nöthigt; das an⸗
dere ift der befondere Nebenvorgang, der für allerlei Empfin-
dungsinhalt derfelbe, für jeden einzelnen Ort feiner Entftehung
verſchieden ift. Nicht deshalb alſo, weil ein Eindrud irgendwo
entitand, wird er won der Seele, als wüßte fie von felbft Davon,
348
auf diefe Stelle feines Urſprungs wieder zurüdbezogen, jondern
nur deswegen, weil in ihm fich dieſes qualitative Merkzeichen
feiner relativen Lage zu andern erhalten bat.
Man wird finden, wie diefes Verhalten dem entfpricht, was
wir über das Zuftandelommen der Bewegungen früher äußerten.
Wie dort die Seele nicht gleichartige Anftöße nad beftimmten“
Richtungen des Raumes ausfandte, ſondern qualitative innere
Zuftände erzeugte, denen fic überlaffen mußte, nah Maßgabe
ihrer Eigenthümlichkeit ihre Richtung zu finden: fo nimmt fie
hier nicht die räumlihen Tagen der Reize als foldye fertig auf,
fondern verlangt innere Unterfchiede zwiſchen ihnen, um fie über-
haupt räumlich zu trennen, und meßbare Größen .diefer Unter-
ſchiede, um fie an beftimmte Stellen des Raumes auseinander
zu rüden. Diefe Einrichtung nun halten wir für die nothwen—
dige Grundlage aller unferer Raumvorftellungen, welcher unferer
Sinne fie auch vermitteln möge; aber wir müffen den fpectelleren
Unterfuchungen der medicinifhen Pſychologie den Nachweis über-
laffen, in welcher Form in jedem cinzelnen Falle dieſen allge-
meinen Anforderungen genügt fei.
So lange man glaubt, daß die räumlichen Verhältniſſe der
Eindrüde als ſolche fertig in die Seele übergehen, wird man
natürlich im Intereſſe der Seele jeden derſelben in einer tfolirten
Tafer zu der Secle geleitet und zugleich bi8 zu dem Sige der
_ Seele die gegenfeitige Lage der Fafern vollfommen unverſchoben
denken müflen. Daß man mit alle dem zulegt doch nichts er-
reicht, bedenft man gewöhnlich zur fpät; denn die bloße Thatfache,
daß der eine Eindrud aus diefer hier, der andere aus jener dort
gelegenen Bahn kommt, würde der Seele für ihre Raumanſchau⸗
ung nur etwas nügen, wenn fie entweder mit einem neuen Auge
und einer neuen unerflärten Wahrnehmungskraft die Richtung
beider Bahnen und die Größe des Winkels zwiſchen ihnen ſehen
349
fönnte, oder wenn fie im Stande wäre, aud blind dem Reize
abzumerfen, aus welcher Gegend er komme. Das erftc kann fie
nicht, das zweite würde fie nur können, wenn eben der Reiz in
feinem Inhalt oder neben demfelben ein wahrnehmbares Zeichen
feines Urſprungs an fi träge, und fo würde diefe Meinung doch
am Ende auf die Vorſtellung von den Localzeichen zurückkommen,
von der wir ausgingen. Hängt dagegen die Beurthetilung des
Urfprunges der Eindrüde nicht mehr von der Richtung ihres An-
drängens zur Seele, fondern von dem qualitativen Nebeneindruck
ab, den fie ald Erinnerung an ihren Ausgangsort bewahrt haben,
jo ft ed nun nicht mehr in pſychiſchem Intereffe nothwendig, daß
in dem Zwiſchenraum zwifchen Sinnedorgan und Seele ihre rela-
tive Rage beibehalten und jeder von ihnen in einem befondern
Kanale zu ihr Hingeleitet werde. Wenn wir eine Bibliothet in
einem neuen Locale in derſelben Ordnung aufzuftellen wünſchen,
welche fie in ihrem früberen hatte, fo plagen wir uns nicht damit
ab, auch unterwegs dieſe Ordnung feftzuhalten; wir zerftören fie
vielmehr und fchichten einftweilen zufammen, was ohne. gegenfei=
tige Beichädigung zur Bequemlichkeit des Transportes vereinigt
werden Tann, und einer ganz fremben Perfon können wir es
überlafien, in dem neuen Locale die alte Ordnung wieder herzu⸗
ftellen, indem fie fih nad den aufgeflebten Etiketten richtet, die
jevem Bande feine Stelle bezeichnen. Ganz ebenfo wird bei dem
Uebergang der Nerveneindrüde in das Bewußtſein die räumliche
Ordnung derfelben jedenfalls zerftört und e8 ift fein Grund vor-
handen, warum dies nicht fehon früher innerhalb der Nerven
felbft geichehen Eönnte. Denn nur darauf fommt ed an, daß jeder
Eindrud fo Iange von andern ifolirt gehalten wird, bis er feine
Iocale Etikette erhalten bat; nachdem dies einmal gefchehen ift,
bleibt für den Dienft der Seele kein Bedürfniß weiterer Son-
derung. Sp padt man viele Briefe zufammen, und am Empfangs-
ort läßt fih der Ort ihres Abganged aus dem aufgebriüdten
Stempel gleich gut erkennen, welches aud die Art ihrer Befür-
derung gewefen fein mag. Nur dann würde jenes Bebürfnif
350
/
fortbeftehen, wenn die Natur der Nervenproceffe die gleichzeitige
Leitung verfgiedener Eindrüde mit ihren Localzeihen nicht ohne
wechjelfeitige Störung durch dieſelbe Faſer möglich madhte.
Es ift möglich, daß diefer letztere Fall ftattfindet, und in der
That deutet man auf diefe Weife ganz gewöhnlich den tfolirten
Berlauf ver Nervenprimitivfafern, ohne Verſchmelzung mit andern
und ohne Theilung ihres einfachen Cylinders. Aber Die Deutung
anatomifcher Thatfachen ift zuweilen mehr eine hergebrachte Ge-
wohnbeit al8 eine bewiejene Wahrheit. So jehr die Iſolirung
der Fafern eine gefonderte Leitung der Eindrüde vermitteln zu
follen ſcheint, jo finden wir fie doch auch in folden Fällen ange-
wandt, in denen wir an biefen Zweck kaum denken fünnen. Ein
Muskel, deffen ſämmtliche Bündel normal fich ſtets nur zugleich
zu verkürzen beftimmt find, erhält doch ebenfalls mehrere Nerven-
fäden, und aud fie verlaufen unverſchmolzen zum Rückenmark,
obgleich nie ein Wall eintreten zu können ſcheint, in welchem es
für die beabfichtigte Function förderlich wäre, daß die Erregung
jedes einzelnen von ihnen ſich gefondert von denen der übrigen
fortpflanzte. Der Geruchönero zerfällt, wie alle anderen Stunes-
nerven, in cine große Anzahl feiner Fäden und dod tft er kaum
dazu beftimmt oder fähig, eine diefer Anzahl entſprechende Biel-
heit von Gerlichen gleichzeitig und ohne VBermifhung ihrer Eigen-
thiimlichfeiten aufzunehmen. Ein Gleiches gilt vom Geſchmacks⸗
nerven, deſſen Wahrnehmungen verſchiedener Eindrüde niemals
eine Deutlichkeit befigen, zu deren Herftellung eine Menge gefon-
derter Leitungsmwege der Mühe werth geweſen wäre. Ich glaube
niht, daß man aus folden Thatfachen einen anderen Schluß
zieben kann, als diefen, daß die Anwendung der ifolirten Nerven⸗
fafer, deren Durchmefjer wir überall nur zwiſchen jehr engen
Grenzen ſchwanken fehen, für den Organismus aus einem fehr
allgemeinen Grunde nothwendig ift. Vielleicht Tann überhaupt
jener phyſtſche Vorgang, auf welchem die Thätigfeit der Nerven
beruht, worin er num auch beftehen möge, nur in Fäden von be=
ftimmter Dide und beſchränktem Querſchnitt ſich entwideln. Fügen
351
wir dann die Bermutbung hinzu, daß die Größe diefed Vor—
ganges innerhalb eines einzelnen dieſer cylindrifchen Elemente
gleichfalls nur eine beſchränkte fein fan, fo witrde daraus die
Nothwendigkeit folgen, durch eine größere Anzahl von Faſern, die
benfelben Eindruck leiteten, die Stärke veffelben bi8 zu dem Maße
zu erhöhen, welches feine weitere Benugung für die Zwecke des
Lebens verlangt. Sehen wir doch diefelbe Einrichtung aud außer:
halb des Nervenſyſtems in dem Tleifche der Muskeln, defjen Zer⸗
fälung in cine außerordentliche Anzahl feinfter Fäden müßig
Ichlinen wiirde ohne die Annahme, daß aud hier Die Zuſammen⸗
ziehungsfähigfeit nur fo dünnen Eylindern überhaupt möglid) war,
fo daß Die große Anzahl vereinigter Faſern die verlangte Stärke
der mechanifchen Wirkung beftreiten mußte. Die allgemeine Ber-
wendung der Zellenform zu dem Aufbau des Pflanzenkörpers ift
eine ähnliche Thatfache; auch ſie dentet an, daß jene eigenthüm-
Ihe Gattung chemiſcher Vorgänge, welche das Pflanzenleben be-
barf, mir in diefen räumlich beichräntten Gebilden möglich ift,
in denen eine halbfläffige Saftkugel von geringem“ Durchmeſſer
mit ihrer ganzen Mafje innerhalb des Wirkungskreiſes der Mole-
enlarfräfte Tiegt, welche von der feften Umhüllungshaut auf fie
ausgeitbt werden. Doc wie dies auch fein mag: jedenfalls fün-
nen wir die Bildung langgeftredter und unverzweigter Faſern als
eine ſehr allgemeine Gewohnheit des organifchen Geftaltungstrie-
bed bezeichnen. Nachdem fie aber aus irgend einem Grunde ein:
mal in die beftändigen Berfahrungsmweifen beffelben aufgenommen
ift, wird fie natürlich mit Vortheil auch für die Iſolirung cin-
zelner Erregungsbahnen, wo cin befonderer Zweck eine foldye ver-
langt, verwendet werben können, ohne deshalb doch in allen Fäl-
len ausfchließlih nur dieſer Abficht zu dienen.
⸗
Die Aufmerkſamkeit endlich, die wir ſo lange dieſer ganzen
Frage gewidmet haben, möchte ich ausdrücklich noch gegen die Ge—
352
ringihägung rechtfertigen, mit welcher entgegengejegte Anfichten
ihre Verhandlung überhaupt für überflüſſig halten. Ueberflüffig
kann e8 uns nicht fcheinen, auf eine Neugier einzugehen, die un—
vermeiblich doch wieder in Jedem fich einftellen wird, fo oft fie
auch, durch hohe Worte eingefchlichtert, verftummt fein mag, und
ohne deren klare Befriedigung die Vorftellung, welche wir über
das Wechfelverhältnig zwiſchen Leib und Seele uns ausbilden,
ſtets ihres natürlichften Anknüpfungspunktes beraubt haltlos im
Leeren ſchweben wird. Nur den Inhalt unferer Antwort, nicht
das Beftreben eine zu geben, können wir dem Tadel und Wiber-
ſpruch überlafien. Er wird ihn reichlich und in verfchievenen
Formen von jener Anficht ernten, welche die Scele mit gleicher
allgegenwärtiger Wirkſamkeit Durch den ganzen Körper ausgegof-
fen denft, an Ort und Stelle: die Eindrüde aufnehmend, wie fie
geihehen, und die Anregungen ertheilend, die ihren Zwecken ent-
ſprechen. Wenn indeffen die Tauglichkeit einer Borftellungsweife
an ihrer Mebereinftimmung mit den Thatfachen der Beobachtung
abgemeffen werden darf, jo glaube ich nicht, Daß wir den Angriff
diefer Gegnerin zu ſcheuen haben. Bedarf fie jenes Schlußpunf-
te8 des ganzen Nervengerwölbes nicht, welchen die Anatomie nicht
finden konnte, fo hat fie Dagegen noch nie überzeugend nachzumei-
fen gewußt, wozu fie überhaupt noch des Nervenſyſtems jelbft be-
Darf, welches die Beobachtung nun einmal findet: e8 ift ihr nicht
gelungen zu zeigen, wie diefe überall verbreitete Seele dazu komme,
ihre einzelnen Eindrüde auf beftimmte Raumpunkte zu beziehen,
und fi ein Bild des Körpers zu entwerfen, durch den fie ergof-
jen ift; fie hat endlich nie den Widerſpruch der Erfahrung befei-
tigen Fönnen,emwelcdhe und nun einmal Ichrt, daß nur nach vollen-
deter Fortleitung zu den Centralorganen die Erregungen des Kör⸗
pers für das Bewußtfein, nur nach vollendeter Leitung in ent-
gegengefegter Richtung die Antriebe der Seele für den Körper
vorhanden find. Weit mehr im Kampf gegen die Thatfachen ber
Beobachtung als durch fie unterſtützt, fucht dieſe Anficht nur bie
vorgefaßte Meinung von der nothiwendigen Einheit des Körpers
353
und der Scele durchzufegen und im Gefühl des Werthes diefer
höheren Auffaflung wendet fic felten andere Waffen, als die des
Spottes, gegen die Borftellungsweife, die wir bisher vertheidigten,
Alſo aus Leib und Seele, wird fie uns einmwerfen, foll wie aus
zwei getrennten Beftanpftüden unfere Perſönlichkeit beftehen ? Un
an einem einzelnen Punkte fol, wie ein menfchlicher Richter, die
Seele auf hohem Throne figen, den Parteien und Zeugen zu-
hörend, die ihr melden, was in ihrem Körper geſchah, und mas
fie unmittelbar wahrzunehmen nicht im Stande mar? Man wird
leicht fich Diefe Einreden weiter ausmalen, aber man wird zugleich
bemerfen, daß fie felbft fchon bis hierher zu viel ausmalten;
denn in der That zu dieſem Alfo haben wir keine Veranlaſſung
gegeben. Natürlich nicht aus Leib und Seele laſſen wir unfere
Perfönlichkeit zufammengefegt fein, fondern überall, wo wir in
ftrengem Sinne des Wortes unfer wahres Wefen fuchen, find wir
und bewußt gewefen, es ausſchließlich in ver Seele zu finden,
und nie haben wir den Körper filr mehr, als für das vertrau=
tefte Stüd der Außenwelt gehalten, das eine höhere Macht und
inniger zum Eigenthum gegeben hat, als unfere eigene Arbeit
jemals Fremdes und anzufchließen vermag. Und an jenem Sitze
der Seele, was können wir zulegt Unpafiendes finden, wenn mir in
aller Stille den hohen Thron und das ganze Genrebild der Ge-
rihtöverhandlung bei Seite räumen, Zuthaten, die nur bie ges
fällige Phantafie der Gegner uns ſchenkte? Da e8 nun doch ein=
mal nicht fo ift, daß unfere Seele allwiffend die Ereigniffe in der
Entfernung wahrnähme oder allmächtig in die Weite hinaus wirkte,
was verlieren wir Doch, wenn wir diefe Thatfache aufrichtig zu-
geben und den Umkreis der unmittelbaren Wechfelmwirkungen zwifchen
Körper und Seele auf einen Theil der Centralorgane beſchränken?
Wenn die Seele die leifeften Erzitterungen des Leibes durch mit-
telbare Fortpflanzung derjelben in fih aufnimmt und mit den
zarteften Abwechſelungen der Empfindungen und Gefühle begleitet ;
wenn umgefehrt das Getriebe des Körpers jede flüchtige Erre:
gung, weldhe die Seele einem feiner Punkte mittheilte, zu aus⸗
Loge J. 3. Aufl. 23
354
drudßvoller Bewegung auögeftaltet: was wermiffen wir Dann
eigentlih? Und was wirden wir im Grunde gewonnen haben
durch Die entgegengefeßte Ueberzeugung, daß Die Seele ſelbſt ſich
mitfrimmt in dem gefriummten Zeigefinger, durch den wir Se:
mand locken, oder ſich mitballt in ber ballenden Fauſt, durch die
wir ihn hernach niederſchlagen?
Drittes Kapitel.
Formen der Wechſelwirkung zwiſchen Leib und Seele.
Organ ber Seele. — Organ ber Raumanſchauung. — Körperliche Begründung ber
Gefühle. — Höhere Intelligenz, ſittliches und äſthetiſches Urtheil. — Organ des
Gedächtniſſes — Schlaf und Bewußtloſigkeit. — Einfluß körperlicher Zuſtände auf
ben Vorſtellungslauf. — Centralorgan ber Bewegung. — Reflexbewegungen. —
Ungehdte Ruckwirkungsformen. — Theilbarkeit der Seele. — Phrenologie. —
Hemmung des Geiſtes durch die Verbindung mit dem Körper.
Wenn man den Aufforderungen des Materialismus zu ent-
gehen fucht, und doch die offenbare Thatfache nicht Teugnen kann,
daß die Möglichkeit der Ausnbung geiftiger Fähigkeiten in hohem
Grade von dem unverfehrten Zuſammenhang und dem nuuverlet-
ten Bau des Gehirns abhängig ift: fo pflegt man gewöhnlich zu
‚dem Ausweg zu flüchten, biefen weſentlichen Körpertheil doch nur
als das Organ der Seele zu betrachten. Sie felbft fahre fort,
als das Hberfinnliche einfache Wefen zu beftehen, ausgeftattet mit
Fähigkeiten, die wir kennen gelernt haben; nur zur Ausübung
derſelben bebürfe fie der Werkzeuge, melde die Organtfation ihr
in dem Baue des Gehirns vorbereitet barbiete.
Ih habe Schon öfter meine Meberzeugung ausgefprochen, daR
unfere Kenntniß des geiftigen Lebens feine Fortfehritte machen
wird, fo lange man glauben wird, mit einer jo fehr gedankenloſen
Borftellung, wie e8 dieſe von den Organen der Seele ift, etwas
geleiftet zu haben. Nicht einmal den Materialismus wird man
355
durd fie an Rlarheit übertreffen. Denn abgefehen von der all-
gemeinen Unbegreiflichleit, wie es ihm überhaupt gelingen könne,
geiftige Wirkungen an körperliche Maſſen zu fnüpfen, ift er tarin
wenigftens Mar, daß ex das Gehirn als das Handelnde, Denken
und Empfinden Fühlen und Wollen unmittelbar als die Leift-
ungen dieſes Handelnden bezeihnet. Dies einfache Berhältniß
verftehen wir; was es dagegen heißen folle, daß nicht das Gehirn
jelbft, Tondern die Seele durch das Gehirn fihle, denke oder wolle,
das bedarf offenbar einer Aufklärung; denn jedes ſolche Durch
ift für einen wiſſenſchaftlich erzogenen Verftand ein Räthſel, wel:
ches gelöft fein will, während die Schwärmerei höherer Anfich-
ten der Dinge faft immer in der Unklarheit folder Bermittlungs-
verhältnifie die Löſung aller Räthſel ſelbſt zu finden glaubt. Wo
von einem Werkzeug die Rede iſt, da werden wir und immer
fragen möäffen, durch welchen Mangel feiner eigenen Kraft ders
jenige, der fich beffelben bedienen fol, zu feiner Benugung ger
nöthigt wird; durch welche Vorzüge ferner dies zur Hülfe gezo—
gene Mittel die Mängel der benugenden Kraft fo ausgleichen:
kann, daß fie fähig wird zu einer Leiftung, welche ohne dies ihr
nnausführbar geweſen wäre; auf welche Weile enblic der Ger
brauchende fich des Werkzeuges zu bemächtigen und e8 fir Die
Zwede feiner Abficht fruchtbar zu handhaben verftehen wird.
Diefe Fragen hat man fi felten vorgelegt, und wenn wir Die große
Menge der Organe des Vorſtellens des Denkens des Wollens
überbliden, von denen man fo oft leihthin, freilich ohne fie
näher zu ſchildern, geſprochen bat, fo können wir nicht zweifeln,
daß viele unter ihnen find, welche der Seele gerade das möglich)
machen follen, wozu fie feiner fremden Hülfe bedarf, viele ferner,
die das gar nicht leiſten könnten, wozu man fie beruft, manche
endlich, von denen man nicht begriffe, wie ihre an ſich viel-
leiht nüglide Einrichtung jemals zur Berfügung der Seele ges
bracht werden Könnte.
Die geringere Sorgfalt, welche man bisher auf bie Ber:
deutlihung deſſen vermandt hat, was man eigentlich von dem
23%
356
Körper für die Aufgaben der Secle an Unterftüägung und Hülfe-
Yeiftung zu erwarten und, zu verlangen berechtigt ift, hat ber -
richtigen Deutung der Centralorgane immer als eine befondere
Schwierigkeit entgegengeftanden. Und wir werden nicht im Stande -
fein, dieſe Hinderniffe einer gedeihlichen Unterfuhung ſchnell hin-
wegzuräumen. Denn wie leiht wir auch Einiges ausjcheiden
fönnen, was wir nur als eingeborene Thätigfeit der Seele be-
trachten durfen und wofür nad) einem Organ zu fuchen thöricht
fein würde, fo können wir nur felten den ganzen Umfang der
Heinen Beihülfen überjehen, die einer Fähigkeit doch nöthig find,
um ihre Ausübung in Uebereinftimmung mit der äußeren Welt
zu lenken, von welcher die Seele nur durd die Vermittlung
Lörperlicher Werkzeuge Kunde hat. So kann es mittelbar doch
leiblihe Organe geben für Verrichtungen, die ihrem wefentlichen
Charakter nad aller körperlichen Unterftügung unfähig und unbe-
bürftig find. Nur wenig werden wir daher im Stande fein, aus
unferer Kenntniß des geiftigen Lebens heraus im Voraus die
Werkzeuge vollftändig zu beftimmen, welde die Organifation zu
feinem Dienfte ftelen muß. Aber nachdem fo oft von den ver-
fchiedenften Seiten her die mannigfadften Anläufe zur Erflärung
de8 vorhandenen Baues gemacht worden find, veizt uns Doch
dieſer Verſuch, nicht fo fehr um der Aufichläffe willen, die mir
von ihm über die Beitimmung der einzelnen Gehirntbeile zu er-
halten hofften, als um der Beranlaffung willen, die er ung
gibt, die äußerſt mannigfahen Bormen des wechfelfeitigen Ein-
fluſſes zwiſchen Körper und Seele zu durchmuſtern.
Ih habe kaum nöthig, von dem Anfange des geiftigen Le—
bens, von der Empfindung, noch einmal ausführlicher zu ſprechen.
Nichts ſcheint der Körper für fie leiften zu können, als daß er
die äußeren Eindrüde aufnimmt und fie in einer fir die Teichte
und genaue Yortleitung günftigen Form dem Wirkungskreife der
357
Seele räumlich nähert. Welches auch die phyſiſchen Vorgänge
fein mögen, welche die Sinnesnerven durchkreiſen: ihre Umfegung
in die Empfindungen der Farbe, des Tones oder des Geruches
kann nie dur ein neues zwiſchen fie und die Seele eingefcho-
bene8 Organ erleichtert werden. Denn alle Arbeit eines folchen
würde doch immer nur die eine Form nervöſer Erregung in eine
andere verwandeln können, aber niemald die Kluft verfleinern,
die zwiſchen allen phyſiſchen Bewegungen als folden und ven
Empfindungen jelbft als Zuftänden des Bewußtfeins beftehen
‚bliebe. Und eben fo wenig werben alle jene Aeußerungen bes
beziehenden Wiſſens, welche fih-auf eine Vergleichung der gege-
benen Empfindungsinhalte beſchränken, einer körperlichen Unter:
ftügung bebürftig oder fähig fein. Um die größere oder geringere,
Berwandtichaft zweier Farben oder Töne, oder die Unterfchiebe in
der Stärfe der Eindrüde zu beurtheilen, bebarf das Bemußtfein
Nichts, als diefe Elemente felbft, die e8 vergleichen fol, und außer
ihnen nur jene Fähigkeit des beziehenden Uebergehens, die mir
unter allen Leiftungen des geiftigen Lebens am wenigſten auf
phyſiſche Wirkungen zurüdführbar gefunden haben. So lange
daher nicht andere Aufgaben binzutreten, würden wir feine Ver-
anlafjung haben, ein Centralorgan der Sinnlichkeit zu erwarten,
von deflen vorgängiger Verarbeitung der Eindrüde die Seele in
ihrer eigenen Verwerthung derfelben abhängig wäre; nur zulei=
tender Kanäle würde fie bedürfen, welche die einzelnen Reize ihr
zuführen und fie befähigen, ihre Empfindungen in einer Reihen—
folge zu entwideln, welche den Abwechſelungen in dem Thatbe—
ftande der Außenwelt entſpricht. Mber zwei andere Aufgaben
laſſen fih neben dieſer einfacheren unterfcheiden: die räumliche
Anordnung der Sinneseindrüde in unferer Anſchauung, und die
Wahrnehmung der Gefühlswerthe, welche theild den einzelnen,
theils beftimmten Verbindungen mehrerer von ihnen zulommen,
Für beide Leiftungen bedarf die Seele körperlicher Beihülfe.
Wir haben gejehen, auf welche Vorausfegung die Möglich-
feit einer räumlichen Anſchauung mit Nothwendigfeit zurückführt:
358
jedem einzelnen Eindrude, jedem Farbenpunkt der Reghaut, jenem
Berührungsgefüihle der Haut mußte ein eigenthümlicher Reben:
eindrud hinzugefügt werben, welder, ohne den Inhalt dieſer Em-
pfindung zu ändern, nur als Localzeihen die Stelle ihres Ur:
fprunges bezeugt. Diefer nothiwendigen Forderung fügen wir
jest eine Bermuthung über die Form Hinzu, in welder wir
glauben, daß fie wenigſtens fiir den Gefichtöfiun erfüllt ſei. Nur
eine ſehr Feine Stelle in der Mitte der Neghaut gewährt und
vollfommen ſcharfe Wahrnehmungen; undeutlich erſcheinen alle
Gegenftände, deren Bilder neben dieſer Stelle auf die feitlihen
Gegenden der Neghaut fallen. - Allein jeder ftärfere Eindrud,
welcher einen von diefen minder bevorzugten Orten trifft, erwedt
unwillkührlich eine Bewegung ded Auges, durch welche wir ihm
unfern vollen Blid zuwenden, und fo das Bild, welches cr er-
zeugte, auf jene Stelle des deutlichften Sehens überführen. Aber
nach feiner befonderen Lage wird jeder dieſer feitlichen Punkte der
Netzhaut eine ihm allein eigenthümliche Größe und Richtung ber
Bewegung des Auges erfordern, damit den Strahlen, die früher
auf ihm ſich zu eimem umdentlicheren Bilde vereinigten, diefe
Stelle der deutlichften Wahrnehmung als auffangende Fläche un—
tergefhoben werde. Die Erfüllung diefer Forderung fegt voraus,
daß jede der einzelnen Faſern, deren Enden in der Netzhaut die
Lichteindräde aufnehmen, in einer ihr allein eigenthiimlichen Art
und Größe ihre Erregungen auf Die verichtedenen motorischen
Nervenfäden übertragen fünne, von deren mannigfach abgeftuften
Zufammenwirken die Weite und Richtung der Augenbewegungen
abhängen.
Geftatten wir und nun die Vermuthung, daß eine folde
Wechſelwirkung zwiſchen den reizaufnehmenden und den bewegung:
erzeugenden Nerven der Augen fir die Begründung ver Raum:
anſchauungen benußt fei, fo würde die vielfache und reichgeglie-
derte Verflechtung ber Fäden beider Gattungen, mie wir fie fir
diefen Zweck vorausfegen müßten, uns ganz das Bild eined eigen-
thumlichen Gentralorgans der räumlihen Anſchauung
359
gewähren. Jede einzelne gereizte Stelle der Netzhaut würde dann
vermöge der befonderen Art, in welcher die von ihr entfpringende
Faſer mit den motorischen Fäden verbunden ift, einen ihr aus:
Ihließlih zugehörigen Bewegungsantrieb in diefem Organe erzeu⸗
gen, von welchem die Seele auch dann, wenn ihm Feine wirflide
Bewegung des Auges nachfolgt, einen irgendwie geftalteten Ein=
brud erfahren Tann. Diefer Eindrud endlich, der nicht nothwen⸗
dig felbft ein vom Berwußtfein wahrgenommener Vorgang zu fein
braucht, fordern zu jenen unbewußten Zuftänden gehören kann,
deren Einfluß auf die Seele dennoch groß ift: Diefer Eindruck
würde das Localzeichen fein, nad deſſen Anleitung die Seele dem
Farbenpunkte, mit welchem er verbunken ift, feine Lage zu allen
übrigen, mithin feine fefte Stelle in dein Raume ihrer Anfgauung
zumeift. Wir müffen e8 den ausführlichen Unterfuhungen ber
medieiniſchen Pſychologie überlaſſen, theild die zahlreichen Schwies
rigleiten hinwegzuräumen, die im Einzelnen diefer veriwidelte Zu:
ſammenhang darbietet, theil® nachzuweiſen, daß in der That ein
Syſtem ſolcher Bewegungsantriebe alle jene Feinheit und Viel—⸗
ſeitigleit der Abſtuſung und der Verwandtſchaft zwiſchen den ein:
zelnen Localzeichen darbieten würde, wie ſie die Schärfe unſerer
räumlichen Geſichtswahrnehmungen vorausſetzt. Unſere Abſicht
konnte hier nur die ſein, an dem Beiſpiele dieſer Anſicht, deren
Inhalt bei aller Wahrſcheinlichkeit, welche er für uns beſitzt, doch
nicht Thatſache, ſondern Vermuthung iſt, ein Bild der Vorſtellung
zu geben, die wir uns auf dieſe oder andere Weiſe im Wejent-
lichen immer ähnlich von der Begründung unferer räumlichen An-
fhauung werden machen müſſen. Welche andere Vorſtellungsweiſe
man auch immer im Einzelnen zulegt vorziehen möchte, man wird
nicht von der Nothwendigkeit ablommen, für dieſe Leiftung unferer
gerftigen Thätigfeit ein vorarbeitendes Centralorgan anzunehmen,
und wir tragen fein Bedenken zuzugeftchen, daß wir einen be-
trächtlichen Maffenantheil des Gehirns allein für dieſen Zweck
beftimmt glauben.
360
Die Gefühle der Luft und Unluft, welche theils die
einzelnen Empfindungen begleiten, theil8 aus der vergleichenden
Aufammenfaffung mehrerer entftehen, fehen wir zu auffällig nad
dem Stande des körperlichen Befindens ſchwanken, al8 daß wir
ihren Urfprung ganz allein in der werthempfindenden Thätigfeit
der Seele fuchen möchten. In fehr vielen Fällen allerdings än-
dern krankhafte Verftimmungen nicht nur das Gefühl, fondern
auch den Inhalt der Empfindung, an die es ſich knüpft; es ift
nicht derſelbe Geſchmack, den der Kranke widrig und der Gefunde
angenehm findet; und in folden Fällen fönnten wir vermuthen,
daß die Seele über den Eindrud, den ihr der Sinneönero wir
Tich zuführt, immer nad denfelben Gefegen ihrer eigenen Natur
urtheilt, ohne dazu noch der maßgebenden Dazwiſchenkunft eines
förperlihen Organs zu bedürfen. Aber häufig bleibt doch aud
der Inhalt der Wahrnehmung unverändert und doch wechfelt die
Größe und Art des Gefühles, welche er erweckt. Gewiß wird
nun auch hier oft die Lehhaftigfeit der Theilnahme, die wir ihm
zumenden, durch den allgemeinen Charakter der eben vorhandenen
Gemüthäftimmung, die aus rein geiftigen Anläffen entftanden fein
kann, bald erhöht, bald herabgefegt, und zu denfelben Harmonien
der Töne, zu denfelben Zufammenftellungen der Farben fühlen wir
und mwahrfcheinlih nur aus ſolchen Gründen bald mehr bald we:
niger wahlverwandt geftimmt. Dennoch bleibt ſowohl in Bezug:
auf die Stärke als auf die Färbung unferer Gefühle eine Ber-
änderlichfeit unferes Ergriffenwerdens übrig, welche wir mit Wahr:
jcheinfickeit nur davon ableiten innen, daß die Uebereinftimmung
oder der Widerftreit, in welchem fi die Erregungen der Nerven
mit den Bedingungen unferes Lebens befinden, erft an einer be:
fonderen Nachwirkung gemeffen wird, welche nicht immer der wirt:
ih erlittenen Störung oder Förderung richtig entſprechend erfolgt.
Nach der Einathmung von Aether oder Chloroform erlifät
nicht immer mit dem Gefühl zugleich das Bewußtſein; es ift im
Anfange den Betäubten zuweilen möglich, mit ziemlicher Genauig:
feit die einzelnen Vorgänge einer chirurgiſchen Operation wahr:
361
zunehmen, welcher fie unterworfen werben; aber ſie fühlen den
Schmerz derfelben nit. Auch in anderen Berftimmungen des
Nervenſyſtems fühlen wir und zuweilen von ber eigenthiimlichen
Affectloftgkeit unferer, Eindrüde beängftigt, die mit aller Deut-
Tichfeit aufgefaßt uns doch kaum als unfere eigenen Zuftände er-
feinen; fo wenig find fie von dem Gefühle des Ergriffenfeing
begleitet, welches im gefunden Leben jede unferer Empfindungen
in angemeffenem Grade mit fich führt. Hier fcheint es nun, als
wenn zwar die Leitung der äußeren Reize bis zu jenem Punkte
ununterbrochen wäre, wo fie durch Wechſelwirkung mit der Seele
in bewußte gleichgültige Wahrnehmungen umgefegt werden, aber
als wenn zugleich ihre Fortpflanzung bis zu einem anderen Punkte
gehemint wäre, an welchen anichlagend fle jene eigenthlimliche Re⸗
fonanz erweden müßten, deren Rückwirkung in der Eeele erft das
begleitende Gefühl erwedt. Die genauere Unterfuhung. würde
jedoch nad) den Thatfachen, welche dic Erfahrung bisher kennen
gelehrt hat, die Frage nicht völlig entfcheiden fünnen, ob wir in
der That in diefem Sinne ein eigenthiimliches Centralorgan des
Gefühles anzunehmen haben, oder ob nicht eine andere Form
förperlicher Mitwirkung die vorkommenden Erſcheinungen ebenfalls
erflären würde.
Aber nicht ohne Intereffe würde eine Nachforſchung nad) den
Grenzen fein, innerhalb welcher iiberhaupt die Gefühle diefer Mit-
wirkung bedirfen. Beruht das Wohlgefallen an den confonirenden
Accorden der Töne auf einer Vergleihung der entitandenen Ton-
empfindungen allein, fo daß die Seele felbft, jeves Körpers
entledigt, noch fortfahren würde, diefelben Accorde ſchön zu finden,
falls es möglich wäre, ihr die erneuerte Empfindung derſelben
zu verihaffen? Ober fühlt die Secle in diefem Wohlgefallen
nur die günftige Nebenwirkung, welche gerade diefe Verbindung
von Tönen auf einen anderen Theil ihrer leiblichen Organijation
ausübt, fo daß ihr Genuß nur von einem nebenherlaufenden
Nutzen, nicht von den eigenen inneren Verwandtſchaften diejer Ton⸗
gruppe herrührte und mithin unmöglid würde, wenn mit ber
362
förperlichen Grundlage aud die Möglichkeit, ihr wohlzuthun, hin⸗
wegfiele? Diefe Fragen find unlösbar für jest und ftatt ihrer
Beantwortung, deren Werth für Die Auffaffung des ganzen gei=
ftigen Lebens fchon dieſes eine Beifptel hinlänglich erkennen läßt,
müſſen mir uns vorläufig mit der Ueberzeugung begnügen, daß
die Lebhaftigfeit und Wärme unferer Gefühle und Damit Die ganze
Geſtaltung unferer Gemüthswelt von dem Einflufje der leiblichen
Organtfation jedenfalls in hohem Grade abhängig if.
Durch die genaue Ucherlieferung der äußeren Einprüde, durch
die Lebhaftigkeit der Gefühle, welche ſich an jede einzelne Empfin-
dung und an ihre Verbindungen mit andern knüpfen, durch alle
diefe Leiſtungen arbeiten die körperlichen Organe auch jenen höhe—
ven Thätigfeiten des Geiftes vor, durch meldhe feine verftändige
und vernünftige Erfenntniß das Ganze einer geordneten Welt-
auffaffung bermorbringt. Aber in diefer Vorbereitung des Ma-
terials, an welchem die Seele die Kräfte ihres beziehenden Wiſ—
fend ausüben fol, fcheint auch der einzige Beitrag zu befteben,
den die Verrihtungen des Körpers für diefe höheren Aufgaben
des Seelenlebens darbieten können; ihre Löſung felbft wirb der
eigenen Thätigkeit des Geiftes überlaſſen bleiben. Spricht man
von Organen des VBerftandes oder der Bernunft, von
Werkzeugen des Denkens und der Beurtheilung, fo geftehen wir,
weder von dem Bedürfniß, welches zu folden Annahmen führen
fönnte, noch von der Art des Nutzens eine Ahnung zu haben,
welchen das Borhandenfein aller diefer Inftrumentation für das
höhere geiftige Leben gewähren könnte. Keine jener beziehenden
Thätigleiten, aus deren unerſchöpflich mannigfacher Wiederholung
alle unfere Erkenntniß hervorgeht, wird im Mindeften durch die
Mitwirkung einer körperlichen Kraft befürbert werben können;
aber die Möglichlett einer jeden wird davon abhängen, daß ihr
bie Beziehungspunkte, welche fie vergleichen foll, das Material
363
ihrer Arbeit durch die Sinne und folglich durch die Beihülfe der
förperlihen Verrichtungen paſſend und richtig dargeboten werde.
So hängt die Blüthe des geiftigen Lebens, was nie geleugnet
worden tft, Durch taufend Wurzeln mittelbar mit dem Boden des
leiblichen Dafeins zufommen; aber außer der allgemeinen Nab:
rung, welche er barbietet, treibt der Boden nicht noch ein bes
fondere8 Organ in bie Höhe, deflen die Pflanze ſich bedienen
müßte, um zu blühen.
Wenden wir und ferner zu der fittlihen Beurtheilung
von Handlungen, fo können wir zugeben, daß auch fie mittelbar
ſehr gewichtig mit beftimmt wird durch die Genmtigfeit, mit wel-
her unfere finnlihe Auffaffung einen Thatbeftand darftellt, und
durch die Lebhaftigfeit, mit welcher nach der beftändigen ober
augenblidlihen Stimmung unferes Förperlichen Befinden fich theils
andere Borftellungen umfichtiger oder verworrener an diefen That-
beftand anknüpfen, theil® Gefühle feinen Werth meſſend fidh ent-
wideln. Aber dennoch wird Feine Erregung eines körperlichen
Organes der Seele in dem weſentlichſten Punkte, in der Fällung
des moralifchen Urtheiles ſelbſt beiftehen fünnen; die Meithülfe der
Nerven wird ftet8 nur den angenehmen oder unangenehmen Ge-
fühlswerth der betrachteten Handlung für das perjönliche Leben
des Beurtheilenden, aber niemals die von aller perſönlichen Luft
“und Unluft entblößte Beurtheilung ihrer fittlihen Güte ober
Schlecdhtigfeit begründen können. Wie wenig wir deshalb auch leug⸗
nen können, daß in nur zu hohem Maße jene Einwirkungen der
förperlichen Thätigfeiten in Wirklichkeit unfer moraliſches Urtheil
Venfen und verbüftern, fo haben wir doch nirgend Grund, diefem
zu feiner eigenthümlichen Leiftung die gefährliche Hülfe eines eigenen
leiblichen Organs aufzubringen. Und ebenfo mag ein großer
heil des Eindrudes, den uns ſchöne Gegenftände erweren, auf
einer gefälligen und übereinftimmenden Erregung unferer Nerven
beruhen. Aber wer in dem äſthetiſchen Gefühle neben dem ge-
wiß nicht fehlenden Antheil perfönlichen Woblgefühles noch eine
unabhängige Verehrung und Werthſchätzung des Schönen ſieht,
364
wird nun aud dieſes Mehr einzig der Secle zurehnen müſſen.
Der Schauer der Erhabenheit, das Lachen über komiſche Vorfälle,
‚ fie werben beide gewiß nicht durch cine Uebertragung der phnft-
hen Erregungen unferer Augen an die Nerven der Haut ober
des Zwerchfelles erzeugt, fondern dadurch, daß der Inhalt des
GSefehenen in eine Welt der Gedanken aufgenommen und in dem
Werthe erkannt wird, den er in dem vernünftigen Zuſammen⸗
hange der Tinge hat. An die geiftige Stimmung, die hieraus
fi entwidelt, bat der Mechanismus unfered Lebens jenen für:
perlihen Ausdruck gefnüpft, aber der Körperliche Eindrud würde
für fi ohne jenes Verſtändniß deffen, was er darbietet, niemals
diefe Stimmung erzeugen. Wie groß daher aud und wie viel-
geftaltig die Mitwirkung der körperlichen Sunctionen für das
höhere Geiftesleben fein mag, fo befteht fie doch gewiß nicht darin,
baß diefem beſondere Werkzeuge für Das Eigenthümlichfte feiner
Leiftungen zugeordnet wären, jondern nur darin, daß zur Ber:
wirflihung mander mittelbar nothwendigen Vorbedingungen die:
fer Leiftungen die ungeſchmälerte Thätigkeit vielfacher vorbereiten:
der Organe erforderlich iſt.
Zu diefen Borbedingungen gehört nicht nur die Zuleitung
augenblidlich einwirkender Einbrüde, fondern auch die Fefthaltung
vergangener, ihr Wiedererfcheinen im Bewußtſein, jener ganze be:
wegliche Ablauf der Borftelungen, durch deſſen Zuſammenhang
unſer Leben Einheit, unſere Handlungen beſtändige Ziele errei⸗
chen. Haben wir eben die höheren Thätigkeiten des Geiſtes un⸗
abhängig von dem Körper zu faſſen geſucht, fo würden fie in eine
gleich tiefe Abhängigkeit zurüdfallen, wenn die Erhaltung dieſer
Grundlage, aus welcher fic auftauchen, den phyſiſchen Gegenwir⸗
fungen des Organismus überlafien wäre. Je nachdem das Or:
gan des Gedächtniſſes mehr oder weniger treu und dauer
haft den Gewinn des früheren Lebens fefthielte, je gelentiger und
365
elaftifcher die neroöfen Erzitterungen verliefen, durch welche die im
Gehirn erhaltenen Nachbilder vergangener Eindrüde einander
wechfelfeitig beleben: um fo reiner und reicher oder um fo mehr
verbüftert und eng würde in jedem Augenblid. unfer Bemußtfein
von dem Zuſammenhang unferes Lebens, unferer Pflichten und
Hoffnungen fein. Oder vielmehr fein folder Zufammenhang
würde überhaupt ftattfinden, fondern vereinzelt witrde in jedem
Augenblid die Seele die Borftellung, das Gefühl oder die Stre'
bung entfalten, welche ihr die eben wieder erwachende fürperliche
Anregung geböte; ohne die eigene Fähigkeit, auch in ihrem In—
nern jelbft das Vergangene zu dem Gegenmwärtigen aufbemwahrend
berüberzuzieben, Könnte fie jelbft durch den Kleinften Zeitraum
hindurch die Stetigkeit eines einzigen Gedankens nicht erzeugen,
deſſen ganzer Sinn erft durch die Aufeinanderfolge mehrerer Bor:
ftelungen volftändig würde. In der That nun hängt ohne
Zweifel auch unfer VBorftellungslauf mittelbar in großer Ausbeh-
nung von der beftändigen Einwirkung der Körperlihen Vorgänge
ab; der Annahme eines befonderen Gedächtnißorganes jedoch, auch
wenn es nur als unterftügendes Hilfsmittel für die eigene - Er-
innerungsfähigfeit der Seele gelten follte, ftehen größere Schwie-
rigkeiten entgegen, als man gemeinhin anzunehmen pflegt. Dem
Einwurf, daß die Maffe des Gehirns, ohnehin nicht beftändig,
fondern einer langſamen Erneuerung gewiß unterworfen, nicht
ohne Verwirrung die eingeprägten Nachbilver unzähliger Eindrücke
zu fpäterem Wiedergebraud aufbewahren könne, begegnet man zwar
Iheinbar, aber doch nicht triftig mit dem Hinweis auf die un—
zähligen MWellenbewegungen der Töne und der farbigen Lichter,
die ohne gegenfeitige Störung benfelben Luftraum gleichzeitig
durchkreuzen können.
Wenn unſer Blick eine kurze Zeit unverwandt auf die Some
gerichtet war, dann bleibt von ihr uns ein ſcharf umſchriebenes
kreisförmiges Nachbild auch bei geſchloſſenem Auge zurück; denn
während der ganzen kurzen Dauer jenes Blickes wurden dieſelben
nebeneinanderliegenden Punkte der Netzhaut von den Strahlen
366
getroffen; in demfelben Kreife aneinanderftoßender Nervenfafern
zittert die Nachwirkung fort, und fo erhält uns die gegenfeitige
Lage der gereizten Theile die runde Geftalt und die Größe des
Bildes. Sehen wir dagegen die Geftalt eines Menjchen auf uns
zulommen, fo dehnt mit jedem Schritte ihrer Annäherung ihr
Bild auf unferer Netzhaut fi vergrößernd aus; faum ein ein-
ziger Punkt der ganzen Geftalt bildet fl im nächſten Augenblid
auf derfelben Stelle des Auges ab, auf welcher e8 im vorigen
geſchah; nicht ein einziges Nachbild, ſondern unzählige von einander
verfchiebene würden und zurädbleiben, wenn in der That unfere
Nervenorgane jeden Eindrud eines Augenblides in dauernden
Spuren firirten. Und nichts würden wir gewinnen, wenn wir
meinten, daß erft eine größere Anzahl diefer momentanen Er—
regungen fih zu einem beftändigen bleibenden Nachbilde zufam-
menfegten; denn welches deutliche Bild Könnte aus einer Anhäu⸗
fung vieler entftehen, Die unter einander zwar in ihren Zügen
ähnlich, in ihrer Größe aber fo verſchieden wären, daß jedes mit
feinen Rändern über Das andere hervorragte und alle mithin ein-
ander mit ungleichartigen Punkten ihrer Zeichnung deckten? Bes
obachten wir, wie ganz unter benjelben Berbältnifien Die verfchie=
denen fih in einander ſchiebenden Farbenfpectra des Prisma zu
eintönigem Grau verfchmelzen, fo werden wir gewiß nicht annch-
men Finnen, daß die Wahrnehmungen des Auges auf diefem
Wege bleibende Eindrüde erzeugen, die den Nachbildern ähnlich
Form und Farbe gejehener Geftalten aufbemahren. Und doch
haben wir bisher dieſe Geftalten noch als unveränderlidh in ihren
Umriffen vorausgeſetzt. Aber wir ſehen denfelben Menſchen viel-
leicht in taufend verſchiedenen Stellungen und Bewegungen feiner
Glieder; welches von al den unzähligen Bildern, die er fo in
unjer Auge warf, tft dasjenige, welches das Gehirn fefthalten
wird? Oder follen wir annehmen, daß fe alle aufbewahrt wer:
den? Und wenn wir uns vielleicht auch dazu entfchlöffen, um
welchen Preis witrben wir zulett dieſe körperliche Verfeftigung ber
Eindräde erfauft haben? Doc wohl nur um den Preis ber Ans
367
nahme, daß bei ber Kleinheit des Gehirns, welche nicht geftattet,
für jedes dieſer zahllofen Bilder ein eigenes Maſſentheilchen vor-
anszuſetzen, dem es inwohne, jedes einzelne einfache Atom eine
unendlide Menge verſchiedener Eindräde ohne gegenfeitige Stö-
rung derfelben müſſe in ſich beherbergen fünnen. Daſſelbe Atom
welches in dem Bilde eines Baumes einen grünen Punkt vertritt,
würde in bem einer Blume einen vothen, in dem bes Himmels
einen blauen, in dem jever einzelnen Menfchengeftalt wieder
einen anders gefärbten vertreten; und ohne zu wiſſen, wie es
zugehen ſollte, müßten wir ferner vorausfegen, daß bie Wieberer:
wedung eines einzelnen von diefen Einbrüden in dem einen bie-
fer Atome ftet8 in dem amdern Atom auch nur den beftunmten
andern Eindrud weckte, der mit dem vorigen felber zu der Ein-
beit eine8 zufammengehörigen Bildes ftimmt.
Eine ſolche Vorſtellungsweiſe würde nur vervielfältigt Dies
ſelbe Annahme enthalten, melde wir ein Mal machen. Wenn
jedes einzelne Atom der Gehirnmaſſe zur umverworrenen Aufbe-
wahrung unzähliger Einvrüde fähig ift, warum follte Die Secle
allein, ein einfaches Wefen gleich jenem, Dazu unfähig fein? Wa-
rum follte fie allein das Vermögen des Gedächtniſſes und ber
Erinnerung nit an ſich felbft, nicht ohne die Unterftügung eines
korperlichen Organs befigen können, da wir body jedem Theile
dieſes vorausgeſetzten Organs daffelbe Vermögen unmittelbar und
ohne die Zwiſchenſchiebung eines neuen Werkzeuges zuerfennen
müffen? In der That aber müffen wir vielmehr behaupten, daß
nur der ungetheilten Einheit der Seele, nicht einer Mehrheit zu-
ſammenwirkender Gehirntheilchen die Aufbewahrung und Wie-
derbringung der Eindrücke möglich if. Denn felbft die Bilder
ſtunlicher Wahrnehmungen, welche unferem Gedächtniß zurlidhlei-
ben, find wicht im eigentlihen Sinne Bilder, nicht Zeichnungen
von unveränberliher Größe, Zahl und Stellung ihrer einzelnen
Theile; nur das allgemeine Schema vielmehr, die Methode ber
Berzeihnung, den Sinn des inneren Zuſammenhanges mannig-
faltiger Merkmale Hält unſere Seele feft und erzeugt daraus in
368
den einzelnen Augenbliden der Erinnerung die beftunmten Bilder
wieder, und nicht immer das Bild einer ſolcher Stellung, Lage
oder Bewegung der Geftalt, welche fie früher ſchon wahrnahm,
und von der ein verfeftigter Eindruck ihr zurlidgeblieben fein
inte, fondern der Erfahrung vorgreifend bringt fie mit gleicher
Deutlichkeit befannte Figuren in nie beobachteten Berjchiebungen .
ihrer Umrifje zur Anſchauung. Aber dieſe Aufbewahrung nicht
ſowohl der mannigfachen Beftandtbeile felbft, als vielmehr der
Kegel, nach der fie zufammengefegt find, ift eine Handlung des
bezichenden Wiſſens, eine Leiftung der Scele; jede Annahme
eines Gedächtniforgand würde nur dahin führen, außer demje-
nigen Gedächtniß, welches wir unferer Seele felbft dann noch
würden zufchreiben müſſen, aud die einzelnen Gebirnatome als
Seelen zu betrachten, deren Erinnerungskraft die unfere unterftüßte.
Und in diefer ganzen Betrachtung baben wir noch völlig abge:
ſehen von jenen mittelbar erzeugten allgemeineren Borftellungen un-
jere8 Denkens, die nicht Bilder eines Gegenftandes, fondern Aus-
drüde innerer Beziehungen find; der Verſuch, aud ihre Feſthal⸗
tung auf körperliche Nachbilder zurüdzuführen, würde nur die
Nothwendigkeit beftätigen, das Gedächtniß zu den urfprünglichften
Leiftungen der eigenen Natur der Seele zu zählen.
Aber bemeifen nicht zahlreiche und ganz alltägliche Erfah—
rungen, daß diefe Heberlegung, welche ans dem Begriffe des Bor-
ftellens und Erinnernd die Unmöglichkeit feiner leiblichen Begrün-
dung zu erweiſen fuchte, dennoch zu einem falſchen Ergebniß ge=
fommen iſt? Sind nicht für diefe Begründung Beweiſes genug
der gewöhnliche Schlaf, die Bewußtloſigkeit und die zahlreichen
Störungen der Erinnerung in Krankheiten? Zeigen diefe Erſchei—
nungen nicht alle, daß jene Leiftungen des geiftigen Lebens nur
fo lange ausführbar find, als die körperliche Gefundheit ihre
Werkzeuge unverfehrt erhält? So überrevend jedoch dieſe Folge
rung fih ausnimmt, fo ift fie dennoch willkührlich und hat eine
andere Deutung der Thatſachen gegen fi.
Wenn in einem vielfach zufammengefegten Syſteme von
369
Elementen die Störung des einen Theiles eine beftimmte Ver—
rihtung aufhebt, jo kann e8 fein, daß dieſe Verrichtung auf die-
jem Theile als auf ihrem einzigen bewirfenden Grunde berubte,
und nun wegfällt, weil da8 hinwegfiel, wovon fie erzeugt wurde;
doch ift ebenjo Möglich, daß fie in ihrer Erzeugung gar nicht abe
. Hängig war von dem geftörten Theil, durch die Störung deffelben aber .
wie Durch ein pofitive8 Hemmniß verhindert wird. Die legte Deu:
tung hier vorzuziehen, werben wir allerding® zunächft durch unfere
Anfiht von der Natur des Bewußtſeins überhaupt geneigt ge-
macht; denn völlig unbegreiflich ſchiene e8 doch, wie ein körperliches
Drgan ed anfangen follte, der Seele die Fähigkeit des Bewußt⸗
ſeins mitzutheilen, wenn fie Diefelbe nicht in ihrer eigenen Natur
befäße. Aber aud die Thatfachen der Beobachtung ſprechen zum
Theil deutlich für unfere Auffoffung, und nirgends entſchieden
gegen fie. Den gemöhnlihen Schlaf von einer Erfhöpfung der
Gentralorgane abzuleiten, die zur weiteren Erzeugung ded Be:
wußtſeins unfähig geworden wären, tft im höchſten Grade un—
wahrfcheinlich für Jeden, der ſich erinnert, wie raſch in gefunden
Körpern, und wo die Gewöhnung daran vorhanden ift, der Schlum-
mer unmittelbar auf den lebhafteften Gebrauch aller geiftigen Fä—
higkeiten folgen Tann, und wie wenig, wenn er zufällig unter-
brochen wird, dieſe oder die ihnen zu Grunde gelegte Kraft der
Centralorgane fich wirklich erichöpft zeigt. Viel überredender ftel-
Ien fi die allmählich wachſenden Gefühle der Ermüdung als
Reize dar, die durch ihre abfpannende Unluft die Freude und
Theilnahme an der Fortführung des Gedanfenganges ſchmälern;
und eben fo gibt der fchlaftrunten Erwachende kaum jo fehr das
Bild eines Erſchöpften, deſſen Kräfte ſich wieder fammeln, ald den
eines Gebundenen, von dem Hemmungen allmählich fih löſen. Brin⸗
gen fehr heftige Koörperſchmerzen plögliche Bewußtloſigkeit hervor,
jo mag man in biefem Falle wohl an eine fehnelle Lähmung
eines Organs glauben, auf welcher der Wegfall feiner Leiftung,
des Bemußtjeins, beruhe; entfteht dieſelbe Ohnmacht aus einer
NUeberraſchung des Gemüthes durch traurige Sreigniffe ‚jo weiß
Lotze I. 3. Aufl.
370
ih nit, warum nicht unmittelbar dieſer innere Aufruhr der
Seele als ein Hinderniß gelten fol, welches ihr die Fortfegung
des Bewußtſeins augenblidlih unmöglich macht und zugleich bie
gewohnte Folgſamkeit der körperlichen Thätigfeiten gegen ihre Herr-
Ichaft mit aufhebt. Können wir nun bier den geiftigen Schmerz
als den hemmenden Reiz anfehen, welcher die ſtets vorhandene
Tähigfeit des Bewußtſeins an ihrer Aeußerung hindert, warum
fol nicht in dem vorigen Falle der Körperliche Schmerz diefelbe
Wirkung baben? Auch er ift ja nicht blos die leibliche Störung,
von welcher er ausgeht, fondern als Gefühl ift er ein Zuſtand
des Bewußtſeins, und zwar ein folder Zuftand, von deſſen ges
ringeren Graben wir wirflih noch in ung felbft beobachten kön⸗
nen, wie fehr fie die Fortſetzung jedes Gedankenganges Durch ihren
überwältigenden Eindrud und durch die Abſpannung des Interef-
jes für alles Andere beeinträchtigen. Wir müſſen endlich hinzu⸗
fügen, daß keinesweges alle Einflüffe, welche der Körper auf bie
Seele vielleicht mit großer Gewalt ausübt, ſtets von der Art fein
muſſen, daß fie in unferem Bewußtſein deutliche Wahrnehmungen umd
Gefühle veranlaflen; vielmehr wie die förperlichen Reize in der Em⸗
pfindung eine Aeußerung des Bewußtſeins hervorrufen, ebenfomwohl
kann ihre Wirkung die ehtgegengefeßte fein, und pas Bewußtſein kann
plöglich ſchwinden unter einem Eindrude, der entweder ganz verborgen
bleibt, oder von der fliehenden Befinmung nur noch unter der Form
wenig lebhafter fremdartiger unfagbarer Gefühle empfunden wird.
Wir können nicht finden, daß die mannigfachen Arten ber
Bemwußtlofigfeit noch eine andere Erklärung bebürften, als vieler
nicht das Bewußtſein braucht erzeugt zu werben durch ein Organ,
mit deffen Beſchädigung es verginge; aber es Tann als eine ein-
geborene Fähigkeit der Seele von unzähligen Seiten ber durch
Eindrüde gehemmt werden, welche den inneren Zuftand der Seele
ungünftig verändern. Weit dunkler find jene halben Störungen
bes Gebächtniffes, welche der Wiedererinnerung einzelne Theile des
Erlebten unzugänglih machen, und von denen mir mande fiht-
lich verfälfchte Erzählungen aus früherer Zeit befigen, mande
‚971
unbezweifelbare Beifpiele der gemöhnlichften Erfahrung entnehmen
können. Wir halten das Bekenntniß nicht zurück, daß hier Bie-
les unenträthjelt bleibt und in den einzelnen Fällen immer blei-
ben wird; aber wir nehmen von diefen Thatfachen nicht den Ein-
druck mit, daß fie für eine fpecielle Körperliche Begründung un⸗
ferer Erinnerung fprächen.
Betrachten wir auch nur den Gedankenlauf unferes gefun-
den Zuftandes, fo müffen wir geftehen, daß uns fehr häufig die
Zriebfedern, welche die eine Vorftellung in unfer Bewußtſein zu-
rüdführten, und bie Gründe, aus denen eine andere fo lange in
ihm fehlte, ganz dunkel bleiben; wir ahnen, daß der Wechſel un-
ferer Gedanken nicht blos durch die Verfnüpfung der Vorftellun-
gen unter einander gelenkt wird, melde wir beobachtend noch ziem⸗
lich verfolgen Können, fondern daß er in hohem Grabe von jenen
andern weit undeutlicheren Aflociationen bedingt wird, melde fich
in jedem Augenblice zwiſchen dem vorhandenen Vorſtellungskreiſe
und dem gleichzeitigen Gemeingefühl unferer körperlichen und gei-
fligen Stimmung bilden. Krankheit und Fortſchritt im Lebensalter
ändern allmählich oder plötzlich dieſes Lebensgefühl; in manchen Ge⸗
dankenkreis der Jugend findet fich Daher das Alter nicht mehr zurück;
denn wenn es auch den Thatbeftand der Vorftellungen in einigem
Umfang wieder erzeugt, fo fehlt Doch jegt dem Inhalte derfelben die
unwieberholbare Stimmung, die weiter führen follte; in Die Träume
der Krankheit weiß ebenfo der Genefene fich nicht zurlidzunerfegen,
denn mit dem fiechen Gemeingefühl, welches er überwunden hat,
fehlt ihm der Schlüffel zu dem Wege, der zu ihnen führte, fo
fegt endlich ein erneuerter Krankheitsanfall die irren Träume des
vorigen fort, indem er ihren Anfangspunft, die Störung des Ge—
meingefühles, wieder erzeugt; fo fühlen wir uns überhaupt
zuweilen im Leben, und befonder8 wenn große Erfhlitterungen
bes Gemüthes unfer ganzes Wefen aufgeregt, plöglid von lang—
entwöhnten Träumen, von Erinnerungen und Stimmungen iber-
fallen, denen wir in der Geſchichte unferes Lebens kaum noch eine‘
beſtimmte Stelle zu geben wiſſen.
24*
372
Jene auffälligen Störungen des Gedächtnifles, wie fle ſchwere
Krankheiten oder Berlegungen erzeugen, fcheinen mir Feine wejent-
lich anderen Räthſel darzubieten, als dieſe Zufälle des verhält
nigmäßig gefunden Lebens; überall würde es darauf ankommen
zu zeigen, von welcher Seite her ein hemmender Drud auf bie
Berbindung ausgeübt wird, durch welche Die eben einwirkenden
Einprüde im gefunden Zuftande die mit ihnen afloctirten Erin
nerungen wieder emporheben würden. Wir können kaum hoffen,
daß in irgend einem einzelnen Falle und dieſer Nachweis voll-
fommen gelingen werde; am wenigften aber möchten wir die an
den vorhandenen zahlreichen Geſchichten verſuchen, in Denen wir
zu oft und zu kenntlich den vielfachen Irrthümern und Xüden
begegnen, welche das Borurtbeil des Beobachter oder feine Un-
aufmerkfamfeit auf ihm ummwichtig erfcheinende Züge verurfacen.
In vielen folder Erzählungen fehen wir die Störung der Er:
innerung aus der Verkehrtheit des fprachlihen Ausdruckes gefol-
gert. Aber mit diefer Erfcheinung betreten wir ein won bem
vorigen ganz verfchiedenes Gebiet, in welchem die Seele nit
mehr bei ſich allein bleibt, fondern Körperliche Mittel der Aeuße—
rung zu verwenden ſucht. Diefe Herrichaft über Stimm und
Sprachwerkzeuge ift gewiß nur buch ein Centralorgan möglid,
in weldhem die bewegenden Nerven in folder Weiſe angeoronet
und verflodhten find, daß der im Bemwußtfein fchmebenden
Lautvorſtellung die gleichzeitige Erregung der zu ihrem Ausfpre-
hen mitwirkenden Faſern geftattet if. Sind die VBermuthungen
zuläjfig, welche wir früher über die Entftehungsweife der Bewe-
gungen ausdrückten, jo würden wir Teicht begreifen, daß manche
krankhafte Verſtimmung biefes Centralorganed die richtige Weber:
tragung jener Erregung verhindern kann. Dann würde der Kranfe
mit dem ungetrübten Bemußtfein des Lautes, den er bilden will,
doch zum Ausfprechen eines andern genöthigt, ober zu jevem Aus:
druck überhaupt unfähig fein. Diefelbe Beranlaffung, ein zufam-
menordnendes Centralorgan voranszufegen, welche wir hier bei
der Sprache finden, haben wir jedoch in Bezug auf alle Bewe⸗
373
gungen überhaupt, und es ift Zeit, unfere Vorftellungen über
ihre Erzeugung bier zum Abſchluß zu bringen.
Daß die Seele weder von den Mitteln der Berwegung, von
Musfeln und Nerven, noch von der Art ihrer möglichen Benugung,
von der Natur des Anftoßes, welcher den Iegteren mitzutheilen
ift, oder der Zufammmenziehungsfähigfeit der erfteren eine unmit-
telbare Kenntniß befigt, haben wir früher gefehen. Sie kann
nichts thun als gewiſſe innere Zuftände in ſich erzeugen, und er-
warten, daß an diefe der Zufammenhang der Organtfation die
Entftehung einer beftimmten Bewegung knupfen werde. Nicht fie
ſelbſt ift die Werkführerin, fondern auf ihr unbelannte Weife voll-
zieht der Mechanismus des Lebens ihr Gebot. Aber dieſe Ge-
bote wenigſtens müßte fie zu geben im Stande fein, fie müßte in
fih nit nur einen Grund finden, eine beftimmte Bewegung zu
wollen, fondern auch jenen inneren Zuftand in ſich erzeugen kön—
nen, von welchem die Entftehung berjelben abhängt. Wäre nun
die Seele in einen Körper eingefchloffen, der nie von felbft ſich
bewegte, wie würde fie auf den Gedanken kommen, daß er beiveg-
lich ſei, daß Bewegungen nügen, daß dieſe Bewegung von diefem,
jene von jenem inneren Zuftande ihres eigenen Weſens erzeugt
werden könne? Offenbar ift e8 nicht allein nothwendig, daß der
Körper durch eigene Reize ſich von felbft bewege, Damit die Seele
feine Veränderlichkeit bemerfe und es Tennen lerne, welchen Ein-
drud überhaupt Bewegungen ihr verjchaffen, fondern gleich nöthig
auch, daß der äußere Reiz mit mechanischer Sicherheit von felbft
in dem Körper Diejenigen Bewegungen anrege, die unter ben vor=
handenen Umftänden zur Vertheidigung des Lebens, zur Aus-
gleihung einer Störung, zur Befriedigung eines Bedürfniſſes
zwedmäßig find. Unkundig an ſich aller diefer Verhältniſſe, würde
die Seele das Richtige nicht errathen, und felbft die Erfahrung
würde ihr ein zwedmäßiges Verhalten, wenn nicht ein Keim iwe=
374
nigftens dazu ihr fertig gejchenkt wäre, entweder niemals oder erft
dann lehren, wenn eine lange Reihe von Mißgefchie vielleicht das
Beftehen der Organifation überhaupt untergraben hätte. Denn
gewiß würde e8 um die Erhaltung berjelben übel ftehen, wenn
der Scharffinn der Seele in jedem Augenblide die Mittel ent-
deden und anwenden follte, drohenden Störungen zu entgehen;
fie wird nur gefichert fein, wenn in gewiffer Ausdehnung wenig:
ftend auch ohne die Mitwirkung der Seele die zweckmäßige Hand-
Yung von dem Eindrude der Umftände felbft als nothmendige
Folge ausgelöft wird.
Unfähig zur erften Erfindung wird die Seele dagegen wohl
fähig fein zur Vervollkommnung dieſes Mechanismus; indem fie
beobachtet, auf welchen Reiz welche Bewegung mit melchem gin-
fligen Erfolge und mit meldhem unmittelbaren Eindrud fir fie
felbft folgt, wird fie in einem fpäteren Falle nicht mehr ben
wirflihen Eingriff des Reizes abzuwarten brauchen. Sein ber
Erinnerung wieberfehrendes oder aus der Ferne wahrgenommenes
Bild, ſelbſt das Bild nicht deſſelben, fondern eines Ähnlichen Rei⸗
38 wird in der Seele die Vorftellung jenes Eindrudes und da
mit auch einen unmillführlichen Trieb zur Wiebererzeugung jener
Bewegung erweden. Wenn daher zunächſt die Seele nur ald
ohnmächtiger Beobachter den zweckmäßigen Wirkungen zufah, durch
melde der organiſche Mechanismus die Sicherheit ihres Wohn⸗
fige8 vertheidigte, fo dankt fie ihm doch fpäter dafür, indem fle
ihre mannigfadhen Fähigkeiten, Vergangenes in der Erinnerung
aufzubewahren, Zutünftiges aus früheren Analogien zu erwarten,
das gemeinfame Aehnliche aus oberflächlicher Verſchiedenheit her:
vorzubeben, unwillkührliche Wirkungen durch Nüdfiht auf ben
erzielten Erfolg zu verbeffern, num der Verfeinerung und Vervoll⸗
fommnung jener gewiß ſchon Eünftlichen, aber den Bebitrfniffen de
vollen Lebens noch nicht entfprechenden Verkettung zwiſchen Heizen
und Rücdwirkungen widmet. Die Langfamleit, mit welcher das
menſchliche Kind allmählich zur Herrihaft über feine Glieder
kommt, in Verbindung mit der äußerft feinen individuellen Aus
375
prägung diejer Herrfhaft, die ihm doch im Fortichritt der Bil-
dung möglich ift, zeigt uns, wie bebeutend hier der mithelfenve
und verebelnde Einfluß der Seele eingreift: der äußerſt Kurze
Zeitraum Dagegen, den das neugeborene Thier meift bedarf, um
die Bewegungsarten feiner Gattung völlig zu erlernen, und bie
oft komiſche Sleichförmigkeit, mit welcher die jungen Geſchöpfe
ohne individuelle Unterfchieve die Sonderbarkeiten derfelben ent⸗
wideln, dies lehrt uns, wie hier umgelehrt eine feftere, früh und
fiher wirkende Verbindung zwifchen den Einbrilden des Gemeins
gefühle8 und den Bewegungen bergeftellt ift.
Beobachten wir die.fpielenden zweckloſen Bewegungen junger
Thiere und der Kinder, fo muß uns auffallen, wie felten und
faft nie ohne befonbere Krankheit fi unter ihnen einzelne, zus
fammenbanglofe, unzweckmäßige Zudungen einfinden. Und doch
hätte man ſolche erwarten können bei der unzähligen Menge zu⸗
fälliger Eindrüde, welche die Muskeln und die motorishen Nerven
in jevem Punkte ihres Verlaufes treffen können. Aber fie treten
nicht auf; vielmehr verrathen felbft die zögerndften und ungeſchick⸗
teften Bewegungen, welche wir wirklich beobachten, doch immer
Schon die gleichzeitige und zweckmäßige Wirkſamkeit zufammenge-
böriger Musfelgruppen. Wir können e8 als eine Thatfache der
Beobachtung ausfprehen, daß in dem jungen Organismus fchon
den zufälligen Reizen, worin fie auch beftehen mögen, die verein-
zelte und zufammenhanglofe Anregung einzelner Bewegungsbruch⸗
ftüde ſchwer, die Heroorrufung zufammenftimmender Bewegungs:
gruppen leicht gemacht iſt. Das erfte vielleicht, aber nicht Das
zweite ift denkbar ohne ein Gentralorgan, in welchem die einzel-
nen motorischen Nervenfäden jo zufammengelagert und verflochten
find, daß ein einziger Reiz, welcher einen beftimmten Punft deſ⸗
felben trifft, auf einmal eine Mehrheit von Faſern zu überein⸗
flimmender Bewegung erregt. Theils das Gehirn, theild ſchon
das Ruckenmark bat ohne Zweifel unter andern Aufgaben auch
die eines ſolchen Eentralorganes, und obgleih wir ben beftimm-
teren Bau deſſelben blos aus den Bedürfniſſen des Lebens nicht
376
vorauszufagen unternehmen möchten, können wir doch einen Zug
defielben mit hinreichender Wahrfcheinlichkeit vermuthen, nämlich
die beftändige Mitverflechtung zuleitender fenfibler Faſern in das
Gewebe der motorischen.
Die erfte Aufgabe eines motoriſchen Eentralorganes wurde
darin beſtehen, überhaupt die Bewegungen des Körpers, die der
Eigenthümlichkeit feiner Gattung gemäß in dem Baue der Glieder
möglich gemacht find, zu wirklicher Ausführung zu bringen. Es
würde hierzu Hinveichen, daß innere Reize, wäre es ſelbſt nur der
des Blutlaufs, die Elemente des Centralorganes abmwechjelnd oder
- dauernd zur Thätigfeit erregten, und wir würden dann mit mes
chaniſcher Sicherheit und Negelmäßigfeit jene Elemente aller Bes
wegung, das Schreiten Schwimmen Fliegen und ähnliche, erfol-
gen feben. Allein alle dieſe Bemegungsfähigfeiten find dem Thiere
doch zum Gebrauche in einer wiberftehenden Welt gegeben und
es muß eine Möglichfeit vorhanden fein, aud ihre einzelnften
Abſchnitte ſchon in Mebereinftimmung mit den veränderlichen
äußeren Umftänden abzuändern, unter denen fie ausgeiibt werden
folfen. Iſt e8 nun ausſchließlich das Gefhäft eigenthümlicher fen=
fibler Faſern, von dem veränderlihen Zuſtande der einzelnen
Theile Eindrüde aufzunehmen und zu leiten, jo werden wir auch
in jenem Centralorgane eine mannigfadhe Begegnung fenfibler
Fäden mit motorischen erwarten müſſen. Jedes beginnende Un=
gleihgewicht des Körpers wird dann durch den neuen Einbrud,
den e8 durch die erfteren auf die legteren überträgt, eine paffende
Rückwirkung zur Herftellung des Gleichgewichtes, jedes Hinderniß
den Anfang menigftend zu einer zweckmäßigen Umgehung hervor-
rufen. Denfelben Zufammenhang werben wir ferner da benutzt
finden, wo ein von außen kommender ungewöhnlicher Reiz eine
beftimmte Bewegung theils zur Abwehr, theild zur Benugung
feines Eindrudes verlangt. Auch hier werden wir es für die
Sicherung des Lebens als die nüglichfte Einrichtung vorausfegen
Können, daß, ohne die überlegende Anordnung der Seele abzu=
warten, der Reiz unmittelbar mit mechanischer Nothwendigkeit die
377
zwedmäßige Rüdwirkung auslöft. Zahlreiche Bewegungen Diefer
Art beobachten wir theils an unferem eigenen Körper, wie die
convalfivifhen Exrplofionen des Huften® des Niefensd des Er—
brechens, durch welche ohne unfere Kenntniß des Herganges Die
Entfernung ſchädlicher Reize bewirkt wird, theils bat man fie an
dem Rumpfe geföpfter Thiere, alfo unter Umftänden wahrgenom-
men, unter denen bie natitrlichfte Borausfegung gegen die Mit-
betheiligung der Seele fpricht.
So lange nun diefe Bewegungen im Uebrigen das Gepräge
mechaniſcher Wirkungen nicht verleugnen, jo Tange fie alfo nicht
ohne äußere oder nachweisbare innere phyſiſche Anregungen ent-
ftehen und ohne Rüdficht auf diejenigen äußeren Umftände, welche
fih nicht durch phyſiſche Eindrücke gelten machen können, auf
gleiche Reize immer in gleicher Weiſe erfolgen: jo lange würde
alle zwedimäßige Mannigfaltigkeit ihrer Zufammenfegung in der
That feinen Grund enthalten, auf eine verborgene Mitwirkung
der Seele zu ſchließen. Aber manches Andere kann diefen Schluß
zu empfehlen fcheinen, ohne ihn doch wirklich zu berechtigen. Es
ift nicht unwahrſcheinlich, ſondern hat im Gegentheil die Wahr-
fcheinlichkeit für fih, daß für die Form, welche die erregte Be:
wegung annehmen wird, nicht blos der Ort fondern auch die
Art des heroorrufenden Reizes mitbevingend if. Hierauf ift
wenig bisher geachtet worden; man hat ſich begnügt, die That-
fache zu beobachten, daß zum Beifpiel in einem enthaupteten
Froſche die Reizung einer beftimmten Hauptftelle eine Bewegung
des Beines nach diefer Stelle bin zur Folge habe, und daraus
bat ſich die Vorftellung entwidelt, daß der fenfible Nero eines
beftimmten Hautpunktes feine Erregungen, welcher Art fie fein
mögen, immer in gleicher Weife auf motorifche Nerven Übertrage,
mithin eine ſtets gleiche Bewegung zur Folge habe. Segen
wir Dagegen voraus, mas möglich ift, daß biefe Uebertragung
anders, theils in anderem Maße, theild auf andere motorifche
Faſern geſchehe, wenn die mitzutheilende Erregung eine andere ift,
ſo wire bereit8 hierdurch in Diefe Neflerbewegungen, wie man
378
fie zu nennen pflegt, der Schein einer zweckmäßig wählenden Will-
führ kommen, ohne daß doch in der That eine Mitwirkung der
Seele in ihnen vorhanden wäre. j
In fo weit würde nun die Harmonie der Bewegungen auf
ber Zwedmäßigfeit der beftändigen Bildung des Centralorganes
beruben. Aber die bekannten Erfheinungen der Uebung und Ge-
wöhnung, die Erfahrungen, daß Bewegungen uns zur zweiten
Natur werden können, deren erſte Ausführung uns große Schwie-
rigkeiten darbot, Aberzeugen uns, daß die erfte Bildung der Or-
gane im Laufe des Lebens zu noch größerer Trefflichfeit entwickelt
werben ann. Denn die Wahrnehmung, wie häufig ſich einzelne
Züge erworbener Anmuth und Feinheit der Körperlichen Haltung
und Bewegung forterben, läßt uns daranf fchließen, daß die An-
übung nicht erfolge, ohne in den leiblichen Organen eigenthüm⸗
liche phyſiſche Veränderungen heroorzubringen und zurüdzulaffen.
Mande zw:cdmäßige Rückwirkung, die an und fir fich nicht durch
die beftändigen Grundzüge der Organifation an einen beftimmten
äußeren Reiz gebunden war, kann dieſe anerzogene Dispofttion
des Nervenſyſtems nun doch auf ihn folgen laſſen; dann ent⸗
widelt das Drgan eine Intelligenz des Wirkens, die nicht fein
urfprüngliches Eigenthbum und auch nicht die unmittelbare That
einer noch in ihm lebenden Seele, fondern nur der Gewinn an
phyſiſcher Gewohnheit ift, welchen e8 feinem früheren Verkehr
mit der Seele verbanft. Denn lernen allerdings konnte e8 Diefe
Formen des Rückwirkens nicht aus fich felbft, fondern nur dadurch,
daß an den Reiz, den e8 empfing, die bazwifchentretende Ueber⸗
legung der Seele die Rückwirkung knüpfte; aber mas die Körper:
liche Organifation nicht erfinden Tonnte, das Tann fie Doc feft- _
halten, nachdem eine wieverfehrende Hebung für fie den Zufmn-
menhang zwiichen dem gejchehenen Einvrud und der folgenden
Beränderung dur zurüdgelaffene materielle Spuren zu einer
phyfiſchen Nothwendigkeit ausgeprägt hat. Sehen wir daher ben
Rumpf gelöpfter Thiere auf einen Äußeren Reiz zumeilen durch
eine Form der Bewegung antworten, welche aus dem phyſiſchen
379
Eindrude, den der Reiz in diefem Augenblide dem Nervenſyſtem
wirklich mittheilt, nicht hinlänglich erflärbar fcheint, fo ift es den—
noch nicht nöthig, in dem Rumpfſtück einen mitabgetrennten See⸗
Tentheil anzunehmen, deſſen Meberlegung zu dem wahrgenommenen
Reize die nöthigen Bermittlungsglieder bis zur hinlänglichen Be—
gründung der zwedimäßigen Bewegung ergänzte.
Welches auch immer die Thatſachen der Beobachtung fein
möchten, wir könnten uns zu ihrer Erflärung nicht diefe Ver—
muthung erlauben, deren innere Unmöglichfeit uns deutlich iſt.
Bon einer theilbaren Seele mag man mit einem Scheine ber
Berftändlichleit noch Tprechen, wenn man nur an die noch unent-
widelte Anlage zum geiftigen Leben denkt, die wie ein homogenes
Ganze fih Dur den Körper auszubehnen fchiene; foll aber das
im Leben bereit8 ausgebildete Bewußtſein mit feinen Erinnerun-
gen, Erfahrungen und den durch diefe gewonnenen Fertigfeiten
und Kenntniffen der Gegenftand der Theilung fein, jo milrden
wir faum mit diefer Forderung und auch nur fo weit Flar wer—
den, daß wir uns vorftellen Einnten, was wir eigentlich verlangen.
Und doch wiirde nur eine Theilbarkeit der legtern Art diefe Er:
Theinungen erklären; denn die Fähigkeit, den Umftänden ge—
mäß zu handeln, würde dem fopflofen Rumpfe durch eine nod
aller Erfahrung entbehrende Intelligenz nit um das Geringfte
leichter verfhafft, als durch einen rein phyſiſchen Mechanismus
ver erften Bildung. Nur zwei Anfichten fcheinen jenen Beobady-
tungen gegeniiber möglih. Entweder wir fehen die Zweckmäßig—
feit folder Bewegungen, wie fie der Fopflofe Rumpf Faltblütiger
Thiere häufig ausführt, zwar als Erzeugniffe der Intelligenz an,
aber nicht einer in ihm noch gegenwärtigen, fondern der Intelli-
genz jener einen Seele des Thieres, mit deren Site diefer Rumpf
früher zufommenbing, und deren Ueberlegung in feinen Central-
organen Gewohnheiten zwedmäßigen Wirkens begrlindete, welche
fortdauern, auch nachdem der Zuſammenhang zwiſchen ihm und
der Seele aufgehoben if. Ober wenn wir, mit Unvecht wie mir
ſcheint, dem Eindrude voller Lebendigkeit nachgebend, den jene
380
Bewegungen allerdings erwecken, ſie nicht mehr von einem Echo,
fondern nur von unmittelbarer Gegenwart einer Intelligenz ab-
leiten zu dürfen glauben: fo fteht nichts im Wege, in dem Rüden-
mark eine Mehrheit individueller Weſen von feeliicher Natur an-
zunehmen, deren jedes feine Intelligenz fir ſich haben möchte.
Während des Lebens würde die eine Seele, welche wir die des
Thiered nennen, durch ihre bevorzugte Stellung oder die größere
Kraft ihrer Natur alle diefe Theilfeelen beherrſchen und alle
witrden durch die Verbindung, in der fie unter einander ftehen,
an den Erlebniffen des ganzen Thieres Theil nehmen und von
feinen Erfahrungen Nuten ziehen. Fällt am enthaupteten Thiere
der Einfluß feiner Hauptfeele weg, fo werben die Seelen der Theile
noch immer fi den Reizen gemäß äußern können, die ihre Kör-
pergebiete treffen, und die früheren Erfahrungen, die freilich jede
von ihnen nur im Zufammenhange mit dem Kopf und feinen
Sinnesorganen machen Tonnte, die fie aber einmal gemacht in
der Erinnerung fefthält, werden fie noch jetzt befähigen, ſich in
ihren Handlungen den äußeren Umftänden mit Zwedmäßigfeit zu
Accommodiren. |
Mit der Annahme diefes Sentralorganes für die Regelung
der Bewegungen glauben wir die Reihe der Hilfen erfchöpft zu
haben, melde wir unmittelbar von dem Baue des Körpers für
die Leiftungen der Seele verlangen müflen. Site find alle darauf
gerichtet, einestheil® die Verknüpfung äußerer Eindrücke zu einer
räumlichen Orbnung der Anfchauung, anderfeit8 die Auögeftaltung
innerer Zuftände in einen zweckmäßigen Zufammenbang räum-
Ticher Bewegungen möglih zu maden; alle jene umfafjende
Arbeit Dagegen, durch melde die Intelligenz den Inhalt der finn-
lichen Eindrüde zur Einheit einer vernünftigen Weltauffaffung
gliedert, haben wir der körperloſen Thätigkeit der Seele allein
überlafien müſſen. Biel einfacher ſcheinen daher die Aufgaben,
381
die wir dem Gehirn ftellen, als die mannigfachen Leiftungen,
welche die Phrenologie von ihm erwartet, indem fie für viele der
verwideltften Aeußerungen des Geifted eigenthlimliche Organe
ſucht und zu finden glaubt. Wie unficher auch dieſe Beftrebungen
fein mögen, der unbefangene Eindrud der Beobachtung läßt fie
doch nicht als ganz grundlos erfcheinen, und nicht jeder Einwurf,
welcher ihnen gemacht wird, trifft fie mit Recht. Gewiß ift die
Annahme nicht nothwendig, daß alle an ſich gleichartigen Seelen
ihren inbivibuellen Charakter erft durch die befondere Ausbildung
ihrer Teiblihen Organe erhalten, Nichts hindert vielmehr bie
Meberzeugung, daß durch eine urfprüngliche Eigenthiimlichfeit jebe
einzelne von Anfang an zu einer ihr allein angebörigen Entwid-
Yung der allgemeinen Fähigkeiten beftimmt fei, welche fie als bie
gemeinfamen Grundlagen alle8 geiftigen Lebens mit allen übrigen
theilt. Wenn wir dagegen Anftoß daran nehmen, auch nur einen
andern Theil der Borbeftimmung zu dem eigenthümlihen Cha-
rakter der Perfönlichkeit in dem körperlichen Baue zuzugeftehen,
fo vergefien wir, daß alle folhe Bemühung, das geiftige Leben
von Teibliher Bedingtheit fern zu halten, doch an andern nicht
zu leugnenden Thatſachen ohnehin fheitert. Weder unfer Ge-
ſchlecht, noch unfere Nation, nicht die Zeit unferer Geburt noch
die gejellihaftliche Stellung unferes Lebens, nicht unfere Armuth
oder die Bortheile des Reichthums haben wir uns felber gewählt
oder gegeben; fo lange wir an ſolchen Verhältniffen fo oft die
Hoffnungen geiftiger Entwidlung zu Grunde geben fehen, haben
wir wenig Beranlafiung, die Abhängigfeit des Geifted von feinem
Körper mit befonderer Heftigfeit zu beftreiten. Sp gewiß der Ma-
terialismus für eine höhere und zufriedenftellende Weltanficht feine
Ausficht gibt, fo wenig räumt doch die Behauptung einer felbftän-
digen Seele die dunflen Rätbfel fogleich hinweg, welche der Welt-
auf und die Schiefale des Lebens uns oft fo ernft und drückend
entgegenbalten.
Aber die Annahme bejonderer, an verſchiedene Gegenden des
Gehirns vertheilter Organe für einzelne höhere Geiftesnermögen
382
hat doch wenig Wahrſcheinlichkeit. Theils würden wir und von
ber Art ihres Nugens feine Vorſtellung machen können, theils die
gegenfeitige Wechſelwirkung, die zwifhen allen Thätigkeiten der
Seele beftändig ftattfindet, durch fie nicht begünſtigt finden; endlich
wenn wir auf Erflärung verzichteten, würde felbft die bloße Samm⸗
Yung thatfächlicher Beweife fir den Zuſammenhang einer gewiſſen
Gehirnbildung mit beftimmten geiftigen Verrihtungen befondere
Schwierigkeiten darbieten. Sie wurde in dem Unterfuchenden jene
volftändige und durchdringende Menſchenkenntniß vorausfegen, für
welche nicht nur jede verborgene Neigung eines individuellen Cha—
rakters völlig durchſichtig wäre, jondern ebenfo Har auch das noch
weit verborgenere Gewebe der Gründe, aus welchem fie als ein
nun fertige8 Ergebniß hervorging. Denn ohne Zweifel wird auf
bie Geftalt, welche der abgeſchloſſene Charakter eines Menfchen
dem Beobachter darbietet, nicht Die angeborne Anlage allein, fon-
dern auch die Reihenfolge und Eigenthümlichkeit der äußeren Um—
gebungen, in denen er ſich bildete, einen mitbeſtimmenden Einfluß
ausgeibt haben. Kaum der Erwähnung aber bebarf es, wie
ſchwer die Aüdvertheilung der gefundenen Züge anf diefe ver-
ſchiedenartigen Urfachen fein muß, und wie nahe die Gefahr Liegt,
Erzeugniffe der Erziehung, des Lebensganges und der Kranl-
heit al8 unmittelbare Folgen einer Törperlichen Organbildung zu
denten. Höchſtens bei jenen Talenten, deren VBorbandenfein leicht
nachweisbar ift, die Durch Vererbung häufig fich fortpflanzen und
durch Hebung kaum in merflichem Grade erfegt werben können,
wo fie fehlen, dürfte e8 einer vorurtheilsloſen Beobachtung Leichter
gelingen, ihre Beziehung irgend welcher Art zu beftimmten Ausbil
dungsformen des Gehirns und feiner knöchernen Hülle feftzuftellen,
So laffen fih für Ortfinn und Farbenfinn, fir mufilalifche An—
Inge, vieleicht für mathematiſche Befähigung überhaupt und fir die
erfinderifche Gefchieflichkeit der Hand Körperliche Grundlagen finden,
während für die feineren Eigenthümlichkeiten der geiftigen Indi⸗
vidualität wir Diefe Erwartung nur wenig hegen.
Und dennody mögen auch fie in hohem Maße non dem Eins
383
fluß des körperlichen Lebens abhängen, obwohl in einer anderen
Weiſe, als daß jeder einzelnen derfelben ein befonderes Organ
zugeorbnet wäre. Die ungeheuren Verſchiedenheiten in der Höhe
und Eigenthümlichkeit der geiftigen Ausbildung, wie fie das menfch-
lie Geſchlecht mehr als irgend eine Gattung der Thiere dar:
dietet, ſcheinen am meiften aus den Unterfchieden eines allgemei-
neren pfychiſchen Naturells hervorzugehen, das in naher Bezich-
ung zu dem fteht, was wir mit dem Namen des Temperamentes
zu bezeichnen pflegen. eiftige Fähigkeiten baben in allen Inbi-
viduen einen unſcheinbaren Keim, und wie vafch auch in einzelnen
ihre Kraft heroortritt, fo entmwideln fie ſich Doch überall Durch die
Aufbewahrung und Summirung ihrer einzelnen Leiftungen, deren
jede zum Mittel für Die Ausführung einer fpäteren größeren wird.
Nicht nur von der Schärfe des urfprünglichen Eindrudes der
Wahrnehmungen, fondern bauptfächlic von der Lebhaftigkeit des
Sefühlsantheils, welcher fih an fie Inüpft, von der Regſamkeit
bes organischen Lebens und der Beweglichkeit des mit feinen Ver:
änderungen wechfelnden Gemeingefühles, von der Mannigfaltigfeit
der Stimmungen und dem Reichthum der inneren Erregungen,
von denen einzelne Borftellungsreihen angeregt, andere abgebrochen,
dev Uebergang von der einen zur anderen mit größerer oder ge-
ringerer Gejchwindigfeit bewirkt wird: von allen diefen Einflüffen
hängt ohne Zweifel nicht nur die Schnelligfeit oder das Zögern
der geiftigen Entwicklung überhaupt, ſondern auch manche bleibende
Eigenthumlichkeit der Richtung ab, welche ihr Verlauf annimmt.
Zum großen Theil werben: diefe Einwirkungen des Körpers nicht
durch befondere Organe, fondern durch feinen ganzen Bau über-
haupt vermittelt ; Die verſchiedene Kräftigfeit der Conftitution wird
dem Dichten und Trachten des Gemüthes aud im Ganzen einen
eigenthümlich gefärbten Hintergrund geben, und der demifchen
Miſchung des Blutes, von deſſen Reizkraft die Thätigkeit der
Nerven erregt wird, würden wir, hierin aud durch Erfahrungen
in Krankheiten unterftägt, einen beträchtlihen Einfluß auf Höhe
und Richtung der geiftigen Regſamkeit einräumen müſſen.
384
Doch mag zu einem andern Theile die Bildung der Gentral-
organe auch hierauf Bezug haben. Hauptſächlich die Hemilphären
des großen Gehirns ſehen wir in der anffteigenden Thierreibe
mit der größeren geiftigen Entwidlung der Gattungen an Maſſe
gewinnen, und zahlreiche Erfahrungen Yaffen kaum zweifelhaft,
daß in dem Menfchen, in weldem ihre Ausbildung die umfang:
reichfte ift, Die Größe des geiftigen Lebens von ihrem mehr oder
minder volllommenen Baue abhängt. Aber diefe Gebirntheile
haben nicht das Ausfehen einer Reihe von einzelnen in fi ab-
gejchloffenen Organen; aus einer großen Menge von Yafern mit
zwiichengefchalteten Ganglienzellen zufammengefegt, befigen fie eine
weit gleichförmigere und monotonere Structur, als die zu ſehr
eigenthümlichen Formen ansgeprägten inneren und unteren Theile
des Gehirns, über und um welche fie fih als eine dicke burd
vielfache Furchungen gezeichnete Hüllenſchicht wölben. Es iſt feine
erweislihe Thatſache, aber es gilt uns für eine glaubhafte Ver⸗
muthung, daß diefe beftimmter geftalteten Gegenden des Gehtrnd
Die Organe des geiftigen Lebens einfchließen, deren nothmendige
Annahme wir früher begründeten, und denen eine unveränderlide
befondere Form des Wirkens eigenthümlich ift; daß dagegen bie
äußere Maſſe der Hemifphären einen Apparat von allgemeinerem
Nuten bilde, dazu beftimmt, theils die Wiedererzeugung der
nervöſen Kraft zu vermitteln, welche in jenen Organen tbi-
tig ift, theils Die Reizbarkeit derfelben zu regeln, theils endlich,
‚wie wir bei der Betrachtung der Gefühle anbenteten, eine Art
der Nefonanz zu gewähren, durch welche dem mahrgenommenen
Inhalt eine gewiſſe Größe des Gefühlsantheiles, dem ſich bil⸗
denden Willensanftoß eine beftimmte Stärke bewegender Kraft
mitgetheilt wurde. Nur in dieſem Sinne einer mittelberen und
body fehr mächtigen Einwirkung auf das geiftige Xeben möchten
‘wir diefen Theilen be8 Gehirns den Namen eines Organes ver
"Intelligenz des Gemüthes oder des Willens zugeftehen.
Sp haben wir die verſchiedenen Formen gefhilvert, in denen
ber Körper ſich als beförderndes und helfenbes Mittel der geiſti—
385
gen Ausbildung bewährt. Nur dieſe eine Seite der Sache pflegt
die naturwiſſenſchaftliche Unterfuhung hervorzuheben; religiäfe
Meberlegungen allein führen gemöhnlich auf Die andere: fle erzeu-
gen in uns die Neigung, den Körper auch in gewiſſem Umfange
als eine Schranfe zu betrachten, welche die freie Entfaltung der
Seele hindere. Nichts fteht der Möglichkeit dieſer neuen Anſicht
entgegen; jo wie wir ungewöhnliche Schwankungen des leiblichen
Lebens in Krankheiten die Thätigfeit des Geiftes hemmen fehen,
fo kann aud die beftändige gefunde Verbindung zwiſchen beiven
eine zurüdhaltende Wirkung auf die Entwidlung des Innern aus:
üben. Die Erfahrung zeigt und jedoch nur ärmliche Thatjachen,
die hierauf Hindeuteten, und nirgend ſehen wir in Törperlichen
Krankheiten, durch welche jenes Band zwifchen den beiden Natu⸗
ren in und etwa gelodert würde, einen unerwarteten und neuen
Aufſchwung des Seelenleben® eintreten. Die Berufung auf bie
Wunder des Somnambulismus und des Hellfehbens wird dieſe
Behauptung nicht entkräften. Nachdem nun fo oft ſchon diefe Er⸗
ſcheinungen die Aufmerkſamkeit erwedt und getäufcht haben, nach⸗
dem jo viel hellgefehen worden ift ohne den mindeften bleibenden
Gewinn fir den Fortfchritt der Menſchheit: nad diefen Erfah-
rungen follte man vermuthen, daß auch die Theilnahme für dieſe
Dinge nun hellſehend geworden fei und in ihnen das erkannt
babe, was fie find: eigenthümliche Steigerungen krankhafter Vor-
gänge, denen verwandte won geringerer Heftigfeit die alltägliche
Erfahrung darbietet. Schon der gewöhnliche Rauſch zeigt uns
jene einfeitige Belebung des Bewußtſeins, dem die klare und zu-
fammenfafjende Meberficht feines Inhaltes und der äußeren Um—
gebungen abhanden kommt, während allerhand Triebe zu pathe-
tifhem rhythmiſchem Gebahren, die Luft und mit ihr die Fertig—
feit zu mancherlei Wagniſſen hervortreten, was Alles in dem Nüd-
ternen theils Die geringere Lebhaftigfeit feiner Nervenwirkungen
und die niedrigere Stimmung feines Gemeingefühles theild Die
ſchüchterne Ruckficht auf Schicklichkeit und Herkommen zurückhielt.
Und ebenſo mag im Schlafe eine beſonders aufregende Vorſtellungs⸗
Lotze I. 3. Aufl.
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reihe, die fih wach erhält, während die unzähligen zerſtreuenden
Eindrücke der Außenwelt binmwegfallen, zumeilen leichter ihren
Schluß finden und der Schlafwandelnde in feinem halbaufermwed-
ten Bemußtfein die Löfung einer Aufgabe vollbringen, die dem
Wachenden mißlang. Aber wir vergeflen dabei nicht, Daß es
Doch eigentlich die Kräfte die Kenntniffe kurz der ganze Erwerb
des wachen Lebens war, was aud den Schlafenden zu Diefer Lei-
ftung befäbigte. Mit dem finfenden Bewußtſein der Gefahr wächſt
die Kühnheit des Wagenden, mit dem Wegfall der Rüdfiht auf
die Umgebung die Dreiftigkeit des Verfuchenden, mit der Abhal-
tung aller Störung die innere Sammlung und der Zuſammen⸗
Hang ver Kräfte, ohne daß im Grunde Neues und Ungeahntes
an bie Stelle des fonft Gewöhnlichen tritt. So ift dies menſch⸗
Yiche Leben, welches wir beobachten, ausnahmslos an die Wechjel-
wirkung mit dem Körper gefnüpft, Die größere Schönheit der Ent-
widlung aber, zu melder die Seele, befreit von diefem Bande,
fih erheben mag, werben wir nicht voreilig vor feiner Zerrei⸗
ßung errathen,
Viertes Kapitel,
- - Das Leben der Materie,
Die beftändige Käufchung. der Sinnlichkeit. — Unmöglichkeit deß Abbildes ber Dinge in
unferer Wahrnehmung. — Eigner und höherer Werth ber Stunlichkeit. — Die innere
Regfamkelt ber Dinge. — Die Materie Erſcheinung eineß Weberfinnlichen. — Ueber
die Möglichleit ausgebehnter Wefen. — Die allgemeine Befeelung ber Welt. — Der
, Segenfag zwiſchen Körper und Seele nicht zurßdigenommen. — Berechtigung ber
Vielheit gegen bie Einheit.
Wie viele Einwürfe mögen im Stillen jeden Schritt unferer
bisherigen Darftelung begleitet haben! nicht ſolche allein, Die von
den einzelnen Schwierigkeiten der mannigfadhen von uns durch⸗
eilten Fragen Beranlaffung zu Gegenreven nahmen, denen nicht
wir, ſondern nur die ausgedehnteren Unterfuhungen der Wiſſen⸗
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haft Antwort geben könnten; vielmehr eine zufammenhängende
Empörung des Gemüthes müfjen wir erwarten über die Kälte
einer Anficht, welche alle Schönheit und Xebendigfeit der Geftal-
ten in einen ſtarren phuftfch-pfuchifchen Mechanismus verwandele.
Gegen die fchöpferifche, aus fich ſelbſt quellende Entwidlung des
körperlichen Lebens, gegen die Durchgeiftigung des Leibes, gegen
die Wahrheit der Empfindung und die Willfiihrlichleit der Bewe—
gung baben wir manche Angriffe richten müfjen, und in ber
That haben wir damit faft alle jene Züge in Frage geftellt, in denen
das unbefangene Gefühl den Kern aller Poeſie des lebendigen Da-
ſeins zu befigen glaubt. Befremblic Tann uns daher die Stand-
haftigkeit nicht fein, mit welder die Weltanficht des Gemiüthes
als eine höhere Auffafjung der Dinge auch den Überzeugendften
Darftellungen von unſerer Seite widerftehen wird; um fo nötht-
ger ift deshalb der Verſuch, die Harmlofigkeit unferer Anficht zu
zeigen, Die, wo fie und zwingt, Meinungen aufzuopfern, mit denen
wir einen Theil unferes Selbft aufzugeben glauben, doch durch
das, was fie uns dafür zurliefgibt, die verlorene Befriedigung
wieder möglich macht.
Die Empfindung gilt dem unbefangenen Bemußtfein überall
als die Wahrnehmung einer vollen außer ihm vorhandenen Wirf-
lichkeit. Bon ihrem eigenen Glanze beleuchtet Liegt die Welt um
uns, und Töne und Düfte durchkreuzen außer uns den unermeh-
Vihen Raum, der in den eigenen Farben der Dinge fpielt. Ge—
gen diefe ftetS vorhandene Fülle ſchließen unfere Sinne bald fid
ab und befchränfen uns auf den Verlauf unferes inneren Lebens,
bald öffnen fie fih mie Pforten dem ankommenden Reize, um
ibn fo, wie er ift, in der ganzen Anmuth oder Häßlichkeit feines
Weſens in fih aufzunehmen. Kein Zweifel trübt die Zuverſicht⸗
Yichfeit . dieſes Glaubens, und felbft die Täufchungen der Sinne,
verſchwindend gegen bie Ueberzahl in fi zuſammenſtimmender
Erfahrungen, erſchüttern die Gewißheit nicht, daß wir hier über-
all in eine vorhandene Welt hineinbliden, die fo, wie fie und er-
ſcheint, auch dann zu fein nit aufhört, wenn unfere mans
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delbare Aufmerkſamkeit fih von ihr abwendet. Der. Glanz der
Sterne, den der Wachende fah, wird, fo hofft er, auch über dem
Schlafenden fortglänzen; Töne und Düfte, ungenofien zwar und
ungebört, werden duften und Mingen, nad wie vor; nichts von
der finnlihen Welt wird untergegangen fein außer der zufälligen
Wahrnehmung, die vorher von ihr dem Bewußtfein zu Theil
wurde. Und dieſes vollkommene Zutrauen zu dem wahrhaften
Dafein ihrer Anſchauungen befigt die Sinnlichkeit nicht nur harın-
108, fondern ein tiefes Bedurfniß bemegt fie zugleich zur lebhaf⸗
ten Abwehr jedes Angriffes, der die volle Wirklichkeit ihrer Er—
fcheinungen bedrohen möchte. Es ſoll die eigene Lieblichkeit Des
Gegenftandes bleiben, die uns in der Süße des Geſchmackes und
des Duftes berührt, die eigene Seele der Dinge, die im Klange
zu uns Sprit; der Glanz der Farbe verbliche für uns in feinem
Werthe, wenn wir feinen Schimmer nicht als die Offenbarung
eines andern Weſens bewundern bürften, das, uns fremd, nun
doch jo durchſichtig für ung wird, daß wir mitgenießend in feine
Natur und verfenten und mit ihr verfchmelzen können. Der befte
Theil der Bedeutſamkeit des Sinnlichen wiirde hinweg fallen, wenn
dieſe helle Wirklichkeit des Empfundenen und genommen wiirde; die⸗
felbe Sehnfucht, die auf höheren Stufen des geiftigen Lebens nad)
Ergänzung durch ein Anderes ftrebt, ſucht ſchon hier in der Sian-
lichkeit dieſen träumerifhen Genuß einer völligen Durchdringung
mit fremdem Wefen feftzubulten. Und nicht nur haften ſoll im
irgend einer Weife das Sinnliche an den Dingen felbft; derſelbe
Zug jener Sehnſucht verlockt und vielmehr, die finnlichen Eigen-
haften als Thaten deſſen zu betrachten, an dem wir fie finden.
Die Dinge find nicht allein farbig, fondern e8 iſt ihr lebendiges
thätiges Scheinen, das in den Farben uns anblidt; ihr Geſchmack,
ihr Duft find an uns andrängende Handlungen, in denen ihr ia-
nerſtes Weſen fi dem unjeren nähert und und das aufichleekt,
was innerhalb der äußerlihen Raumgrenzen, die ihre Geftalten
füllen, das eigentliche Reale ihres Dafeins bilbet.
Nicht überall freilich im täglichen Leben ift uns dieſer Ernſt
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der Empfindung gleich gegenwärtig; andere Zwecke mit ber Mans
nigfaltigleit der Ueberlegungen, melde fie mit fid führen, laſſen
uns ohne Andacht iiber manche ſinnliche Anſchauung hinweggehens
wos im Einzelnen uns bewegen würde, verfhwimmt für unſeren
zerſtreuten Blick zu gleichgilltigem oder widerwärtigem Gefammt-
eindrude; wir glauben chaotiſche unreine Maffen zu fehen, wo das
bewaffnete Auge oft noch regelmäßige Kruftallifation und Spuren
einer zierlichen Bildungskraft entdeckt. So merben die Farben ung:
gleihgültig an den fünftlihen Formen unferer Geräthe; wenden
wir aber unfern Blid auf die kleinſten Theilchen des natürlichen
Stoffes, den unfere Technik fiir die Bebirfniffe des Lebens in
eine ihm gleichgültige Geftalt gezwungen hat: wie tritt ſogleich
wieder die Macht des finnlihen Zaubers hervor in der fetten
Tiefe und der leuchtenden Pracht der Farbe, in jenem wunder⸗
famen Spiel gebrochener Fichter, „Die irifirend um die feinften Nig-
ungen und Streifen der Oberflächen ſchweben! Dann fehen wir
um Kleinen bafjelbe ſchöne Geheimniß aufblühen, das in den ges
ftaltlofen duftigen Färbungen des Himmeld und an den felbft ges
heimnißvollen Geftalten der Blumen immer unjere Sinne ahnungs⸗
voll erregte. Die manderlei Klänge, welche die Welt beleben,
fegen fich wohl vor dem beihäftigten und unaufmerkſamen Ohr
zu einem gleichgültigen Geräufche zufammen; aber das nachdenk⸗
liche Laufchen, das fie fondert, erkennt in den einzelnen Stimmen
der Natur wieder jene Kundgebungen, dur die ein rätbfelhaftes
Innere der Dinge unliberfegbar in jede andere Sprache und
doch mit unmittelbarer Deutlichkeit zu uns fpridt. Nur die zus
fälligen Verbindungen, in welche die Elemente des Sinnlichen für
mande Gewohnheit unferer Auffafjung gerathen, die willführlichen
Formen, in die wir die Dinge zum Dienfte unferes Lebens zu-
fammenfegen, laſſen die urfprüngliche Bedeutfamfeit der finnlichen
Anſchauungen für und zeitweis verfchmwinden; aber fie wird über—
all non neuem empfunden, mo wir dem Eindrucke des Einfachen
nnd Hingeben ober ihn aufſuchen, oder wo wir in vollenbetey
Kunft das verbinden, was durch die Wahlverwanbtichaft feiner,
390
Natur verbunden zu werden verlangt. Dann erfennen wir ben
Anſpruch wieder an, den unfere Sinnlichkeit macht, uns den Ein-
blick in das innerfte Tebendige Wejen einer fremden wahrhaften
Wirklichkeit zu gewähren, die in ihrer Fremdheit bald verwandt
bald feindfelig und gegeniberfteht.
Und allen diefen Glauben ftrebt und nun in der That die
mechaniſche Naturanficht zu rauben, oder fie fcheint es doch zu
wollen. Sie lehrt uns, daß jede Empfindung nur das eigene
Erzeugniß unferer Seele fei, angeregt zwar von äußeren Ein-
britelen, aber weder diefen noch den Dingen ähnlich, von denen
fie ausgingen. Weder finfter noch bel, weder laut noch fill,
vielmehr völlig beziehungslos zu Licht und Klang Tiege die Welt
um und ber, ohne Duft und Gefchmad die Dinge; felbft was
auf das Unwiderleglichſte die Wirflichfeit des Aeußeren zu bezeu-
gen ſchien, Härte, Weichheit, Widerſtand der Dinge ſind zu For⸗
men der Empfindung geworden, in denen nur eigene Zuftände
unferes Innern zum Bemwußtfein fommen. Nichts erfüllt in Wirk⸗
lichkeit den Raum, als eine unbeftimmbare Unzählbarteit von
Atomen, in den mannigfaltigften Formen der Bewegung gegen
einander ſchwingend. Und weder dieſe Atome noch jene Bewe—
gungen find fo, wie fie find, Gegenftände unferer Beobachtung;
beide find Die nothwendigen VBorausfegungen, auf welche nur bie
DBerehnung der Erjheinungen, diefe aber nothwendig, zuräd-
führt. Jene einfachen Elemente felbft Finnen wir nicht fchildern,
da fie allen finnlihen Eigenſchaften, dem einzigen amfchaulichen
Material unferer Schilderungen, fremd find; ihre Bewegungen
können wir wohl verzeichnen, aber nie find fle in ihren wirklichen
Bormen Gegenftände unferer wirklichen Wahrnehmung. Unferem
Bewußtſein wird in aller Wahrnehmung unmittelbar Nichts zu
Theil, als was es in fich felbft erzeugt hat; nur die fpätere
Meberlegung der Bedingungen, unter denen unfere Empfindungen
entftehen,, Teitet und allmählich zu der Annahme jener Urſachen
zurück, die für fi der Beobachtung ſtets entzogen bleiben. So
ift denn das Reale der äußeren Welt von unferen Sinnen völlig
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geſchieden, und die ganze Mannigfaltigfeit der Sinnenwelt eine
Erſcheinung in uns felbft, die wir freilich rückwärts iiber die
Dinge ausbreiten, als fei ſie ihre natitrliche Geftalt und Beleuch—
tung, Die aber doch fo wenig an ihnen haftet oder aus ihnen
hervorgeht, als etwa die Keflerionen, zu denen uns die Erfahrung
veranlaßt, fertig an den Gegenftänden hängen, an welche wir fie
anknüpfen. Ä
Vergeblich verfuchte man, gegen dieſe Xehre Die Realität der
finnliden Erſcheinungen zu verteidigen. Man mußte zugeben,
baß jene Bemegungsformen, welche die Berechnung vorausgefegt
Hatte, in der That die veranlaffenden Bedingungen unferer Em-
pfindungen find; aber man vermißte und verlangte den Beweis,
daß nicht das, was einerſeits freilich Erzeugniß unferer geiftigent
Natur ift, anderſeits doch zugleich in der Außenwelt felbft und
in ben Reizen vorhanden fei, die zu feiner Wiedergeburt im Be—
wußtſein treiben. Leuchtende Schwingungen des Wethers und
tönende Schallwellen follten den Raum durchkreuzen und die mes
chaniſche Bewegungsform nur das äußerlihe Hilfsmittel fein,
durch welches fie Auge und Ohr zur Nachbildung jener an fich
vorhandenen finnlihen Inhalte erregen. Aber man hätte den
Beweis des Gegentheiles nicht von der mechanifhen Phyſik er-
warten follen, da eine leichte Ueberlegung ihn vorher von felbft
hätte darbieten Finnen. Wir kennen nicht allein Farbe und Ton
nur duch unjer Empfinden, fondern wir würden völlig unfähig
fein zu jagen, was wir uns unter ihnen noch vorftellen zu
können meinten, jobald ſie nicht von und oder von einem anderen
Bewußtſein mehr wahrgenommen würden. Sowie Geſchwindig⸗
feit nur angder Bewegung haftet und nicht für ſich etwas ift,
das zur Bewegung noch hinzukommen Tünnte, fo haben alle finn-
fihen Empfindungen nur den einen Ort ihrer Eriftenz, das Be-
wußtfein, und nur die eine Art ihrer Eriftenz, ein Leiden oder eine
Thätigfeit, ein Zuſtand überhaupt diefes Bewußtſeins zu fein.
Noch ehe eine mechaniſche Theorie in den Bewegungsformen ber
äußeren Elemente die Urſachen nachwies, von denen die Entſteh⸗
392
ung ber Empfindungen in uns abhängt, hätte die Meflerion fidh
darüber Har werden können, daß fie anf alle Fälle nur als folde
Zuſtände des geiftigen Wejens und feines Wiffens denkbar find,
und daß jeder Verſuch miplingen muß, das was an dem Lichte
leuchtet und in den Tönen Flingt, irgendwo außer den empfinden⸗
den Wefen als für fich vorhandene Eigenfchaft der Dinge oder
als ein Ereigniß zwiſchen ihnen feſtzuhalten. Vergeblich ift eg,
das Auge fonnenhaft zu nennen, als märe das Licht, ehe es ge=
fehen wird, und als bebürfte das Auge einer befonderen geheimen
Faͤhigkeit, das nachzuahmen, was es vielmehr felbft erft erzeugt;
fruchtlos fcheitern alle myſtiſchen Beſtrebungen, durch eine vers
Borgene Identität des Geiſtes und der Dinge den finnligen An«
ſchauungen eine Wirflichfeit außer und wieverzuverfchaffen. Aber
wie fruchtlos fie fein mögen, immer werden fie freilich von jener
ſeltſamen Empfindſamkeit erneuert werden, die ihre vielleicht be=
rechtigten Wunſche nicht durch thätige Hinwegräumung der Schwie-
rigfeiten zu befriedigen, fondern nur durch die bequeme Hingabe
an das innerlich Widerfprechende zu täufchen verfteht.
Sollen nun wirklich alle dieſe Anſprüche aufgegeben werben,
die dem unbefangenen Bemwußtfein ſo begründet ſchienen? Sol bie
ganze Pracht der Sinnlichleit nichts fein, als eine Täufchung
unſeres Inneren, das unfähig die wahre Natur der Dinge anzu⸗
fhauen ſich durch die Erzeugung eines Scheines tröftet, dem keine
objective Geltung irgend einer Art zukommt? Wäre es wenigften®
möglich, die finnlihen Empfindungen fo zu faflen, als überfegten
fie, der Bedeutung nad) wiedererfennbar, die Eigentehaften der
Dinge in eine Sprache, die dem Geifte geläufig ift, fo würden
wir uns beruhigen und die unvermeibliche Trübung hinnehmen,
Die der Inhalt des Seienden bei feinem Uebergang in unfere
Erkenntniß erlitt. Aber mas haben Schwingungen des Aethers
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mit Licht, Verdichtungswellen der Luft mit Tönen zu tbun? So
völlig unvergleichbar tft bier die phufifche Veranlaſſung mit ber.
Empfindung, die ihr folgt, daß wir in dieſer nicht einmal einen
abgeſchwächten Wiverhall jener finden, fondern ohne einen Schat⸗
ten der Aehnlichkeit eine neue Erſcheinung in uns auftauchen
fehen. Wie ungeſchickt ift daher die Sinnlichkeit zu ihrer Auf:
gabe, Die Natur der Dinge, oder Doch wenigftens die wahre Außen-
feite ihres Weſens wiederzugeben; wie völlig ſchwankend wird da⸗
durch auch die Hoffnung, daß bie Erfenntniß ihr Inneres durch⸗
bringen werde! Ueberall in Irrthum eingejchloffen, können wir
unfere finnlihe Wahrnehmung nur eine fortgefegte Sinnestäu-
hung nennen.
Wenn dieſe Klagen matikrlich find, fo ift e8 doch gewiß nicht
der Geift der mechanifhen Naturforfhung, der fie veranlakt hat.
Indem die Phyſik von den unanfhaulichen Elementen ausgeht
und die Mannigfaltigfeit ihrer Bewegungen verfolgt, indem fie ben
Eindruck zu beftimmen fucht, den die Uebertragung dieſer Er⸗
ſchütterungen auf die empfänglichen Nerven des Iebendigen Kör⸗
pers, von ihnen endlich auf die Seele hervorbringt, betrachtet ſie
dieſen Zufammenhang einfach als eine caufale Kette von Vor:
gängen und findet e8 bier nicht wunderbarer als fonftwo, daß
nad fo vielen Mittheilungen der Wirkung von einem Träger
zum andern der legte Erfolg, die Qualität der bewußten Empfin-
dung felbft, den erften veranlaffenden Urjachen völlig unähnlich
ft. Warum doch, würde fie uns mit Recht fragen, verlangt ihr,
daß es anders ſei? Warum fegt ihr als eine Pflicht eurer Sinne
voraus, daß fle Die Dinge, von denen fie angeregt werden, fo
darftellen follen, wie fte wirklich find, und nicht vielmehr eben fo,
wie ſie diefelben wirklich darftellen? Warum überhaupt follen fe
nicht den Iegten Erfolg zum Bemußtfein bringen, fondern viel-
mehr die erften Urfachen ; und iſt nicht der Glanz und der Ton, den
fie euch Hberliefern, eben indem er überliefert wird, fo gut wie
Die ungefehenen Dscillationen des Aether und ber Luft eine
Thatſache, die gleiche® Hecht hat, wahrgenommen zu werben, wie
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jene? Und wenn ihr bedauert, daß die Pracht der finnlichen Welt
verloren gehen fol, was hindert euch Doch, fie vielmehr feſtzuhal⸗
ten und euch ded Umſtandes zu erfreuen, daß es Wefen in der
Welt gibt, deren Innered durch den Andrang jener Bewegungs:
formen zu fo ſchönen Rüdwirkungen, zur Entfaltung einer hellen
Farben und Tonwelt fih anregen läßt? Was enblich nöfhigt
euch, in Die weit minder erfreuliche Tiefe zu gehen, diefen ſchönen
Schein hinwegzuſcheuchen, und euch nach dem wahren Anblid des
tragenden Gerippe8 zu ſehnen, deſſen Starrheit feine weichen Um:
riffe verhüllen ?
In der That ift wohl Veranlaffung dazu, jene jo felbftver-
ſtändlich fheinende Borausfegung zu prüfen, als ſei Sinnlichkeit
und alle Erkenntniß nur dazu vorhanden, bie Geftalten der Dinge,
wie fie find, unferem Bewußtfein abzubilden. Man wird und
zweifelnd einwenden, wozu doc diefer Zweifel führen ſolle? Als
wenn nicht natürlich die Aufgabe des Erfennens eben im Erken⸗
nen beftehen müßte? Aber diefer Einwurf wiederholt eben nur
jene Ucbereilung, die uns Allen jo geläufig if. Denn eine un
zweifelhafte Thatjache, von der unfere Betrachtung beginnen muß,
befteht nur in der Wahrnehmung, daß in unferem Bewußtſein
eine mannigfache Welt der VBorftellungen vorhanden ift, in deren
Erzeugung wir und von unbefannten außer uns gelegenen Be
dingungen abhängig finden. Gefeglich in fih und mit dem Reiche
diefer unbefannten Bedingungen verbunden, entwirft diefes Spiel
der Borftellungen übereinftimmend für die verſchiedenen Geifter
das Bild einer gemeinfchaftlihen Außenwelt, in welcher. fie zum
Wechſelverkehr des Handelns und ber Mittheilung einander be
gegnen. Für jeden Einzelnen hat daher das Vorftellen bie Auf-
gabe, wahr zu fein, aber doch nur in dem Sinne, daß e8 Jedem
bie gleiche Welt vorhalte, die e8 Andern zeigt, und daß nicht eine
individuelle Täufchung uns aus der Gemeinfchaft mit den übri-
gen Geiftern ausfchließe, indem fie und eine Reihe äußerer Be
ziehungspunfte vorfpiegelte, an denen wir nie mit der Thätigfeit
der Andern uns berühren können, weil fte fir Niemand als fir
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und vorhanden find. Unbeftimmt bleibt e8 dabei gänzlich, ob die
Welt, deren Anſchauung wir übereinftimmend durch unfere Bor-
ftellungen erhalten, für alle ein gleicher folgerechter Irrthum iſt,
oder ob das, was wir zu fehen glauben, in der That bie eigene Ge⸗
ſtalt der Außenwelt abbildet, von deren Einwirkungen wir uns
abhängig fühlen.
Theil diefe Gewöhnung des täglichen Lebens, theils das
eigenthümliche Intereſſe der Wiflenfchaft, die freilich ausdrücklich
das Erkennen der Dinge zur Aufgabe ihrer Unterfuhungen macht,
haben in uns die Gewohnheit hervorgebracht, die Vortrefflichkeit
unferer Vorftellungen und Empfindungen nah der Genauigfeit
zu mefjen, mit welder fie abbildend die Natur der Gegenftände
wiederholen. Dan vergift Dabei, daß der Lauf Diefer inneren
Erſcheinungen in und ganz ebenforwohl eine vollwichtige Thatjache
iſt, als das Dafein deſſen, von dem fie herrühren; und nachdem
man fih einmal gewöhnt hat, fie mit dem Namen des Erfennens
zu belegen und ihnen ſtillſchweigend dadurch die nothwendige Be—
ziehung auf ein Aeußeres anzuheften, pflegt man nun Sein und
Erkennen fo einander gegenüberzuftellen, als ſei mit dem erften
der eigentliche Effectiobeftand der Welt abgefchloffen und Tiege dem
Veßtern nur ob, gut oder fchlecht dieſe fertige Welt im Wiffen
noch einmal zu wiederholen. Aber dieſe Thatjache, daß der Ein-
fluß des Seienden und feiner Veränderungen in.dem Innern ber
geiftigen. Wefen dieſes Aufblühen einer Welt finnliher Empfin-
dungen veranlaft, fteht nicht al8 eine mäßige Zugabe neben bem
übrigen Zufommenhange der Dinge, ald wäre der Sinn alles
Seins und Geſchehens vollendet auch ohne fie; fie felbft ift viel-
mehr eines der größten, ja das größte aller Ereigniffe überhaupt,
neben deſſen Tiefe und Bedeutſamkeit alle8 Uebrige verſchwindet,
was fonft zwiſchen ven Beſtandtheilen der Welt ſich ereignen
könnte. Sowie wir jede Blüthe nach ihrem eigenen Farbenglanz
und Dufte ſchätzen, ohne zu verlangen, daß fie die Geftalt ihrer
Wurzel abbilvend wiederhole, jo müfjen wir auch dieſe innerliche
Melt der Empfindungen nad ihrer eigenen Schönheit und Be-
bentung fohägen, ohne ihren Werth an der Treue zu meſſen, mit
ber fle das Geringere wicberbringt, auf dem fie beruht.
Denn in der That warum follten wir nicht dies ganze Ver:
haltniß umkehren, an welches uns eine undurchdachte Borftellungs-
weije gemöhnt bat? Anftatt das Aeußere als den Zielpunkt auf-
zuftellen, nach dem alle Schnfucht unferes Empfindens fi ri:
ten müßte, warum follen wir nicht vielmehr diefe Teuchtende und
tönende Pracht der Sinnlichkeit als den Zweck auffafjen, zu deſſen
Erfüllung alle jene Beranftaltungen der Außenwelt beftimmt find,
fiber deren Verborgenfein wir uns beflagen? Die poetifche Idee
und ihre eigene bedeutfame Schönheit ift e8, was an dem Schaut
fpiel uns befriedigt, das wir auf der Bühne fih vor uns ent
wideln fehen; Niemand glaubt dieſen Genuß zu fteigern ober die
noch tiefere Wahrheit zu finden, wenn ex ſich in die Betrachtung
der Maſchinerien verfenten Könnte, welche dieſen Wechfel der De
eorationen und der Beleuchtung hervorbringen; Niemand, indem
er den Sinn der gefprodenen Worte in fi aufnimmt, vermißt
die deutliche Erkenntniß der phufifchen Vorgänge, durch welche der
Organismus der Darfteller jene tönenden Vibrationen der Stimme
erzeugt oder die Bewegung der ausbrudspollen Geberven ind
Werk ſetzt. Der Lauf der Welt ift dieſes Schaufpiel; feine mes
fentlihe Wahrheit ift der Sinn, der ſich in ihm verftändlic für
das Gemüth entfaltet; jenes Andere aber, was wir oft fo gern
wiſſen möchten und worin wir in befangener Täufhung erft das
wahre Weſen ber Dinge fuchen, ift nichts als ber Apparat, auf
dem die allein mwerthoolle Wirklichkeit dieſer ſchönen Erjcheinung
beruht. Anftatt zu Magen, daß die Sinnlichkeit Die wahren Eigen⸗
haften der Dinge außer uns nicht abbilvet, follten wir glücklich
fein, daß fie etwas viel Größeres und Schöneres an ihre Stelle
fest; nicht gewinnen, fondern verlieren wilrden wir, wenn wir die
leuchtende Herrlichleit der Farben und des Lichtes, die Kraft und
Anmuth der Töne, die Süße des Duftes aufopfern müßten, um
an der Stelle diefer verfchwundenen Welt ber mannigfachſten
Schönheit und an der genaueften Anfchanung mehr oder minder
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häufiger, nad dieſer oder jener Richtung gehender Schwingungen
gu tröften. Iſt es doch außerdem und möglich, in wiffenfchaft-
licher Unterfuchung diefer Erkenntniß habhaft zu werden und jene
farblofen Gründe der finnlichen Welt in der That noch zu er-
zeichen, Über welche die wirklide Empfindung dieſen täufchenden
oder, wie wir richtiger fagen würden, dieſen verflärenden Schim⸗
mer verbreitet. Sehen wir deshalb von der Klage ab, als ent-
gehe unferer Wahrnehmung das wahre Wefen der Dinge; eben
barin befteht es vielmehr, als was fie uns erjcheinen, und
Alles was fie find, ebe fie und eriheinen, das tft die ver-
mittelnde Vorbereitung für diefe endlihe Verwirklichung ihres
Weſens ſelbſt. Die Schönheit der Farben und der Töne, Wärme
und Duft find es, was an fid) die Natur. bervorzubringen und
auszubrüden ringt und für fi allein nicht zu erreichen vers
mag; fie bedarf dazu als des legten und ebelften Werkzeuges
eben des empfindenden Geiſtes, der allein im Stande if, dem
ftummen Streben Worte zu geben und in der Pracht der finn-
lien Anihauung zu heller Wirklichfeit zu beleben, was alle jene
Bewegungen und Geberben der äußeren Welt fruchtlo8 zu jagen
fih bemühten.
Aber wie groß auch die Bedeutung fein mag, Die wir auf
dieſe Weife der finnlichen Empfindung in dem Zufammenhange
der Welt zufchreiben: wir müſſen doch fürchten, die alten Klagen
nicht durch fie völlig zu beſchwichtigen. Denn zu einfeitig fällt
der Bortheil des Genuffes der geiftigen Welt zu, und alle Natur
ſteht ihm gegenüber nur noch als das Ieblofe, wenn gleich bes
wegliche Gerüft der Mittel da, durch welches die Schönheit der
Sinnenwelt nur in einem Anderen, aber nicht in ihm jelbft her⸗
vorgebracht wird. Sollen nun Die Dinge nur dazu dienen, durch
ihre Bewegungen felbft genußlos den Seelen Anregungen zu dies
fem innerlichen Leben zuzuführen? Soll die eine Hälfte des Ge:
Ichaffenen, die, welche wir unter dem Namen der materiellen Welt
zufammenfafien, durchaus nur zum Dienfte der anderen Hälfte,
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des Reiches der Geifter, vorhanden fein, und haben wir nicht
Recht mit der Sehnfucht, den ſchönen Glanz der Sinnlichkeit auch
in demjenigen anzutreffen, von dem er doch immer für und aus⸗
zugehen ſcheint? Vielleicht würde num dieſe Sehnfucht allein nicht
binreihen, um eine neue ©eftaltung unferer Anfihten Hinläng-
ih zu begründen; nehmen wir jedoch an, daß eine tiefer gehende
Unterfuchung die Kraft dieſes Grundes ergänzte, jo würden wir
doch gewiß auch in ben Dingen felbft die Wirklichkeit alles finn-
lichen Inhaltes nur unter VBorausfegung der Bebingungen mög-
ih finden dürfen, unter benen fle und überhaupt benfbar if.
Nur ald Formen oder Zuftände eines Anſchauens oder Wiſſens
läßt fih nun der Inhalt der finnliden Empfindung, laffen ſich
Licht und Farbe, Ton und Duft begreifen; follen fie nicht allein
Erfcheinungen in unferem Innern fein, fondern auch den Dingen
eigen, von. denen fie auszugehen ſcheinen, fo müfjen bie Dinge
ſich felbft erſcheinen können und in ihrem eigenen Empfinden fle
in fih erzeugen. Zu diefer Folgerung, welche iiber alles Seiende
die Helligkeit lebendiger Befeelung ausbreitet, müßte unjere Sehn⸗
fucht entichloffen fortgehen; in ihr allen fände fie eine Möglich-
feit, dem Sinnlichen eine Wirklichkeit außer uns zu vetichäffen, in⸗
dem fie ihm eine Wirklichkeit im Innern der Dinge gäbe; fruchtlos
Dagegen wilrbe jeder Verfuch fein, das was nur als innerer Zu-
ftand irgend eines Empfindend denkbar ift, als eine Außerliche
Eigenfhaft an empfindungslofe Dinge zu heften.
Sp finden wir und hier zu einem Gedanken zurüdgeführt,
den ſchon unſere erften Betrachtungen über die Natur der Seele
uns nahe legten, zu jener Annahme eines doppelten Dajeins,
das alle Materie führe, äußerlich mit den befannten Eigenjchaften
des fürperlichen Stoffes ſich benehmend, innerlih von geiftiger
Regſamkeit belcht. Wir wieſen damals die Anwendung dieſes
Gedankens zurüd, melde das Ganze des lebendigen Leibes un⸗
mittelbar zugleich als bie empfinbende Seele auffaffen, oder ans
dem Zuſammenwirken vieler Elemente die Einheit unſeres Bes
wußtjeins erflären wollte; wir erkannten, daß die legtere nie als
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das Ergebniß aus Werhjelmirkungen einer Vielbeit, fondern nur
als die Aeußerung eines untheilbaren Weſens denkbar fei, und
daß die völlige Verſchmelzung der geiftigen Thätigfeit mit Dem
Ganzen des Körpers, das nicht von Emigfeit beifammen war,
fondern im Laufe des Wachsthums aus den verichiedenartigften
Beiträgen der Außenwelt zufammentritt, gleich jehr den allgemei-
ren Möglichkeiten als den beftimmteften Thatfachen der Erfahrung
widerfpreche. Auch jett können wir nicht anders denken, und der
Verſuch, die Materie als bejeelt zu faflen, muß nothwendig mit
dem anderen verbunden fein, die Geftalt, in welcher unfere un-
mittelbare Beobachtung diefe Materie wahrzunehmen glaubt, bie
unendlich theilbare Ausdehnung, als einen Schein nachzumeifen,
dem eine Mannigfaltigfeit untbeilbarer, nur durch überfinnliche
Eigenſchaften beftimmter Wefen zu Grunde liegt. Manche bisher
zerftreut und ohne Abſchluß gebliebenen Fäden unferer Ueberle-
gungen laufen jest zufammen und nähern fi ihrem Ende; möge
es und erlaubt fein, um zu ihrer völligen Vereinigung zu gelan-
gen, die Aufmerkſamkeit noch einmal ausdrücklicher auf jenen Be-
griff der Materie zu richten, den wir bisher gelten ließen, zu—
frieben, feine Mebergriffe in fremde Gebiete abzumehren, und dem
wir jest endlich auch das zu entziehen fuchen müfjen, welches er
eigenthiimlich zu beherrfchen ſchien. Denn während frühere An-
fihten aus den Wirkfamkeiten des Stoffes das geiftige Leben wie
eine leichte und felbftverftändlihe Zugabe glaubten hervorgehen
zu ſehen, ift e8 jet in der That unfere Abjiht, Die alleinige
urſprüngliche Wirklichkeit der geiftigen Welt zu vertreten und zu
zeigen, baß wohl die materielle Natur aus ihr, aber nicht fie aus
diefer begreifbar if.
In jenen allgemeinen Betrachtungen, Die wir dem Bilde des
leiblichen Lebens vorausfhidten, haben wir uns überzeugt, daß
eine Erklärung der mannigfaden Formen und Ereigniffe, welche
und die Beobachtung im Großen darbietet, nur aus den Wechfel-
wirkungen vieler von einander gefchtedener und gegen einander
felbftändiger Mittelpunfte aus- und eingehender Kräfte möglich
400
ift. Beftätigt doch unmittelbar die Wahrnehmung des bewaffneten
Auges in vielen Fällen diefe innere Gliederung ſcheinbar gleid-
artiger Maflen, und eine eindringendere Unterſuchung, welche alle
Die räthſelhaften Erſcheinungen beritdfichtigte, Die und der feinere
Bau auch der unbelebten Körper und bie von ihm abhängigen
Eigenthümlichkeiten ihres Wirkens zeigen, wurde ſich unvermeid:
ih dazu genöthigt fehen, diefelbe Organtifation der Materie aus
einzelnen wirffamen Thetlen noch weit über die Grenzen möglie
her Wahrnehmung hinaus anzunehmen, Aber der letzte Schritt,
den unfichtbar Kleinen Atomen, auf welche wir jo geführt werden,
jede räumliche Ausdehnung, Form und Größe abzufprehen, war
doch dort nur cine mögliche, noch nicht eine nothwendige Veronll-
ſtändigung diefer Anfiht. Konnte man jedoch fr die Bedürfniſſe
ber Phyſik diefe Trage unentſchieden laſſen, fo nöthigt und die
Borftellung, welche geiftiged Leben oder eine Analogie deſſelben
auch für die Materie retten möchte, eine beftimmte Antwort auf
fie zu ſuchen
Bezeichnet nun Die gewöhnliche Annahme die Materie ald
das Ausgevehnte, Undurchdringliche, Widerftanbleiftende und Un⸗
vergängliche, fo würden wir ihr zuerft einmwerfen müſſen, daß zu
dieſen Eigenfchaften und Handlungsweiſen das Subject fehle: wir
vermiffen die Angabe deſſen, was bier ausgebehnt, undurchdring⸗
lich und unvergänglich fer, und was dieſe verſchiedenen Eigen
haften, die ihrem eigenen Begriffe nach in Feiner nothwendigen
Berbindung ftehen, zufammen vorzukommen nöthige. Beſſert nun
jene Annahme ihren Mangel durch das Zugeſtändniß, daß ja
allerdings das eigentlich Seiende in der Materie in einem un
fagbaren Ueberfinnlichen beftehe, aus deſſen Natur eben jene Eigen-
ſchaften und ihre Verbindung nothwendig und beftändig folgen: fo
wärben wir ihr antworten müſſen, daß mit dem Begriffe eines
Seienden zwar die übrigen Prädicate, aber nicht das der Ausdeh⸗
nung vereinbar fei, durch welches doch gerade am weſeutlichſten bie
Materie fih von allem anderen Seienden zu unterſcheiden meine.
Denn wer von der Ausdehnung der Materie fpricht, iſt nicht
401
zufrieden damit, in jedem Punkte des Raumes, den er im Auge
bat, die wirkende Herrſchaft die Macht oder die geiftige Gegen
wart einer Subftanz anzutreffen, welche felbft doch nur an einem
einzigen Punkte zugegen wäre; jeder kleinſte Ort dieſes Raumes
fol vielmehr von ihr ftetig ebenſo erfüllt fein, wie fie jenen be-
vorzugten Punkt erfüllen würde. Und zugleich ift für dieſe Anficht
jeder einzelne Punkt jenes erfüllten Raumes auch für fih ein
bleibender Mittelpunkt von Kräften, und ber Wegfall aller übrigen
wurde ihn nicht hindern können, der Natur des in ihm enthal-
tenen Antheils an Realem gemäß feine Wirkungen fortzufegen.
So kommt diefe VBorftellungsweife zu einer unendlichen Theilbar⸗
feit des Ausgebehnten, aber eben Damit vermag fie, wie mir ſcheint,
bie Borftellung eines wirklichen Getheiltfeind nicht von ihm abzu-
"Halten. Denn das, was nad feiner gefhehenen Abtrennung von
einem Ganzen feine Wirkungen mit dem proportionalen Antheil
von Stärke, der feiner Größe entjpricht, ungeftört fortzufegen ver-
mag, exiftirte doch wohl ſchon in dem Ganzen als ein felbftän-
diger Theil, mit andern gleich felbftändigen zwar zu einer georb-
neten Summe, aber nicht zu einer wahrbaften Wefenseinheit ver-
bunden. Ober umgelehrt, was im Stande ift, in eine Vielheit
völlig jelbftändiger Theile zu zerfallen, einzelne ohne Aenderung
feiner Natur aus ſich zu entlaffen, andere, die nie feine Theile
waren, ın fih aufzunchmen: das Tann in folder Gleichgültigkeit
gegen Vermehrung und Verminderung nicht mehr als ein einziges
in fich gefchloffenes Wefen, fondern nur als eine Vereinigung ur-
fprünglich vieler gedacht werden. Man mag diefer äußeren Viel-
fältigkeit immerhin eine innere Einheit des Vielen entgegenfegen,
man mag annehmen, daß alle dieſe Theile durch Gleichheit ihres
Weſens, durch gemeinfomen Sinn, durch folivarifhe Verpflich—
tung zu einer gemeinfohaftlihen Entwidlung und Wirkungsweiſe
auf das Imnigfte verbunden find: ſobald wir abjehen von dem,
was fie einft waren, und dem, was fie fein follen, fo lange wir
nur ind Auge faflen, was fie find, kann feine dieſer höheren Ein-
heiten uns darüber täuſchen, daß fie zunächft unwiderſprechlich
Loge I. 3. Aufl. 26
402
eine Bielbeit bilden. Welche Nebengedanten man ſich auch immer
über die Innerlichfeit des Ausgebehnten machen möge: wir bes
ſtehen darauf, daß man um ihretmillen feine Aeußerlichkeit nicht
bemäntele. Und diefe Aeuferlichfeit, eben das Außgebehntfein,
wird nie denkbar werben, ohne daß wir einzelne Punkte voraus⸗
fegen, die unterſcheidbar, die außer einander, die durch Entfernun-
gen von einander getrennt find, die endlich durch die Wirkung
ihrer Kräfte oder durch ihre gegenfeitigen Einflüffe überhaupt ein-
ander die Orte beftiinmen, welche fie einnehmen. Dieſe Unter-
ſcheidbarkeit vieler Punkte ift nicht eine beiläufige Folge der Aus-
dehnung, fondern fie ift das, worin ihr Begriff felbft beftcht;
wer den Namen der Ausdehnung ausſpricht, bezeichnet damit eine
Eigenſchaſt, die nur gegenfeitige Beziehungen von Mannigfachen,
nur Nichteinheit, nur Wechſelwirkung einer Vielheit ausdrückt.
Jeder Verfuh, die Ausdehnung als Präbicat nicht eines
Spftems von Weſen, fondern eines einzelnen Elementes zu faffen,
müßte nothwendig die andere Behauptung einfchließen, daß in
biefem Elemente die Theile, die auch in ihm unterſcheidbar fein
müflen, damit e8 eine räumlihe Größe darftelle, doch nie zu
felbftändiger und freier Eriftenz trennbar feien. Aber unfere Er-
fahrung bekräftigt im Großen wenigftens durchaus die Trennbar-
feit des Unterſcheidbaren; mur in den unfichtbar kleinen Dimen-
fionen der Atome könnten wir hoffen, zugleich Ausdehnung und
untheilbare Stetigfeit anzutreffen. Aber wir wilrden wenig mit
diefer legten Vermuthung gewinnen. Denn worin würten wir
dann den Grund der beftimmten, weder größeren noch geringeren
Ausdehnung fuchen, welche jeves Atom unveränverlich füllt? Wenn
nicht in der Anzahl der Theilchen, die e8 einfchließt, worin dann
anders, als darin, daß die überfinnlihe Natur defien, was bier
wahr oder fcheinbar ſich ausdehnt, nur zur Erfüllung diefes und
feines größeren Raumes, nur zur Herftellung diefer und feiner
größeren ungerreißbaren Scheingeftalt ausreihte? So ift zulegt
doch auch fir dieſe Anficht die Größe der Ausbehnung nur der
räumlide Ausorud für das Maß intenfiver Kraft, und es ift
403
nicht eigentlich das Wefen, fonbern feine Wirkſamkeit, welche den
Raum füllt. Geſtehen wir darum lieber fogleich zu, daß Aus-
dehnung fo wenig das Prädicat eined Weſens fein Tann, als ein
Strudel oder Wirbel die Bewegungsweiſe eines einzelnen Ele-
mentes ift; beide laſſen fih nur al8 Formen der Beziehung zwi⸗
fhen vielen denken. Sp werden wir genöthigt, jene Vorſtellungs⸗
weife feftzubalten, die uns früher nur ald eine mögliche erjchien
und die ausgedehnte Materie als ein Syſtem unausgevehnter
Weſen zu faflen, die Durch ihre Kräfte ſich ihre gegenfeitige Tage
im Raume vorzeichnen, und indem fie der Verſchiebung unter
einander wie dem Eindringen eines Fremden Widerftand leiften,
jene Erfcheinumgen der Undurchdringlichkeit und der ftetigen Raum-
erfüllung hervorbringen.
Die Neigung, die Ausdehnung ummittelbar als Eigenfchaft
des Wirklichen zu denen, beruht vielleicht auf einer Vorftellung,
die wir aus unferer eigenen Lebenserfahrung verftohlen in diefen
ganz anderen Gedankenkreis einführen. Vene "Anfichten wenig.
ftend, welche die Ausdehnung der Materie nur als einen von
vielen Ausdrüden deuten, in welden ein viel allgemeineres Bes
ftreben des ſchaffenden Abfoluten, eine Sehnfuht nah Entfaltung
und Ausbreitung ind Unendliche ſich kundgebe, verrathen in ber
äfthetifchen Begeifterung für Diefe Form des Thuns ihre Erinne-
rung an den Genuß, ben die Freiheit ungemeffener Ausbreitung
und Ermeiterung unferes Daſeins uns menfhlihen Wefen ver=
ſchafft. Für uns ift der Raum ter Umgebung zunädft eine
Schranke, eine Weite, die wir durch Bewegung überwinden und
aufzehren müflen; fir uns ift deshalb Bewegung gleichzeitig An⸗
ftrengung und Genuß; jenes, weil wir fie nur dur den Me⸗
chanismus unferer Glieder burchführen Können, dieſes, weil bie
veränderte Stellung den Reiz neuer Anſchauungen und das Be—
wußtſein unferer Kraftübung erwedt, durch die wir fie errungen
haben. Diefe Stimmung, die Gemeingefühl gehobener Kraft
und befriedigter Sehnſucht, das und in der Durchwanderung
großer Entfernungen belebt, tragen wir unvermerft auf den all-
26 *
‘
404
gemeinen Begriff der Bewegung über. Alle jene Phantaften, die
in ber unenblihen Bewegung der Himmelskörper einen Gegen:
ftand ſchwärmeriſcher Verehrung faben und in ihr das wahre
Sein und die ewige Thätigfeit des Seienden fanden, meinten
im Stillen, daß die Heberwindung diefer ungeheuren Räume für
jene Rörper eine Leiftung fei, deren lebendigen Kraftaufmand fie
felber empfänden; wie der Vogel ſich feines Fluges freut, fo ge:
nöffen die Planeten felber den Schwung ihrer Berwegung, und
wie jener mit ſcharfem Auge die ſchöne Verſchiebung feiner Um:
gebungen überblidt, an ihr den durchmeſſenen Raum fchätenb, fo
fet auch für diefe ein Bemußtfein von der Größe der überwun:
denen Entfernungen in irgend einer Weife vorhanden. Es find
ähnliche Nebengedanfen, welche uns fir die Erpanſion des Abſo⸗
Iuten und für die ftetige Ausdehnung der Materie begeiftern;
wir begleiten fie dabei mit einem Gefühl der Entlaftung von be
engendem Drude; und wie wir tiefeinathmend in der Erweiterung
unferer Bruft unmittelbar die Zunahme unferer Lebenskraft zu
empfinden glauben, fo ‚liegt eine verworrene Erinnerung an das
fühlbare Glück folder thätigen Ausbreitung auch in der Vorftel-
Yung jener raumerfüllenden Thätigfeit, die wir der Materie zu:
Tchreiben. Und Doc überzeugt uns eine einfache Betrachtung, daß
von allen den Bedingungen, auf welchen für und die Möglichkeit
diefer Luſt beruht, Feine fir die unorganifirte Materie vorhanden
ift; je urfprünglicher ihr die Ausbehnung zufommen fol, um jo
weniger ift fie eine Leiftung für fle, deren Ausführung eine le
dendige Anftrengung erforderte; und alle jene Erpanfion des Ab-
foluten Tann nicht als eine Luft der Befreiung und ber Weber:
windung von Schranken, fondern nur als Zerfall in eine Biel
heit verfchiedener Punkte gefaßt werden, auf deren Außereinan-
derſein alle Ausdehnung allein berubt.
Bielleiht Haben wir den Vorwurf zu beforgen, in dieſen Be:
merkungen Nebenvorftellungen, bie ſich als Zuthaten individueller
Phantafie wohl zufällig hie und da einfchleichen, fiir weſentliche
Beitandtheile jener Anficht von einer ausgedehnten Materie au:
405
t
gegeben zu haben. Aber zu viele Beifptele zeigen uns Doch, wie
häufig dieſe liebenswürdigen Erinnerungen an das volle menfch-
lie Dafein wirflih im Stillen die Erwägungen lenken, deren
Zügel das reinfte und abftractefte fpeculative Denken ganz feft allein
zu führen glaubt; und in unferem Falle wüßte ich in der That
nicht, wenn das Seiende nichts davon hätte, ausgedehnt zu fein,
was uns dann noch veranlaffen follte, jo hartnädig feiner inner-
lichen Natur diefe Eigenfhaft anhängen zu wollen und mit fteti=
ger Materie den Raum völlig auszuftopfen, den, für alle Erflä-
rung der Erſcheinungen hinreichend, überfinnliche Wefen mit ihren
lebendigen Kräften beherrichen könnten. Aber hinzufügen könnten
wir im Gegentbeil, daß unferer Auffaffung möglich fein würde,
was jener mißlingt; indem jedes einzelne Wefen durch feine Wech⸗
ſelwirkung mit den übrigen ſich felbft und diefen ihre Orte im
Raume beftimmt, Wirkungen ausjendet und in fih aufnimmt,
wird es von diefer feiner Lage zu der Gefammtheit der anderen
auch Eindrüde empfangen können, die dem ftetig Ausgedehnten
feine bloße Gegenwart und Ausbreitung im Raume nicht ver-
ſchafft haben würde.
Mit dieſer Vorausſetzung unräumlicher Atome haben wir die
einzige Schwierigkeit beſeitigt, die uns hindern konnte, jenem Ge⸗
danken eines inneren geiſtigen Lebens nachzuhängen, welches alle
Materie durchdringe. Die untheilbare Einheit jedes dieſer ein—
fachen Weſen geſtattet uns, in ihm eine Zuſammenfaſſung der
äußeren Eindrücke, die ihm zukommen, zu Formen der Empfindung
und des Genuffes anzunehmen. Alles, was an dem Inhalte der
Sinnlichkeit unfere Theilnahme erregte, Tann nun in dieſen Wefen
eine Stätte objectiver Eriftenz haben, und unzählige Ereigniffe,
auf deren Borhandenfein uns nicht unfere unmittelbare Empfin-
dung, fondern nur der Ummeg wiflenfchaftlicher Unterfuhung führt,
brauchen nun nicht verloren zu gehen, fondern fünnen im Innern
der Stoffe, an denen ſie auftreten, zu mannigfacher ung unbe-
406
kannter Wärme und Schönheit der Wahrnehmung verwerthet wer⸗
ben. Geber Drud und jede Spannung, welde die Materie er-
leidet, die Ruhe des ficheren Gleichgewichtes wie die Trennung
früherer Zufammenbänge, alle® dies gejchieht nicht nur, fondern
ift geſchehend zugleich der Gegenftand irgend eines Genuſſes; jedes
einzelne Wefen, mit abgeftuften Wechſelwirkungen in das Ganze
der Welt verflochten, ift, wie einer der größten Geifter unſeres
Volkes e8 nannte, ein Spiegel des Univerfinn, ven Zufammen:
bang des Weltalls von feinem Orte aus empfindend und die be=
fondere Anficht abbildend, welche er diefem Orte und biefem
Standpunkte gewährt. Kein Theil des Seienven ift mehr unbe-
lebt und unbefeelt; nur ein Theil des Geſchehens, jene Bewe—
gungen, welche die Zuftände des einen mit denen des andern ver-
mitteln, ſchlingen fih als ein äußerlicher Mechanismus durch bie
Fülle des Befeelten, und führen allem die Gelegenheiten und An—
regungen zu wechfelnder Entfaltung des inneren Lebens zu.
Wir zeichnen mit dieſer Schilderung eine Auffaffung, für
welche wir, überzeugt von ihrer wejentlihen Wahrheit, doch kaum
ein anderes Zugeftändniß erwarten dürfen, als daß fie unter den
Träumen, die unfere Phantafte ſich entwerfen kann, einer von
denen fei, die nicht im Widerſpruch mit dem Wirklichen ftehen.
Aber eben fo wenig fei ihre Wahrſcheinlichkeit Uberredend, denn
indem fie meine, eine ſchwärmeriſche Sehnfucht zu befriedigen,
biete fie weit mehr, als diefe gern annehmen möchte. Wer würde
den Gedanfen ertragen wollen, daß in jevem Staub, den unfer
Fuß tritt, in dem profaiihen Stoffe des Tuches, das unfer Ge-
wand bildet, in dem Material, welches unfere Technif zu man-
cherlei Geräthen auf das Willkührlichſte formt, überall die Fülle
bes feelenvollen Lebens vorhanden fei, das wir uns freilich gern
in dem gebeimnißvollen Umriffe der Blume und vielleicht noch in
ber regelmäßigen ſchweigſamen Geftalt des Kryſtalles ſchlummernd
benfen? Allein mit diefem Eimvurf wärde man doch nur ben
Irrthum wiederholen, mit dem, wie wir früher erwähnten, fchon-
unfere finnliche Anſchauung geringſchätzend über die Schönheit ber
407
. einfachen Beftandtheile hinwegſieht, welche der Zufall ihr in un-
günftiger und veriworrener Stellung und Mifhung vorführt.
Zener Staub ift Staub nur fiir den, melden er beläftigt; bie
gleichgältige Form des Geräthes fegt den Werth der einzelnen
Elemente, aus denen es befteht, ebenfo wenig herab, als eine
verkümmerte gefellfchaftliche Lage, melde alle Aeußerung des gei⸗
ſtigen Lebens unterbrädt, die Hohe Beſtimmung aufbebt, für
welche auch dieſe niedergevrädten Bruchſtücke der Menfchheit ben:
noch berufen find. Wenn wir von dem göttlichen Urfprunge und
dem himmlifchen Ziele der menſchlichen Seele Tprechen, haben wir
mehr Urfache, einen befümmerten Blick auf dieſen Staub des
Geifterreich® zu werfen, deſſen Leben uns häufig fo fruchtlos
ſcheint und feine Aufgabe völlig verfehlend; weit weniger Grund
würden wir haben, jenen unbedeutenden Beſtandtheilen der Außen-
welt ihr inneres Leben zu leugnen, denn wie fie auch in ihren
Zufommenhäufungen uns unfhön erſcheinen mögen, fie vollziehen
wenigſtens überall und ohne Mangel die Wirkungen, welche ihnen
die allgemeine Ordnung als Aeußerungsmeifen ihrer inneren Zu⸗
ftände geftattet hat.
In der That nun beruht die Neigung, welche wir hier filr
die BVorftellung einer durchgängigen Befeelung des Weltalls 'be-
fennen, nicht auf dem Wunfche, jenen Glauben an die VBerfchmel-
zung unferer Seele mit dem Ganzen unferer leiblichen Organi⸗
fation, den wir früber zurückwieſen, jetzt noch und anzueignen.
Sie hängt überhaupt nicht mit diefer engeren Frage nad dem
Zufammenhange des Geiftigen und Körperliden in uns zufam:
men, fondern geht aus einer allgemeineren Ueberzeugung über
das Weſen der Dinge hervor, deren Gründe vollftändig und ge
ordnet zu entwideln die Aufgabe ber firengeren Wiſſenſchaft blei-
ben muß. Diefe würde zu zeigen haben, wie unbenfbar und
widerfpreddend im Grunde jene Vorftellung ift, mit der allerdings
das gewöhnliche Leben und felbft die berechnende Unterfuhung ber
Welt ſich zu bebelfen weiß: die Vorftellung von einem Seienden,
welches nie für fich felbft vorhanden wäre, in all feinem Sein
408
nur den Sammelpunft von Einbritden bilvete, die nicht zum Ge.
genftand feines eigenen Genuffes wilrden, oder den Ausgangs:
punkt von Wirkungen, die weder in feinem Wiffen noch in feinem
Wollen begründet, erft fir ein Anderes eine Anregung zu man
nigfaltigem Thun enthielten. Vergeblich würben wir verfuden,
das Was dieſes Weſens durch irgend eine einfache und überfinn-
liche Oualität bezeichnet zu denken; wir würden und überzeugen
müſſen, daß eben fo mie die finnliden Qualitäten, deren objec-
tive Wirklichkeit aufzugeben wir ung leichter entſchlöſſen, auch alle
jene überfinnlichen, bie wir ihnen als das Wahre gegenüberftellen
möchten, ihr Dafein doch nicht minder nur in dem Bewußtſein
deſſen haben, der fie denkt, und daß fie nie im Stande fein würden,
den Quell der Wirkſamkeiten und Kräfte zu bezeichnen, die wir
von den Dingen ausgehen fehen und für melde wir eine Be
gründung in dem Wefen derſelben fuchen müſſen. Jene Scen,
den einen Theil der Welt nur als das blinde und lebloſe Mittel
für die Zwecke des anderen Theile anzufehen, jene Sehnſucht,
das Glück der Befeelung über Alles zu verbreiten und Die über-
al in jedem Punkte fich felbft genteßende Welt als eine voll
fommenere gegenüber dem zwiefpältigen Aufbau des Geiftigen über
dem bewußtloſen Grunde zu redhtfertigen: dies Alles ift nur bie
eine Reihe der Beweggründe, welche uns drängen, hinter der
ruhigen Oberfläche der Materie, hinter den flarren und geſetz⸗
lichen Gewohnheiten ihres Wirkens die Wärme einer verborgenen
geiftigen Regſamkeit zu fuchen. Eine andere und bringenbere
Reihe von Motiven liegt in den inneren Widerfprüchen, die und
den Begriff eines nur Seienden, aber nicht fich felbft Beſitzenden
und Genießenden unmöglich” machen und uns zu der Ueberzeu⸗
gung nöthigen, daß lebendigen Wefen allein ein mahrhaftes Sein
zulomme, und baß alle anderen Formen des Dafeins ihre Er-
Hörung nur aus dem geiftigen Leben, nicht dieſes die feinige aus
ihm erhalten könne.
Sp finden wir uns faft am. Ende unferes Weges auf bie
Gedanken zurüdgeführt, die am Anfange der menſchlichen Ent-
%
409
widlung in den mythologiſchen Dichtungen das Gemüth bemeg-
ten. Und mit Abfiht erinnern wir an dieſe Verwandtſchaft, die
für. die wiſſenſchaftliche Sicherheit unferer Auffaffung wenig empfeb-
Iend fheint. Denn in ber That haben wir mit diefer Behnup-
tung einer durchaus beſeelten Welt nur eine Ausficht bezeichnen
wollen, die fidh bier wor uns eröffnet und einen vorauseilenden
Blid wohl, aber nit einen wirklichen Gang in unendliche Fer—
nen möglich macht. Wie gern wir diefen Blick im Stillen feft-
halten mögen, ihn in die wirkliche Wiffenfchaft einführen dürfen
wir dennoch nicht; wir würden in ber That nur zu haltlofen
Träumen einer weniger malerifchen Mythologie zurückkehren, wenn.
wir das auszuführen verſuchen wollten, was wir als bie Wabr-
heit der Sache allerdings uns denken: wenn wir zeigen wollten,
wie die Gefege der phyſiſchen Erfcheinungen aus der Natur der
geiftigen Regſamkeit heroorgehen, die im Inneren der Dinge ver
borgen ihr wahres Weſen und der einzige Quell aller ihrer Wirk:
ſanikeit ift. Wohl hat fon das Altertfum von Liebe und Haß
gefprochen, al8 den Gewalten, welche die Stoffe bewegen und die
Formen ihres gegenfeitigen Verhaltens beftimmen, und hat da-
durch auf ein Iebendiges und verftändliches Motiv jene Anziehun-
gen und Abftogungen zu begründen gefucht, Die wir jegt oßne -
Berftändniß ihres Grundes nur thatfählih an die todte Maſſe
gefnüpft denken. Wohl miffen wir im Allgemeinen zugeben und
fefthalten, daß jede räumliche Bewegung der Stoffe ſich als der
natürliche Ausdruck der inneren Zuftände von Weſen deuten läßt,
Die mit einem Gefühle ihres Bebürfniffes, mit der Sehnſucht
nad wahlverwanbter Ergänzung, mit der Empfindung beginnen-
ber Störung einander fuchen oder fliehen: aber gewiß ftehen wir
nicht fo im Mittelpunkt der Welt und des fchöpferifchen Gedan-
kens, der fih in ihr ausdrückt, Daß wir jemals aus einer voll-
ftändigen Erkenntniß des geiftigen Weſens, die und ja verfagt ift,
bie beftimmten Gefege der phufifhen Vorgänge als nothwendige
Volgen abzuleiten vermöchten. Hier, wie jo oft für die Beſchränkt⸗
heit des menſchlichen Standpunktes, ift der Weg des Erkennens
410
ein anderer als ber, auf welchem die Natur der Sache ſich eni-
widelt, Nichts bleibt uns übrig, als der Erfahrung die Gefege
abzulaufchen, die ſich in den Testen Verzmeigungen der Wirklich⸗
feit geltend enweifen, für das Ganze der finnlihen Welt aber und
im Stillen das Verſtändniß zu bewahren, daß fie doch nur bie
Berbüllung eines unendlichen geiftigen Lebens ift.
Werfen wir nun einen Blick auf die Vortheile, welche dieſe
Umgeftaltung unferer Anfichten für die Auffaflung des Verhäli⸗
niſſes zwischen Leib und Seele gewähren könnte, jo werben wir
fie vieleicht geringer, vielleicht in anderer Richtung gelegen finden,
als wir erwarteten. Wer Anftoß an der Möglichkeit einer Wed-
ſelwirkung nahm, die zwifchen der Seele und dem anders gearte⸗
ten Realen der Materie ftattfinden follte, wird feine Bedenken
nun durch die Einſicht beſchwichtigen können, daß ja in der That
nicht verfchiedene Wefen einander bier gegenüberftehen, fondern daß
die Seele als ein untheilbares Weſen, der Körper als eine zu
ſammengeordnete Vielheit anderer, ihrer Natur nach verwandte
und nun gleichartige Glieder dieſes VBerhältnifies find. Nicht auf den
Körper, fofern er Materie ift, wirkt die Seele, ſondern fie wirkt
auf die mit ihr vergleichbaren Hberfinnlichen Wefen, die nur
durch eine beftimmte Form ihrer Verknüpfung und den Anfohein
der ausgedehnten Materie gewähren; nicht als Stoff und nicht
mit Werkzeugen des Stoffes übt der Körper feinen Einfluß auf -
ben Geift, fondern alle Anziehung und Abftogung aller Drud
und Stoß find felbft in jener Natur, die uns aller Befeelung
ledig fcheint, jelbft wo fie von Stoff zu Stoff wirken, nur der
eriheinende Ausdrud einer geiftigen Wechſelwirkung, in der allein
Leben und Thätigfeit if. Aber wir Iegen wenig Werth auf bie
fen Bortheil, durch den nur eine eingebildete Schwierigkeit ent-
fernt, und das Unbegreifliche, wie überhaupt Eines auf das Andere
wirken könne, ung nicht Marer wird.
411
Noch weniger kann unfere Anficht jenen gefallen, denen ein
völliges Ineinanveraufgehen von Körper und Seele der nothwen⸗
dige und allein wünſchenswerthe Abſchluß aller unferer Betrach⸗
tungen ſchien. Denn fo ſcharf wie jemals vorher fahren wir auch
jett fort, die eine untheilbare Seele, die wir die unfere nennen,
dem befeelten Körper gegenüberzuftellen, und fo hartnädig wie früher
müſſen wir den Körper felbft als ein Syſtem von Theilen be=
trachten, aus deren zufammenwirkenden Thätigfeiten fein Leben
hervorgeht, nur daß eine innerliche geiftige Regſamkeit jet jedes
der Theilden füllt, die unferer früheren Darftelung nur als
Ausgangspunkte phufifcher Kräfte. von Bedeutung waren. So
wenig es und früher möglich ſchien, aus der Durchkreuzung phy⸗
ſiſcher Wirkungen der Nerven die eigenthiimlichen Elemente des
geiftigen Lebens zu erflären, fo wenig reicht jett die vergeiftigte
Ratur der Theile bin, um die Entftehung des einen Bewußt⸗
ſeins in uns begreifliher zu machen. Was aud immer jedes
Atom eines Nerven innerlich in fid erleben mag, ob e8 unter
dem Eindruck der äußeren Reize eine der unferigen ähnliche ober
ihr unähnlihe Empfindung erzeugen, fie wie wir mit einem
Grade der Luft oder Unluft begleiten und ſich durch fie zu Stre⸗
bungen hinreißen laffen mag: all diefes innere Leben ift für un-
fere eigene geiftige Entwidlung ohne alle Bedeutung, fo lange
es fi nicht äußert. Nur dadurch, daß jedes Atom der Nerven
anf das ihm zunächft Tiegende feinen Eindrud überträgt, bis durch
die gefchloffene Kette aller die Erregung auch unferer Seele über:
liefert wird, nur hierdurch greifen die inneren Zuftände Diefer
Elemente in die Geftaltung unferes geiftigen Lebens mitbeftim-
mend ein. Aber Feines von ihnen theilt feinem Nachbar biefe
Zuftände fertig mit; keine Welle bewußter Empfinbung, leben:
digen Gefühles und Strebens Tann fich in der Bahn des Ner:
ven fortbewegen, um durch bloßen Eintritt in unjere Seele mım
unfere Empfindung, unfer Gefühl, unfer Wille zu werben; jebes
einzelne Weſen kann das, was fein eigner Zuftand fein fol, nur
durch die Thätigfeit feiner eigenen Natur in fich felbft erzeugen,
412
und nichts wird darauf anlommen, ob der äußere Reiz, welcher
e8 Dazu anregt, dem zu erzeugenden Zuftande ſelbſt ſchon glich
oder nicht. Wenn die Begeifterung für einen großen Gedanken
vafch über eine Menge der Menfchen fich verbreitet, jo geht fie
nicht fertig von einem zum andern über, wie eine Luftart ober
ein anſteckendes Miasma, welches der eine Körper ausdünſtet und
ber andere einathmet. Jede Seele muß dur ihre eigene Kraft
fie von neuem erzeugen und aus ihrem Innern heraus fid für
ben Gegenftand entflammen, deſſen Bild und Vorſtellung felbft
nur durch mannigfache VBermittlungen eonventioneller Spradjlaute
und aufflärender Erinnerungen von einem zum andern mittheil-
bar ift.
Haben wir daher ſchon Yängft die Möglichkeit zugegeben,
daß in jebem Atom des Nerven ein dem ähnlicher Vorgang fih
ereigne, welchen unfer eigenes Innere in der bewußten Empfin-
dung erfährt, fo müfjen wir doch zugleich Die andere Behauptung
wiederholen, die wir hinzufügten, die nämlich, daß für alle Ent-
wicklung der Pſychologie diefe Möglichkeit vollkommen gleichgültig
ift. Für die Erzeugung unferer Empfindung kommen die Nerven
nur als Boten in Betracht, dazu beftimmt, eine Nachricht an
ihren Empfänger zu befördern. Vielleicht Fennen die Boten den
Inhalt der Nachricht und überdenken ihn während des Weges
mit gemüthlicher Theilnahme; aber in dem Empfänger wird Ver:
ſtändniß und Würdigung des Inhaltes, wenn beides ihm nid
aus feinem eigenen Innern quillt, Durch das Mitgefühl des Ueber⸗
veichenden nicht erzeugt, und nicht dadurch gemindert werben,
daß eine völlig theilnahmlofe Hand ihm zulegt gleichgültig ihre
Botichaft itberlieferte. Die Aufgabe, zu melcher fie berufen find,
erfüllen daher die Nerven ganz ebenfo gut, wenn fie nur Bahnen
für die Leitung eines vein phyſiſchen Vorganges find, der nur ein:
mal, nur bei feinem Eindrud auf unfere Seele, eine Verwand⸗
Yung in Empfindung erfährt, und der Wiſſenſchaft ift es, nicht
ohne großen Bortheil für ihre Sicherheit, erlaubt, jede Rüuchſicht
auf die unbekannte geiftige Regſamkeit bei Seite zu laſſen, mit
413
welcher ihrerſeits die Afthetifche Anficht der Natur alles Vorhan⸗
dene erfüllen darf.
In der That nur die Schönheit der lebendigen Geftalt wird
ung verftändlicher durch dieſe Borausfegung. Sie würde aller-
dings auch für jene Anficht nicht dazufein aufhören, für welche
der Körper nur eine Summe unbelebter Theile wäre; jo wie wir
in dem Faltenmwurf des beweglichen Gewandes die Kraft und Größe,
Anmuth und Zierlichleit, wie den wechſelnden Reichthum ber
Thätigfeiten nachempfinden, durch deren Spuren das geiftige Leben
den felbftlofen Stoff zu befeelen weiß, jo würde der Körper, als
eine noch folgfamere Hülle und zu mannigfaltigerem Ausdrucke
geſchickt, uns die ſchöne und unbedingte Herrichaft der Seele über
die finnlihen Mittel der Erfheinung verrathen. Aber gewiß ge=
winnt die Wärme diefer Schönheit, wenn wir das Ebenmaß ber
menſchlichen Geftalt und die harmonifche Lagerung ihrer Theile
nicht nur als die feine Berechnung eines in ſich zufammenpaffen-
den Werkzeuge, wenn wir die anmuthigen Verfchiebungen, durch
welche im Wechſel der Stellungen jeder Theil, ſich Tpannend oder
erfchlaffend, mit den iibrigen ein neues Gleichgewicht fucht, nicht
nur als das Kunſtſtück einer ihre eigenen Störungen ausgleichen-
den Berrihtung zu fallen brauden; wenn wir vielmehr in jedem
Punkte der Geftalt ein Gefühl ahnen birfen, in welchem er das
Gluck feiner eigenthiimlichen Stellung. und, feiner mannigfachen
Beziehungen zu dem Ganzen genießt, oder wenn wir in jenem
abgeftuften Nachhall Teifer Dehnungen und Stredungen, mit denen
jede örtliche Bewegung fi) über die Umriffe bes Körpers ver-
breitet, ein Zeichen des feelenvollen Verſtändniſſes erbliden, mit
welchem alle Theile zu dem gemeinfamen Genuffe ihrer ſchönen
Berfettung zufammenftimmen.
Es ift das Bild einer gefelligen Ordnung vieler Wefen,
unter welchem wir jet die lebendige Geftalt und ihr geiftiges
Leben auffaffen. An einen bevorzugten Punkt der Organifation
geftellt, fammelt die beherrfchende Seele die unzähligen Eindrücke,
die ihr eine Schaar mefentlich gleichartiger, aber durch die gerin=
414
gere Bedeutung ihrer Natur minder begünftigter Genoffen zufühtt.
In ihrem Innern hegt fie das Empfangene und geftaltet e8 zu bewe⸗
genden Untrieben, welche fie der bereitwilligen Kraft jener Gefähr-
ten zur Entwidelung georbneter Rückwirkungen mittheilt. Ein allge-
meines Verftändniß und Mitgefühl durchdringt Diefe Bereinigung
und kein Erlebniß des einen Theiles muß nothwendig verloren fein
für den anderen, nur der eigene Plan des Ganzen kann die alljet-
tige Verbreitung der Wirkungen hemmen. Ich weiß nicht, in welchen
Bunkte die Befriedigung, die mir diefe Anficht zu gemähren fcheint,
durch die Annahme überboten werden könnte, welde die völlige
Verſchmelzung der Seele mit der Teiblihen Organifation verlangt,
und den mittelbaren Genuß, den die unfere jedem einzelnen Theile
von den Erlebnifien der übrigen verfchafft, in ein unmittelbares
Bufammenfallen aller verwandeln möchte. Wenn wir die Seele
wie einen verſchwommenen Haud durch den Umfang des Körpers
ausgebreitet denfen, wenn wir fie unmittelbar mitleiven und mit-
thun laſſen, was er in jedem Augenblide und an jedem einzel-
nen Punkte feines Baues erfährt und leiftet: gewinnen wir da⸗
durch etwas, was uns die Borftellung einer mittelbaren Wechſel⸗
wirkung nicht gewähren könnte? Werben die Empfindungen und
weniger deutlich zu Theil, wenn wir ihre Erregung nur von ber
legten Einwirkung eines phufifchen Nervenreized auf die Natur
einer untheilbaren Seele abhängig denken, und werben fie klarer
dadurch, daß wir jeden einzelnen Schritt der phyſiſchen Vermitt-
lung, durch welche fie uns überliefert werben, von einer geiftigen
ZThätigfeit begleitet fein Iaffen, die doch nie im Bemußtfein zum
Vorſchein kommt? Sind unfere Bewegungen vielleicht in böbe-
rem Sinne unfere eigenen lebendigen Thaten, wenn unjer Wille
mitläuft bis an das Ende der motorischen Nerven und vielleicht
b18 in die Fafern der Musfeln, und bleiben fie nicht vielmehr
eben fo wohl unfer Eigenthum, wenn nur einmal eine Regung
der Seele nöthig war, um den vorbereiteten Zufammenhang
bienftdarer Theile zur Thätigkeit aufzurufen? Was überhaupt
jollte und bewegen, dieſes Mare Bild einer geordneten Herrſchaft
415
des Einen über eine organifirte Vielheit in die tritbe Borftellung
jener dumpfen Einheit Aller zu verwandeln, in welcher jede regel-
mäßige Form der Wechfelwirkung, welche die Beobachtung uns
kennen lehrt, nur noch eine unverftändliche Weitläuftigfeit zu fein
fhiene? Alles, was wir im Leben ſchätzen und woraus jeber
edlere Genuß entipringt, ruht auf dieſer Form der Verbindung
eines Mannigfachen; in unzähligen Individuen verkörpert, fiihrt
Das menſchliche Gefchlecht dieſes Leben beftändiger Wechfelwirkung
ber gegenfeitigen Theilnahme in Liebe und Haß, des beftändigen
Bortihritted, der den Gewinn des einen Theile zum Mitgenuſſe
der übrigen bringt. Jede Berichmelzung der Vielen zu Einem
fett nur Die Größe des Lebens und des Glückes herab, denn fie
vermindert die Anzahl der Weſen, deren jedes für ſich den Werth
gegebener Verhältniffe hätte genießen Können. Ueberall ift bie
Einheit, in die wir uns fehnen mit einem Andern einzugeben,
nur die vollftändige Gemeinſchaft der Mittheilung, der gegenfeitige
Mitgenuß des fremden Wefens, aber nie jene trübe Vermifchung,
in der alle Freude der Vereinigung zu Grunde geht, weil ſie mit
dem Gegenfag auch das Dafein deſſen aufhebt, mas feine Ber:
fühnung empfinden konnte.
Und wie wenig beglinftigt endlich Doch die unbefangene Be⸗
obachtung den Traum von diefer Einheit! Aus zerftreuten Be-
ftandtheilen der Außenwelt wird allmählich diefer Bau des Kör-
pers zufammengelefen, und in beftändigem Wechſel gibt er ihr
Theile zurück. Was ift alfo das, womit die Seele Eines fein
Könnte? Verſchmilzt fie abwechjelnd mit dem ankommenden Erfag
des Leibes und ſcheidet fih aus von dem zerfallenden Reſte, worin
ann dann jene Einheit anders beftehen, al8 in Wechfelwirkungen,
die fich entjpinnen und wieder erlöfchen, je nachdem der Naturlauf
neue Elemente zu ber Gefellung der übrigen binzutreten läßt,
andere aus ihren Beziehungen verbrängt? Wie das Reiſegewühl
der Menfchen ift dieſes Leben der Theile. Wir wiſſen nicht, wo—
ber fie kommen und nicht wohin fie gehen; fremd gerathen fie
zufammen und für kurze Zeit bilbet ſich zwiſchen ihnen ein ge—
416
felliger Verkehr, dem gemeinfamen Zwede der Reife in allgemet=
nen Regeln des Berbaltens entſprechend, und jeder fammelt in
fih die Anregungen, die das mittbeilende Wiſſen des Anderen
ihm gewährte. So mögen wir wohl jedes Atom des Körpers
als den Sig einer eigenen geiftigen Regſamkeit denen; aber wir
fennen fie nicht; wir wiffen nichts von ihrer früheren Geſchichte,
und nichts von der Entfaltung, die ihr vielleicht die Zukunft bringt;
für einen vorübergehenden Zeitraum in den regelmäßigen Strudel
unfere8 lebendigen Körperd hineingezogen, mag jedes Clement
feine eigenen inneren Zuftände durch neue Erfahrungen bereichern
und unferer Entwidlung durch die vermittelnde Fortpflanzung ber
Erregungen dienen, welche die Außenwelt ihm mittheilt; aber fein
inneres Leben ift doch nie das unfere, und wenn dieſe Vereini—
gung der verſchiedenen Wefen zu Grunde geht, auf denen umfere
lebendige Geftalt beruht, dann haben wir wohl alle zufammen
etwas Gemeinfames erlebt, aber doch nur als urfprünglich ver-
ſchiedene Weſen, die aus einer vorübergehenden Berührung fi
wieder trennen.
Fünftes Kapitel.
Bon den erften und lebten Dingen des Seelenleben®.
Beſchränltheit ber Erkenntniß. — Fragen über bie Urgeſchichte. — Unſelbſtändigkeit
alles Mechanismus. — Die Naturnothwendigkeit und bie unenbliche Subflanz. —
Möglichteit deB Wirkens überhaupt. — Urfprung beftimmter Geſetze des Wirkens.
— linfterblichleit. — Entftehung ber Seelen.
Aber woher famen am Anfang der Gefchichte zu dieſem
Spiele des befeelten Lebens jene Weſen zufammen, um in folder
Bereinigung zu Trägern fo fchöner Entwidlungen zu werben?
Und wie wiederholt ſich in der Fortpflanzung der Gefchlechter
dieſes Wunder, welches jede Seele ihren Körper finden, jede be-
ginnende Teibliche Organifation den belebenden Haud ihres Geiftes
417
empfangen läßt? Welche Schickſale endlich ſtehen nach der Wuf-
löſung diefer Gemeinfhaft den einzelnen Wefen bevor, und am
meiften jener einen Seele, deren Beftimmung zu unendliche Ent-
faltung durch Die Bedentung deſſen verbürgt jcheint, was fie in
diefem leiblichen Leben begounen und errungen hat?
Zu dieſen Tragen führt unvermeiblih unfere Betrachtung
und zulegt zurück; und je ſchärfer wir das Bild der gegenfeitigen
Beziehungen zwiſchen Körper und Seele zu zeichnen verjucht haben,
ym jo mehr müfjen wir uns aufgefordert fühlen, durch eine Auf-
Härung über den Urfprung diefes Zufammenhanges und den Sinn
feiner endlichen Auflöſung einen Abſchluß unferer Auffafiungen
zu ſuchen. Aber follen wir und gegenfeitig täufhen? Ich, in-
dem ich vorgäbe, eine Löſung diefer Räthſel zu kennen, und wer
mir bis hierher gefolgt, dadurch, daß er ſich ftellte fie mir zuzu—
trauen? Nicht einmal des Rückblickes auf die erfolglofen Au-
#trengungen von Jahrhunderten bedarf e8, fondern nur einer ein-
fachen Erinnerung an die Mittel, die menſchlicher Erkenntniß ge:
geben find, um die Hoffnungslofigfeit jedes Unternehmens zu
_ empfinden, das über dieſe erften und letzten Dinge die Klarheit
anſchaulicher Exfenntniß zu verbreiten fuchte. Keinen Augenblid
mögen wir uns daher dem trügerifhen Traume bingeben, als
könne e8 je gelingen, in fichere Erkenntniß zu verwandeln, was
nur als gläubige Ahnung das Gebiet menſchlicher Erfahrung zu
umgeben beftimmt if. Aber eine Aufgabe bleibt uns dennoch.
Denn fo jehr wir uns verfagen, Bilder deſſen zu entwerfen, was
über die Grenzen dieſes Gebietes hinausliegt, fo müffen wir Doch
zuſehen, ob die Betrachtungen, die wir innerhalb deſſelben ans
gefnüpft haben, wenigftens die Möglichleit eines befriedigenden
Abſchluſſes in unerreihbarer Ferne übrig laffen, oder ob daß,
was wir zu wiflen überzeugt find, felbft die Hoffnung einer fol-
hen Ergänzung abſchneidet. Wohl werden der menſchlichen Ein-
ſicht unausfüllbere Läden übrig bleiben, aber fie kann nicht, ohne
ſich felbft aufzugeben, an das glauben wollen, deſſen Unverein-
Lotze J. 3. Aufl 27
410
ein anderer als der, auf welchem die Natur der Sache fi eni-
widelt; Nichts bleibt uns übrig, als der Erfahrung die Geſetze
abzulaufchen, die fich in den legten Verzweigungen der Wirklich⸗
feit geltend exweifen, für das Ganze der finnlichen Welt aber und
im Stillen das Verſtändniß zu bewahren, daß fie Doch nur die
Verhüllung eines unendlichen geiftigen Lebens ift.
Werfen wir nun einen Blick auf die Vortheile, welche dieſe
Umgeftaltung unſerer Anfichten für die Auffaffung des Verhäli⸗
niffes zwiſchen Leib und Seele gewähren Tönnte, jo werden wir
fie vielleicht geringer, vielleicht in anderer Richtung gelegen finden,
als wir erwarteten. Wer Anftoß an der Möglichkeit einer Wech⸗
ſelwirkung nahm, die zwiſchen der Seele und dem anders gearte⸗
ten Realen der Materie ftattfinden jollte, wird feine Bedenken
nun buch bie Einficht beſchwichtigen Können, daß ja in der That
nicht verſchiedene Weſen einander hier gegenüberſtehen, fondern daß
die Seele als ein untheilbares Weſen, ber Körper als eine zu:
ſammengeordnete Bielheit anderer, ihrer Natur nach verwandte
und nun gleichartige Glieder dieſes Berhältnifies find. Nicht auf den
Körper, fofern er Materie ift, wirkt die Seele, jondern fie wirkt
auf die mit ihr vergleichbaren überfinnlichen Wefen, die nur
durch eine beftimmte Form ihrer Verknüpfung und den Auſchein
der ausgedehnten Materie gewähren; nicht als Stoff und nidt
mit Werkzeugen des Stoffes übt der Körper feinen Einfluß uf -
den Geift, ſondern alle Anziehung und Abſtoßung aller Drud
und Stoß find felbft in jener Natur, die und aller Befeelung
ledig Scheint, felbft wo fie von Stoff zu Stoff wirken, nur ber
erfcheinende Ausdruck einer geiftigen Wechſelwirkung, in der allein
Leben und Thätigfeit if. Aber wir Iegen wenig Werth auf die
fen Bortheil, durch den nur eine eingebildete Schwwierigfeit ent
fernt, und das Unbegreifliche, wie Aberhaupt Eines auf das Andere
wirken könne, uns nicht Harer wird.
411
Noch weniger kann unfere Anſicht jenen gefallen, denen ein
völliges Ineinanderaufgehen von Kdrper und Secle der nothwen⸗
dige und allein wunſchenswerthe Abſchluß aller unferer Betrach⸗
tungen ſchien. Denn fo fharf wie jemals vorher fahren wir auch
jest fort, Die eine untheilbare Seele, die wir die unfere nennen,
dem befeelten Körper gegeniberzuftellen, und fo hartnädig mie früher
müffen wir den Körper felbft als ein Syſtem von Theilen be=
trachten, aus deren zuſammenwirkenden Thätigfeiten fein Leben
hervorgeht, nur daß eine innerliche geiftige Regſamkeit jet jedes
der Theilden füllt, Die umnferer früheren Darftellung nur als
Ausgangspunkte phnfifcher Kräfte von Bedeutung waren. So
wenig e8 uns früher möglich ſchien, aus der Durchkreuzung phy⸗
ſiſcher Wirkungen der Nerven die eigenthümlichen Elemente des
geiftigen Lebens zu erflären, fo wenig reicht jet die vergeiftigte
Natur der Theile bin, um die Entftehung des einen Bewußt-
ſeins in uns begreiflihder zu maden. Was auch immer jedes
Atom eines Nerven innerlich in ſich erleben mag, ob es unter
dem Eindrud der Äußeren Reize eine der unferigen ähnliche ober
ihr unähnlide Empfindung erzeugen, fie wie wir mit einem
Grade der Luft oder Unluft begleiten und ſich durch fie zu Stre⸗
dungen binreißen laffen mag: all dieſes innere Leben ift für un-
fere eigene geiftige Entwidlung ohne alle Bedeutung, fo lange
es fih nicht äußert. Nur dadurch, daß jedes Atom der Nerven
anf das ihm zunächft liegende feinen Eindruck überträgt, bis durch
die gefchloffene Kette aller die Erregung auch unferer Seele über:
liefert wird, nur hierdurch greifen Die inneren Zuſtände Diefer
Elemente in die Geftaltung unferes geiftigen Lebens mitbeftim-
mend ein. Aber keines von ihnen theilt feinem Nachbar dieſe
Zuſtände fertig mit; feine Welle bemußter Empfindung, Ieben-
digen Gefühles und Strebens kann fih in ber Bahn des Ner:
ven fortbewegen, um durch bloßen Eintritt in unjere Seele nun
unfere Empfindung, unfer Gefühl, unfer Wille zu werben; jedes
einzelne Weſen Tann das, was fein eigner Zuftand fein fol, nur
Durch bie Thätigfeit feiner eigenen Natur in ſich felbft erzeugen,
412
und nichts wird darauf ankommen, ob der äußere Reiz, welcher
es dazu anregt, dem zu erzeugenden Zuſtande ſelbſt fchon glich
oder nit. Wenn die Begeifterung für einen großen Gedanken
vafch über eine Menge der Menſchen fich verbreitet, jo geht fie
nicht fertig von einem zum andern über, wie eine Luftart ober
ein anftedlendes Miasma, welches der eine Körper ausdünſtet und
ber andere einathmet. Jede Seele muß durch ihre eigene Kraft
fie von neuem erzeugen und aus ihrem Innern heraus fi für
den Gegenftand entflammen, deſſen Bild und Vorftellung felbft
nur duch mannigfache Bermittlungen conventioneller Spradlaute
und aufllärender Erinnerungen von einem zum andern mittheil⸗
ber ift.
Haben wir daher ſchon längſt die Möglichkeit zugegeben,
daß in jedem Atom des Nerven ein dem ähnlicher Vorgang fid
ereigne, welchen unfer eigenes Innere in der bewußten Empfin:
dung erfährt, fo müſſen wir doch zugleich die andere Behauptung
wiederholen, die wir Hinzufügten, die nämlid, daß für alle Ent-
wicklung der Pſychologie diefe Möglichkeit vollkommen gleichgültig
if. Für die Erzeugung unferer Empfindung kommen die Nerven
nur al8 Boten in Betracht, dazu beftimmt, eine Nachricht an
ihren Empfänger zu befördern. Vielleicht kennen die Boten den
Inhalt der Nachricht und überdenken ihn mährend des Weges
mit gemüthlicher Theilnahme; aber in dem Empfänger wird Ver:
ftändnig und Würdigung des Inhaltes, wenn beides ihm nicht
aus feinem eigenen Innern quillt, dur das Mitgefühl des Ueber:
reichenden nicht erzeugt, und nicht dadurch gemindert werben,
daß eine völlig theilnahmlofe Hand ihm zulegt gleichgültig ihre
Botſchaft überlieferte. Die Aufgabe, zu welcher fie berufen find,
erfüllen daher die Nerven ganz ebenjo gut, wenn fie nur Bahnen
für die Leitung eines vein phnfifchen Vorganges find, der nur ein-
mal, nur bei feinem Eindrud auf unfere Seele, eine Verwand⸗
lung in Empfindung erfährt, und der Wiffenfchaft ift es, nicht
ohne großen Bortheil fiir ihre Sicherheit, erlaubt, jede Rüchſicht
auf die unbefannte geiftige Regſamkeit bei Seite zu Yaffen, mit
413
welcher ihrerſeits die Afthetifche Anficht der Natur alles Borhan-
dene erfilllen darf.
In der That nur die Schönheit der lebendigen Geftalt wird
uns verftänblicher durch dieſe Vorausſetzung. Site würde aller-
dings auch für jene Anficht nicht dazufein aufhören, für welche
der Körper nur eine Summe unbelebter Theile wäre; fo wie wir
in dem Faltenwurf bes beweglichen Gewandes die Kraft und Größe,
Anmuth und Zierlichleit, wie den wechſelnden Reichthum ber
. Thätigfeiten nachempfinden, Durch deren Spuren das geiftige Leben
den felbftlofen Stoff zu befeclen weiß, jo würde der Körper, als
eine noch folgfamere Hülle und zu mannigfaltigerem Ausdrucke
geſchickt, uns die fchöne und unbedingte Herrichaft der Seele über
die finnlichen Mittel der Erfeheinung verratben. Aber gewiß ge-
winnt die Wärme diefer Schönheit, wenn wir das Ebenmaß ber
menfhlihen Geftalt und die barmonifche Lagerung ihrer Theile
nicht nur als die feine Berechnung eines in fi zufaınmenpaffen-
den Werkgeuges, wenn wir die anmutbigen Verſchiebungen, durch
welche im Wechſel der Stellungen jeder Theil, fi) fpannend ober
erſchlaffend, mit den übrigen ein neues Gleichgewicht fucht, nicht
nur als das Kunſtſtück einer ihre eigenen Störungen ausgleichen-
den Berrihtung zu faffen brauchen; wenn wir vielmehr in jedem
Punkte der Geftalt ein Gefühl ahnen dürfen, in welchem er das
Glück feiner eigenthiimlihen Stellung. und feiner mannigfachen
Beziehungen zu dem Ganzen genießt, oder wenn wir in jenem
abgeftuften Nachhall Teifer Debnungen und Streckungen, mit denen
jede örtliche Bewegung ſich über Die Umriffe des Körpers ver-
breitet, ein Zeichen des feelenvollen Verſtändniſſes erbliden, mit
welchem alle Theile zu dem gemeinfamen Genuſſe ihrer ſchönen
Berkettung zufammenftimmen.
Es ift das Bild einer gefelligen Orbnung vieler Wefen,
unter welchem wir jegt die lebendige Geftalt und ihr geiftiges
Leben auffaffen. An einen bevorzugten Punkt der Organtfation
geftellt, fammelt Die beherrfchende Seele die unzähligen Eindrücke,
die ihr eine Schaar wefentlich gleichartiger, aber durch dic gerin-
414
gere Bedeutung ihrer Natur minder begünftigter Genoſſen zuführt.
In ihrem Innern hegt fie das Empfangene und geftaltet e8 zu bewe⸗
genden Untrieben, melche fie der bereitwilligen Kraft jener Gefähr-
ten zur Entwidelung georbneter Rückwirkungen mittheilt. Ein allge
meines Verſtändniß und Mitgefühl durchdringt diefe Bereinigung
und kein Erlebnif des einen Theiles muß nothwendig verloren fein
für den anderen, nur der eigene Plan des Ganzen kann die alljei-
tige Verbreitung der Wirkungen hemmen. Ich weiß nicht, in welchem
Punkte die Befriedigung, die mir diefe Anficht zu gemähren fcheint,
durch die Annahme überboten werben könnte, welche die völlige
Verſchmelzung der Seele mit der leiblichen Organifation verlangt,
und den mittelbaren Genuß, den die unfere jedem einzelnen Theile
von den Erlebniffen der übrigen verfchafft, in ein unmittelbares
Bufammenfallen aller verwandeln möchte. Wenn wir Die Seele
wie einen verſchwommenen Hauch durch den Umfang des Körpers
ausgebreitet denken, wenn wir fie unmittelbar mitleiden und mit-
thun laſſen, was er in jedem Augenblide und an jedem einzel-
nen Punkte feines Baues erfährt und leiftet: gewinnen wir da⸗
durch etwas, was uns die Borftellung einer mittelbaren Wechſel⸗
wirkung nicht gemähren könnte? Werben bie Empfindungen uns
weniger deutlich zu Theil, wenn wir ihre Erregung nur von ber
legten Einwirkung eines phyſiſchen Nervenreizes auf die Natur
einer untheilbaren Seele abhängig denfen, und werben fie Harer
dadurch, Daß wir jeden einzelnen Schritt der phyſiſchen Vermitt⸗
lung, durch welche fie uns überliefert werden, von einer geiftigen
Thätigfeit begleitet fein Laffen, die Doch nie im Bemußtfein zum
Borfhein kommt? Sind unfere Bervegungen vielleiht in höhe⸗
vem Sinne unfere eigenen lebendigen Thaten, menn unfer Wille
mitläuft bi8 an das Ende der motoriſchen Nerven und vielleicht
bi8 in die Fafern der Muskeln, und bleiben ſie nicht vielmehr
eben fo wohl unfer Eigenthum, wenn nur einmal eine Regung
ber Seele nöthig war, um ben vorbereiteten Zuſammenhang
dienftbarer Theile zur Thätigkeit aufzurufen? Was überhaupt
jollte und bewegen, dieſes klare Bild einer geordneten Herrichaft
415
des Einen über eine organifirte Bielheit in die trübe Vorftellung
jener bumpfen Einheit Aller zu verwandeln, in welcher jede regel-
mäßige Form der Wechſelwirkung, welche die Beobachtung un
fennen lehrt, nur noch eine unverftändliche Weitläuftigkeit zu fein
fhiene? Auch, was wir im Leben fchägen und woraus jeder
edleve Genuß entipringt, ruht auf diefer Form der Verbindung
eines Mannigfachen; in unzähligen Individuen verkörpert, führt
das menfchliche Geſchlecht dieſes Leben beftändiger Wechſelwirkung
der gegenfeitigen Theilnabme in Liebe und Haß, des beftändigen
Bortichrittes, der den Gewinn des einen Theiles zum Mitgenufle
der übrigen bringt. Jede Berfchmelzung der Vielen zu Einem
fegt nur die Größe des Lebens und des Glückes herab, denn fie
vermindert Die Anzahl der Weſen, deren jedes für ſich den Werth
gegebener Berhältniffe hätte genießen innen. Ueberall ift die
Einheit, in die wir und fehnen mit einem Andern einzugehen,
nur die vollftändige Gemeinfchaft der Mitteilung, der gegenfeitige
Mitgenuß des fremden Wefens, aber nie jene trübe Vermiſchung,
in der alle Freude der Vereinigung zu Grunde geht, weil fie mit
dem Gegenfag auch das Dafein deſſen aufhebt, mas feine Ver-
fühnung empfinden konnte.
Und wie wenig begünftigt endlich Doch die unbefangene Be-
obachtung den Traum von diefer Einheit! Aus zerftreuten Be-
ftandtheilen der Außenwelt wird allmählich diefer Bau des Kör—
pers zufammengelefen, und in beftändigem Wechſel gibt er ihr
Theile zurüd. Was ift alfo das, womit die Seele Eines fein
könnte? Verſchmilzt fie abwechſelnd mit dem antommenden Erfag
des Leibes und ſcheidet fi aus von dem zerfallenden Reſte, worin
kann dann jene Einheit anders beftehen, als in Wechſelwirkungen,
die ſich entfpinnen und wieder erlöfchen, je nachdem der Naturlauf
neue Elemente zu der Gefellung der übrigen binzutreten läßt,
andere ans ihren Beziehungen verdrängt? Wie das Reiſegewühl
der Menſchen ift dieſes Leben ber Theile. Wir wiffen nicht, wo—
her fie kommen und nicht wohin fie gehen; fremd geratben fie
zufammen und für kurze Zeit bildet ſich zwifchen ihnen ein ge=
a6 _
war Berdhr, Dee gemeiiamen Zwede der Reife in allgemei-
mer Kenia des Serdaltens entiprechend, unb jeder fammelt in
+ ie Meresenoer, Die das mittbeilende Wiſſen des Anderen
ıır gewährte Se mögen wir wohl jedes Atom bes Körpers
4 ex ig Oner ciaenen geiftigen Regfamfeit benfen; aber wir
irn &e ri: wer ifen midts von ihrer früheren Geſchichte,
zn? rıßef row der Extialtumg, die ihr vielleicht die Zufunft bringt;
% omen reräberachenden Zeitrumm in ben regelmäßigen Strudel
zrien$ Iherrisme Simers bineingezogen, mag jedes Element
ame Saaca irweren Zrũãande durch neue Erfahrungen bereichern
zu wre Gxomflrma tenb die vermittelnde Fortpflanzung der
Ermuenze Firmen, melde die Außenwelt ihm mittheilt; aber fein
zenrrE Schr :* de nie daß umfere, und wenn bieje Bereini-
gen: 2er veriiierneen Wein zu Grunde gebt, auf denen umfere
ternge Gekzir Ioreht, Damm haben wir wohl alle zufammen
mal Gemerizmeb erlebt, aber doch nur als urfprünglich ver-
nme Bir. te amd eimer vorübergehenden Berührung ſich
MENT mern
Fünftes Kapitel.
r
417
empfangen laͤßt? Welche Schickſale endlich flehen nad der Auf-
Yöfung diefer Gemeinſchaft den einzelnen Wefen bevor, und am
meiften jener einen Seele, deren Beftimmung zu unendlicher Ent-
foltung durch die Bedeutung deſſen verbirgt ſcheint, was fie in
Diefem leiblichen Leben begonnen und errungen hat?
Zu diefen Fragen führt unvermeidlich unfere Betrachtung
und zulegt zurüd; und je ſchärfer wir das Bild der gegenfeitigen
Beziehungen zwiſchen Körper und Seele zu zeichnen verfucht haben,
am fo mehr müfjen wir und aufgefordert fühlen, durch eine Auf—
Härung über den Urfprung diefes Zufommenhanges und den Sinn
feiner endlichen Auflöfung einen Abſchluß unferer Auffaffungen
zu ſuchen. Aber follen wir uns gegenfeitig täuſchen? Ich, in—
dem ich vorgäbe, eine Löſung diefer Räthfel zu kennen, und mer
mir bis hierher gefolgt, dadurch, daß er ſich ftellte fie mir zuzu—
trauen? Nicht einmal des Rüdhlides auf die erfolglofen Anz
ſtrengungen von Jahrhunderten bebarf e8, fondern nur einer ein
fachen Erinnerung an die Mittel, die menſchlicher Erkenntniß ger
geben find, um bie Hoffnungslofigteit jedes Unternehmens zu
., empfinden, daß über diefe erften und Iegten Dinge die Klarheit
anſchaulicher Erlenntniß zu verbreiten ſuchte. Keinen Augenblick
Mögen wir uns daher dem trügerifhen Traume hingeben, als
Zönne es je gelingen, in ſichere Exfenntniß zu verwandeln, mas
nur als gläubige Ahnung das Gebiet menſchlicher Erfahrung zu
Amgeben beſtimmt ift. Aber eine Aufgabe bleibt uns dennoch.
Denn fo fehr wir us verlanen. Bilber deffen zu entwerfen, was
gt, fo muſſen wir doch
nerhalb defielben au—⸗
eines befriedigenden
laſſen, oder ob das,
ie Hoffnung einer ſol⸗
der menſchlichen Ein-
‚er fie fann nit, ohne
Ien, deſſen Unverein=
27
418
barkeit mit der nothwendigen Geltung ihrer eigenen Grundfäte
fie begreift.
Zur Erwägung bdiefer legten Fragen finden wir die Bor-
ftellungsweifen unzulängli, in denen wir uns bisher bewegt
haben. Denn fie alle festen den Zuſammenhang der Wirklichkeit
als eine fertige, gegebene Thatſache voraus und bemühten fid
nur um bie Auffindung der allgemeinen Geſetze, nad) denen die⸗
fer vorhandene Weltlauf feine einzelnen Ereigniffe auseinander
entwidelt. So galten fie alle nur ber Erhaltung und der Fort⸗
fegung eines Erſcheinungskreiſes, deſſen erfte Entſtehung und end-
liches Ziel fie abfichtlih aus dem Bereiche ihrer Unterfuhungen
ausſchloſſen. Und in der That, fo wie wir aus dem fihtbaren
Bau der fertigen Mafchine die Wirkungen, welche fie Teiften Tann,
und bie Neibenfolge derfelben berechnen, ohne in diefer Beur⸗
theilung weſentlich geförbert zu werben durch die Kenntniß ihres
Urfprunges und des Herganges ihrer Erbauung: ebenfo vermögen
wir die Erhaltung der Welt und den Rhythmus ihrer Ereigniffe
aus ihrem gegenwärtigen Beftande zu verftichen, auch ohne bie
Geſchichte der Schöpfung zu fennen, aus der fie entiprang. Aber
allerdings nur um den Preis, daß wir für jeden einzelnen Augen-
blick den Grund der beftimmten Geftalt, mit welcher die Ereig-
niffe ihn füllen, in dem vorhergehenden Augenblid als vorhan-
dene Thatſache vorausfegen. So ſchieben wir nur das Näthfel
Schritt für Schritt zurüd, um enblih bei dem Geftändniß an⸗
zulangen, daß der erfte Urfprung von Allem uns unverftändlid
bleibt, und daß wir in allem Weltlauf höchſtens Abwechſelungen
der Entwickelung, aber nie die Entftehung jener erften Anorb-
nung begreifen, auf welcher die Möglichkeit all dieſes Wechſels
auf einmal beruht.
Man täuſcht ſich, wenn man glaubt, die Wiſſenſchaft ver⸗
möge irgendwo dieſe Schranken zu überſchreiten. Nachdem die
Vorſtellung von der Bildung des Planetenſyſtems aus einem feu-
rigen Nebel, eine geniale Anficht über Ereigniffe einer Vorzeit,
die aller Erfahrung entzogen ift, in den Beitand der allgemeinen
419
Bildung übergegangen ift, jo meint man wohl, nun doch einmal
endlich eine ſchöne Ordnung der Erſcheinungen, zwar nicht aus
Nichts, aber doch wenigften® aus einem formlofen Urgrunde über-
zeugend 'entwidelt zu haben. Aber man. vergift, daß die Ge-
ſchichte dieſes Feuerballs, den man fo fcharffinnig in feine ſpä⸗
teren Geftaltungen verfolgt, nothwendig auch rückwärts ſich in eine
unendliche Bergangenbeit verlängert. Der allmählich erkaltende
und fich verdichtende muß eine Zeit erlebt haben, da feine Tem:
peratur noch höher, feine Ausdehnung größer war; wo Tiegt num
der Anfangsaugenblid der Verdichtungsbewegung, in deren Forts
fegung begriffen jene Vermuthung ihn aufgreift? Und woher
flammt die urfprünglige Richtung und Geſchwindigkeit der Dres
Hung, in welcher wir alle feine Theilchen übereinſtimmend bewegt
vorausfegen müflen? Auch diefe Formlofigkeit war mithin doch
nicht der Anfang der Welt; fie war nur einer jener mittleren
Punkte, in welchen frühere Formen der Ereignifie flr die An-
ſchauung fih in eine unſcheinbare Einfachheit zufammengezogen
haben; aber durch dieſen Punkt hindurch gehen die Stoffe, die
Kräfte und Bewegungen der Wirklichkeit unverloren und unab⸗
gebrochen fort, um jenfeitS wieder in die Mannigfaltigfeit einer
neuen Entwidlung fi) auszubreiten. So liegt fir alle Ordnung
der Ereigniffe der Grund immer in einer früheren Ordnung, und
wie mannigfach dieſe Melodie des Werdens bald in größeren
Reichthum anfchwillt, bald in unſcheinbare Keimgeftalt fich zuſam⸗
menzicht: fie bat doc fir und nicht Anfang noch Ende, und alle
unfere Wiſſenſchaft klimmt nur auf und ab an dieſem Unend⸗
fihen, ben inneren Zufammenhang einzelner Streden nad all-
gemeinen Geſetzen begreifend, aber überall unfähig, den erften
Urfprung des Ganzen oder das Ziel zu fehen, dem feine Ent-
wicklung zuftrebt.
Und melde Lehre ziehen wir aus dem Bewußtfein dieſer
Beichränttheit? Keine andere gewiß, als für ung felbft die Mah⸗
nung, mit unparteitifher Geduld zu erwarten, wie weit und die
Fortſchritte der Wiſſenſchaft in Vergangenheit und Zukunft führen
27°
420
werben; für die Wiffenfcheft jelbft aber den Wunſch, daß fie mit
unbefangener Genauigkeit fortarbeiten möge, ohne durch Vorliebe
für ein beſtimmtes Exrgebniß ihrer Unterfuchungen ſich mißleiten
zu Iaffen. Denn was fie uns auch Iehren möge: an das Ende
der Tinge wird fie uns doch nicht führen, und die Berirfnifie
unſeres Gemüthes werden nie durch die Enthullung einer zeit:
lichen Borgefchichte unfere8 Dafeins, fondern nur durch Die Er:
kenntniß der ewigen Verknüpfung befriedigt werden, die zu allen
Zeiten die veränderlihe Welt der Erſcheinungen mit ver Welt
des wahrhaft Seienden zuſammenhält. Beſäßen wir dieſe Er-
kenntniß, wie wenig würden wir gewinnen, wenn es uns nun
gelänge, jene Fragen nad der erften Entſtehung des menſchlichen
Gefchlechtes ficher zu beantworten, auf welche wir leidenſchaftlich
oft fo übergroßen Werth legen! Bielleicht vermehrt eines Tages
ein unerwartetes Glüd die unzulängliden Ausgangspunkte ber
Forſchung und befähigt uns zu einer Entjheidung, die Niemand
jegt zu geben vermag. Gefegt nun, dieſe befjere Kunde ftellte
für uns die Annahme fiher, an der fo Bieler Herzen hängen,
die Annahme, Daß mit blinder innerer Nothwendigfeit Das noch
formloje Chaos des Weltanfanges fih in fletiger Vervollkomm⸗
wung bis zur unvermeidlichen Erzeugung der Menfchheit verflärt
babe: fchlöffe fi dann für die Wiffenfchaft der Ausblid im un-
endliche Fernen, den fie zu fliehen fchemt? Wenn fie es num
begreiflich machen Könnte, wie aus dem feurigen Dunftball zuerft
- die Feſte der Erdrinde und der Himmel des Luftkreiſes fich ſchie⸗
den, mie jeder Schritt dieſer Sonderung den Wahlnermanbtichaften
der Elemente Gelegenheit zu neuen Wirkungen gab, wie daun
unter den gunſtigen Umſtänden, welche die blinde Nothivendigfeit
dieſes Naturlaufes herbeiführte, der erfte Keim einer Pflanze,
eines Thieres entftand, noch einfach und unausgebildet von Um:
riffen und wenig zu bebeutfamer Entfaltung geſchickt, wie endlich
unter glücklichen Bedingungen, zu deren Herftellung doch dieſes
arme Leben ſchon mitthätig war, allmählich das organtiche Da-
fein ſich verebelte, niedere Gattungen im Laufe ungezählter Iahr-
421
hunderte fih in höhere entwidelten, bis zuletzt die Menſchheit,
nicht nah dem Bilde Gottes, fondern als das letzte Glied in
dieſer Kette nothwendiger Ereigniffe hervorging: wenn dies Alles
die Wiſſenſchaft begreiflih machen Könnte, was würde fie Damit
mehr geleiftet haben, als daß fie das Wunder der unmittelbaren
Schöpfung auf einen noch früheren Punkt der Vorzeit zurückge⸗
fhoben hätte, in welchem die unendliche Weisheit in dies um=
Icheinbare Chaos die unermeßliche Fähigkeit zu fo geordneter Ent:
widlung legte? Mit der ganzen Reihenfolge abgeftufter Bil-
dungsepochen, durch welche hindurch fie den formlofen Urgrund
ſich auögeftalten Tiefe, witrde fie nur den Glanz und die Man-
nigfaltigfeit der Scenen vermehren, in deren änßerlihen Pomp
unſere Phantafie bewundernd ſich vertiefen Könnte; aber fie würde
das Ganze des wunderbaren Schaufpiele8 nicht zureichender erflärt
haben, als jener fich ſelbſt beſcheidende Glaube, für welchen bie
Entftehung der lebendigen Gefchledhter nur aus dem ummittel-
baren Schöpferwillen Gottes begreiflich ſcheint. Diefe Dinge find
es, deren Entſcheidung wir, fo weit die Wiffenfchaft fie je wird
geben können, getroft von ihrer unbefangenen Wahrheitsliebe er-
werten müffen; welchen Weg der Schöpfung Gott gewählt haben
mag, feiner wird die Abhängigfeit der Welt von ihm Ioderer wer⸗
den Iaffen, feiner fie fefter an ihn knüpfen Tönnen.
Aber diefe Geduld der Erwartung pflegen wir fehr wenig
zu befigen; mit dem leidenſchaftlichſten Eifer ftehen vielmehr jene
Beiden Auffaffungen der Wirklichkeit einander gegenüber, von denen
Die eine den Weltlauf in. reinen Mechanismus zu verwandeln
ftrebt, Die andere, indem fie an Die unmittelbare Wirkfamteit einer
göttlichen regierenden Weisheit glaubt, vielleicht Hinter ihrem eige=
nen Sinne noch zurüdbleibt. Denn darin finde ih das Halbe
und Unzulängliche diefer Meinung, daß fie meift erft durch bie
Betrachtung des Lebendigen und des Scelenlebens fich zu Dem
Belenntniß einer höheren, die zerftrenten Ereigniffe zu dem Ganzen
eines Weltlaufes verbindenden Macht aufregen Täßt. Auch ihr
fcheint es doch möglich, daß die regelmäßige Ordnung der äußern
412
und nichts wird darauf ankommen, ob der äußere Reiz, welcher
8 dazu anregt, dem zu erzeugenden Zuſtande felbft ſchon glich
oder nicht. Wenn die Begeifterung fir cinen großen Gedanken
raſch über eine Menge der Menſchen ſich verbreitet, jo geht fie
nicht fertig von einem zum andern über, wie eine Luftart ober
ein anftedendes Miasma, welches ber eine Körper ausdünſtet und
der andere einathmet. Jede Seele muß durch ihre eigene Kraft
fie von neuem erzeugen und aus ihrem Innern heraus fi für
den Gegenftand entflammen, deſſen Bild und Vorftellung felbft
nur durch mannigfache Bermittlungen conventioneller Spradlaute
und aufllärender Erinnerungen von einem zum andern mittheil-
bar ift.
Haben wir daher ſchon längſt die Möglichkeit zugegeben,
daß in jedem Atom des Nerven ein dem ähnlicher Vorgang fid
ereigne, welchen unfer eigened Innere in der bewußten Empfin-
dung erfährt, fo müſſen wir Doch zugleich die andere Behauptung
wiederholen, die wir Hinzufligten, die nämlich, daß für alle Ent-
wicklung der Pfychologie dieſe Möglichkeit vollfommen gleichgültig
if. Für die Erzeugung umferer Empfindung kommen die Nerven
nur als Boten in Betracht, dazu beftimmt, eine Nachricht an
ihren Empfänger zu befördern. Vielleicht fennen Die Boten ben
Inhalt der Nachricht und überdenken ihn während des Weges
mit gemithlicher Theilnahme; aber in dem Empfänger wird Ber:
ftändnig und Würdigung des Inhaltes, wenn beides ihm nicht
aus feinem eigenen Innern quillt, durch das Mitgefühl des Ueber:
reichenden nicht erzeugt, und nicht dadurch gemindert werben,
daß eine völlig theilnahmlofe Hand ihm zulegt gleichgültig ihre
Botſchaft überlieferte. Die Aufgabe, zu welcher fie berufen find,
erfüllen daher die Nerven ganz ebenfo gut, wenn fie nur Bahnen
für die Leitung eines rein phnfifchen Vorganges find, der nur ein-
mal, nur bei feinem Eindrud auf unfere Seele, eine Bermand-
lung in Empfindung erfährt, und der Wiſſenſchaft ift es, nicht
ohne großen Bortheil für ihre Sicherheit, erlaubt, jede Rüdficht
auf die unbekannte geiftige Regſamkeit bei Seite zu Yaffen, mit
413
welcher ihrerſeits die Afthetifche Anficht der Natur alles Vorhan⸗
dene erfüllen darf.
In der That nur die Schönheit der lebendigen Geftalt wird
ung verftändlicher durch dieſe Vorausfegung. Site würde aller-
dings auch für jene Anficht nicht dazufein aufhören, für melde
der Körper nur eine Summe unbelebter Theile wäre; fo wie wir
in dem Faltenwurf des beweglichen Gewandes die Kraft und Größe,
Anmuth und Zierlichkeit, wie den wechfelnden Reichthum ber
. Thätigfeiten nachempfinden, durch deren Spuren das geiftige Leben
den felbftlofen Stoff zu befeclen weiß, fo würde der Körper, als
eine noch folgfamere Hille und zu mannigfaltigerem Ausdrude
geſchickt, und die ſchöne und unbedingte Herrſchaft der Seele über
die finnlichen Mittel der Erſcheinung verratben. Aber gewiß ge-
winnt die Wärme diefer Schönheit, wenn wir das Ebenmaß der
menfhlihen Geftalt und die harmonische Lagerung ihrer Theile
nit nur als die feine Berechnung eines in fi zufammenpaffen-
den Werkzeuges, wenn wir die anmuthigen Verſchiebungen, durch
welche im Wechfel der Stellungen jeder Theil, ſich fpannend oder
erihlaffend, mit den übrigen ein neues Gleichgewicht fucht, nicht
nur als das Kunftftüd einer ihre eigenen Störungen ausgleichen-
den Berrihtung zu faffen brauchen; wenn wir vielmehr in jedem
Punkte der Geftalt ein Gefühl ahnen dürfen, in welchem er das
Gluck feiner eigenthiimlichen Stellung. und feiner mannigfachen
Beziehungen zu dem Ganzen genießt, oder wenn wir in jenem
abgeftuften Nachhall Teifer Dehnungen und Stredungen, mit denen
jede örtliche Bewegung fich über die Umriffe des Körpers ver-
breitet, ein Zeichen des feelenoollen Verſtändniſſes erbliden, mit
welchem alle Theile zu dem gemeinfamen Genuffe ihrer ſchönen
Berkettung zuſammenſtimmen.
Es ift das Bild einer gefelligen Ordnung vieler Wefen,
unter welchem wir jet die lebendige Geftalt und ihr geiftiges
Leben auffafien. An einen bevorzugten Punkt der Organifation
geftellt, fammelt die beherrfchende Seele die unzähligen Eindrücke,
die ihr eine Schaar mefentlich gleichartiger, aber durch die gerin-
414
gere Bedeutung ihrer Natur minder begünftigter Genofien zuführt.
In ihrem Innern begt fie das Empfangene und geftaltet es zu bewe⸗
genden Antrieben, welche fie der bereitwilligen Kraft jener Gefähr-
ten zur Entwidelung geordneter Rückwirkungen mittheilt. Ein allge
meines Verftändniß und Mitgefühl durchdringt diefe Bereinigung
und kein Erlebnif des einen Theiles muß nothwendig verloren fein
für den anderen, nur der eigene Plan des Ganzen kann die alljei-
tige Verbreitung der Wirkungen hemmen. Ich weiß nicht, in welchen
Bunte die Befriedigung, die mir diefe Anficht zu gewähren fcheint,
durch die Annahme überboten werden Tünnte, welche die völlige
Berichmelzung der Seele mit der leiblichen Organifation verlangt,
und den mittelbaren Genuß, den die unfere jedem einzelnen Theile
von den Erlebnifien der übrigen verfchafft, in ein unmittelbares
Anfammenfallen aller verwandeln möchte. Wenn wir die Seele
wie einen verſchwommenen Hauch durch den Umfang des Körpers
ausgebreitet denken, wenn wir fie unmittelbar mitleiden und mit=
thun laſſen, was er in jedem Augenblide und an jedem einzel-
nen Buntte feines Baues erfährt und leiftet: gewinnen wir ba=
durch etwas, was uns die Vorftellung einer mittelbaren Wechiel-
wirkung nicht gemähren könnte? Werden die Empfindungen un
weniger deutlich zu Theil, wenn wir ihre Erregung nur von ber
legten Einwirkung eines phyſiſchen Nervenreizes auf die Natur
einer untheilbaren Seele abhängig denfen, und werben fie klarer
dadurch, dag wir jeden einzelnen Schritt der phyſiſchen Vermitt⸗
fung, dur welche fie uns überliefert werben, von einer geiftigen
Thätigfeit begleitet fein Yafjen, die Do nie im Bemußtfein zum
Vorſchein kommt? Sind unfere Bewegungen vielleiht in höhe—
rem Sinne unfere eigenen lebendigen Thaten, wenn unfer Wille
mitläuft bis an das Ende der motorifhen Nerven und vielleicht
bi8 in die Sofern der Musfeln, und bleiben fie nicht vielmehr
eben fo wohl unfer Eigenthum, wenn nur einmal eine Negung
der Seele nöthig war, um den vorbereiteten Zuſammenhang
bienftbarer Theile zur Thätigkeit aufzurufen? Was überhaupt
jollte uns bewegen, dieſes Hare Bild einer geordneten Herrſchaft
415
des Einen iiber eine organifirte Bielheit in bie trübe Vorſtellung
jener dumpfen Einheit Aller zu verwandeln, in welcher jede regel-
mäßige Form der Wechſelwirkung, welche die Beobachtung und
kennen lehrt, nur nod eine unverftändliche Weitläuftigfeit zu fein
fhiene? Alles, was wir im Leben fchägen und woraus jeber
edlere Genuß entipringt, ruht auf diefer Form der Verbindung
eines Mannigfadhen; in unzähligen Individuen verkörpert, führt
das menſchliche Gefchlecht dieſes Leben beftändiger Wechſelwirkung
der gegenfeitigen Theilnahme in Liebe und Haß, des beftändigen
Bortichritted, der den Gewinn des einen Theile zum Mitgenuſſe
der übrigen bringt. Jede Verfhmelzung der Vielen zu Einem
jet nur die Größe des Lebens und des Glüdes herab, denn fie
vermindert die Anzahl ber Wefen, deren jedes für ſich den Werth
gegebener Verhältniffe hätte genießen können. Ueberall tft die
Einheit, in die wir uns fehnen mit einem Andern einzugehen,
nur die vollftändige Gemeinfchaft der Mittbeilung, der gegenfeitige
Mitgenuß des fremden Wefens, aber nie jene trübe Vermiſchung,
in der alle Freude der Vereinigung zu Grunde geht, weil fie mit
dem Gegenfag auch das Dafein deſſen aufhebt, was feine Ver:
fühnung empfinden Tonnte.
Und wie wenig begünftigt endlich doch die unbefangene Be⸗
obachtung den Traum von diefer Einheit! Aus zerftreuten Be-
ftandtheilen der Außenwelt wird allmählich diefer Bau des Kör-
perd zufammengelefen, und in beftändigem Wechſel gibt er ihr
Theile zurüd. Was ift alfo das, womit die Seele Eines fein
Könnte? Verſchmilzt fie abwechjelnd mit dem ankommenden Erfag
des Leibes und fcheidet fi aus von dem zerfallenden Nefte, worin
kann dann jene Einheit anders beftehen, als in Wechſelwirkungen,
die fich entfpinnen und wieder erlöfchen, je nachdem der Naturlauf
neue Elemente zu der Gefellung der übrigen hinzutveten läßt,
andere aus ihren Beziehungen verbrängt? Wie das Reiſegewühl
ber Menſchen ift dieſes Leben der Theile. Wir wiſſen nicht, wo—
ber fie kommen und nicht wohin fie gehen; fremd gerathen fie
zufammen und für kurze Zeit bilvet ſich zwifchen ihnen ein ge—
416
felliger Verkehr, dem gemeinfamen Zwecke der Reife in allgemei-
nen Regeln des Verhaltens entſprechend, und jeder ſammelt in
fi) Die Anregungen, die das mittbeilende Wiffen des Anderen
ihm gewährte. Sp mögen wir wohl jedes Atom des Körpers
al8 den Sit einer eigenen geiftigen Regſamkeit denken; aber wir
fennen fie nicht; wir wiffen nichts von ihrer früheren Gefchichte,
und nichts von der Entfaltung, die ihr vielleicht Die Zukunft bringt;
für einen voriibergehenden Zeitraum in den regelmäßigen Strubel
unfere® Tebendigen Körpers bineingezogen, mag jedes Element
feine eigenen inneren Zuftände durch neue Erfahrungen bereichern
und unferer Entwidlung durch die vermittelnde Fortpflanzung ber
Erregungen dienen, welche die Außenwelt ihm mittheilt; aber fein
inneres Leben ift doch nie das unfere, und wenn dieſe Vereini⸗
gung der verjchiedenen Wefen zu Grunde gebt, auf Denen unfere
lebendige Geftalt beruht, dann haben wir wohl alle zufammen
etwas Gemeinfames erlebt, aber doch nur als urſprünglich ver-
ſchiedene Wefen, die aus einer vorlibergehenden Berührung fid
wieder trennen.
Fünftes Kapitel.
Bon den erften und legten Dingen des Seelenlebens.
Beichränttheit der Erkenntniß. — Fragen über die Urgeſchichte. — Unſelbſtändigkeit
alleg Mechanismus. — Die Naturnothwendigkeit und bie unendliche Subſtanz. —
Möglichkeit des Wirkens überhaupt, — Urfprung beftimmter Geſetze bes Wirkens.
— TUnfterblifeit. — Entftehfung ber Seelen.
Aber woher kamen am Anfang der Gefchichte zu dieſem
Spiele des befeelten Lebens jene Wefen zufammen, um in folder
Bereinigung zu Trägern fo fchöner Entwidlungen zu werden?
Und wie wiederholt fi in der Fortpflanzung der Geſchlechter
dieſes Wunder, welches jede Seele ihren Körper finden, jede be
ginnende leibliche Organifation den belebenden Hauch ihres Geiſtes
417
empfangen läßt? Welche Schickſale endlich fiehen nach der Auf-
löſung diefer Gemeinfhaft den einzelnen Wefen bevor, und am
meiften jener einen Seele, deren Beftimmung zu unenblicher Ent-
foltung durch die Bedeutung deffen verbürgt fcheint, was fie in
dieſem leiblihen Leben begonnen und errungen hat?
Bu diefen Fragen führt unvermeidlich unfere Betrachtung
und zulegt zurüd; und je ſchärfer wir das Bild der gegenfeitigen
Beziehungen zwifhen Körper und Seele zu zeichnen verjucht haben,
um jo mehr müfjen wir uns aufgefordert fühlen, durch eine Auf⸗
Hörung über den Urfprung dieſes Zuſammenhanges und den Sinn
feiner endlichen Aufldfung einen Abſchluß unferer Auffafjungen
zu ſuchen. Aber follen wir und gegenfeitig täufhen? Ich, in-
dem ich vorgäbe, eine Löſung diefer Näthfel zu kennen, und wer
mir bis hierher gefolgt, dadurch, daß er ſich ftellte fie mir zuzu—
trauen? Nicht einmal des Rückblickes auf die erfolglofen An-
firengungen von Jahrhunderten bedarf e8, fondern nur einer ein:
fachen Erinnerung an die Mittel, die menfchlicher Erkenntniß ger
geben find, um die Hoffnungslofigfeit jedes Unternehmens zu
' empfinden, das über diefe erften und Ietten Dinge die Klarheit
anſchaulicher Erkenntniß zu verbreiten fuchte. Keinen Augenblid
mögen wir und daher dem trügerifhen Traume bingeben, als
fönne es je gelingen, in fichere Erkenntniß zu verwandeln, mas
nur als gläubige Ahnung das Gebiet menſchlicher Erfahrung zu
umgeben beftunmt if. Aber eine Aufgabe bleibt und dennoch.
Denn fo ſehr wir uns verfagen, Bilder deſſen zu entwerfen, mas
über die Grenzen Diefes Gebietes hinausliegt, fo müſſen wir doc)
zujehen, ob die Betrachtungen, die wir innerhalb deſſelben an-
gefnüpft haben, wenigftend die Möglichfeit eines befriedigenden
Abſchluſſes in unerreihbarer Ferne übrig laffen, oder ob das,
wos wir zu wiflen überzeugt find, felbft die Hoffnung einer fol-
hen Ergänzung abſchneidet. Wohl werben der menſchlichen Ein-
ſicht unausfüllbare Läden übrig bleiben, aber fie kann nicht, ohne
fh jelbft aufzugeben, on das glauben wollen, deſſen Unverein-
Lotze J. 3. Aufl 27
418
barkeit mit der nothwendigen Geltung ihrer eigenen Grundſaͤtze
fle begreift.
Zur Erwägung diefer Tegten Fragen finden wir die Bor:
ftellungsweifen unzulängli, in denen wir uns bisher bewegt
haben. Denn fie alle fegten den Zufammenhang der Wirklichleit
als eine fertige, gegebene Thatfache voraus und bemühten ſich
nur um die Auffindung der allgemeinen Gefege, nach denen bie
fer vorhandene Weltlauf feine einzelnen Creigniffe auseinander
entwidelt. So galten fie alle nur der Erhaltung und der dort⸗
ſetzung eined Erſcheinungskreiſes, deſſen erfte Entftehung und enb-
liches Ziel fie abſichtlich aus dem Bereiche ihrer Unterſuchungen
ausichloffen. Und in der That, fo wie wir aus dem fichtbaren
Bau der fertigen Mafchine die Wirkungen, welche fie Leiften fann,
und die Reihenfolge derſelben berechnen, ohne in biefer Beur⸗
theilung weſentlich gefördert zu werden burd Die Kenntniß ihres
Urfprunges und des Herganges ihrer Erbauung: ebenfo vermögen
wir die Erhaltung der Welt und den Rhythmus ihrer Ereignife
and ihrem gegenwärtigen Beftande zu verftchen, auch ohne die
Geſchichte der Schöpfung zu kennen, aus der fie entfprang. Aber
allerdings nur um den Preis, daß wir für jeden einzelnen Augen
bli den Grund der beftimmten Geftalt, mit welcher die Ereig-
niffe ihn füllen, in dem vorhergehenden Augenblid als vorhan⸗
bene Thatſache vorausfegen. So ſchieben wir nur das Raͤthſel
Schritt für Schritt zurüd, um endlich bei dem Geftändniß am
zulangen, daß ber erfte Urfprung von Allem uns unverftändlid
bleibt, und daß wir in allem Weltlauf höchſtens Abwechſelungen
der Entwidelung, aber nie die Entftehung jener erften Anord⸗
nung begreifen, auf welcher die Möglichkeit all dieſes Mechfeld
auf einmal berubt.
Man täufcht fih, wenn man glaubt, die Wiffenfchaft ver-
möge irgendwo diefe Schranken zu überfchreiten. Nachdem die
Borftellung von der Bildung des Planetenfuftens aus einem feu⸗
rigen Nebel, eine geniale Anficht über Exeigniffe einer ‚Vorzeit,
die aller Erfahrung entzogen ift, in den Beftand der allgemeinen
419
Bildung übergegangen ift, fo meint man wohl, nun doch einmal
endlich eine fhöne Ordnung der Erfeheinungen, zwar nicht aus
Nichts, aber Doch wenigftend aus einem formlofen Urgrunde über-
zeugend entwidelt zu haben. Aber man. vergißt, daß die Ger
ſchichte dieſes Feuerballs, den man fo fharffinnig in feine fpä=
teren Geftaltungen verfolgt, nothwendig auch rückwärts ſich in eine
unendliche Vergangenheit verlängert. ‘Der allmählich erfaltende
und ſich verdichtende muß eine Zeit erlebt haben, da feine Tem-
peratur noch höher, feine Ausbehnung größer war; mo liegt num
der Anfangsaugenblid der Verdichtungsbewegung, in deren Forts
fegung begriffen jene Vermuthung ihn aufgreift? Und woher
ſtammt die urfprüngliche Richtung und Gefhwindigfeit der Dre⸗
bung, in welcher wir alle feine Theilchen übereinftimmend bewegt
vorausſetzen müſſen? Auch diefe Formloſigkeit war mithin doch
nicht der Anfang der Welt; fie war nur einer jener mittleren
Punkte, in welchen frühere Formen der Ereigniffe für die An-
fhauung fih im eine unfheinbare Einfachheit zufammengezogen
Haben; aber durch diefen Punkt hindurch gehen die Stoffe, die
Kräfte und Bewegungen der Wirflicleit unverloven und unab-
gebrochen fort, um jenfeit8 wieder in die Mannigfaltigfeit einer
neuen Entwillung fi auszubreiten. So liegt für alle Ordnung
der Ereignifje der Grund immer in einer früheren Ordnung, und
wie mannigfach diefe Melodie des Werdens bald in größeren
Reichthum anſchwillt, bald in unfcheinbare Keimgeftalt fi zufam-
menzieht: fie hat doch für und nicht Anfang noch Ende, und alle
unfere Wiffenfhaft klimmt nur auf und ab an dieſem Unenb-
lichen, den inneren Zuſammenhang einzelner Streden nad all-
gemeinen Geſetzen begreifend, aber überall unfähig, den erften
Urfprung des Ganzen oder das Biel zu fehen, dem feine Ent-
wicklung zuftrebt.
Und welche Lehre ziehen wir aus dem Bewußtfein dieſer
Beihränftheit? Keine andere gewiß, als für uns ſelbſt die Mah⸗
nung, mit unpartetifher Geduld zu erwarten, wie weit ung die _
Fortſchritte der Wiffenfhaft in Vergangenheit und Zukunft führen
27*
420
werben; für die Wiſſenſchaft felbft aber den Wunſch, daß fie mit
unbefangener Genauigkeit fortarbeiten möge, ohne Durch Vorliebe
für ein beſtimmtes Exrgebniß ihrer Unterfuhungen ſich mißleiten
zu Yaffen. Denn was fie uns aud lehren möge: an das Ende
der Tinge wird fie und doch nicht führen, und die Bedürfuiſſe
unſeres Gemüthes werden nie dur die Enthüllung einer zeit:
lichen Vorgeſchichte unſeres Dofeins, fondern nur durch die Er-
kenntniß der ewigen Verknüpfung befriedigt werden, die zu allen
Zeiten die veränderliche Welt der Erſcheinungen mit der Welt
des wahrhaft Seienden zuſammenhält. Beſäßen wir dieſe Er⸗
kenntniß, wie wenig wuürden wir gewinnen, wenn es und mn
gelänge, jene Fragen nad) der erften Entftehung des menjchlichen
Gefchlechtes ficher zu beantworten, auf melde wir Teidenfchaftlid
oft jo übergroßen Werth legen! Bielleicht vermehrt eines Tages
ein unerwartetes Glüd die unzulänglichen Ausgangspunfte der
Forſchung und befähigt und zu einer Entjcheidung, die Niemand
jegt zu geben vermag. Gefegt nun, dieſe beſſere Kunde: ftellte
für uns die Annahme fiher, an der fo Bieler Herzen hängen,
bie Annahme, daß mit blinder innerer Nothwendigfeit Das noch
formlojfe Chaos des Weltanfanges fih in ftetiger Vervollkomm⸗
nung bis zur unvermeibliden Erzeugung der Menfchheit verflärt
Habe: fchlöffe fih dann für die Wiffenfchaft der Ausblid m un-
endliche Fernen, den fie zu fliehen ſcheint? Wenn ſie es num
begreiflich machen könnte, wie aus dem feurigen Dunftball zuerft
- Die Fefte der Erbrinde und der Himmel bes Luftfreifes fich ſchie⸗
den, mie jeder Schritt dieſer Sonderung den Wahlverwandtſchaften
der Elemente Gelegenheit zu neuen Wirkungen gab, wie dam
unter den günftigen Ummftänden, welche die blinde Nothwendigleit
dieſes Naturlaufes herbeiführte, der erfte Keim einer Pflanze,
eines Thieres entftand, noch einfach und unausgebifvet von Um—⸗
riffen und wenig zu bedeutſamer Entfaltung geſchickt, wie endlich
unter glücklichen Bedingungen, zu deren Herftellung duch dieſes
arme Reben fon mitihätig war, allmählich das organiſche Da⸗
fein ſich veredelte, niedere Gattungen im Laufe ungezählter Jahr⸗
421
hunderte ſich in höhere entwidelten, bis zulegt die Menſchheit,
nit nach Dem Bilde Gottes, fondern als das legte Glied in
diefer Kette nothmendiger Ereignifie hervorging: wenn dies Alles
die Wiſſenſchaft begreiflich machen Könnte, was würde fie Damit
mehr geleiftet haben, als daß fie das Wunder der unmittelbaren
Schöpfung auf einen noch früheren Punkt der Vorzeit zurückge⸗
fhoben hätte, in welchem bie unendliche Weisheit in Died un:
fheinbare Chaos die unermeßliche Fähigkeit zu fo georbneter Ent-
widlung legte? Mit der ganzen Reihenfolge abgeftufter Bil-
dungsepochen, durch welche hindurch fie den formlofen Urgrund
ſich ausgeftalten Tiefe, wilrde fie nur den Glanz und die Man-
wigfaltigfeit der Scenen vermehren, in deren äufßerlichen Pomp
unſere Phantafle bewundernd ſich vertiefen könnte; aber fie würde
das Ganze des wunderbaren Schauſpieles nicht zureichender erklärt
haben, als jener ſich ſelbſt beſcheidende Glaube, für welchen die
Entſtehung der lebendigen Geſchlechter nur aus dem unmittel⸗
baren Schöpferwillen Gottes begreiflich ſcheint. Dieſe Dinge ſind
es, deren Entſcheidung wir, ſo weit die Wiſſenſchaft ſie je wird
geben können, getroſt von ihrer unbefangenen Wahrheitsliebe er-
warten müſſen; welchen Weg der Schöpfung Gott gewählt haben
mag, keiner wird die Abhängigkeit der Welt von ihm lockerer wer⸗
den laſſen, keiner ſie feſter an ihn knüpfen können.
Aber dieſe Geduld der Erwartung pflegen wir ſehr wenig
zu beſitzen; mit dem leidenſchaftlichſten Eifer ſtehen vielmehr jene
beiden Auffaſſungen der Wirklichkeit einander gegenüber, von denen
Die eine den Weltlauf in. reinen Mechanismus zu verwandeln
firebt, die andere, indem fie an Die unmittelbare Wirkſamkeit einer
göttlichen regierenden Weisheit glaubt, vielleicht hinter ihrem eige-
nen Sinne noch zurücbleibt. Denn darin finde ih Das Halbe
und Unzulängliche biefer Meinung, daß fie meift erft burch Die
Betrahtung des Lebendigen und des Seelenlebens ſich zu dem
Bekenntniß einer höheren, die zerftrenten Ereigniffe zu bem Ganzen
eines Weltlaufes verbindenden Macht aufregen läßt. Auch ihr
fcheint e8 doch möglich, daß die regelmäßige Orbnung ber äußern
422
Welt auf der blinden Notwendigkeit eines fich ſelbſt genügenden
Mechanismus berube: nur bie befondere Vortrefflicleit des Leben⸗
digen und die zwedinäßige Harmonie feines Daſeins nöthige ung,
hier über die gewohnten Erflärungsgründe hinaus zu der An—
nahme einer fchöpferifchen und erhaltenden Weisheit zu flüchten.
Diefes Zugeſtändniß kommt mir zu fpät; nicht dadurch gewinnen
wir etwas, daß wir einen Theil der Wirklichkeit, als zu erhaben
für eine Entftehung durch mechaniſche Eaufalität, dem Gebote der
allgemeinen Naturorbnung entziehen; vielmehr unter diefen anderen
Gedanken müfjen wir uns beugen, daß alle jene unerfchlitterliche
Nothwendigkeit, mit welcher das Ganze des mechaniſchen Welt-
Yaufes felbftändig für fich feftzuftchen ſcheint, ein ganz eitler Traum
ift, und daß Feine einzige Wechſelwirkung zu Stande kommt ohne
die Mitwirfung jenes höheren Grundes, den wir übel beratben
nur für die Entftehung einzelner bevorzugter Erſcheinungen zu
bebürfen meinen.
Es ift ein feltiamer und doch begreiflicher Stolz unferer natur-
wiſſenſchaftlichen Aufklärung, zur erflävenden Naderzeugung der
Wirklichkeit Feine anderen Borausfegungen nöthig zu haben, als
irgend einen urfprünglihen Thatbeftand an Stoffen und Kräften
und die unverrädte Geltung eines Kreifes allgemeiner, in ihren
Geboten ſich ſtets gleicher Naturgefege. Seltſam, weil e8 zulegt
doch in der That gar Vieles ift, was auf diefen Wege voraus⸗
gejegt werden muß, und weil man erwarten konnte, daß e8 dem
zufammenfafjenden Geifte der menſchlichen Bernunft zufagender
fein müßte, die Einheit eines fchaffenden Grundes anzuerkennen,
als ſich die zerftreute Mannigfaltigfeit nur thatfächlich vorhandener
Dinge und Bewegungen zum Ausgangspunkt aller Erklärung auf
drängen zu Yaflen. Aber begreiflich dennoch; denn um den Preis
dieſes einmaligen Opfers würde ja nun der enbliche Verſtand bie
Befriedigung geniehen, ſich nie mehr durch die übermächtige Be⸗
423
deutung und Schönheit irgend einer einzelnen Erfheinung umpo-
niren zu laſſen; wie wunderbar und tieffinnig ihn irgend ein
Gebilde der Natur anbliden möchte, in jenen allgemeinen Geſetzen,
welche er völlig zu durchſchauen vermag, beſäße er das Mittel,
ſich eines unbequemen Eindrudes zu erwehren, und indem ex nadı=
wieſe, wie für ihn ganz und gar verftänblich auch diefe Erſchei—
nung nur eine beiläufige Folge eines wohlbefannten Natırrlaufes
fei, würde e8 ihm gelungen fein, das zu feiner eigenen Endlich⸗
keit berabzuziehen, mas dem unbefangenen Gemüth freilich ſtets
nur als das Erzeugniß einer unendlihen Weisheit denkbar ift.
In diefen Neigungen und Gewohnheiten wird die natur:
wiſſenſchaftliche Bildung ſchwer zu erjehlittern fein, und am menig«
ften durch die Gründe, welche ihr gewöhnlich der Glaube an ein
höheres zwedmäßiges Walten in dem Naturlaufe entgegenzufegen
pflegt. Denn wie lebhaft aud eine unbefangene Beobachtung
diefen Glauben erweden mag, jo daß es gleich thöricht und laug—
weilig ſcheinen Tann, ohne ihn die Orbnung der Natur verfichen
zu wollen, fo wird ſtets jene mechaniſche Auffaffung mit Recht
einmwenden, daß doch auf ihren Weg immer in der Erflärung des
Einzelnen auch diejenigen einlenten, denen im Ganzen und Großen
die Herrichaft einer zweckmäßig wirkenden Macht außer Trage ſteht.
Befriedigt werben doch auch fie erft dann fein, wenn fie für jeden
“ Erfolg, welchen jene Macht gebietet, aud Schritt fir Schritt Die
vollziehenden Mittel gefunden haben, durch deren nothmwendigen
und blinden Cauſalzuſammenhang die verlangte Wirkung entftehen
muß. Nie werben auch fie im Exnfte glauben, daß innerhalb
des Naturlaufes, wie er vor unferen Sinnen liegt, jene zwed=
mäßige Kraft neue Anfänge des Wirkens fchaffe, die nicht rüd-
wärts weiter verfolgt, fi immer wieder als Die nothwendigen
Folgen eines früheren Zuftandes der Dinge erfennen ließen. Ber:
wandelt fih nun fo aud fir jene gläubigere Anficht der Lauf
der. Begebenheiten doch wieder. in den ununterbrodenen Zuſam⸗
menhang eines Mechanismus, fo hebt die naturwiſſenſchaftliche
Betrachtung den Vegtern allein herogr und läßt den Gedanken an
424
die freie Wirkſamkeit der zweckſetzenden Kraft fallen, fir melde fie
einen angebbaren Wirkungsfreis nicht zu finden wüßte. Ste
witrde zugeben können, daß ber erfte Urfprung des Ganzen, deffen
inmere Verhältniſſe allein fie unterfucht, anf eine göttliche Weis-
beit zurüdführen möge, aber fie würde bie Thatſachen vermifien,
welche innerhalb des Gebietes der Erfahrung eine fortdauernde
Abhängigkeit des Gefchaffenen von der erhaltenden Vorſicht feines
Urbeberd zu einer nothwendigen Vorausfegung der Erflärung
machten. Zu unbefangen und felbfivertrauend hebt der Glaube
an dieſes Lebendige Eingreifen der zweckmäßig wirkenden Vernunft
nur bie fchönen Seiten des Dafeind hervor und vergißt einft-
weilen die Schatten; indem er die unendliche Harmonie der or=
ganiſchen Körper und ihren forgfältigen Bau für die Zwecke des
geiftigen Lebens bewundert, gedenft ex micht der bitteren Confe-
quenz, mit welder baffelbe organifche Leben Häßlichfeit und
Krankheit von Geſchlecht zu Gefchlecht überliefert, nicht der man=
nigfaltigen Störungen, welche die Erreichung felbft befcheidener
menfchlicher Ziele hindern. Wie wenig kann daher dieje Auf-
fafjung der Welt, fire welche Die Gegenwart des Uebels ein viel-
leicht nicht unlösbares, aber ungelöftes Räthſel ift, durch ihren
Angriff eine Gewohnheit der Betrachtung zu tberwältigen hoffen,
die in der Beobachtung unzählige einzelne Beftätigungen findet
und unzugänglic ift für das Gefühl des allgemeinen Mangels,
von bem wir fie gebrüdt glauben!
Und jelbft jenes Zugeſtändniß, welches fie und vielleicht
Machen wird, daß Diefe Welt blinder Nothwendigkeit aus ber
Weisheit eines höchſten Urhebers einft wenigftens entfprang, ift
fie gendtbigt e8 zu machen? Ohne Zweifel‘ kann fie ung ein-
wenden, Daß jelbft die beftehende Zweckmäßigleit der vorhandenen
Bildung ſich unter der Herrſchaft der allgemeinen Gefege aus
dem ungeordneten Zuftand eines urfprimglichen Chaos mußte ent-
wideln köͤnnen. Denn Alles, was ein principlofer Wirbel zu-
fommenführte in unzweckmäßiger Zufemmenfegung und ohne jene®
‚Innere Gleichgewicht der Beftandtheile und Kräfte, welches dem
425
Gewordenen ein längeres Beftehen im Rampfe mit dem fortimo-
genden äußeren Naturlaufe hätte fihern können: alles das ift
eben längft zu Grunde gegangen. Neben und nad unzähligen
mißglüdten Bildungen, welche vielleiht die Vorzeit in rafchem
Wechſel des Entſtehens und Vergehen gefüllt haben, ift allmählich
der Naturlauf in ein engered Bett zufammengegangen und gerettet
bat fi nur jene Auswahl der Gefchöpfe, denen eine glüdliche
Zujammenfügung ihrer Beftandtheile die Möglichkeit eines Be:
fiehens gegen den Andrang der umgebenden Reize und die Fähig-
feit der Fortpflanzung auf unbekannte Zeit hinaus verliehen hat.
Für wie wenig wahrſcheinlich wir nun immer diefe Anficht hal⸗
ten mögen, wir würden fte doch kaum dem entreißen können, dem
fie genügt, und wir können felbft den Reiz nicht hinwegläugnen,
welchen für den wifjenfchaftlihen Scharffinn immer der Berſuch
haben wird, aus dem formlofen Chaos durcheinandergährender
Bewegungen die Nothwendigkeit einer allmählichen Sichtung und
bie won felbft erfolgende Bildung beftändiger Ablaufsformen ber
Ericheinungen zu entwideln.
Aber jeder ſolche Verſuch beruht auf der einen Vorausſetzung,
daß eine allgemeine Gefeglichfeit mit immer gleichem Gebote den
einzelnen Stoffen jener urfprünglichen Unordnung Yorm und Größe
ihrer Wechſelwirkungen vorzeihne und fie dadurch zwinge, Ber:
bindungen aufzugeben, denen fein Gleichgewicht möglich ift, und
andere einzugehen, in denen fie ruhen oder eine beftändige Form
der Bewegung bewahren fünnen. Und diefe Borausfegung ift es
nun, deren Zuläffigfeit wir prüfen müffen; mit ihr allein ſteht
und fällt die ſtolze Sicherheit diefer mechaniſchen Weltauffaffung.
Diefe Verehrung eined allmaltenden Naturgefeges, als des ein-
zigen Bandes, welches alle zerftreüten Elemente des Weltlaufes
zu wechſelſeitigen Wirkungen zufammendränge und die Geftalt
ihrer Erfolge beftimme, ift fie felbft ein möglicher Gedanke und
foan fie den legten Abſchluß für unſere Naturanficht gewähren,
für deren Ausbildung im Einzelnen wir ſelbſt ihr überall ge⸗
huldigt haben?
426
Nehmen wir an, daß zwei Elemente urfprünglich vorhanden
find, nicht erzengt von irgendwem, nicht aus irgend einer gemein-
famen Duelle hervorgegangen, fondern in unvorvenflider Wirk-
Tichfeit von Ewigkeit beftehend, aber fo beftehend, daß Teine an-
dere Gemeinſamkeit als die des gleichzeitigen Dafeind fie um-
ſchließt: wie vermöchte überhaupt der Einfluß des einen überzugehen
- auf da8 andere, da jedes wie in einer Welt für fi ift, und
zwifchen ihnen Nichte? Wie wird durch Diefes Nichts hindurch,
in welchem feine Wege der Vermittlung laufen, die Wirkſamkeit
des einen fih Hinfinden zu dem andern? Und wenn wir nın
annähmen, daß durch einen gemeinfomen Raum hindurch die Thä-
tigfeit jedes Elemente8 wie eine ablösbare Atmofphäre ſich be=
ftändig ausbreitete, gleich dem ausftrahlenden Lichte wirkſam, wo
fie fände, worauf fie wirken Könnte, und erfolglos ins Leere ver⸗
ſchwimmend, wo Nichts fi ihr darböte; was würden wir ge=
wonnen haben? Wir würden unfere eigene Vorftellung nicht
verftehen, weder wie die Wirkung die Grenzen deſſen verlafien
könnte, welches fle hervorbringt, noch wie fie eine Beit lang
ſchwebend zwiſchen ihrem Urheber und dem, was fie treffen fol,
im Leeren ſich aufhielte, noch endlich, wie fle jenes zulegt errei=
hend, eine umgeflaltende Kraft auf feine Zuflände auszuüben
vermöcdte. Denn fo wenig der Raum ein Hinderniß des gegen-
feitigen Wirkens für das fein wirbe, was in ihm von einander
entfernt doch durch eine innere Beziehung verbunden wäre, fo
wenig wird die räumliche Berührung die Nothwendigkeit einer
Wechſelwirkung herbeiführen, oder ihre Möglichleit erklären zwiſchen
Weſen, deren jedes nur auf fich felbft berubend durch die unauss-
fullbare Kluft innerlicher Gleichgitltigfeit auch dann noch von dem
andern geſchieden bliebe. Nur der gedankenloſen alltäglichen Mei-
nung ſcheint der Hebergang der Wirkungen von einem zum andern
Elemente Mar; fie glaubt ihn mit völliger Anfchaulichfeit in ben
äußeren Bewegungen wahrzunehmen, die ihn begleiten; fiir jebe
tiefer gehende Forſchung wird es mehr und mehr zum Raͤthſel,
wie der Zuftand des einen Weſens eine verbindliche Nöthigung
427
für ein anderes enthalten könne, nun auch feine eigenen inneren
Zuftände abzuändern. So wie wir früher unfern Willen nicht
in feiner Strömung in die beweglichen Glieder verfolgen konnten,
fondern zugeben mußten, daß alles Wollen eingefchloffen in den
wollenden Geift bleibe und daß eine unbegreifliche Macht ihm
das Bollbringen folgen laſſe: eben fo werden alle Kräfte, die wir
in irgend einer Form dem einen Element inwohnend denken, un-
zureichend fein, die Ausübung eines Einfluffes über das zu be=.
gründen, in welchen fie nicht wohnen. Kann nun jener Gedanke
des allgemeinen Naturlaufes, den unjere früheren Betrachtungen
bier berbeizogen, kann die Borftellung eines Reiches ewig und
allgemein geltender Geſetze dieſe Lücke füllen und die ſpröde Ver⸗
eingelung der gefchiedenen Elemente zu dem gediegenen Ganzen
einer wechſelwirkenden Welt verſchmelzen?
Sie kann c8 ohne Zweifel nicht; denn wie vermöcten Ges
fee, wie eine Nothwendigkeit, die für beftimmte Fälle beftimmte
Erfolge vorſchriebe, überhaupt für fich felbft zu exiftiren? Nichts
kann fein außer dem Seienden und feinen inneren Zuftänden,
und nicht zwiſchen den Wefen kann als ein fitr fich beftebenver
fie verbindender Hintergrund, als eine wirkjame fie leitende Macht
eine allgemeine Orbnung ausgegoflen fein, dem vorangehend was
fle ordnen fol. Bliden wir auf unfer menſchliches Leben zurüd,
fo finden wir die Gefege unſeres gefelligen Dafeind nicht neben
uns und nicht zwifchen uns in einer unabhängigen Wirklichkeit
beftehen, nicht als Mächte, Die durch ihr Dafein von außen uns
zwingen und leiten könnten; fie exifliren nur in dem Bewußtſein
der Einzelnen, die ſich ihnen unterworfen fühlen; fie fommen zur:
Geltung und Berwirflihung nur dur die Handlungen der Ieben-
digen Individuen; fie find Nichts als die in dem Innern vieler
Weſen übereinftimmend entwidelte Richtung ihres Wollens, die
‚ dem fpäteren zufammenfafjenden Blide der Beobachtung als eine
böhere von außen leitende Macht erfcheint, weil fie in ihrer ge⸗
meinfamen Geltung für viele Einzelne nicht mehr ausſchließlich
als das Erzeugniß eines Einzigen ſich darſtellt. Die Geſetze der:
428
Natur mögen den Einrichtungen des menſchlichen Geiftes über-
legen fein; können diefe Widerfprud und Unfolgfamteit erfahren,
fo gebieten: jene uneingefhräntt und ungehemmt; dennoch wird bie
Natur nicht das an ſich Wiberfprechende vermögen und dem eine
felbftändige Eriftenz verleihen, mas nur an dem Seienden und in
ihm zu fein im Stande ift. Cine weitverbreitete Gewöhnung der
. Borftelung und bes Sprachgebraudes, unjchäblic für Die Beur-
theilung der gewöhnlichen Vorkommnifle des Lebens, auf deren
Beranlaffung fie entftanden ift, pflegt uns in dieſen Ueberlegungen
zu täuſchen. Wir ſprechen num einmal von Beziehungen, die
zwifchen den Dingen obwalten, von Berhältniffen, in melde fie
eintreten, von einer Ordnung, die fie umfaßt, von Gefegen end:
lich, deren Wirkfamfeit zwiſchen ihnen hin und ber fpielt, und
wir bemerfen wenig mehr, welchen Widerſpruch diefe Begriffe ein-
fließen von Verhältniffen, die für fi) bereit lägen, bevor bie
Dinge kämen, um in fie einzutreten, von einer Ordnung, die vor
dem Georbneten beftände, um es aufzunehmen, von Beziehnngen
enblich, die wie baltbare Fäden, deren Stoff wir doch nicht an⸗
zugeben wißten, über den Abgrund binweggefpannt wären, der
ein Wefen vom andern trennt. Wir bedenken nicht, daß alle
Berhältniffe und Beziehungen wahrhaftes Dafein zunächft nur in
ber Einheit des beobachtenden Bewußtſeins haben, das von einem
Element zum andern übergehend, Die getrennten durch feine zu⸗
ſammenfaſſende Thätigkeit umfpinnt, und daß jede wirkſame Ord-
nung, jedes Geſetz, welches wir unabhängig non unferem Wiſſen
zwifchen den Dingen uns vorſtellen möchten, in ganz gleicher Weile
nur Dafein haben kann in der Einheit des Einen, melde fie
Alle verbindet. Nicht der nichtige Schatten einer Naturordnung,
fondern nur die volle Wirklichkeit eines unendlichen Tebendigen
Weſens, deſſen innerlich gehegte Theile alle endlichen Dinge find,
kann die Mannigfaltigfeit der Welt fo verknüpfen, daß die Wech⸗
felmirkungen über die Kluft hinüberreichen, welche die einzelnen
jelbftändigen Elemente von einander ewig fcheiven würde. Dem
von dem einen ausgehend, verfinkt nun die Wirkung nicht in ein
429
Richts, das zwifhen ihm und dem andern läge, jondern wie in
allem Sein das wahrhaft Seiende dafjelbe Eine ift, jo wirkt im
aller Wechſelwirkung das unendliche Wefen nur auf fidh felbft,
and feine Thätigkeit verläßt nie den ftetigen Boden des Seins,
Was in dem einen feiner Theile ſich regt, ift nicht abgefchloffen
in diefem und fremd für die übrigen; der einzelne Zuftand hat
nicht einen unfagbaren Weg zurüdzulegen, um ein anderes Ele⸗
ment zu ſuchen, dem er ſich mittheile, und hat nit cine gleich
umbegreiflihe Gewalt auszuüben, um dies gleichgältige Andere zu
nöthigen, an ihm Theil zu nehmen; jede Erregung ded Einzelnen“
ift zugleich eine Erregumg des ganzen Unendlichen, das auch im
ihm den lebendigen Grund feines Weſens bildet, und jedes ver:
mag deshalb mit feiner Wirkung überzugreifen in Anderes, tm
welchem derſelbe Grund Yebt; er ift es, welcher aus der Einheit
feiner eigenen Natur dem endlichen Ereignig bier feinen Nach:
Hong dort nachfolgen läßt. Nicht ein Endliches überhaupt wirkt
aus fih, als aus dieſem Endlichen heraus, auf Das andere; jede
Erregung des Einzelnen vielmehr, indem fie den ewigen Grund
bewegt, der in ihm, wie in allen, das Weſen ſeines endlichen
Scheines ift, vermag nur durch diefe Stetigfeit der Weſensgemein⸗
Schaft hindurch auf das ſcheinbar Entfernte überzumirken.
Zu diefer Anerkennung einer unendlihen Subftanz, die an
der Stelle eines weſenloſen und unmirflichen Gefeges durch ihre
weſenhafte Wirklichkeit die Dinge verbindet, nöthigt uns nicht
allein die Bewunderung einzelner Ereignißfreife, deren bejondere
Bedeutung uns Aberwältigt, fondern jedes noch fo ärmliche Bei⸗
fpiel irgend einer Wechfelmirkung, jeder einzelne Ball von Cau⸗
falität zwingt uns, um die Möglichfeit eines Ueberganges dei
Einfluſſes zu begreifen, au die Stelle eines bloßen Naturzujam-
menhanges ein felbft ſubſtantielles Unendliche zu jegen, in welchem
das in der Erſcheinung geſchiedene Mannigfache nicht mehr ge-
ſchieden ift. Nicht zwiſchen den Beftanbtheilen des lebendigen
Körpers allein, nicht zwischen Körper und Geele vorzugsweis Tonn-
ten wir ein ſolches Band fuchen, als bebürften wir deſſelben nicht
430
überall; indem wir vielmehr alles Gefchehen, welchen Namen es
tragen mag, nur als die innerlihe Regfamleit eines einzigen Uns
endlichen betrachten, wird uns der weitere Berlauf unferer An-
fiht von jener wiederauflebenden Mythologie entfernen, welche,
wie die alten Sagen, einigen vornehmen Erfheinungen ihre be:
fonderen Genien zuerfennt und die übrige gemeine Wirklichkeit fir
fich ſelbſt forgen läßt.
Denn nit nur ein Band ift dies allgemeine Wefen, nicht
nur eine gleichgültige Brüde, weldhe dem Uebergang der Wir
ungen von einem Element zum andern nur überhaupt den gang-
baren Weg bereitet: fondern die beſtimmende Macht ift e8 zu:
gleich, die jedem Vorangang die Geftalt und Größe feiner Folge,
jedem einzelnen Wefen den Umkreis feiner möglichen Thätigfeit,
jeder einzelnen Aeußerung derfelben ihre befondere Form vorzeid-
net. Man täufcht ſich darin, daß man die Wirkungsweiſen, melde
die Dinge gegen einander beobachten, als ganz ſelbſtverſtändliche
Folgen aus den beftimmten Eigenfchaften, welche num einmal ihre
Natur ausmachen, und aus dem Miteinfiuß der jedesmal gege-
benen Umftände ableiten zu können glaubt. Eine aufrichtige Bes
trachtung führt uns vielmehr zu dem Geftänpniß, daß aus dieſen
Borderfägen allein, wie wir auch ihren Inhalt zergliedern und
wieder verfnitpfen, die Wirkungen, welche die Erfahrung und that-
ſächlich zeigt, als nothwendige Schlußfäge nicht hervorgehen, ſon⸗
bern daß eine unbekannte Macht, wie NRüdficht nehmend auf
Etwas, mas wir in jenen Vorbedingungen nicht antreffen, am
ihre Geftalt die beftimmte Geftalt der Folge gefnüpft hat. Das
Unendliche ift diefe verborgene Macht, und das, worauf es Riüd-
fiht nimmt in diefer Beftimmung der Folgen, ift feine eigene
gemeinfame Gegenwart in allen endlichen Elementen, durch melde
die Welt zur Einheit eines Weſens verbunden tft, und um beren
willen der Lauf ihrer Ereigniffe zur Einheit eines zuſammen⸗
hängenden Ausbrudes für den Inhalt diefes Wefens verknüpft
werden muß. Nur fo viel und nur eine ſolche Fähigkeit des
Wirkens wird deshalb jedes Endliche befigen, wie viel und welde
431
das Unendliche ihm als feinen Beitrag zu der Verwirflihung des
Ganzen zugefteht.
Aber wir müſſen weitläufiger fein und uns erlauben, ben
wiberfpruchlofen Zufammenhang der Anficht, in deren Darftellung
wir begriffen find, mit den ſcheinbar entgegengefegten Voraus:
fegungen zu erläutern, denen unfere eigene Betrachtung der einzel-
nen Erſcheinungen früher gefolgt ift.
In jedem endlichen Dinge, fofern wir e8 als Erzeugniß des
unendlichen Einen fafjen, werden wir einen gewifien Thatbeftand
von Merkmalen als die eigenthiimliche Form bezeichnen können,
in welche in ihm zum Unterſchiede von anderem Endlichen jenes
Eine ausgeprägt if. Wir können nicht meinen, daß in irgend
einer diefer beftimmten Formen, durch melde das eine Endliche
dieſes, das andere ein anderes ift, fi das volle Weſen des Un-
endlichen erichöpfe, welches ihnen allen der gemeinfame Grund
ihres Dafeins ift; aber chenfo wenig dürfen wir doch glauben,
daß der untheilbare Inhalt deſſelben, in unzählige Bruchftüde zer⸗
fallend, in jedem einzelnen Dinge nur mit einem Theile feiner
Fülle gegenwärtig fei. Als wir die lebendige Thätigfeit der menfch-
lichen Seele überlegten, führte unfere Betrachtung und zu einer
ähnlichen Forderung, wie diefe ift, welche wir uns bier ftellen
müfjen, und die Erinnerung an die leichtere Faßlichkeit jenes einzel-
nen Beiſpiels kann ung jegt in der allgemeineren Auffaffung def-
ſelben Verhältniffes unterftügen. Wenn die Scele Borftellungen
bildet, ohne noch eine Spur des Gefühleg oder des Wollens zu
entfalten, glauben wir fie doch ſchon in diefer einfeitigen Weife
ihrer Thätigkeit nicht nur mit einem Theile ihres Weſens gegen-
wärtig, während ihre übrigen Fähigfeiten in gleichgültiger Theil-
nahmlofigfeit ſchlummerten. Diefelbe ganze Natur vielmehr, die
unter dem Einfluffe anderer Anregungen Gefühle der Luft und
Unluft, begehrende und abftoßende Strebungen entwideln witrbe,
432
meinten wir mit der vollen Fülle ihres Weſens ſchon an der Ere
zeugung der Borftellungen mitbetheiligt. Aber fie erihöpft fi im
Vorftellen fo wenig al8 in irgend einer andern einzelnen Form
ihrer Aeußerung; in allen voll vorhanden und mitthätig, findet
fie doch in jeder nur einen einfeitigen und partiellen Ausdruck,
und hinter jedem Thun, das fie in einem einzelnen Augenblide
entmwidelt, bleibt überall ein reichere® und umfaſſenderes Vermögen
unaufgejchloffen und verborgen zurüd. ber eben dieſes ganze
Weſen der Seele, durch alle mannigfachen Formen ihres Aeußerns
gemeinfam und gleihmäßig fi) hindurchziehend, ift das vermit-
telnde Glied, Durch welches die Wechſelwirkung der verfchiedenen
inneren Zuftände möglich und die Geftalt ihres Erfolges beftimmt
wird. Nicht aus irgend einer Bermidlung der Vorftellungen fahen
wir an ſich ſchon das Gefühl als nothmendige und felbftverftänd-
liche Folge hervorquellen, fondern e8 eutftand, weil fchon in der vor-
ftellenden Thätigfeit jene ganze Secle lebendig wirkſam war, inderen
Natur auch das Gefühl begründet Tag, unangeregt damals, aber
vorbereitet zum Hervortreten unter Bedingungen, deren einige der
Lauf der Borftellungen felbft herbeifährt.
Mit diefem untheilbaren Wefen der Seele nun vergleichen
wir jenes Unendliche, die Subftanz aller Dinge; mit den eingel-
nen Formen des geiftigen Thuns diefe endlichen Dinge felbft, die
fheinbaren Elemente der Welt, in deren verfchiedenartige Geftaf-
ten jenes fi ausgeprägt hat. Dann wird, wie in ber Seele
die Wechſelwirkung der inneren Zuftände, fo in dem Weltlauf
die Wechfelmirfung der Dinge nicht nur in ihrer Möglichkeit über⸗
haupt, ſondern aud in der Geftalt ihres Exfolges von diefer We—
fenögemeinfchaft abhängen, welche fie alle verknüpft. Was jedes
einzelne Element leiſtet, das vermag es nicht, fofern es dieſes
Einzelne iſt, ſondern nur ſofern es dies Einzelne als Erſcheinung
dieſes Allgemeinen iſt; nicht ſchon deshalb, weil es ſo und nicht
anders geformt iſt und dieſe, leine andern Merkmale einſchließt,
bringt es ſelbſtverſtändlich dieſe und keine andere Wirkung hervor,
ſondern nur weil in dieſer ſeiner Form dieſes Unendliche ruht,
433
Defien inhaltvolle Natur die Merkmale zufammenhält, bereit, durch
feine Kraft fie zu vertheibigen oder ihrer Veränderung eine Folge
zu geben. So wirkt alles Endliche im Grunde nur durch Das,
was es im Berborgenen Beſſeres ift, als es fcheint, Durch dic
weſenhafte Macht des Unendlichen, die auch in ihm Liegt; nicht
jener Hülle beftimmter einzelner Eigenfchaften, fonbern nur diefem
Kerne, ſofern er in fie fih Hält, gehört alle Kraft und Fähig-
feit des Wirkens. Bezeichnen wir nun mit dem Namen der Na-
tur eines Dinges diefe verfhmolzene und in Eins gebilbete Zwei⸗—
beit des unendlichen Wefens, welches in ihm dieſe einzelne Form
des Dafeind angenommen hat, oder der endlichen Form, die mit
dem Unendlichen fi erfüllt bat: jo werden wir Hecht haben,
von diefer Natur des Dinges alle Weifen feines Verhaltens als
nun nothwendige Bolgen abzuleiten. Denn die eigene innere
Wahrheit und Folgerichtigkeit wird das Unendliche nöthigen, mit
jeder beftimmten endlichen Form, welche es fi) gibt, auch die un:
veränderlihe Wirkungsweiſe fich feftzufegen, die e8 in ihr aus-
üben will, entfprehend dem Sinne, in. welchem es überhaupt
diefe einzelne Form als weſentlichen Theil feiner Erſcheinung
ſchöpferiſch geftaltete. Aber der gewöhnliche Hang der Wiſſenſchaft
drängt zu einem andern Sprachgebrauch; eben jenen Thatbeftand
der Merkmale, die alle machtlos find ohne das Lebendige Wefen,
welches hinter ihnen ſteht, dieſe endliche Hülle des mahrbaft
Seienden pflegt man am meiften al8 die Natur eines Dinges zu
bezeichnen und wenig mehr tft von dem die Rede, was wir allein
als den haltbaren und wirktungsfähigen Kern dieſes Scheines be-
trachten können. Aus diefer nur halben Natur der Dinge glaubt
man ihr Verhalten als nothmwendige Folge entwideln zu können;
nicht nur die Möglichkeit eines übergehenden Einflufjes überhaupt
meint man zu verftehen, fondern in einem Kreiſe allgemeiner fich
von felbft verftehender Wahrheiten auch das Mittel zur befiten,
die jedesmalige ©eftalt eines Erfolges aus den gegebenen Um—
ftänden und den beftändigen Eigenfhaften der Dinge zu ent-
wickeln. |
Loge I. 3. Aufl. - 28
434
Und hierbei überfieht man eben, daß der Eindruck von Selbft-
verftändlichkeit, welchen fo viele Zufammenhänge von Urſache und
Wirkung und erweden, doch nicht von einer und begreiflichen
inneren Notbwendigfeit, jondern nur von der allgemeinen und
übermwältigenden Wirklichkeit diefer Verknüpfungen herrührt, die
als überall wiederkehrende thatfächliche Welteinrihtungen und mit
dem Scheine täufchen, nicht blos Thatfachen der Erfahrung, ſon⸗
dern denknothwendige Berhältniffe zu fein.
Nachdem wir durch Erfahrung belehrt find, daß die wäg⸗
bare Menge des Stoffes in allen feinen Verwandlungen unver-
ändert bleibt, wächft dieſe überraſchende Beobachtung für uns bie
zu dem erhabenen Eindruck einer unvorvenklichen Nothwendigkeit
an, und wir bilden uns nun ein, daß ein nothwendiger Vernunft-
fa von der Beharrlichfeit der Subftanz uns diefe Thatfache auch
vor der Erfahrung hätte Ichren können. Nachdem wir beobad-
tet haben, daß die einmal angefangene Bewegung um fo länger
fortdauert, je gründlicher man ihre Hinverniffe Hinwegräumt: num
plötzlich uberkommt uns die Ahnung, daß ihre ewige Fortdauer,
wo fie nicht gehemmt werbe, das nothwendige Verhalten fei, und
doch jcheitern wir immer, wenn wir dieſe vorgeblich denknothwen⸗
dige Wahrheit aus Gründen des reinen Denkens beweifen wollen.
Nachdem wir endlich gefehen haben, daß ber ftoßende Körper den
geftopenen in Bewegung feßt, feheint uns wohl die Vertheilung
der Geſchwindigkeiten und die Mitteilung der Bewegung über
baupt ein ganz natürlich zu erwartendes Ereigniß, und erſt bei
dem Verſuche, den Grund diefer Erwartung beftimmt auszufpres
hen, finden wir, daß wir feinen willen. Daß jede phyſiſche
Kraft mit der wachſenden Entfernung der wirkenden Wefen von
einander abnimmt: wir glauben gar nicht mehr, es anders den⸗
fen zu können, und doch wiffen wir, wenn wir aufrichtig fein
wollen, feinen Grund, warum nicht im Gegentheil die Anziehung
in größerer Nähe geringer fein follte, da fie ja leicht in demſel⸗
ben Maße abnehmen könnte, in welchem fie bereits befrichigt
if. Und zulegt, wie naiv legen wir Doch den Körpern, wenn
435
ihre chemische Gegenwirkung zu erflären ift, eine Verwandtſchaft
bei, nicht al8 wenn wir fie aus der übrigen Natur der Körper
ableiten könnten, fondern bier recht eigentlich als die Fähigkeit zu
einer Leiftung, welche zu ihrer Natur nur hinzukommt. Aller
dings werden wir in dieſem Falle die Unfertigfeit unferer Erfah—
rungserfenntniß anflagen; nicht völlig bekannt fei uns eben die
Natur der verjhiedenen Elemente; wäre fie es, jo wiirde man in
ihr au die Erklärung für ihre chemiſchen Verwandtſchaften fin-
ben. Died mag vielleicht möglich fein, aber gewiß nur fo, daß
die allgemeinen Regeln, nach denen wir aus ber beffer befannten
Natur der Elemente auf ihren Chemismus fchlöffen, felbft ſchon
eine Menge jener Caufalzufammenhänge vorausfegten, die uns
nur als unmibderrufene Thatſachen der wirklichen Welteinrichtung
erweislich, aber nicht als Nothwendigkeiten begreiflich find.
Aus ſolchen Urthatjachen, nachdem wir ihre Bedeutung und
ben Sinn, in welchem fie ſich entmwideln wollen, fennen gelernt
haben, vermögen wir dann allerdings die Mannigfaltigkeit ihrer
einzelnen Folgen abzuleiten, aber fie felbft jehen wir nicht aus
der bloßen Betrachtung der gegebenen Dinge ein, fondern würden
fie erft begreifen, wenn wir wüßten, was das Unendliche mit
diefen Dingen im Sinne hatte, da es fie ſchuf. Wer fi ver:
mißt, aus jener unvollftändigen Natur des Endlichen allein bie
Gefeglichfeit der Ereigniffe aufzuweisen, unternimmt die hoffnungs-
Iofe Arbeit, eine Theorie über Bewegungen von Schatten zu
gründen ohne Rückſicht auf die Bewegung der Körper, von Denen
biefe geworfen merden. Denn in der That, fo wie wir nicht aus
. der Geſchwindigkeit, mit der zwei Schatten aufeinander zuftreben,
fondern nur aus der Elafticttät der Körper, denen fie entfprechen,
bie Schnelligkeit ermitteln können, mit welcher ſie aus ihrer Bes
rührung zurüdzuprallen fcheinen werden: fo hängt alles das, mas
die Dinge Yeiften, nicht von ihren erfennbaren Eigenſchaften allein,
fondern von der Elafticität und Xebendigfeit Des Unbedingten ab,
welches als einziges zufammenfafjendes und wirkungsfähiges We⸗
fen diefen Schein der Eigenſchaften um ſich wirft. Nur dann,
28*
436
wenn wir auch diefe innere Natur der Dinge durchichauen und
jagen könnten, was eigentlih das Unenbliche mit dieſer Manntg-
faltigleit der Exfheinungen und ihrer unermeßlichen Verwicklung
beabfihtigt, nur dann würden wir aus biefem Zwede heraus
auch die allgemeinen Geſetze des Wirkens verftehen, die es im
diefem Erſcheinen fig vorgefchrieben bat, und würden im Stande
fein, fie nicht blos als Thatſachen binzunehmen, fondern al8 Die
eigene Yolgerichtigfeit des Unendlichen zu begreifen.
Da dies nun nicht ift, mögen wir den Sprachgebraud ber
Naturwiſſenſchaft nicht tabeln, jo lange er nur Sprachgebrauch
für die laufende Unterſuchung, nicht Ausdrud für den Siun der
vollendeten fein fol. Denn verwerten fönnen wir allerdings die
Mitwirkung des Unendlichen für die Durchführung der Erflärun-
gen im Einzelnen nit. Eben fo wie wir im Leben das ftikfe
Bewußtſein ftetig fefthalten, daß jeder unferer Augenblide in der
Hand Gottes fteht, ohne daß wir doc feinen Namen in der Be-
urtheilung jedes Fleinen Ereignifjes mißbraugen möchten, deffen
befondere Abhängigkeit von feinem Willen wir ja nicht verfichen:
eben fo werden wir einmal und bleibend die Ueberzeugung faflen,
daß jeder Schritt des Naturlaufes nur gethan wird durch die
wirkende und geftaltenve Kraft des Unendlichen; aber in der Er-
läuterung der einzelnen Erfheinungen werden wir dieſe Ueber—
zeugung nicht beftändig wiederholen. Denn eben in biefem Ein-
zelnen diſt das Unendliche nur noch in Geftalt jener abgeleiteten
Principien thätig, in die e8 fich felbft verwandelt bat, in Geftalt
jener Stoffe Kräfte und Wirkungen, die es gefhaffen, denen es
ihre Form und ihre Gefege vorgezeichnet, die es endlich zu dem.
zufammenhängenden Ganzen eines mechanischen Naturlaufes ver-
flohten bat. Führen wir in diefem Sinne alles Geſchehen ber
Natur auf mechanifche Berkettung zurid, jo handeln wir nun iu
dem eigenen Sinne des Unendlihen und ehren fein Gebot; nicht
ihm gegenüber ftellen wir als eine unabhängige, feindliche, von
ibm zu überwindende Macht ven Mechanismus, fondern wir fehen
in dieſem nur die eigene Wirkſamkeit des Unenblichen, die, melde
437
e8 in der Welt der Erjheinungen überall als die verwirflichende
Hand zur Erfüllung feiner Zwecke anerfannt wiffen will. So
kann die Naturwiſſenſchaft allerdings das Unendliche zu entbehren
fheinen, weil fie nit von ihm fpricht, und die Oberflächlichkeit
unferer phyſikaliſchen Zeitbildung ‚kann glauben e8 entbehren zu
können, weil fte, befchäftigt mit den Heinen Mebergängen von End-
lihem zu Endlichem, die Anfänge des Gemebes aus den Augen
verliert, in defien Mafchen fie wohnt; in der That aber wird
jede aufrichtige Meberlegung zu dem ernften Bewußtfein der völli-
gen Unfelbftändigfeit alles Naturlaufes zurlidgeführt werben, und
fie wird da, wo fie auf Fragen ftößt, wie die, welche uns zu
diefer Erläuterung veranlaßten, auch den offenen Ausdrud dieſer
Ueberzeugung nicht zurüchalten Mönnen.
Menden wir uns nun zu diefen Tragen zurück, um nit zu
Yange in dem Gebiete allgemeiner Betrachtungen zu verweilen, jo
geben uns zunächſt die Zweifel über das endliche Schidfal der
Seele und die Bemühungen, zu einer Entfcheidung derſelben zu
gelangen, ein Beifpiel der fruchtlojen Beſtrebungen, welche wir
tadelten. Auf drei Wegen fucht man das Ziel, die Gewißheit
der Unfterblichfeit, zu erreihen. Denn außer jenen zahlreichen
Analogien Bergleihen und Bildern, mit denen fi) Die zweifelnde
Phantafie immer zunächft zu bebelfen pflegt, und welche wohl die
Stimmung des Gemüthes für die Aufnahme einer Wahrheit
glinftig vorbereiten, aber nie diefe ſelbſt beweiſen fünnen, fucht
man theils aus ber eigenen Natur der Dinge die Unfterblichfeit
als unvermeidlich, theils aus Gründen der Gerechtigkeit fie als
nothwendiges Zugeſtändniß der Weltregierung darzuftellen. Es
ift nicht unfere Abficht, Die zahlreichen Neflertonen der Testen Art
bier zu wiederholen; nur die Behauptung möchten wir hinzufits
gen, daß nur aus ihrem reife, niemals dagegen aus jenen ſchein⸗
bar ftrengeren Unterfuchungen, melde die Natur der Dinge zum
438
Ausgang nehmen, das Gemith die Gründe entlehnen wird, auf
welche e8 mit einigem Vertrauen zu ihrer Haltbarkeit feinen Glau⸗
ben an ewige Fortdauer ftügen möchte. Es gibt nicht eine ſolche
Natur der Dinge, die wie ein unvordenkliches Schickſal aller
Wirklichkeit al8 eine unvermeidlich zu befolgende Reihe von Ge⸗
fegen voranginge; e8 gibt nicht einen ſolchen Inbegriff des an
fi Möglichen und Nothwendigen, auf welchen die welterfchaffende
Kraft Hinbliclen müßte, um zu erfahren, innerhalb welcher Gren-
zen ihr die Verwirflihung ihrer Abfichten erlaubt fei, und melde
Berpflichtungen folgerichtiger Entwidlung fie mit jeder Stiftung
irgend eines Keimes übernehmen müſſe; es gibt endlich nicht ein
ſolches ewiges und vorweltliches Geburtsrecht der Dinge oder Sub-
ftangen, auf das fie fih ſtützen Könnten, um zu verlangen, daß
jede Macht, von welder fie zum Dienfte einer Weltbildung be-
rufen würden, ihre Privilegien achte und fie nur fo verwende,
wie ed ihrer angeftammten Würde angemeffen fei. Alles, das
Dafein jener Dinge, die Eigenthümlichleiten ihrer Natur und bie
Rechte, die dieſer zuzukommen fheinen, Alles ift auf einmal und
gleich unbefchränft nur Geſchöpf jener ſchaffenden Kraft ſelbſt; nur
fo viel und ſolches ift Überhaupt in der Welt, als das Unenbliche
zur Verwirklichung feines Willens nicht ſowohl bedarf als viel-
mehr zuläßt; nur die Rechte befigt jedes, die dieſer ſchöpferiſche
Wille ibm gab, nur innerhalb derjenigen Geſetze fcheinen alle
feine Wirfungen und alle feine Schickſale fi mit jelbftändiger
Nothwendigkeit zu bewegen, innerhalb deren die eigene Folgerich⸗
tigkeit des ewig Einen jedem einzelnen feiner Erzeugniffe zu blei=
ben gebot. Nur wenn wir in dem fchöpferifhen Mittelpunkte
der Welt ftehend, den Gedanken völlig durchſchauten, aus dem fle
entfprungen ift, fünnten wir rüdwärts aus ihm die Schidfale Des
Einzelnen vorausfagen, das zu feiner Verwirklichung berufen ift;
wir können e8 nicht von unferem menſchlichen Standpunkte, der
und nur dem Gejchaffenen unmittelbar, aber nicht dem Schöpfer
und feinen Abfichten gegenüberftellt. Beſitzt unfer Geift, mie wir
mit Recht glauben, einen Schag ihm angeborner denknothwendi⸗
439
ger Wahrheit, jo fündigen wir gewiß gegen den Sinn biefer
Wahrheit zuerft und am meiften, wenn wir ihr einen andern
Urſprung zufchreiben, als den, auch ihren Inhalt nur jener fchöpfe-
riſchen Macht zu verdanken; fie wird uns leiten, das Endliche in
dem Sinne des Ganzen zu verknüpfen, dem es dient, aber fte
Tann die letzte Beftimmung aller Dinge nicht unabhängig von ber
Kenntniß des höchſten Zweckes begreifen wollen, von welchem
allein doch diefe Beftimmung abhängt. |
Daß wir die Seele als den fubftantiellen und dauernden
Träger der Erfheinungen unſers inneren Lebens anfchen müffen,
davon allein haben unfere Betrachtungen uns überzeugen können.
Aber dag die Seele darum, weil fie für diefe Erfheinungen die
bleibende Subftanz fei, auch eine ewige und unvertilgbare Dauer
als das Vorrecht ihrer Natur befigen müſſe: von der Sicherheit
dieſes Schluffes wird das unbefangene Gemüth ſich nie überzeugt
fühlen. PVerlangt man das Zugeſtändniß von uns, daß jede
Subftanz ihrem Begriffe nach nothmwendig unzerftörbar fei, fo
mögen wir die Nichtigkeit dieſes Begriffes zugeben, aber wir wer⸗
den dann die Seele nicht mehr zu dem rechnen, was in feinen Um:
fang fällt. Nichts berechtigt uns zu der Annahme, was einmal
jet, müſſe nothmwendig immer fein, und Entftehen und Vergehen
bezweifeln wir nur deshalb zumeilen in feiner Möglichkeit, meil
wir mit der gewohnten Neugierde unferes Denkens eine Anſchau⸗
ung ſeines Herganges haben möchten. Sind wir endlich buch
den Zufammenhang unferer übrigen Anfichten fo ſehr Darauf hin-
gewieſen, in allem Endlichen nur Gefchöpfe des Ewigen zu jehen,
fo können noch weniger die Schickſale dieſes Einzelnen andere fein,
als das Ganze fie ihnen gebietet. Das wird ewig dauern, was
um feines Werthes und feines Sinnes willen ein beftändiges
Glied der Weltordnung fein muß; das Alles wird zu Grunde
gehen, dem diefer erhaltenne Werth gebricht. Kein anderes höch-
ſtes Geſetz unferer Schickſale können wir auffinden als dieſes, aber
eben diefes ift unanwendbar in unfern menſchlichen Händen. Wir
können und nicht vermefien wollen, zu beflimmen und zu richten,
440
welche geiftige Entwidlung durch die ewige Bedeutung, zu welder
fie ſich erhoben hat, die Unfterblichfeit fich erwerbe, welcher an-
dern fie verfagt bleibe. Weder ob alle Thierfeelen vergänglid,
noch ob alle Seelen der Menfchen unvergänglich find, dürfen wir
entfcheiden wollen, fondern müffen uns auf den Glauben zuräd-
ziehen, daß jedem Weſen gefchehen werde nach jeinem Recht.
Und eben fo wie die Fortbauer nach dem Tode, iſt das Da—
fein der Seele vor der Geburt diefes irdiſchen Lebens Fein Ges
genftand unferer menſchlichen Kenntniß. Wer der Unfterblichkeit
der Zukunft gegenüber eine unendliche Vorgeſchichte unferer Seele
zu bebürfen meint, wird ın feinem Glauben und in’ der Phan⸗
tafie, mit welcher er diefen in unferex Erinnerung leeren Zeit
raum ausfüllt, kaum von der Wiffenfchaft beläftigt werben kön⸗
nen. Aber die Erfahrung unferes gegenwärtigen Lebens enthält
nur wenige Spuren, melde ein dazu geneigtes Gemüth auf dieſes
Bordafein unſeres Weſens zurückdeuten möchte; die Träume der
Seelenwanderung, zu denen faft unvermeidlich unfere Vorftellung
genöthigt fein wärbe, find bisher Träume der Einbildungstraft
geblieben und noch nie hat man erfolgreich ihnen eine höhere
fittlihe Bedeutung für Die Ordnung der Welt zu geben vermocht:
endlich zwingt feine Nothwendigfeit unferer Vernunft, ben Ge
banken einer Entftchung der Seele zu fliehen. Der organiſche
Leib, in feiner Bildung begriffen, erzeugt fie freilich nicht aus
ſich jelbft; aber dieſer lebendige Leib ift felbft nicht ein innerlih
zufammenhanglofes Gewirr von Atomen, das nur ein allgemeined
Geſetz in einer Übrigens leeren Welt zu heftimmter Entwicklung
triebe. Wie vielmehr jeder kleinſte phyfiihe Vorgang, melder
zwiſchen zwei Elementen ſich zu ereignen fcheint, zugleich ein
Geſchehen in dem Innern des Emwigen ift, auf deſſen beftändiger
Gegenwart alle Möglichkeit des Wirken beruht: ebenfo ift aud
dieſe ftillfortichreitende Bildung des organtichen Keimes fein ver-
einfamtes in fich jelbft abgefchloffenes Ereigniß, fondern eine Ent
wicklung des Unenblichen felbfl. Bon ihm gehegt, von ihm im
fein eigenes inneres Wefen aufgenommen, erregt dieſes Ereigniß
441
des Naturlaufes dort die ſchöpferiſche Kraft zu neuer Entfaltung,
und fo, wie unfere menſchliche Seele die äußeren Reize in ſich
aufnimmt und dur die Erzeugung einer Empfindung beantwor⸗
tet, jo läßt Die folgerichtige Einheit des unendlichen Wefens durch
Died eine innerliche Ereigniß der phyſiſchen Entwidlung dazu fid
erregen, aus ſich felbft aud die Seele hinzu zu erzeugen, die dem
werdenden Organismus gebührt.
Es ift mehr Einheit und Einfachheit in diefem Vorgange,
als in der Borftellung, die wir von ihm zu geben vermögen.
Richt wie in dem Beispiel des Verhältniſſes zwiſchen unferer end⸗
lichen Seele und den Reizen, die und fremd find, tft aud für
das Unendliche jenes Ereigniß des Naturlaufes ein von außen
tommenber Reiz, der einen Weg zurüdzulegen hätte, um den Mit-
telpunft zu finden, aus welchem er die neue Entwidlung hervor-
Ioden foll; jeder einzelne Borgang der Natur gefhieht in dem
Unenblichen, jeder ift Diefem Mittelpunkt glei nahe und nahe zu
aller Zeit. Und nicht aus diefem Mittelpunkt der fchaffenden
Kraft entfteht wieder die Seele als ein’ neues, zweites Element,
das einen Weg zurädzulegen hätte, um äußerlich dem Körper ſich
zu verbinden, den es auffuchte; ungefchteden der Zeit und bem
Raume nah entfalten ſich dieſe beiden Schöpfungen, in beren
gleichzeitiger Entwicklung das Unendliche nur die innere Wahrheit
feines eigenen Weſens ausdrückt. Weder aus dem Körper entfteht
bie Seele, noch aus Nichts; aus der Subftanz des Unendlichen
geht fie mit gleicher Wefenhaftigkeit hervor, wie aus demfelben
Duelle alle Wirklichkeit der Natur entfprang. Und weder zufällig
fommt zu diefem Körper diefe Seele, noch ift es das DVerbienft
des Leibes, durch feine Organifation die Seele fih zu fchaffen,
bie der möglichen Form feiner Iebendigen Thätigkeit entſpricht;
auch nicht willkührlich wird das Unendliche vorher fertige Geifter
an die beginnenden Keime vertheilen; fondern wie es mit felbft-
gewählter Confequenz jede körperliche Organifation die nothwen-
dige Folge ihrer Erzeuger fein läßt, jo wird es auch in der
Schöpfung der Seelen einem jelbftgegebenen Gefege folgen, durch
442
welches auch ihre aufeinanderfolgenden Gefchlechter in die Abftu-
fungen einer innerlihen Verwandtſchaft verflochten werden. Nicht
durch Theilung wird die Seele der Eltern ſich zerfplittern in die
Seelen der Kinder, aber die Ahnung bleibt uns, daß die fchaf-
fende Hand bes Unendlichen das geiftige Bilb der Erzeuger in
dieſen wiedererzeuge und aud innerlich die Wefen ſich nahe. ftehen
laſſe, welche fie am nächſten für das äußerliche Leben mit ein-
ander verkettet hat.
Nur die Ahnung davon bleibt uns; mit taufend Beifpielen
belehrt uns auch hier die Erfahrung von der Unerforjchlichkeit die-
fer Wege Gottes. Mit treuer und befcheidener Beobachtung ge-
winnen wir vielleicht einen hie und da erweiterten Ausblid auf
Die Richtung, welche fie nehmen, aber nie werden wir im Stande
fein, den Lauf diefer geiftigen Weltordnung mit berfelben An-
näherung an die Wahrheit zu überjehen, die unferer Auffaffung
der natürlichen Erſcheinungen gewährt if. Und Alles, was wir
noch hoffen dürfen an Zuwachs ber Erkenntniß zu erreichen, das
werden wir nur von einem geſammelten Bewußtfein über unfere
Beftimmung, nicht von der Betrachtung unferer allgemeinen gei-
ftigen Natur erwarten müffen. Nur die Einfiht in das, mas
fein fol, wird uns auch die eröffnen in das, was ift; denn feinen
Thatbeftand, Feine Einrichtung der Dinge, feinen Lauf des Schid-
fals wird es in der Welt geben können, unabhängig von dem
Ziele und. dem Sinne des Ganzen, aus welchem jeder Theil nidt -
allein fein Dafein, jondern auch die wirkungsfähige Natur em⸗
pfangen bat, auf welche er ſtolz ifl.
Schluß.
Ich möchte nicht ſagen, daß es ein Gipfel von hoher Aus-
ficht fei, auf weldden unfere Betrachtung durch einen langen und
doch für die Mannigfaltigfeit der Umgebung vielleicht zu kurzen
Weg geführt hat; aber die Höhe haben wir jedenfalls erreicht,
die unfern Kräften verftattet ift, und zurückblickend mögen wir
jest wohl der Zweifel gedenken, aus deren Mitte wir ausgingen,
und de3 veränderten Bildes, welches ung jest die durchwandelte
Gegend gewährt. ALS wir den Streit der verſchiedenen Natur:
anfichten überdachten, war es befonders jenes Element einer dunk⸗
len und ftarren Naturnotbwendigfeit, gegen welches der unab-
läſſige Kampf des menfchlichen Gemüthes gerichtet war, um end-
lich in einer blinden Hingabe an die Verehrung dieſes blinden
Waltens zu endigen, Die mehr aus Entfagung als aus Ueber:
zeugung heworzugehen ſchien. Haben wir nun einen Weg ge-
funden, die zwiefpältigen Gedanken, die dort ſich ftritten, zur Ber-
ſöhnung zu bringen, und welchen Werth müſſen wir auf die
einzelnen Punkte der Anficht legen, die fih uns allmählich in ber
Hinwegräumung jener drängenden Schwierigkeiten gebildet hat?
Diefe Fragen mit aufrichtiger Selbftprifung noch einmal zufam-
menfafjenb zu beantworten, wird Niemand fi erlaſſen, den bie
Gewohnheit wiſſenſchaftlicher Unterfuhung gelehrt hat, wie bleich
444
nad dem Abſchluß derfelben fo häufig der Glanz der rettenden
Gedanken fih ausnimmt, die fo blendend waren in dem Augen-
blick, als fie neu entftanden den Schwierigkeiten entgegenfprangen.
Sie waren angeftrahlt damals von dem Hoffnungsvollen Feuer
der Arbeit und glänzten in ihm weit mehr al8 von dem eigenen
Fichte. Vielleicht entgehen wir auch hier diefem Geſchicke nicht;
vielleicht aber bleibt uns auch etwas zurüd als ein feſtzuhaltender
Gewinn, den wir aus diefer allgemeinen Weberftht der Beding—
ungen alles Lebens zu der befonderen Betrachtung der menſchlichen
Dinge mit binübernehmen.
Den Glauben an perfünlide Naturgeifter, in denen die my—
thifche Weltauffaffung die Schönheit und Bedeutung einzelner Er-
ſcheinungen zu lebendigem Genuß verdichtete, Haben wir ftillfchrwei-
gend aufgegeben. Keine Erfahrung beftätigte diefen Traum; aber
alle Erfahrung war zugleich unfähig, einen anderen Traum zu
widerlegen, in welchem das Gemüth, nad innerlicher Lebendigkeit
der Natur begierig, die verlorene Befriedigung in anderer Weiſe
wieder gewinnen konnte. Denn Nichts hielt und ab und Vieles
ermahnte uns, in jenen einfachen Wefen, aus deren Zufammen-
fegung für uns felbft der Schein der lebloſen Materie hervorgeht,
ein inneres Xeben zu vermutben, fühig, in den mannigfacften
Formen des Gefühles die Eigenthümlichkeit jeder Lage zu genießen,
in welche der mechfelnde Naturlauf fie warf, oder eine beftändigere
Bildung fie fefthielt. Nur verallgemeinert wurde durch Diefe Auf:
faffung der Selbftgenuß der Natur; nicht ein bevorzugter Theil
der Wirklichfeit hat feine Genien, während blind und leblos ber
andere Tiegt, fondern Alles konnte diefe Wärme der Empfindung
durchdringen. Und nicht beichränft mehr auf die Formen des
menſchlichen Seelenlebens wiederholt überall diefe innere Regſam⸗
feit und das Belannte; völlig andere, uns unfagbare, nur in
träumerifcher Ahnung uns von fern vorichmebende Arten des Ges
nuſſes und der Empfindung können wir in diefe Natur verftreut
denken, den befonderen Lagen der einfachen Wefen fo entfprechend,
daß Fein Ereigniß des mannigfadden Naturlanfes von diefer Ber
445
Härung in Bemwußtfein und Selbftgenuß mehr ausgefchloffen if.
Aber wir mögen weit weniger die Vortheile diefer Auffaffung
ſchildern, die bei der geringeren plaſtiſchen Anfchaulichkeit Der get-
ſtigen Weſen, von denen fie-fpridt, um fo mebr fih dem muſi⸗
kaliſchen Hange unferer Bildung empfehlen würde: dies wollen wir
vielmehr hervorheben, daß fie zwar vielleicht nicht ein leerer Traum
ift, aber meitab Liegt von den ernften und wichtigen Ueberzeu⸗
‚gungen, auf welche wir unjere Betrachtung der menfchlichen Bil-
dung gründen möchten. Welche Anficht über das innere Leben
der Natur jedem Zeitalter die herrſchende war, davon hat der
Vortichritt der menſchlichen Entwicklung nur fo lange abgehangen,
als es noch fraglich fein konnte, ob regellofe Freiheit und Will-
führ von Genien und Dämonen oder die unbedingte Folgerichtig-
feit allgemeiner Gefege die äußere Welt, den Schauplag und ben
Gegenftand unſeres Handelns, beherrſche. Nachdem diefer Streit
entfchteden iſt, wird die zartfühlende Phantaſie, mit welcher wir
die Seele der Natur zu belaufchen fuchen, den Fortichritt unferer
Eultur weniger begänftigen, als die Härte de8 Gemüthes, welche
die Dinge der Natur zunächft für das nimmt, wofür fie ſich geben:
für blinde, ftumme, einer nothwendigen Orbnung unterworfene
Erzeugnifie, die ihr inneres Leben für fih haben mögen, für ung
aber ein Reich benugbarer Sachen bilden. Ohne deshalb der
Einbildungstraft Die Verfolgung jener Gedanken zu verargen,
müfjen wir doch behaupten, daß nicht in ihmen, fondern in der
Profa des alltäglichen Scheineß die wichtigere Grundlage unferer
geiftigen Entwidlung liegt.
Jenen perfönlihen Raturgeiftern gegenüber fonnte die My—
thologte niemals den Gedanken einer unnorbenflihen Nothwen⸗
digkeit unterdrücken, in deren zielfegenden Schraufen ſich alle
Lebendigfeit der Götterwelt bewegt. Wber je bereiter wir die All⸗
gegenwärtigleit biefer nothwenbigen Orbnung Kberall zugaben, um
fo entfchtedener haben wir und der Auffaffung widerfegt, melde
in ihr ein vormeltliches Schickſal fah, im Gegenjak zu der fchöpfe-
riſchen Kraft, der diefe beftimmte Wirflichkeit ihre Formen ver-
446
dankt. Es ift nicht fo, wie die Mythologie in dunklen Bildern
Ichrte, daß dieſe Lichte Götterwelt, weldye Die Ordnung der vor-
handenen Welt beherriht, nur die Nachfolgerin einer früheren,
finfteren und büfteren Gottheit ſei, deren unbegreifliches Walten
die Grundzüge der Wirklichkeit beftimmt babe, in deren Genuß
und Berfchönerung jene thätig fei. Dies war vielmehr der feftefte
Theil unferer Ueberzeugung, daß jedes höchfte, ftarrfte, allgemeinfte
und nothwendigſte Geſetz, weldes die Welt und irgenbiwo auf:
zeigte, nur die jelbftgemählte Bedingung fei, die das eine fchöpfe-
riſche Unenbdliche feiner ewigen Entfaltung zu Grunde gelegt habe.
So führte und unfere Betrachtung von felbft in das Gebiet jener
andern Anfichten iiber, welche die belebenden und befeelenden Triebe
der Erfheinungen nur als unzählig verſchiedene Ausdrücke jenes
einen Gedankens verehren, der, unausſprechbar an fich, Die Fülle
der Weltſeele bilvet.
Inden wir anerkannten, daß nur das ifl, was in dem ver:
nünftigen Zufammenbange der ewigen Idee feine Stelle hat,
nur das fich ereignet, was in dem Sinne ihrer Entwidlung Tiegt,
daß alles Endliche überhaupt den erflärenden Grund des Triebes,
von dem es bewegt wird, nur in dem Gedanken ber Weltjeele
befige, den e8 verkörpert: jo haben wir in biefen Behauptungen
bie wefentlichen Lehren jener Weltanficht uns bewahrt. Und menn
wir den Begriff der Triebe unzulänglich für die einzelnen Unter:
fuhungen fanden und für ihn den ununterbrodenen Cauſalzuſam⸗
menhang einer mechanifchen Verwirklichung einfegten, fo wiber:
fprecden wir Damit dem Geifte jener Anficht nicht mehr, ſeitdem
wir alle Geſetze dieſes Mechanismus nur als den eigenen Willen
der Weltfeele, alle Verbindungen und Trennungen der wirkſamen
Mittel nur als ihre eigenen Handlungen, ihre innerlihen Wir
kungen in fi felbft, erfannt haben. Aber dennoch, melde Be⸗
friedigung könnte diefe Anficht gewähren, wenn fie nicht vermöchte,
die beiden großen Gegenfäge, die zufammen erft die Welt voll-
enden, die Natur und das Reich des Sittlichen, zu vereinigen?
Und können wir leugnen, daß alle jene Lehren und an bie Stelle
—
447
der Weltfeele doch nur eine Naturfeele fegen? Ein Wefen, in
defien Einem unendlihen Geftaltungstriebe fih die unzähligen
einzelnen Triebe der endlichen Erſcheinungen wie farbige Strahlen
zur Einheit des meißen Lichtes vereinigen? Wo aber liegt in
dieſem Wefen der. Grund zur Entwidlung der ſittlichen Welt, wo
das, woraus der Unterſchied von Gut und Böſe bervorginge?
Wollen wir nicht, in den alten Gegenfat zurüdfallend, entweder
auf eine unvorbenklic gegebene Natur die ſittliche Welt äußerlich
gründen, oder in einem höchſten Weſen, das wir Eines nennen,
doch unvermittelt neben einander die zwei gefchiedenen Wurzeln
beider vorausfegen, fo bleibt feine andere Wahl, als entweder
das Gute mit in den Kreis der Naturerfheinungen, oder die
Natur in die Verwirflihung des Guten einzufchliegen. Keinen
Augenblid kann e8 mir zweifelhaft feinen, daß nur die Tettere
Wahl uns erlaubt ift: alles Sein, alles, was Form und Geftalt,
Ding und Ereigniß heißt, Diefer ganze Inbegriff der Natur kann
nur als die Borbedingung für die Wirklichkeit des Guten gelten,
kann, fo wie er ift, nur deshalb fein, meil nur fo fih in ihm
der unendliche Werth des Guten feine Erfheinung gab. Aber
dieſe entjchievene Ueberzeugung bezeichnet nur ein letztes und
aͤußerſtes Ziel, welches unferen Gedanken ihre Richtung geben:
mag; fie bezeichnet nicht eine Erkenntniß, die deswegen, weil fie
in eine beweisbare Lehre fich ausführen ließe, den Namen einer
Wiffenfhaft verdiente. Eine unausfällbare ober bisher menig-
ſtens niemald ausgefüllte Kluft fcheidet für unfere menfchliche
Bernunft die Welt der Werthe von der Welt der Geftal-
ten, und wie lebhaft unfer empfängliches Gemüth mit zurüd-
gehender Bewegung des Denkens aus den vorhandenen Formen
der Natur den Werth ihrer fittlihen Bedeutung herausfühlen mag:
eben jo wenig vermögen wir vorwärts fchreitend aus dem Be—
wußtjein der höchften Werthe die Nothwendigkeit zu erweifen, mit
welcher fte in diefe und in Feine anderen Formen der Natur fid
geftalten mußten. Mit der fefteften Ueberzeugung von dem
Borbandenfein diefer ungefchiedenen Einheit zwifchen beiden ver-
448
einigen wir den bemwußteften Glauben an bie Unmöglichkeit ihrer
Erfenntniß.
Wie leicht könnten wir dieſes Zugeſtändniß durch Verhüllung
des Thatbeftande® umgehen! Denn mie fruchtbar ift doch darin
unfere fpeculative Wiffenfchaft gemefen, durch immer neue Namen
und Bilder ſich die Bitterkeit des Belenntniffes zu erfparen, daß
auch fie doch bier nur die Aufgabe Fennt, die dem unbefangenen
menſchlichen Gemüth nie unbefannt war, daß aber die Löſung
ihr fo unmöglich ift, wie jenem. Wenn es fidh fragt, wie aus
der Hand deſſelben Gottes, der die innerliche Heiligkeit der fitt-
lihen Welt gründete, dieſes Spiel der Planeten, dieſe Schönheit
der Erde mit der fröhlichen Formenfülle ihrer Pflanzen und Thiere
und mit der flarren Nothwendigfeit des darunter verbüllten Me-
hanismus hervorgehen konnte: wie leicht ift e8 doch dann und
zugleih wie ärmlich, von einem realen und idealen Factor in
Gott, von einem Weberwiegen des blinden oder des bewußten
Wirkens in feiner Thätigfeit zu ſprechen und jenem die nod immer
in ihren Formen unerflärte Natur, diefem die gleich flüchtig ges
gezeichneten Umriſſe des geiftigen Dafeins zuzurechnen. Wie Leicht,
in Gott etwas zu fehen, was noch nicht Gott ſelbſt ift, einen
dunklen Grund in ihm, der zu dem ftoffartigen Stamme der
Natur auswachſe, überwölbt von ber lichteren Entwicklung des
Anderen, was in Gott mehr Er felbft wäre. Mit jo kümmer⸗
lihen Behelfen täuſcht man den Ernft der Frage hinweg und
fagt weniger, als der beſcheidene Ausdruck des natürlichen Ge:
müthes, welches einfach in einer unerforichlichen Weisheit Gottes
den Grund aller endlichen Geftaltungen fieht.
Daſſelbe Bekenntniß der wiffenfchaftlihen Undurchführbarkeit
eines darum nicht minder ſicheren Glanbens haben mir, in un⸗
ferer Beziehung zu der legten großen Naturanficht, dev mechani⸗
ſchen, abzulegen. Wir haben fie rückhaltlos zugegeben, jo weit
irgend es fidh um die Unterfuchung der Verhältnifſe von Endlichem
zu Endlichem, um die Entftehung und Verwirklichung irgend
welcher Wechſelwirkungen handelte; mir haben ebenſo entſchieden
449
ihre Berechtigung geleugnet, wo fie nicht als formelles Mittel
der Unterfuhung, fondern als abſchließende Weltanficht fich gel-
ten zu machen verfuchte. Aber indem wir die felbftändige Wirk—
lichkeit eines mechanischen Naturlaufes leugneten, können wir doch
bie Ableitung feiner einzelnen Gefege aus dem höchſten Zwecke
ber Welt nicht vollziehen, ſondern müffen c8 dem langſamen Yort-
Schritte der Wiffenfehaft überlaffen zu zeigen, was in diefem Ver:
fuche ausführbar fein mag, und was der menschlichen Erfenntnif
ftet8 verfagt bleiben wird. Nur dies war und möglich anzubeu=
ten, wie wenig jener Charakter der Aeußerlichkeit, den man fo
oft der mechanischen Auffaflung zum Vorwurfe macht, mit dem
Geiſte dieſer Anficht nothmwendig zufammenhängt. Es ift ihr nicht
verfagt, in den wirkſamen Elementen, aus deren veränderlicher
Zufammenfegung ſie den Wechfel der Naturericheinungen begrün-
det, innere Zuftände und eine verborgene Regſamkeit ihres Lebens
anzunehmen, die fie fteigern mag bi8 zu dem Glauben an cin
- dem unferigen verwandted Spiel geiftiger Eriegungen. Nicht
nothwendig muß für fie die bunte Fülle der Erfcheinungen zu
dem geiftlofen Spiel eined Austauſches von Berwegungen, einer
immer neuen und immer gleich beveutungslofen Bertheilung von
Geſchwindigkeiten, einer raftlofen Veränderung der Tage und Ver—
bindung der Theilchen verarmen: alle dieſe Wechfelfälle des Aufe-
ven Naturlaufes kann auch fie nur für die Summe der Veran:
Yaffungen anfeben, dur melde nad unmandelbaren Gefegen ein
innerer Naturlauf, die unermeßlihe Mannigfaltigfeit der Gefühle
in dem Innern der Wefen erweckt wird. Nur diefe äußere Ge—
ſchichte freilich zieht Die mechaniſche Naturwiſſenſchaft in Betracht
und überläßt die innere, welde fie erfahrungsmäßig nicht ver-
folgen Tann, der Geſchäftigkeit unferer Phantafie. Aber fie glaubt
dafiir au in jener Welt der Bewegungen nicht die wahrhafte
Wirklichkeit, nicht jenes Kette zu befigen, worauf e8 in allem Da-
fein ankam, in aller Schöpfung es abgejeben war, fondern aller
Mechanismus gilt auch ihr für nichts weiter als für die Samm-
lung aller VBermittlungsformen, in denen Gottes Wille befchloffen
Loge I. 3. Aufl. 29
450
bat, das unbefannte Innere der gefchaffenen Wefen auf einander
wirken zu laffen und alle ihre Zuftände zu dem unüberjehbaren
Zuſammenhange einer Weltgeſchichte zu verbinden. Es ift das
Reich der Mittel, deſſen Organifation diefe Anficht zu verftehen
glaubt, nicht das Reich der Zwecke, denen fie dienen. Wie wir
in unferem eigenen Leben die phyſiſchen Bewegungen der äußeren
Natur dazu verwendet fehen, als anregende Reize das viel Höhere
in uns ſelbſt, die bewußte Empfindung, zu erregen, fo, meinen
wir, fer in aller Welt all jenes mechanifche Geſchehen nur das
änferliche Gewebe geſetzlich einanderburchkreuzender Reize, be—
ftimmt, in unzähligen Bunften, in dem Inneren zahllofer Wefen,
das mahre Gefchehen eines geiftigeren Lebens zu entzünden.
Legen wir aber Gewicht auf diefe Unfelbftändigfeit des Na—
turlaufes, fo daß die Vergötterung des Mechanismus, die man
dennoch vielleicht und vorwirft, nur darin befteht, daß wir ihn
nicht als ein auf ſich beruhendes Schidfal, fondern nur als Er-
zeugniß der göttlichen Weisheit begreifen: jo müflen wir ander:
ſeits für ihn aud die Anerkennung feiner ſchrankenloſen Gültigkeit
verlangen. Wir glauben gezeigt zu haben, mie in den meiften
der Fälle, in melden cine mehr gefühlwolle als Hare Naturans
fiht, von. feiner Starrheit bedrückt, zu anderen höheren Kräften
und Potenzen flüchtet, uns theils die Erfahrung die Fortdauer
der mechanifchen Bedingtheit oft auf das Bitterfte eindringlich
macht, theils unfer Gefühl jelbft feinen wahren Vortheil von den
Annahmen haben würde, die e3 mit dem heimlichen Bemußtfein
ihrer Nichtübereinftimmung mit dem Gegebenen wagen fünnte.
Wir haben mit der Stetigfeit und dem feften Zufammenhange
des mechaniſchen Weltbaues felbft die Freiheit formell nicht un:
vereinbar gefunden, welche wir uns zu erhalten füglih wünſchen
fönnen; nur die Unentjchiedenbeit dariiber, ob auch nur in dieſem
Valle das, was wir annähmen, dem richtig verftandenen Zwecke
feiner Annahme entſprechen möge, hat uns zögern Yaffen, neben
der Möglichkeit der Freiheit von ihrer Wirklichkeit zu Sprechen und
auch ihrem Begriffe feine beftimmte Stelle in dem Ganzen bes
451
mechaniſchen Univerfum zu geben. Je weiter wir jedoch auf die⸗
fem Wege uns von ber kümmerlichen Engherzigfeit jener Anfichten
früherer Zeiten entfernen, denen Mechanismus nichts mar, als
eine endloſe Mittbeilung gegenfeitiger Stöße, um fo mehr müffen
wir jeden Berfuch zurückweiſen, nun dennoch diefem allgemeinen
Geſetze aller Vermittlung des endlichen Geſchehens einzelne Theile
der endlichen Wirklichkeit entziehen zu wollen. Nirgends ift ber
Mechanismus das Wefen der Sache; aber nirgends gibt fi das
Weſen eine andere Form des endlichen Dafeins, als dur ihn;
jo wie wir nicht andere Götter haben neben Gott, fo bedürfen wir
außer diefer allgemeinen Wirkungsform der Natur nicht anderer.
Wir verftehen.. wohl den Grund jener geringfhägigen Ab-
neigung, mit welcher fo viele Gemüther fi gegen dieſe Aner-
fennung fträuben. Uns allen fcheint zuweilen die Welt der Ge-
ftalten zu fehr die Welt der Werthe, das Reich der Mittel zu
ſehr das Reich der Zwecke zu verhilllen; wir fehnen uns nad
jener Einheit des wahrhafteften Seins, in welcher Ideen Wirk:
lichkeit haben, ohne an Die Vermittlung der Werkzeuge, das höchſte
Glück Beftand hat, ohne an die taufend Bedingungen beftimmter
Lagen gebunden zu fein, in mwelder ein unmittelbares Berftänd-
niß der Geifter alle äußerliden Wege der Wechſelwirkung itber-
flüffig macht, in welcher endlich Schöpfer und Gefchaffenes in eine
Gemeinjamteit des Lebens verfhmelzen, für deren ahnungsvolle
Tiefe kaum die edelſte Myſtik genügende Ausdrücke darböte. Im
Aufblick zu ſolchem Legten und Höchſten peinigt uns diefe Welt -
des Widerftandes, der Mittelbarfeit, der bedingenden Umftänbe,
der Verzögerung; es beunruhigt und, die Schönheit der natür-
lihen Geftalten nicht aus Einem Hauche ſchöpferiſcher Lebenskraft
begreifen zu follen, fondern fie auf dem Umwege zahlloſer Wechfel-
wirfungen des Vielen beruhend zu denken; e8 quält und endlich,
jelbft in unferer geiftigen Entwidlung und gebunden zu wiffen
an das Imeinandergreifen von Kräften, deren allgemeine Gefet-
mäßigfett frembartig der Wärme unferer Beftrebungen gegenüber
ftebt. Aber fo wenig wir die Wahrheit der Einheit leugnen
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wollen, welche jene myſtiſche Entzüdung des Gemüthes zu ſchauen
glaubt, eben fo gewiß liegt Dies unfer irdiſches Leben nicht in
ihrem Gebiete, fondern in dem Bereiche der Zweiheit umd, des
Gegenſatzes. Weder mit unferem Erkennen noch mit unjerem
Handeln ftehen wir in jenem ftillen Mittelpunfte der Welt, fon-
dern in den äußerften Verzweigungen ihres Baues, die laut find
von dem Getriebe der Bermittlungen; und die ungebuldige Sehn-
fucht, die in jenen zurüdtrebt, möge ſich hüten, daß fie nicht den
Eruſt und die Schwere der Bedingungen geringfehäge, unter deren
Gebot ein unwiderruflicher Rathſchluß unfer endliches Leben ge-
ftellt hat. Sind e8 höhere Anfichten der Dinge, von denen dieſe
Sehnſucht ausgeht, fo ſchweben fie eben wie entfernte Wolfen, glän-
zend allerdings von edlen Ahnungen beleuchtet, in einer fiheren
Höhe Aber al den dornigen Verwidlungen, welche unfere Stellung
hier unten darbietet; einen Weg durch das Geftrüpp hindurch zeigen
fie nicht, fondern nur einen: der Refignation darüber hinaus.
Aber das Leben des menfchlichen Gefchlechtes befteht nicht allein
im der Sehnfucht nach dem Ziel und in dem ſchwärmeriſchen Vor—⸗
traum feiner Anfchauung, jondern in der Arbeit der Wanderung zu
ihm. Wollen wir diefe Aufgabe mit felbftbemußter Befonnenheit
löfen, jo können wir nie zu eifrig fein in der Erforſchung der Be—
dingungen, die auch der Entfaltung unferes geiftigen Lebens in der
Natur des Schauplages geftellt find, der uns einfchließt, und in
dem Zufammenhang der Gefchichte, von dem wir dahingezogen
werben. Wie in dem großen Weltbau der fchöpferifhe Geift fich
unverrüdbare Gejege gab, nad denen er das Reich der Erſchei⸗
nungen bewegt, die File des höchſten Gutes in die Unzählbar-
feit der Geſtalten und Creigniffe zerftreuend und aus ihnen fie
wieder zu dem Glüde des Bewußtſeins und des Genuſſes ver-
dichtend: fo wird der Menſch, diefelben Gefege anerfennend, Die
gegebene Wirklichkeit in Erkenntniß ihres Werthes, den Werth
feiner Ideale in eine von ihm ausgehende Reihe äußerliher Ge-
ftaltungen entwideln müſſen. Zu diefer Arbeit find wir beftimmt,
und der chrwiirdigfte Zug in der Geſchichte unferes Gefchlechtes
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ift die unverfiegbare Ausdauer, mit welcher die hervorragendften
Geifter aller Zeiten ſich der Vervolllommnung der äußerlichen
Lebensverhältniffe, der Ueberwindung der Natur, dem Fortfchritte
jeder nüglichen Kunſt, der Veredlung der gefelligen Formen wid-
meten, obwohl fie e8 wußten, ‘daß der wahre Genuß des Dafeins
doch nur in jenen ftillen Augenbliden des Alleinfeins mit Gott
Tiegt, in denen jedes. menfhliche Tagwerk, alle Eultur und Civili-
fation, der Exrnft und die Laft des lauten Lebens zu dem Bilde
einer nur vorläufigen Uebung von Kräften ohne bleibendes Er-
gebniß zuſammenſchwinden. Im diefer Regſamkeit einer nicht ins
Unbeftimmte irrenden Breiheit, welche die Frucht wollte ohne das
langfame Wahsthum der Pflanze, fondern mit Bewußtfein an
die feften Schranken einer ihm heiligen Nothwendigkeit ſich bin-
dend und den Spuren folgend, die fie ihm worzeichnet, wird der
Menſch das fein, was eine alte Ahnung ihn vor allen Gefchöpfen
fein läßt: das vollfommene Abbild der großen Wirflichfeit, die
Meine Welt, der Mikrokosmus.
Ende
m.
Drud von I. 2. Hirſchfeld in Leipzig.
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