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iltons
Verlornes Paradies
im dsutsehen Urteile
des 18- Jahrhunderts
Von
Enrico Pizzo
f '^1
V^rls-g vor. E ra t f -E'ei-be r
1914
•^'C
1016 7 7 3
Meinen verehrten Lehrern
Prof. Dr. A. Frey
und
Prof. Df.Th.Veiier
in Dankbarkeit zugeeignet
Vorwort
Die Anregung zu diesar Arbelt verdanke ich Herrn
Prof. Dr. Th, Vetter, der mir, wie auch Herr Prof. Dr. A. Frey^
während der Ausführung wohlwollend und hilfreich zur
Seite stand. Der Auffassung der Arbeit hat die Lektüre von
Benedetto Croces Schriften viel genützt.
Verschiedene Winke, Auskünfte und Zustellungen von
Büchern schulde Ich d^n Herren Prof. F. Hübler (Graz), Prof.
Dr. M. Koch (Breslau), Prof. Dr. H. Maync (Bern), Prof. Dr.
j. 0. Robertson (London) und Prof. Dr. A. Stern (Zürich).
Auch sei der Stadt- und Kantonsbiblioihek Zürich, der deut-
schen Seminarbibliothek Zürich und der kgl. Hof- und
Staatsbibliothek München, deren Schätze ich ausgiebig be-
nützen konnte, dankbar gedacht.
Die Arbelt wurde im April 1013 abgeschlossen.
Inhalt
Vorwort
Vorbemerkung
Einleitung. Mütons Bekanntwerden in Deutschland
1. Kapitel. Bodmer und seine Zeit . .
2. Kapitel. Das Zeitalter Leasings ; . .
3. Kapitel. Herder in Sturm und Drang
4. Kapitel. Sturm und Drang ....
5. Kapitel. Die Klassik
6> Kapitel. Die Prühromantlk
Seite
l
15
48
73
82
103
133
Vorbemerkung
In dieser Arbelt habe Ich festzustellen versucht, inwie-
fern Mlltons Verlornes Paradies während des
achtzehnten Jahrhunderts in Deutschland zum ilterarischen
Erlebnis geworden.
Es kam mir darauf an, in jeder Periode das vltalo
Interesse an der Dichtimg zu 'Ermitteln, auch wenn es sich
hinter einer Theorie verbarg. Denn während bei Lessing
Theorie und spontaner Qoschmack übereinzustimmen
scheinen, ergeben sich z. B. bei Bodmer zwischen dem ge-
lehrten Wissen und der angewandten Kritik interessante,
noch nie recht hervorgehobene Unterschiede, die das wahre
Verhältnis su Milton erst aufdecken.
Oft fand ich in 2inwirkungen auf Dichtwerke Auf-
schluß. Ich benutzte die Arbeiten von J. Bächtold, Th.
Vetter, Fr. Muncker und F. Hübler,^) während mir Gustav
Jennys Leipziger Dissertation Mlltons verlornes
Paradies in der deutschen Literatur des 18»
Jahrhunderts (1890) wenig Brauchbares bot.
Für die Einleiiung lieferte mir J. Q. Robertsons Vor-
trag Miitons Farne on the Continent^) einige
wichtige Einzelheiten. Über des Dichters Wirken nach der
Seraphik fand ich mn wenige Detcilforschungen vor. Vie-
les habe ich .selbst zusaVnmengetragcn. Beinahe immer
war mir das Symptomatische die Hauptsache.
Das gewonnene Material bemühte ich mich synthetisch
zu verarbeiten, vom Bestreben geleitet; die Veränderungen
im Qeschmack der verschiedenen Perioden deutlich her-
vortreten zu lassen.
*) T h. V e 1 1 c r ä und Fr. Munckers Arbeiten werden
an Ort und Steüe angeführt werden. F. H ü b ! e r s Progranm-
schrlft ist betitelt . Milton und K 1 o p 3 1 c c k j Reichenberg
I. B. 1893—1.895, 3 Hefte.
») From the Procäsdinas of the British
Acadcmy, vol, HL, London 1908.
Einleitung
Miltons Bekanntwerdet! in Deutschland
Der Umstand, daß John Miltonv als er sein Para-
d i s e Lost vollendete, sich schon als Staatsmann und po-
litischer Schriftsteller einer. vv':iithin reichenden Namen ge-
macht hatte, erleichterte dem Dichter Milton das Be-
kanntwerden auf dem Kontinent. Absr bis ins achtzehnte
Jahrhundert blieb aut dem fcstlande das Verlor eno
Paradies beinahe t'nbeachtet. Noch 1732 begann J. J,
Bodmcr die Einleitung zu seiner Miltonübertragung: „MU-
ton wäre in Deutschland noch vor wenig Jahren alleine
berühmt als ein grosser Freund, und Secretar des Protec-
tors Olivier Cromwels. Von seinen vortrefilichen Gedich-
ten wußten nur einige wenige auserlesene Kenner zu
-agen/*
Solcher Kenner hatve es gegeben. Im Staatsdienste
,'16 auch nach seiner Erblindung verkehrte Milton mit
Deutschen, Zu s.'Jnen Bek.?.r.nten gehörte wahrscheinlich
auch der in England lebende Theodor Haake,^) der arste^
*) Vgl. A. Stern;, Milton u Ji d ü e : n e Zeit, Zweiter
Teil, Drittes Bu:h, Leipzis 1879, p. .?6 und J o h. 3 o 1 1 e , Die
beiden Ultcsten V&rd&utschungen von Miltcns
Verlöre iiem Paiadies, Zeitschrift fürvergl.
L i t s r a t u r 2 e s c h i c h •.: e . N. F. I. (Berlin 1887/88), p. 430 f.
Ein Manu£l<ript der liaakeschen Übersetzung hat sich auf der
Landesbibliothek zu Kassel arbalten. Es umfaßt die ersten drei
Bücher und SO Verse des vierten.
PtKSO, Miltoo. 1
_. f _
der das V. P. (ßegen das Ende der siebziger Jahre des 17.
Jahrh.) zu übersetzen beg:ann und es 2uch anderen Deutschen
zuKänglich zu machen versuchte: Er muß zwei Kopien sei-
ner nie gedruckten Übertragung nach Deutschland gesandt
haben, eine an einen gewissen Joh. Sobald Fabricius
(16.22--?), der ihm schmeichelhaft antwortete: „Incrcdibile
est, Quantum nos afieccrit gravitas stili et copia lectissi-
morum verborum'*,*) und eine an Ernst Qottlieb v. Berge,')
den er zu einer zweiten 1682 zu Zerbst erschienenen Über-
setzung anregte. Berges Arbeit ist eine Verschlimmbesse-
rung derjenigen seines Vorgängers; die noch unbeholfe-
nere, dunklere und verworrenere Sprache zeigt uns, wie
schwerverstUncilich Miltons hoher Stil den Deutschen jener
Zeit var.
Andere Deutsche» die nach England kamen, wurden
von Kaakc auf den englischen Dichter aufmerksam ge-
macht, so M. L. Benthem, der als Frucht eines englischen
Aufenthalte. 1694 jungen Theologen zur Anleitung seinen
Enge Hündischen Kirch- und Schulenstaat
schrieb, In welchem er über Haakes und Berges Versuche
und auch über Milton selbst unterrichtete/) Benthems
Werk wurde dann in den Monatlichen Unter-
redungen Einiger guter Freunde von
allerhand Büchern und andern annehm-
lichen Geschichten, October 1694 . . . ausgezogen.
') So erzählt K. L. Benthem im Engelländl-
schen Kirch- und Schulenstaat, p. 116 der mir vor-
liegenden Neuauflajre von 1732.
") Vgl. J. B 0 1 1 e , !. c, p. 427 f«
*) Die erste Auflage war mir nicht zugänglich. Nach J. 0.
Robertson äußert er sich p. 57 ff.; in der zweiten Auflage
p. 115 ff und 1121 ff. Die erste Auflage erschien in Lüneburg, die
zweite in Leipzig,
p. 831/2 finden wir die Nachricht über Haakc und Berge
noch einmal.
Auch Daniel Qcorg Morhof war das V. R bekannt.
1682 erwähnt er es in seinem Unterricht . . .') und
1688 in seinem Polyhistor.*) Das Gedicht scheini ihm
nichts zu sagen. Nur der Mangel des Reims fällt ihm auf.
Im Polyhistor sagt er über Miltons Dichtungen: „Piena in-
genii et acuminis sunt, sed insi:avii tarnen vidcntur ob
Thythrni defccturn; quem ego abesse a tali cirminum gcncre
non posse existimo. . . .*'
Wie Morhof, so mochte den meisten Gclehncn das V.
P. äußerlich bekannt gewesen sein, besonders nachdem es
Hog 1690 ins Lateinische üb;rtragcn, um es auch .extcrls
rcgionibus" zugänglich zu machen. In Bayles D i c t i o n -
nairchlstorique et crltique (1695—1697, II, 59*J).
in den ActaEruditorum (1700, p. 371) »si es erwähnt.
J. F< Buddeus nennt es in seinem Allgemeinen
historischen Lexicon (1709) „vortrefflich" J. B.
Mencke hingegen erwähnt es in seinem Comped lösen
Qeichrtcn-Lexicon (1713) nicht.')
Aber war das V, P. damals für niemand etwas mehr
als ein bloßer Name? Für Gelehrte nicht; wohl aber für
einzelne vom Schicksal Begünstigte, welche, ohne akade-
mische Vorurteile, die englische Literatur direkt kennen
*) Daniel Oeoree Morhoftn Unterricht
von der Teutschcn Sprache und Poesie, deren
Uhrsprung, Fortcang und Lehrsätzen. Kiel 16^1,
p. 568/9.
**) Polyhistor sive de notitia «uctorum et
rerum conmcr. taril, Lübeck I6S8, Üb. I. Kapt. XXIV,
p. 302, § 82.
'') Trotzdem sicli. wie Robcrtsonv p. 3. nachueisu aux
der Bibiiothcca Menckeniana, Leipzig; 1723. p. 561,
ergibt, daß Mencke ein Exemplar des V. P. besaß.
V
lernten/) Aus Kamburg, das mit England lebhafte Be-
ziehungen pflegte, tönen uns zu Anfang des neuen Jahr-
hunderts zwei Stimmen entgegen, die als prophetische Vor-
boten einer neuen Zeit erscheinen. Es ist interessant, daß
die zwei Hamburger Dichter, mit dferen Streit für uns die
neue Ära des Geschmacks zu beginnen scheint, Christian
Heinrich Postel, der eifrige Vertreter des Marinismus, und
sein Gegner, der von Bodmer später als Herold der neuen
Zeit gepriesene Christian Wernigke, beide, einmal mit der
englischen Literatur in Berührung gekommen, sich dem
Eindrucke des V. P. nicht entziehen konnten. In der Vor-
rede zu seiner Listigen Juno (1700) spricht Postel von
dem „vortreflichen Engländer Milton" ') und in den reichen
Anmerkungen zu dieser Übersetzung des 14. Buches der
llias führt er unter den Parallelstellen bei neueren Dichtern
auch die bei Milton an. Wie manche mochten sich damals
wohl an der wunderschönen Laube erwärmen, „darin Adam
und Eva sich ergetzet" (p. 484)? In den Fußnoten zu sei-
nem Großen Wittekind führt Postel alle Anklänge
an Iremde Dichter selbst an; die an Milton übergeht er.")
*) Wie bekannt das V. P. damals In England war, darüber
orientiert R. D. Havens in Englische Studien, 1909
(40. Band), 2. Heft, Seventeenth Century notices
of Milton,, p. 175—186 und ebd. The Early reputatlon
of the Paradise Lost, p. 187—199.
®} Die Listige Junö. Wie solche von d<;ni großen
Homer / Im vier2ehenden Buche der llias abgebildet / Nach-
mahls von dem 5i£choff zu Thessalonich Custatius ausgeläget /
Nunmehr in Teutschen Versen vorgestsllet und mit Anmärckun-
gen erkülhret Durch Christian Henrich Postel, Ham-
burg 1700.
**) Schon J. j. ß 0 d m e r machte auf einige Ähnlichkeiten
aufmerksam in seiner Ausgabe von Gotthard Heideggers
kleineren deutschen Schriften. .. JVlit kritischen
Vorreden und Nachrichten, 1732, p. 175. Auch Georg Fins-
1er, Homer in der Neuzeit von Dante bis Goethe.
Chr, Wcrnigke besingt den blinden Mllton, von dem
er nötig findet zu sagen, wer er sei; **) er gesteht, daß er
früher dem Hoffmannswaldau mehr unjrehangen hibc. a^s
er noch keinen englischen und französischen Poeten gelesen
und die lateinische Sprache nur der Sprache wegen ge-
trieben hatte. Lohenslein und Hoffmannswaldau hauen in
ihren Schriften mehr falschen als wahren Witz; ein Mangel
sei es, daß Hoffmannswaldau in seiner Vorrcdü den Milion
nicht erwähne.") Was Wernigke an Milton anzog, läßt
sich erraten; denn in der Vorrede zu seinen Gedichten er-
fahren wir, was er wünschte: Eine Poesie, die aufs Herz
geht.
In Deutschland gelangte abe«* In den ersten Dezennien
des 18. Jahrhunderts die Verstandespoesie zur Herr-
schaft. Für Milton war die Zei: noch nicht gekommen.")
. . . Leipzig u. Berlin 1912, giaubt, Milton habt Pcsicl bcosn-
flußt (p. 390). Mir sind bcsonderä im vierter. Buche, vo Lucifer
Wittekind Untcrjrang schwört, Ankiänsrs aufKcfallcr;: Austrabe
Hamburfc 1724, p. 93 (v. 763 ff) und p. 94 (v. 787«).
") Poetischer Versuch/in einem Hc^dcn^Ocdtcht tnd
etlichen Scliüffer-Qedichtcn / Mchrcntcüs aber In Cbcrschriff-
tcn bestehend HajTiburg 1704, p. 333. Wiederabge-
druckt: Christian Wcrnigkes Epiframmc, hrs. unU
einsci. von Rudolf Pcchcl, Bcriir 1909 (Palaestra
LXXI). p. 492.
") p. 170 f, im Neudruck p. 3?6,
^') In den Nova Literaria Oermaniae, Cot*
lecta iiamburfti, Cditaque Jilii .MDCCIII, p. 245. in der
Neuen Bibli othek oder Nacbric.h t undUrtheile
von neuen BQchern, Frankfurt und Leipzig. An. 1710. p.
472, 536, im Neuen 3ücher-Saa! der Gelehrten
Welt. XVII. OfinunjT (1712), p. 343 wird M. sjiKCJührt, aber nur
als Schriftsteller. F.bcnso in den auch von Robertson, p. 2
angeführten Werken*. C. Qryphiu-s, Anparatus sive
dissertatio isazogica de scriptürlbus histo-
riam seculi XVH illustratibus, Leipzig 1710. p. S2(K
333 ff; V. Paravicijii.Sinsularia de viris erudi-
~ 6 —
Addisons Spcctatoraufsätze über das V. P. fanden zu-
erst in Hamburii Eingang; ein Jahrzelint später auch in der
Sghweiz. Barthold Heinrich Brocl^es, der früh Englisch
gelernt und unter Marinos Einfluß eine Vorliebe für biblische
Stoffe rjefaßt hatte, ließ sich wohl bald durch Addison zur
Lektüre Miltons anregen.") Dann machte er sich aucn an
eine Übertragung.") Erschienen sind ehiige Bruchstücke
erst 1740 und 1746.'°) , An eine Beeinflussung von Brockes'
Hauptwerk Irdisches Vergnügen in Gott (9 Bde.v
1721—45) durch Milton j^laube ich nicht.") Gott in de: Natur
zu suchen, lernte Brockes von Leibnitz, Thomasius u. a.
Milton bestärkte ihn wohl nur in dieser Neigung.")
In den übrigen Gegenden des deutschen Sarachgebie«
tlon e Claris. Basel 1713, p. 207. Auf den PoiltiKcr Milton
wies der In Deutschland oft erwähnte Freidenker Toland in
seinem Life o f Milton.
-*) Wenn Job. U. König, der während der zweiten De-
zenniums in Hamburg war, am 28. Milrz 1724 an Bodmer schreibt,
die englischen Dichter seien ihm teils durch Übersetzungen, teils
durch einen geschickten Freund bekannt, der ihm die besten
daraus erkUtrt, so weist das auf frühe gemeinschaftliche Lektüre
der beiden. (Vgl. Litterarische Pamphlete au.s der
Schweiz, Zürich 1781, p. 46).
") Ober die Abfassungszeit vgl. A. B r a n d I . B. H.
Brockes, Innsbruck 187S, p. 100.
") Er übersetzte den Schluß des 4. Buches und das Mor-
gengebet zu Anfang des 5. Beide gedruckt in seiner Übertragung
von Popcs Versuch vom Menschen, Hamburg 1740,
p. 140 ff. Das Morgengebet nochmals im VIII. Buche des Irdi-
schen Vergnügens in Qott (1746), p. 629—632.
•'') Wie Jenny p. 15 behauptet, der sich aber den Nach-
weis schenkt. Nur einmal findet Brockes das Miltonsche Pathos.
Vgl. Alfred Biese, Die Entwickelung des Naturgefühls im
Mittelalter und in der Neuzelt, Zweite Ausgabe, Leipzig 1892»
p. 289.
*') A. Brand!, p. 46, schreibt dem Morgengesang am'
Anfang des 5. Buches des V. P. ^insn großen Einfluß auf die Ent-
wicklung von B.K Weltanschauung zu.
— 7 —
tes blieb der Dichter des V. P. während des zweiten und
der ersten Häh'te des dritten Jahrzehnts beinahe so wenis:
bekannt wie vorher. Beinahe! Denn da in Trankrcich das
Interesse im Zunehmen begriffen war,") so mußte es sich
auch in dem vom Nachbarn abhänk'ifrcn Deutschland,
vor allem in dessen Qclehrtenzeitungen spiegeln.
So sagt die Erste Nachlese der neuen Biblio-
ihec Franckfuri und Leipzig 1717» p. 136), indem *\q nach
dem Journal Literaire de i'Ann'k; MDCCXA'K
T 0 m e H u i t i e m e , P r e m i e r e P a r t i c . die Popesche
Iliasüb:rsetzung anzeigt: „Die Invcnsion ist der Grund
eines Gedichts. li o m c r u s » spricht der 4 u t o r, übertrifft
dariiin alle andere ... Es ist ein Feu.*r n V i r t; i H o .
aber ci ist nur wie ein Wiederschein im Spic.^.!l . . , In
M i 1 1 0 n wird es durch die Kjuist, als in einem Ofen unter-
halten, und in Shakespear schlägt es unvcrmuthct als
ein DonncrschlflR". Die Zeitschrift findet es für nötig, in
einer Anmerkung zu erklären: „Miltoa und Shakespear sind
zwey Englische Poeten davon der eine in Helden- und der
andere in Theatralischen Gedichten excclüret hat "
hl der Bibliothcca Eruditorum praeco-
cium (1717)*") weiß J. Klefeker mehr über Milton als die
früheren Lexikographen, aaf welche er verweist „Para-
disus amissus (P a r a d i s e Lost) poema elcgantissimum
Epicumv decem (!) libris divisum, ... In hoc, vcnus,to
pochnatc latino, lusii Sam. Barrow, Doctor Mcdicus Anglus,
quod non modo inseruit libro suc Tolasidus p. 136, scd ctlam
de praestantia ejus multa disseruit: Poema ilkid his disii-
chis absolvitur:
'•) Vgl. J. .VI. Tellecn, Milton dans !a litii-
rature francaise, Paris !904. p. 7 fi.
^') Klefckcri Blbliothc;'* Erudiiorum prae-
c 0 c i u m sivc ad scripta huius areuncnti Spicücsium et acccw*
sioncs. Karobursi apud Christianum Uel>cteit MDCCXVII. p.
233—2-14.
— 8 -
Cedite Romani Scriptores, cedite Qraji,
Et, quo: fama reccn<;, vel ceicbravit anus,
Haec quicunque leget, tantum cecinisse putabit
Moeonidem ranas, Virgilium Culices." ^*)
Neben dem V. P. kennt Klefeker auch noch andere Ülch-
tu;!igen Mütons.
Zu dieser Zeit kamen die Buchhändlier von Leyden
haag und Amsterdam dem Bedürfnisse des französischen
Publikums nach englischen Büchern entgegen, welche sie
in französischer Sprache verbreiteten. Seit 1717 er'^^hien
in Amsterdam die Bibliotheque Angloise" ou
histoire Literaire de la Grande Bretagne.
Par Mr. D. L R. Was in ihr und im ebenfalls holländi-
schen Journal litt^raire steht, wird in den deui-
sehen Zeitungen gewissenhaft registriert.*') Im J o u r n a l
littßraire erschien 1717 (IX. 3d.) die bekannte Dis^
sertaticn nur la Poösie angloise, in der Mii-
ton eine hervorragende Stellung eingeräumt ist (p. 177 ff.).
Ein gewisser Krause wollte sie in den zwanziger Jahren
"') p. 241.
•*') So wird in der oben erwähnten Ersten Nach-
lese .. . 1717 aus ZV/elter Hand auf Sir Richard Black-
niore'ti 2ssay upon severa! subjects hingewiesen
und hervorc:3hobcn, daß Bi. auch vcm Hcldengedichi; handle.
p. ?46f heiSt es dann: „Die Engellünder haben die Vortrefflich-
keit Von des Miltons vcrlohrnem ParadieS lange
nicht erkanl, endlich aber durch daßelbe und des P. L e B o s s u
tractat sich aufmuntern laßen, di^ Regeln dieser Art von
Poesie zu studieren".
In den Neuen Zeitungen von gelehrten
Sachen, Leipzig 1715 if, finden wir Müton bisweilen erwähnt
„£r folgt nicht biol2 den Alien, sondern hat immer etwas neues",
heißt es 172.1? (p. 188) von ihm im Anschluß an J. Trapps
Oxfordervorlesungen Pr aelecti ones Poeticae. p 293
wieder erwähnt-, 1724 p. 706.
für das Journal der Bobcrfcldischnn Gcsellschafl über-
setzen.**)
Es ist nicht imwahrscheinllch, daE Johann Jacob
Bodmer (1698—1783) durch eine dcranixe Erwähnung in
einer deutschen oder französischen Zeitung auf Miiton aaf-
merlcsam wurde.-*) „Aücin," sagt Hans Bodmer mit Recht,
„konnte nicht auch Zellwegcr den BUck des Freundes auf
einen Dichter gelenkt haben, dessen Werk dieser doch aus
seinen Händen zuerst empfing?'**') Wie sich Bodmcrs
Herz am Werke des englischen Dichiccrs :jntzündetc und
wie er den Plan zu seiner Überiray.ung faßte, ist bekannt
Auch von den ersten Eindrücken, die er von der Dichtung
erhielt, erzählen uns Bodmers Briefe an ZcUweger,
Trotzdem man dem Namen des enxlischcn Dichters in
Poetiken") v.. ä begcianiet (selbst mit Uriicilen, die nach
den französischen Regeln gefaßt sind), $o wurde er In
Deutschland' doch erst bekannter, als man In Prankreich
^=») So schreibt U. König am IS. Juni 1756 an Bodtncr.
Am gleichen Orte spricht er auch die Absicht aus.' eine Rezen-
sion von Haakes Übcrsctzurg zu s.chrcibca (A. Brand!,
Brockes, p. 157).
'*) Vgl. Die AnfSnKC des zürcherischen Mii-
ton, von Hans Bodmer (Stwdien zu Llttcratar-
«eschichtc» .Michael Bcnayi ;c widmet von
Schülern und Freunden), Hamburie und Leipxia iSW,
p. 179—199. p. 183 diese Fraec bttrcffe^c,
''') ebd., p. 183.
-°) Wie z. B. in der 1725 zu Breslau erschienenen .Anlei-
tung zur Poesie / Darinnen ihr Uisprunc / Wachsihum
/ Beschaffenheit und rechter Gebrauch unicrsuchct und jiczcieel
wird . , , p. 7C, und p. 15.5: „Unter «^encr. SnuJandcrn hat Mllton
ein Carmen cpicum geschrieben, da;- vciiustiite ParadciO ge-
nannt, ist aber eigentlich kein Meldcn-Qcdichtc. weil Adam und
Eva fi^llcn, i;nd nicht in der Heroischen Acli(*n ia Ende be-
harren. Es ist sonsi von ziemlicher Empfindunz. aber £>chr hoch
und tiefsinnig, nach der Englischen Art".
— 10 —
von ihm zu sprechen anfing. Voltaires Essai sur la
Poesie öpique (1727, zuerst englisch, dann überset7.t
von Abb6 Dcsfontalnes, 1732 von Voltaire französisch über-
arbeite:), N. F. Dupr6 de Saint-Maurs Übersetzung
(Paris 1727),"") Addisons ins Franzosische übertragene Auf«
Sätze,-*/ dii gegen ihre Übertreibungen gerichtete Dis-
sertation critique sur le Paradis Perdu
(1729) von C. F. Constantin de Magny machten das V, P.
zu einer viel besprochenen Dichtung.
Im Anw^chluß an diese Schriften wurden die deutschen
Qclehrtenzeitungen gesprächiger über Miiton.
Bald kündigten sie auch Courbevüles neue l'ranzösiche,
Zantens holländische und Rollis italienische Über-
s e t z n n k '*") an, 1730 äußerte auch Qottsched,. auf die ^
Franzosen gestüti:t, seine ersten Bedenken gegen den eng*
lischcu Dichter (Kritische Dichtkunst).
"') Ss!ner übarsetzung schickt Dupr6 de Saint-Maur
eine Übcrsetzunji von Eiijah's Life of Milton voraus,
^®) In der ersten ÜberlragunK des Spectator figurierten
bckannicrwolse die Aufsätze über Milton nicht. D u p r c de
Saint-Maur übertrug sie jetzt mit Hilfe B a r r e t s ins Fran-
zösische.
•'*) Neue Zeitungen von gelehrten Sachen
(1728), p 654 (RolHs Übers, versprochen), p. 186 f die-
jenige 3ain;'-Maurs angezeigt, p. 764 dicjnnise i^ollis,
p, 223 diejenige Zantens, p< 344 dlejerTisic Courbevüles. .
!73l werden Saint-Maurs Anmerkungen zu seiner
Übersetzung: resümiert: „ , , man hü!t davor, Korr Addison habe
dieses Kck'en-Gcdicht allzu sehr bewundert; und da es einigen
mißJallcn, daP Herr Addison sagt, v/enr. man dem vcrlohrncn
Paridies den Titel eines Helden-Gedichtes streitig mache, solle
man es Qin Göttliches Gedicht nen^ien; so haben sie es vielmehr
ein teuflisches Gedicht benlehmen (!) wollen, well ... der Satan
der He!c des Verlohrnen Paradieses, und die nachgeahmte That
seine iistiie Aufführung, die ersten Eltern zu verführen, sey . . ."
(p. 762).
-.. 11
Wie mochte Bodmer alles, was über Milton gesagt
wurdCv verschlinKcn! Um den Dichter xcgcn die Einwände
Voltaires und MaRnys zu veneidigenv cntu'arf ei- 1729—30
eine Abhandlung über das Wunderbare, die
er seinem italienischen Freund Calepio zuschickio.-^) Mit
diesem diskutierte er über den \Vc:*. Miltons. 1732 konnte
er, nachdem alle übrigen KuUurstaaten voranKeganis'cn. '
seine Übersetzung; mit schweren finanziellen Opfern drucken
lassen;'*) dabei stellte er eine Verteidigungsschrift in
Aussicht
Noch knapp vor der Publikaiion des Bodmerscheu
Milton war Gottsched in seinen Bcyträgen zur kri-
tischen Hisicorie der deutsche vi Sprache,
Poesie und Beredsamk<'.lt. Erstes Stück» p. 85 ft.
auf den Dichter zu sprechen gekommen, ür fühlt sich
durch das französische Vorgehen crmuMgi: „Es ist seit
zwanzig Jahren in Engeland, und seit kurzer Zeit auch dis-
seit des Meeres so viel von Miltons verU/hrntm Paradiese
gemacht, geredet und geschrieben wordijn, daß wir es der
Mühe werth halten, auch unsern Lesern c.nen Bccriff v»m
diesem berühmten Gedichte zu machen, welches Jie Ehre
verdienet hat, so wohl als das befreyetc Jerusalem des
Tasso, einer Üias und Acncls an die Seite gesetzt zu A'cr-
den." In seinem Urteil ist er v/ie in der Kritischen
Dichtkuivst von den Franzosen abhängig. F.cim Er-
scheinen der Bodmerschen überiragun? erwähnt er die
verschiedenen Übersetzer, rühr:t Bodmer u::d hält mit sei-
ner Ansicht zurück. Hier wie brief.jch ") deutet er sie nur
"*) il 8£«sio del tr&ttato da voi idtaio sopra ;! «Libiinie mi
i stato carissimo", schreibt;: .hm Graf Caicpio am 1. febr.
1730. M. S. Stadtbibliothek Zürich.
"*) Johann Miltons Verlust dts Paradieses, tin Hclden-
Oedicht, In uncebundcncr Rede flbersclzt« Zürich 173J.
*') „Übrigens wünsche ich ehestens das versprochene
— 12' —
an. Er :el gespannt auf die Verteidigung. Nach dem Bruche
mit Bodmer prallten dann in den vierziger Jahren die Mei-
nungen aufeinander.
Einmal bekannt geworden, fand das V. P. bei vielen
Entgesenkcmmen, so bei Albr^cht von Haller,") bei Fried-
rich von Hagedorn ;''*) andere hatten dieselben Bedenken
wie Gottsched.
Ausführlich wurde im Nöthigen Beytrag zu
den wöchentlich herauskommenden Neuen
Zeitungen von Gelehrten Sachen (1734 ff.)
nochmals das meiste angeführt und ergänzt, was über
Milton ;?rschienen.
In seinem Character der Teuischen Ge-
dichte (1734) postulierte Bodmer die Darstellung des
Wunderbaren, die der französiche Klassizismus verurteilte.
Werk zur Verthcldigung Milton's zu sehen. Ich gestehe, daS ich
begieriis bin, die Regeln zu wissen, nach welchen eine so regel-
lose Einbildungskraft, als die Milton's seine war, entschuldigt
werden kann." (7. Okt. 1732), vgl. Gustav Waniek, Gott-
sched und die deutsche Literatur seiner Zeit,
Leipzig 1897, p. 322.
") Vgl. Ferdinand Vetter, Der junge h aller,
Bern 1905, p. 48 ff. In der ersten Hälfte dos Jahres 1733 hatte
Bodmer Hp.llcr cÜö Miltoniibersctzung zum Tausch angeboten.
Am 20. Mai findet Maller, daß sie viel getreuer sei als die fran-
zösisclic, am 1*4. Nov. l)lttct er um die Zusendung einiger Exem-
plare. Es ist nicht ^u crwxiisen, daß Halicr schon auf seiner
cnglischon Reise Milton kennen lernte; vgl. Albrecht von
Hallers Gedichte, hrsg. u. eingeleitet von L. H l r 2 e 1 .
Frauenfcld 1)Sp>2, p. XLII. Aber Jenny sagt wohl mit Recht
p. 39: „In Basel wurde er durch »einen Freund, den Physiker
Stähelin. näher in die englische Literatur eingeführti ... Da
er dort mit Pope, Shaftcsbury usw. bekannt wird, dürfen wir
wohl von dorther seine Kenntnis Miltons datieren. Sicher aber
wurde er auf Milton geführt durch den Brlef\vcchsül mit Böd-
met, . . ."
**) Am 3. Juli 1742 schreibt er an Bodmer, seit 1721 habe
er keine Schrift Bodmcrs ungclescn gelassen.
-^ 13 —
Erweitere und vermehre
Des Wissens schmale Schranck. Di« ist nicht uabckandt
Was jene Schaar beginnt, mit der dein Qeist verwandt.
Die durch Gesetze fliegt, zwar stlil und ungesehen.")
Die Miltonbcgeisterung begann. Im Laublinger Lieder-
zyklus Thirsis und Dämons ifreundschaft»
liehe Liedern (1736—44),") in Hallcrs Ursprunu
des Übels") findet man Miltons Einfluß. Immanuel
Jacob Pyra besang in seinem Tempel der wahren
Dichtkunst (1737) die himmlische Poesie:
Mit majestätischen Schritten
Trat iMilton nun einher. Er hat die Poesie
Von heydnischen Parnaß ins Paradies geiahrct.")
Auch Pyras Won des Höchsten (1738)*») zeigt
Miltons Einwirkung. Was aber Verehrer wie Pyra beun-
ruhigte, war, daß ihre Schwärmerei für Mihon mit den
Regeln der Dichtkunst unvereinbar war. „Ich gestehe,**
sagt Pyra im Vorv;ort zur eben genannten Dichtung, „es
°'^) Abgedruckt ia Vier krilUchc Oedicbtc von
J. J. B 0 d m c r , hsg. von J. Bächthold, Heilbronn 1883
(Deutsche Liter?,turdcnkmale 12), p. 38. Auch Entlahnunscn aus
dem V. P. finden sich iv dem Qcdichte, v^L Theodor Vei-
ter, L J< Bodmcr unu die cngiisch& Litieratur,
J. J. Bodmcr Denkschrift Y.\:m CC, Q'-hnrttxtz,
Zürich 1900, p. 323—24.
••^) Von Pyra u. Lance» vßl 0. Waniek, Immaouel
Pyra, Lcipzie I8S2, p. 54, 60.
") Vg). Jenny, p. 39 1.
^•) Vgl. Freundschafihche Lieder von l. j.
Pyra und S Q. Lange, fieübron ]SS5 (— D. L, D. 22),
p. 115 In der Einleitung dazu spricht A neust Sauer, p.
XXXIH—XXXV, über die Beeinflussung: des Gcdichvs durch Mil-
ien. Ebenso Wanick, p, 36. Pyra kaunic .Mihon aus Uod-
mcrs Übcrsctzunjr.
^•) Vgl. A. Sauer, !. c. p, XLIJI i.
— 14 —
ist vcrwcKcn. die obcrn Qeisier mit in die menschlichca
Handlungen einzumischen. Es scheint, daß es unter den
christiiclicn Dichtern noch nicht ausgemacht sey, wie weit
wir sie nach der Wahrscheinlichkeit mit hincinflcchtcn
dürfen.* *')
Die Bejs'eistcrung war da, aber es fehlte noch die theo-
retische Sanktion, die alle Bedenken verscheuchen sollte.
Diese Sanktion kam mit Joh. Jac. Bodmers Cr i tischer
Abhandlung von dem Wunderbaren Inder
Poesie und dessen Verbindung mic dem
Wahrscheinliche n. In einer Vertheidigung
des Gedichtes Joh. Miltons von dem ver-
lohrnen Paradiese; der beygefüget ist Jo-
seph Addisons Abhandlung von den Schön-
heiten in demselben Gedichte, Zürich, ver-
legts Conrad Orell u. Comp. 1740.
*") l c, p. 126.
Erstes Kapitel
Bodmer und seine Zeit
Charakterisieren wir nun die Stellunj( der Züricher
zum V. P.
Naclidem Bodmer in seiner Abhandlung von
dem Wunderbaren seine Aufiassunj? Miltons uar-
selegt hatte, wurde kein v/esentlich neuer Standpunkt mehr
aufgestellt, weder von J. Pyra.') noch von dem in seine
durch den Tod entstandene Lücke tretenden ehemaligen
Gottschedianer Georg Fr. Meier.*) Wir nehmen deshalb
^) hl seinem Erweis, daü die G*ttsch*dlarij-
sche Sekte der Geschmack verderbe, Marrburc
und Leipzig 1743, und in der Fcrise'.zuriß ücs er-
weises, daß die Q*ttsch*di£nlsche Sckvi den
Geschmack verderbe, Berlin 1744,
-) VrI. Dr. pliil. Ernst ßtrürnann. GcorK Fried-
ricii Meier als Mitberrrfinder der dcuisclien
A e s t h e t i k , Leipziger Habiliiat'onsSv;hrif'. 191(v. Auch unter
dem Titel Die Begründun 2 der deJxscJiCn Aes-
thetik durch A. Q. BaumKarier. und Gcors Fr.
Meier, Leipzig 1911. handelt das Buch speziell von Meier und
laat nur durch Vcröffcntlichuns der für ui.s vichtiücn Mcicr«
sehen Briefe einen Zuwachs erhalten. Mcicr vcröffcmÜchte im
Herbst 1744 in den Greifs walder krinschcn Ver-
suchen (13, Stück, p. 39 — 49) die Untersuchunc, 0 b
Milton in der Wahl seiner Haupthandluns
glücklich gewesen. Obschon Meier diese Frage beiahu
erhebt er einige bescheidene EinwSndc, die Bodrrcr in den C r I -
— 16 —
hauptsächlich Bodmers Schriiien") zur Grundlage unserer
Abhandlung, ohne jedoch die Werke der eben Genannten
außeracht zu lassen. Denn sie spiegeln den Geschmack
der Zeit, wie es auch die aus der Miltonverehrung hervor-
gegangenen Dichtungen tun> Gottsched wird weniger zu
Wort kommen als diejenigen, die er kritiklos kopiert.
tischen Briefen, Zürich 1746, 7. Brief; An Herrn Q. F»
M(eler] (p. 125 f) zu entkräften sucht. In einem Privat-
schreiben vom 24. Juni 1746 (bei Bergmann p. 248) bringt
Meier seine jetztcn Bedenken vor, welche Bodmei* im 8. criti-
schen Brief zerstreut. Meier wurde nun der eigentliche Verkün-
der der Seraphik. „ich nehme in meinem coUegio aesthetico
meine besten Exempel aus dem Milton, und ich sehe mit Vcr-
.^niigen auf don Gesichtern meiner Zuhörer die Spuren der Ent-
zückung, wenn ich Ihnen ein Stück aus dem Milton vorlesrC."
(Bergmann, p. 248, im obigen Brief). Er untersuchte die
Frage, ob in einem Heldengedicht» welches von
einem Christon verfertigt wird, die Engel und
Teufel die Stelle der heidnischen Qütter ver-
treten können und müssen (Grciiswaldcr kritische Ver-
suche 1746, 15. Stück, p. 179—200); !rat für Klopstock ein in
seiner Beurtheilung des Heldengedichts der
Messias, Halle 1749, in der Vertheidigung seiner Be-
urtheihing (1749), und in der Fortsetzung der Beur-y/
thel lu iig . - . (1751). Auch in seinen A n f an gsg f ü nde n
aller schönen Wissenschaften und Künste, Halle
1748 — 50, die 'auf Baumgarten fußen, bringt er Beispiele aus
Milton.
=*) Bodmers hauptsiichlich in Betracht kommende Schriften
sind neben der Abhandlung von dem Wunderbaren
Joh. Jac. Bodmers Criiische Betrachtungen
über die Poetischen Qemilhlde der Dichter,.
Zürich 1741 (— No. 13 der von Th. Vetter in der Bodmerdenk-
schrift, p. 389 ff, gegebenen Bibliographie); SammlungCri-
tischer, Poetischer und anderer geistvollen
Schriften, Zürich 1741—44 (— No. 14); C ritische
Briefe, Zürich 1746 (~ No. 19)- Neue Crltische
Briefe. Zürich 1749 (— No. 23).
V
- 17 -^-
I.
Milton hat in seinem Verlöre iicn Parad!;;s den
Versuch scemachr. einen Stoff episch zu hdiaiideln. in dem
Gottvater und die himmlischen Heerscharen auftreten. Die
alten Rpcn der heidnischen Dichier hatscn es mit Göttern
zu tun, welche sich in ihren Eigenschaften wenig von <ian
Menschen unterscheiden. Der Gott des Alten Testaments
hingegen ist jener allmächtige Herrscher, der die Welt aus
dem Nichts geschaffen, der Herr de? Schicksals, und nicht
wie Zeus ihm Untertan. Wenn wir im A. T. von ihm
hören, verspüren wir den Hauch des überirdischen Die
knappen Worte, die über ihn berichleri. erscheinen uns
als Ausfluß des lyrischen Gefühls eines Msnschen. der
sich einem unbekannten Höheren ninRibt. Wie kann, fragen
wir, diese geahnte Macht anders besungen werden ils im
lyrischen Erguß, in welchem die unbestimmbaren Gefühle
ihren besten Ausdruck finden?
Und düch hat Milton Qoii als Person jtj i-on i:ru . cin-
gefühn und um ilin herum eine ungezählte Schar von En-
geln, den Trägern und Vollstreckern seines Willens. Kr
knüpfte an die ÜberMeferung an. inde.Ti er die überirdischen
Wesen vermenschlichte. Um sie aber aU das 7-ü charakte*
risieren> was sie sind, verlieh er ihnen übermenschliche
Eigenschaften: Die Engel sind gewaltig groü. aus anderem,
feinerem Stoffe als wir: ihre Kampfesv.affen sind ungeheuer,
sie entwurzeln Berge, um sie auf die emporklimmenden
Teufel zu schleudern. Schmerzen, fühlen sie nicht. Gott-
vater selbst greift in die Handlungen nicht ein. Er befehlt,
daß sie geschehen, und gibt seinen Trabanten die Kraft, sie
auszuführen. Denn er ist ja allmächtig.
Der Leser aber fragi sich: Hat es Qoti nötig, seine
Engel in die Schlacht zu schicken? Genügt seih .Machtwort
nicht, den Gegner» den er geschaffen, svieder zu vernich-
PItXO, UiltOB <^
- 18' —
ten? Du er die Zukunft nach seinem Willen gestalten
kann, wozu die Hilfe der EnRcl?
Um Qott und seine Engel darzustellen, entkleidete Mil-
ton sie ihres übersinnlichen Charakters; da er ihnen diesen
aber lassen wollte, verwickelte er sich in eine sonderbare
Antinomie. Sein Qott ist einerseits die Almighty Power,
die etwas nur wünschen muß, um es verwirklicht zu sehen;
anderseits ?bcr hat er seine Absichten und Wünsche wie
irgend ein menschliches Wesen. Deshalb fesseln uns der
Allmächtige und seine Krieger liloß so lange, als wir uns
ihr eigentliches Wesen aus dem Kopfe schlagen.
Die aus der erwähnten Antinomie erwachsenen Unge-
reimtheiten forderten Voltaires und Magnys Kritik heraus.
„. . . ä quoi bon tracer les portraits de ces Etres si par-
faitement 6trange;s au Lecteur, qu'il ne peut en aucune
fagon s'intercsser pour cux?" fragt jener.*) „Ces mcmes
Critiques (gerncini sind die französischen) dcsaprouveroicnt
les Anges, qui enlevent les niontagnes. les bois, 6: les
rochers, 6: les jettent k la tete de leurs ennemis. Plus une
pareille invention, diroient-ils, tend au sublime, plus eile est
hasse Jt pudrile" (p. 295). — „L'artillerie (der Teufel) est du
meme goiM, & encoro plus absurde, parce iiu'elle est plus
inutiie. Pourquoi ces machincs de guerres sonc-elles-lä,
puisqu 'elles ne peuvent blesser les ennemis, mais les pous-
ser seulement hors de leur place et les faire tomber par
terre? . . . les chüscs qui sont sl terriblcs 6t sl grandes
sur la tcrre deviennent bien petites & bien meprisables
•
"•) Oeuvres, de M. Voltaire, contenant rHenriade.
Essai sur le pceme Epique . . ., Amsterdaiti MDCCXXXVI, p.
295. Bödmet beziehe sich auf die erste Fassune von Voltaires
Ifssai, die vor. Defomaincs aus dem Ens:lirchen übersetzt worden
Ist. Das spricht dafür, daß Bodmer früh an die VerteidiRunKS-
schriit dachte, wie ja auch aus dem Brief Calepios zu ersehen
Ist (vKi. oben p. Vi),
— 19 ~
dans le Cid" (p. 295/6) Je nt piMs obmeurc !ci la
contradiction qui regne dans un Kpisod;. Dieu sjnvoyc les
fideles Ansjes combattre, rcdiiire et p.mir !cs rchcücsr Aile'<.
dit-il k Michel & ä Gabriel.
And 10 the brow of heavcn
PursuinK, drivc ihcm out from Ooü and bliss
!nto thcir place of punishir.eni. the Qulph
öf Tartarus, wich (!) ready opcns wide
His fiery chaos to receivc their fall.
„Conimeni se peut-il donc faire, apris un ordre si prt'-
eis, quo la bataüle reste douteuse. 6t pouj qucJ Dieu Ic Pcrc
commande-t-il ä Gabriel & k Raphae) de faire ce qu'il cxc-
cute eiiSiiite par !e niinistere de son Filsr*' (p. 296,7),
Das ist Voltaires Haupteinwand.') Constantin de Magny
beanstandete in erster Linie die sichtbare Darsttüun's' der
Enge!, weil sie sich mit ihrer göttlichen Würde nicht
vertrage.
J. J. Bodmer war bereits seit Jahren ein Verehrer
Miltons, als Voltaires und Magnys Schriften v^rschlcncn. Du
Einwände, die diese gegen den englischen Dicl'.tcr erhoben,
waren nicht neu. Gegen Tassos Darstellung von Engeln
und Teufeln hatte Boileau sein Veto eingelegt.*) Auch In
') Sonst preist er Miltons Imagination, er »s» c:r.2ücki ül>cr
dig Paradicsszcnciu Der Bau des Pand5moniu:^s «chcir.t ihm aller-
dingä zu Uicherlich für ein Heldenepos, die AlicKCiie vor. Sünde
and Tod verletzt ihn wctrcn ihrer saicte. Die Errndung des
Chaos erscheint ihm nutzlos, das „Paradisc of fools" u. ä. töri.-ht.
Diese Einw.'inde werden in Deutschland während des 18. Jahr-
hunderts von Klasslzlstcn bestSndiR wiederholt, \v. ticr zweiicn
Fassung seines Essai betont Voltaire dis Müngcl de» V. P.
noch mehr, üodm'jr scheint nur die c.stc k'ckaniit za haben,
wo sich der fraiizCsische Kritiker mehr für .M. erwärmt.
") Boileau. L'Art poctique (1674). IM, 19^ ff.
C'cst donc hicn vaincment que nos auteurs de^us
2»
— 20 —
Deutschland war die Frage des Wunderbaren durch das
befreite Jerusalem aufgekommen/) Miltons An-
greifer und Verteidiger hatten Vorganger.
Bodmer bediente sich der Anschauungen Muratoris,
Dubos', Addisons, als er seinen Lieblingsdichter in der
Abhandlung von dem Wunderbaren zu recht-
fertigen unternahm.
Es ist schon des öftern hervorgehoben worden/) wie
Bodmer und Breitlnger die Freiheit der Phantasie betonten.
Aber an dieser lag ihnen weniger. Sie entschuldig-
ten damit nur Milton, wenn er die übersinnlichen Wesen
sinnlich machte und die Bcgrih'e Sünde und Tod verkör-
perte. Die Hauptsache war ihnen, daß Milton der mensch-
lichen Qestalt eine Schönheit und einen Glanz beilegt,
„welche sie auf den höchsten Qrad setzen, eine Grösse, die
alle menschliche übertrifft", usw. (p. 55 der A b h a n d 1 u n g
vom Wunderbaren). ,,In den cörperlichen Eigcnschaf-
Banissciu de icurs verä ce& oriicmcniü; rcifus,
Penscnt iaire agir Dieu, ses saints, et ses prophötes,
Comme ces deux cclos du cerveau des poötes;
Mettent h chaque pas le iecteur en enfer, , . .
■•') Schon Dietrich v. d. Werder hatte seine T a s s o -
ÜbCi'ietzuiiK verteidigt: Dc-r Dichter sei auf die Phantasie
angewiesen und müsse daher dasjenige, „was Gott auf uner-
forschüchc Art regicri und ordnet, und was die bösen Geister
unsichtbarer Weise saften und anrichten, sichtbarlich gleichsam
beschreiben und vor Augen steilen". (Vgl. Karl Borinski.
Die Poetik der Renaissance und die Anfänge
der llrer&ris.;hen Kritik in Deutschland, Ber-
lin 1886, p. 120.)
•) Franz Se/vaes, Die Poetik Gottscheds und
acr Schweizer, Stras.sburg 1887 (= Quellen und
Forschutigcn zur Sprach- und Culturgsschlchte
der germanischen Völker, LX), p. 105/6.
Friedrich Brait maier, Geschichte der
poetischen Theorie und Kritik von den Diskursen
der Maler bis auf Lessing. Erster Teil, Frauenfeld 1888, p, 220.
^ 2\ .^
ten des Himmels und der englischen WcrckzcuKC und
Waffen bewerckstelüjjet er eben diese Erhöhung: derselben
über die irdischen*' (p. 56).
Miltons Verdienst besteht somit nicht in der Verkörpe-
rung, denn diese war eine Notwendigkeit, sondern in der
Fähigkeit, die Kngel zu idealisieren* Diese FähiRkcii scheint
Bodmer genügend zu sein, um die Antinomie zu ühcr-
brücken. Der Widerspruch, der zwischen dem Sinnlichen
und Übersinnlichen in der Konzeption der Engel besteht. Ist
ihm nicht nur nicht aufgefallen, sondern wcim er in seinen
Erörterungen darauf stößt, täuscht er sich selbst darüber
hinweR. p. 41/42 besteht er der Theorie der I^hanta-
sie gemäß darauf, daß der Leib und die Gesiali der
Engel keine Zufälligkeiten oder Eigenschaften sind,
die andern Wesen zukommen, daß die Enge! „Epschc,
historische Personen" sind, „die in ihrem eignen Namen
da sind, die sich selber und niemand andern vorstcllcnv die
hl ihrem eigenen Charakter erscheinen, als Originale, nicht
als Nachbilder*', p. 60 aber läßt er »ich durch Caiepics Ein-
wand, Engel dürfen nicht einmal verletzt werden, zum
Ausspruche hinreißen: „Wann er hier nicht aus der Acht
gelassen hatte . . .. daß die Gestalten, unter welchen die
Engel vorgesteliet werden, nur poetische Verkleidungen
sind, so hätie er leicht gesehen daii es mit diesen Ver-
letzungen der Enge* eine gantz andere Bewandiniß hat. als
mit den Verwundungen der Menschen; Bey den AlenFchcn
macht der Cörpcr einen wescntüchen Theil aus. er ist nicht
eine blosse ihnen gelehnte Maßke, hingccicn ist der 05rpcf,
der den Engeln von dem Poeten zugciheilet a ird. nur etwas
fremdes und entlehntes; daher gehen die Vcr'ctzungcn
dieser leztern nicht auf etwas wesentliches, wie die Ver-
letzungen der Menschen, nichts wird bcy ihnen getroffen.
als die poetische Larve, unter welcher diciu unsichtbaren
Geister der Phantasie zu sehen gegeben werden '* So setzt
sich Bodmer mit einem Trugschluß über die Antonomie
^ 22 —
weg. Die Miltonschen Engel führen in seiner Auffassung
eine Doppelexisienz, der er sich nicht bewußt ist. Er i<ann
nicht verstehen, daß die Veritörperung das Übersinnliche
ausschließt. Er hat sich die fremden Argumente nicht
völlig zu eigen gemacht;
Was ihn ge:.jen den Hauptfehler im Epos blind macht,
ist der Umstand, daß seine Fabel der Bibel entnommen ist.
Wenn Scrvacs (1. C-, p. 105/6) sagt; „Ob Milton die Heilig-
keit und i^einhcit der Engel mit religiöser Inbrunst und Ge-
fühlsrcinheit erfaßt habe, war nebensächlich nelien der
Frage, ob er nicht gegen die kirchlich approbierten Lehren
verstoßen habe", so ist das nur halb richtig. Bodmer unter-
suchte das V. P, nicht auf seine dogmatische Richtigkeit;
diese aber erleichterte ihm den ästheti-
schen Genuß. Auf Magnys Einwurf, daß der neuge-
schaffene Adam den Erzählungen des Erzengels Gabriel gar
nicht zu folgen imstande sein konnte, erwidert u. a. Bodmer
triumphierend: „Damit wir unserm raschen Criticc den
Mund auf einmahl stopfen, wollen wir ihm nur zu betrach-
ten geben, daß der göttliche Geschichtsschreiber Moses in
die Critick, dia er gegen unscrn Poeten macht, mitcin-
verv, ikelt würde"' (o. 190). D i e „h eiligen Scriben-
t e n'' sind ihm die letzte Instanz; sie ermög-
lichen es ihm, sich über die im Gedichte herrschende Antl*
nomie hinwegzusetzen. „Die Haupt-Geschichte .... ist
würcklich vorgegangen, und wir haben unverwerffliche
• Zeugnisse davon, zum Ex. von dem Aufstand Satans und
seines Anhangs, von ihrem Fall vom Himmel, und Ver-
stossung in die Hölle; von Satans Verführung der ersten
Menschen** (p. A2). Selbst die Darstellung von Sünde und
Tod sucht Bodmer durch die Bibel zu erhärten. Und die
Anbringung der griechischen Mythologie im christlichen
Gedichte entschuldigt er nicht mit der Freiheit des Dich-
ters, sondern damit, daß er betont, sie würde ja nur als
Gleichnis gebraucht. „Wir sehen aisüv wie e.'Uiernt dieser
verständige und gottselige Poet gewesen, die heidnischen
Fabehi der Mythologie vor wahrhaftige Geschichten auszu-
geben, oder sie mit den geoffenbarten Geschichten von
Engeln oder heiligen Menschen zu verwechseln,,." (p. 219).
Diese Voreingenommenheit machi die A b h a n d I u ni;
von dem Wunderbaren zu einem seltsam :n Ge-
misch von Scharfsinn und spitzfindiger Borniertheit. Aus
den frühesten AiJÜerungen über Milton ist zu ersehen, wie
die dogmatisclien Probleme dem Zürcher Kritiker zu den-
ken gaben.") Auch Vorstellungen, wie die der geistigen
ehelichen Vermischung der Kngc!. beschäftigten ihn.")
In der Abhandlung von d e m W' u n d e r b a r c n
hai er alle Zweifel dieser Art überwunden. Und das gewiß
durch seinen festen Glauben. Milton steht für ihn auf einer
Stufe mit den heiligen Scribenten. Jch meine mich keines ^/
hyperbolischen Verbrechens schuldig zu machen, \venn ich
Milton in den Rang dieser sonderbaren Menschen setze,
weiche auf der Leiter der Wesen zu cbcrst unter den Men-
schen stehen, und gleich über sich ditjeriigcr Oeister haben,
die zuerst vom Cörper frey sind" (p. 10 U). Heim Anblick
'•') Vg! Hans B o d :n c r , i. c, p. 192/3. Das J^rohle»fi d«*
freien Willens im Epos veranlaßt Bodmcr lu einem längeren
Exkurs. Den Ausspruch des AUnitichticcn: Jch machte den
Menschen gut und gerecht, tüchtig zu stehen, doch üass er
seinen frcyon Willen hatte, wenn er faller wolle*' . . . kann er
nicht recht verstehen . . „supponicri dass der Mensch wäre
unfiihig gemacht worden, zu sündigen, so hätte er nur eine
selten gehabt, die ihn zu dem giten geneigt hüttc; .las wfirc
seine Natur gewesen.." Und B. schließt: Jn allem gefüllt mir
besser dass mar: mir sage: dicsr. s :s? alsc, -.vciJ es
Oott also hat wollen; als d^iss es hclüsc: Oott hat dieses
alsc wollen, weil er die oder uiesc ursach darzu ^chalU Hut."
Dieser Ausspruch erklärt uns Bodmcrs ganze Sieüung zum V, P
-'■) ebd., p. 186.
— 24 —
der Mitionsch(3iii Welt können die Leser „dasjenige, was
sie hoffen, vorsehen und dadurch ciniKcrmassen vorge-
niessen*" (p. 26).
Dies ist es, was Büdmcr das V. P. lieb machte, mehr
a\i die Schöpferkraft des Genies.") Der Begriff des
Wunderbaren dockt sich bei ihm fast mit
d e m des l) ü g ni a t i s c h u n. Darum kommt er in sei-
nen Kritiken dazu, das Wunderbare in jedem Epos zu ver-
langen, auch wo *is nich^ hingehört.^')
11.
Bodmers Verteidigungsschrift beseitigte mir einem
Schlage alle ßeclcnkcn der heranwachsenden, für Miltor.
schon entflammten Dichtergcncratioii. Diese fand im eng-
lischen Epiker, was sie in der Poesie suchte, einen Ge-
halt. Wo hiitte sie, des kalten Klassizismus müde, einen
solchen finden soHen, wenn nicht in der Religion?
Deshali genügte den Anhängern der Schweizer Bod-
mers Abhandlung vollauf. Noch mehr: Einmal gerecht-
fertigt, wurde das V. P. selbst Malistab, ..Milton hat weiter
nichts gethan, als die grössten Religionswahrheiten durch
sinnliche Vorstellungen in ein recht würdig hohes Licht
'') Franz Scrvacü saut I. c, p. 108, über Bodmcr: „Er
hatte das QctiihI, einem OcwaltiKcn, aber UnfnGl)arcn Kc^cn-
über zu stehen. °s Kcbrach ihm das volle und frohe Verstiind-
nis, da& ihn bcfähisi haben wiirdc, die thürlchten Redereien
eines Maijny und Voltaire mit Verachtung 2u strafen." Das Ist
unrichtitc. Bodmer glaubte Milton zu verstehen, was er nicht
tat, aber nicht, well er auf die Einwände eincä Voltaire einging,
die zum «roßcn Teil nicht „thöi'ichtc Redereien" sind.
^^) So In Johann Ellas Schletjcis Heinrich dem
Lüwcn, woKcjcen der Dichter in einem Briefe protestierte.
Vgl. Dr. Eugen Wölfi. Job. E. Schlegel, Berlin
1889, p. 94.
— 25 --
setzen; und das ist die höchste Pflicht cine&
H e 1 d c n d 1 c h t c r s. In diesem Stücke hat er Honur
und Virgil sehr weit überstiegen: vcil er bcy einem unend-
lich heilern Lichte wandelte," sajjt Pyra (l'rwcis. .. 29^30).
Für uns seien die heidnischen GotthcUcn Chimurvn.
meint 0. Fr. Meier. An ihre Stelle milsscn die Enjici und
Teufel treten. Dali diese dem christlicher. Heldenjjcdlchtc
alle S hönheit verleil.en, beweis'.' die BiheJ. die hierin
selbst dQn Homer übertreffe."")
Die kritiklose Miltonschwärmerci ward Mode, garn-
ier sclirelbt am 20. Mai 1745 an ü!«-im' „Bin \zh zu Haust
und lese AAiltons verlornes Paradies, so will ich ein He!-
dcuKcdichi anfanjicn;" . . . aber am JO Jan. 1747 scestchi
er; „Wenn sie einmahl den Muten imd Bodmer.'^. vom Wun-
derbaren in die Hände bekommen, so lejicn sie ihn für mich
zurcchi, if eh habe diese weitläuftize Crltick über den Miltoii
noch nicht g:clesen und den Mihon selbst noch nie kri-
tisiert.** ^'•) Von Christian Ewald vor. Kicjsi wird crz3hlt,
daß er in die.sen Jahren über der Lektüre Mliton»» einmal
die Wache abzulösen vcrKcssen habs.')
") G r c i I s w a i d c r Kritische \' c r » u c h e (15.
Stück 1 746, p. 179— .'UO) : Ob in einem h c 3 d c n 2 c c i c h t ,
. , , s. oben p. 16. Ich zitiere nach BcrKmarn, 19«'i 1. Bevor alle
seine tliüorctischcii Ucdcnkcn verscheucht waren, hatte tr schon
am 24. Juni 1746 an Bndnier ceschricben; „Ich schätze den Müton
so hoch,, daß ich ihn lieber lese ?ls Jie Odyssee, . . . (BerR*
mann, p. 248). Auch hier hinkJc die theorctij^chc Beyriindunji
dem Qcächmack nach.
") B r i e f u e c h s c I z w 1 s c h e r* 0 I c i »tj und R a m •
I e r , hsK. V. Carl S c h ü d d c k o p j , Tubinxcn 19(>6 (— Bib-
liothek des literarischer. Vereins in 5^ t v m k a r t
Nr. 242). p. 3 ur.d 71 f.
") Werke (Hcmpcl) Bd. 1, p. XXVlil. In ^cmcn Werken
kann auch Sauer keine Beeinflussune durcii .Müton. der. «r m
der Bodmcrschen Übersetzung kannte, nachweise.-!.
_ 26 —
Noch u'ouiijer als von den Zürchern wurde von den
Leipzigern nach 1740 etwas neues zutage gefördert.
Qcitsciicd beanstandete unaufhörlich die Stellen, die schon
Voltaire kritisiert, die Reimlosigkeit des Gedichtes und die
Sprache, der er verständnislos gegenüberstand.
Gerade Mlltons Sprache konnte vielleicht von Bodrner
und noch mehr von Pyra, Kleist, Haller, Klopstock u, a.
am ehesten nachempfunden werden. „Es gehört kein plum-
per Geist dazu, sich aus der Tiefe, in welcher wir nieder-
gedrückt sind, zu erheben, und über die Qränzen des Welt-
gebäudcs hinwegzufliegen, hernach über das ungemessene
Chaos in den Kerker der verdammten Geister überzu-
sezcn, die Geschäfie und Anschläge der Einwohner in
diesen dunkeln Gegenden zu verkundschaften. Und zur
Ausdrükung dieser Gedanken und Geschichte braucht es
freylich fremde Bilder, seltsame Erscheinungen, unge-
wöhnliche Worte und Ausdrüke," sagt Bodmer.'*) Ihn
fesselte hauptsächlich das Bildhafte, die anderen vor allem
der Schwung. Die Zeit erwärmte sich für liallers Pathos,
damals hub der deutsche Odenschwall an. ».Wenn von
dem Heldengedichte zwölf Bücher so poetisch, feurig und
erhaben fertig werden, so sind Sie Milton,'' schreibt Qlcim
an Lange am 24. Mai 1745.^0
Aus diesem lyrischen Grundcharakter der Zeit erklärt
sich die begeisterte Aufnahme der drei ersten Gesänge des
Mcisias (1747). Dieser kam dem Bedürfnis der Zeit
nach Vergötterung entgegen. Klopstock war den Gefahren
der Vermenschlichung aus dem Wege gegangen, indem er
*") Von der poetischen Schreibari Miltons»
in SammiunK Critischer, Poetischer . . ., p. 128.
^') M. S. Q. Lange, Sammlung gelehrter und
freundschattllcher Briefe, Zweyter Theil, Hulle 1770,
p. 133.
^ 27 -
rein äihcrische Gestalten schui. £r verhall sich zi Miho!i
wie der Lyriker zuiji Epiker.
Gerade den Unterschied zwischen den beiden merktt:
man kaum. Kiopstock wurde ohne A'citercf ncbc". Muten
gestellt, von Malier allerdin8:s nur der ..nachdrücklichen,
poetischen und erhabenen Kraft in den Ausdrücken**
wegen,") von den meisten, wie Bodmer, 0. Fr. Moser, S.
Q. Lange, Kleist, Hagedorn, Ramicr ' *) als epischer Dichter
überhaupt. Da sie in Milton der religiöse Schwung ge-
fesselt, mußten sie im Messias die Verwirklichung ihrer
Wünsche sehen. Deshalb zogen auch einige das deutsche
Gedicht dem englischen vor. „Wenn er (Kl.) seinirn Plan
vollführt, so wird Milton ihm weichen.* ini\m Gleim. und
Bodmer klagt am Anfange des Noah;
„Leider! ein Tag wird kommen der Milions erhabne
Gedichte
Auch rnit Vergessen bedeckt, dli ewig zu leben
vcrdicnfH." ^^)
Neue Theoretische Abhandlungen iianJciten nu? von
KIcpstock.") Nicht ganz mit Unrecht spottete Triller:
Von dem Wurmsaamen. der it.zo so reichliche Prüchte
schon trfigt.
'') Göttin gischc Zeitunk'sn von gelehrten
Sachen, 29. August 1748, 95. Stück): „Wir !ai.seii uns dadurch
gar nicht hindern, eine ungemein nachdrükliche. poetische und
erhabene Kraft in den Ausdrüken durchgihcnds zu finden, die
wir in unserer Sprache noch selten so Miho'-i«vch und sc voll-
kommen bemerket haben.*"
'") Vgl. Franz Munckcr. Friedrich Oottheb
Klopstock, Stuttgart 18S8, p. 144 ff« wo sich die L'ricilc Q'>cr
den Messias finden.
'•"') Auch Meier stellte den Mcljüis in seiner l. Bcurteiliins
über Milton. Vgl. Muncker, p. 147.
^») Vgl. Muncker, 1. c. p. 15&-161.
^ -« 28 —
Daß nun die DIchtkiinst der Deutschen ein anderes
Wesen beginnet,
Sing ich Miltonisch. ja über Miltonisch,
begeistert." ")
/' In den fünfziger Jahren war es Wicland, der Klopstocks
/ Überlegenheit über Milton laut proklamierte. Und noch auf
Jahrzehnte hinaus gab es solche Schwärmer.
III.
Die Bibel und nicht die dichterische Phantasie
war es, die Bodmcr das V. P. vor allem lieb machte.
Denselben lehrhaften Inhalt» den er in jener
fand, suchte er in der Dichtung. Niemals hören wir
weder von ihm noch von den Seinigen eine Bemer-
kung, die darauf schließen ließe, dali die didaktischen Stel-
len im Gedicht in jener Zeit als unkünstlerisch empfunden
worden wären. Der junge Bodmer schreibt an Zell weger:
„Ich wäre so emsig die Miltonischcn Ideen in meinen Kopf
einzupregen, daß ich glaube, mein gehirn seje nunmehr in
die gleichen falten und Traces gebogen wie Miltons ge-
wesen, oder damit ich Mahlcrisch rede, die Taffei meines
gehirns mit den färben, strichen, bildnissen 6:-<, gemahlet,
wie Miltons gemahlet wäre." "") Dabei denkt er nicht zum
wenigsten .an die theologischen Vorstellungen im Gedichte,
wie die Auffassung vom freien Willen u. ä. . . Den Glauben,
daß der Zweck der Kunst lehrhaft sei, teilten alle Zeit-
genossen Bodmers. Haller in seinem Ursprung des
") Der W u r m s a a m e n , Sechs poetische Streitschriften
aus den Jahren 1751 und 17.52, hsß. von Georg W i t k o \v s k i .
Leipzig 1908 (Mitteilungen der Deutschen Qesellschaft zur Er-
lorschuMK vateriündischer Sprache und Altertümer in Leipzig,
Zehnter Band, 2. iicft), p. 21.
") Hans Bodmer. l. c, p. 192. Es handelt sich um den oben
p. 23 Anmerkung 19 erwähnten Brief.
— 29 —
Übels und Klopstock im Nordischen Aufseher,
wo er erklärt, der Vorranji ^Qt schönen Wissenschaften
sei, „die Menschen moralischer zu machen." *')
Bödmet und seine Mitkämpier bedienten sich ircmder
ästhetischer Regeln, um den Kunslwert des V. P. lu
erweisen. Während Gottsched solche Regeln mecha»
nisch anwendete, erfüllte sie der Schweizer Kritiker mit
einem eigenen, ihnen fremden Gehalt. Gottsched warf
dem V. P. 1732 unmoralischen Charakter vor ''):
„Viele unter den neuern Kunstrichtern oder Crillcls
haben es an dem Miiton nicht loben wollen, daß
er sich eine so abscheuliche That als die Verführunx des
Menschen ist, zur Haupthandlung seines Gedichtes cr-
wählei. Der Satan ist sein Held, und seine Hcldenthat
bestehet darinn, daß er sich an dem Allerhöchsten rächet,
welches ihm auch, alles Wiederstandes ungeachtet, ge-
linRCt. Dieses ist allerdings eine schreckliche Vorsteliun?/'
Um diesen Punkt konnte der ju.iKe Meier zuerst nicht her-
um. Bodmer beruhigte ihn mit einem gelehrten Spruch:
„Die Handlung, welche von den Alten die Fabel genannt
worden, ist zum Dienste der Charakter erfunden: sie stehi
unter denselben. Die Charakter können sich z\:r Noth ohne
eine Handlung beym Ansehen erhalten, und nutzbar seym
aber die Handlung ohne Charakter ist ein kindisches Spiel;
wenn sie nicht ein leerer Traum ist. Demnach muss der
epische Poet vor der Handlung um die Charakter besorgt
seyn" (Criiische Briefe, der siebende Brief, p. 125). So
beruhigt Bodmer sein und seines Freundes Gewissen: denn,
sagt er, ein Mensch, auch wenn er einen Fehltritt begeht,
kann dem Charakter nach doch gut sein. Also ist die Moral
-*) Im Aufsatz: Vom Rance uer $ahör=en Kttntie
und der schönen Wissenschaften.
=') B e i i r ä ß e . V . ^ Erstes Siück, p. 90.
— 30 —
des Qedichtes ^creitctl „Der Fall ist allcrdinK» ein schwe-
res Verbrechen, welches mit der Tugend eines iirossen Gei-
stes nichi besteht, und wir finden den «rossen Qeist in dem
Falle nichi, oder sehr verdunkelt; aber wir finden ihn vor
dem Falle; und nach dem selber, fan^'t er nach und nach
an, wieder zu erscheinen, und sich empor zu heben. Das
dllnkct mich genug zu einem Helden, oder zu der ersten
Person in dem epischen Gedichte'* (p. 129). Ja, wenn sich
der Held i.ach der Übeltat bessert, so erscheint er uns In
nur um so günstigerem Lichte (achter Brief, p. 138 f.).
Meier will noch mehr, Er ülcht den Zweck der Fabel nicht
ein. Wir können nicht mehr vor Adams Fehltritte gewarnt
werden, weshalb das Gedicht unnüi;:i ist. Bodmer erwidert
ihm; „mich dünki vielmehr, da sie wissen, dass Adam ohne
dass er vorhcrge^ündiget, noch eine so verderbte Natur
hatte» Wie «;le liaben. mit so leichter Mühe verfüret worden,
sollten sie daher nur einen stärkeren Beweggrund nehmen
sich an seiner Übertretung zu stossen, nachdem sie nicht
mehr mit der Unschuld, und der Aufrichtigkeit, wie er,
dagegen bewafnet sind'' (p. 144)."'')
Solche Skrupel hatte Meier zu beseitigen, um der Ver-
künder der Seraphik zu werden, und Bodmer ging auf sie
ein, um mit Hilfe der Alten das Moralische des V. R zu
beweisen!'
Was verstand der Zürcher Kritiker unter Charakteren?
Theoretisch hat er in seinen Poetischen Qemähl-
d e n (in Anlehnung an St. Evremont) viel Gescheidtes über
Charaktermalerei gesagt, so daß Servas nicht umhin kann,
seinem Scharfblick in der Beurteilung psychologischer
'*) Bodmer hatte sich in der A b h a n d i u n g von dem Wun-
derbaren (p. 191 ff.) selbst daran gestoßen, daß Adam den
Fehltritt begangen; jetzt gibt er auch darin Milton recht, weil
Adam nur aus Liebe zu Eva fehle.
— 31 --^
Phänomene Bewunderung zu zollen.*') Ks Jälk aiicrüinjcs
Servaes auf, dali Bodmcr in seinen Dichtun^ien nicht ein-
mal den Versuch jremacht hat. Gesialicn zu zeichnen.'*)
Uns bleibt die Aufgabe, seine Einsicht In Miltcns Charaktc-
risicrunRskunst xu beleuchten, d. h. xu untersuchen, ivlc er
seine Theorien anwendet. Auch hier zeisri sichv da!! sein
Urteil trotz seines Wissens von moraüschtn Assoziationi-u
bücinfUißt ist. Da hatte ihm eben kein Sf Rvrcmont vor«
gearbeitet.
Die einzigen Qestalten, die er versteht, sind die un-
serer unschuldigen Vorfahren. Adam ist würdig und un-
serer Hochachtung wert. Eva ebenso. Es ist zweifellos,
d'dß Bodmer in den eigenen Produkten we>;cn seiner Un-
fähigkeit kein Charakter gelungen ist; dazu kom?nt aber
seine Absicht, nur Tugendmenschen zu besingen, Adam
und Eva bleiben seine Vorbilder.
Der gewaltigsten Figur hinjiegen, die Milton gcscliailcn,
brachte Bodmer kein Verständnis entgegen. Satan, der
ewige Widersacher des AllmäLhtigen. wurde vom Dichter
mit einer Reihe von Zügen ausgestattet, weiche ihn unserer
Teilnahme sichern. Es ist keineswegs reine Bosheit, die
ihn zum Abfall bewogen, sondern imbeugsamer Stolz.
Diester und die heimlichen Anwandlungen von Heue bringen
ihn uns menschlich näher. Seine Devise ?si: „Besser in der
Höhe herrschen, a!s Knecht im Himmel sein." „Seine Qe-
stalt drängt sich so sehr hervor, daß Addison keinen An-
stand genommen hat, ihn de.i „Heros'' des Epos zu nennen.
Und ohne Zweifel läßt dieses Wor-: sich richiiirtigen . . .
unvermerkt wächst die Figur des Satan in t.iese Rolle
hinein." '')
") 1. Ch P. 139.
"«) 1. c, p. 142/3.
9C
) S 1 1 r n V M 11 1 0 n \\\ p. TJ.
— 32 —
Darüber, daß der gefallene Erzengel zum Helden eines
Epos gewählt worden, war Qoitschcd entrüstet (vgl. oben
p. 29). Bodmcr, gewiß nicht weniger moralisch als
Qoftschcd, behauptet, Adam sei der Held, denn er habe
unsere Hochachtung. So kann er Satan ebenso sehr ver-
abscheuen wie Gott.schcd. Zwar entgeht ihm, wenn er
Miltons und Dantes Teufel miteinander vergleicht, der
Unterschied zwischen den beiden nicht. „Milton hat seinem
Satan mehr Ansehen gegeben, und dieses hat ihm auch
seine Religion nicht, sondern die Majestät gelehrt, die in
seinem Gedichte herrschen sollte." "'^) Einmal spricht er
vom „vortrefflichen Rest von dem alten Glänze'*.") Seine
moralisch-rciligiöscn Anschauungen drängen jedoch die
bessere Einsicht zurück. „Meines Bedünckens kömmt es
allezeit darauf an. dass man die Würde der christlichen
Hölle darinnen setze, worinnen sie eigentlich liegt, ncmlich
in dem hohen Character von gottlosem Hochmuth, verhär-
teter Verstockung» verfluchter Begierde dem Höchsten zu
widerstreben^ welche sich bey den gefallenen Engeln in
allen ihren Gedancken, Entschlüssen, Handlungen und Reden
erzeigen. Dieses hat Milton beobachtet." ") Im kriiischeii
Brief an Meier heißt es. „Satan wird in seiner äussersten
Wuth, und äusserstern Hochmuth bey seinem tiefsten Elende
vorgestellt. Man wird dieser Person auch ihre Tüchtigkeit
in oinem epischen Gedichte mit der gehörigen Würde .^a
erscheinen, nicht absprechen können. Satans Grösse ist
zwar keine wahre Grösse, well sie aller Tugend beraubet
ist; er ist jibci auch nicht der Held des Poeten, Adam
ist der wahre Held Miltont^,, wer den Satan dazu machen
wollte, müsste sehr .geneigt seyn, den Poeten unrecht zu
"*) Vgl. B c d m e r d e n k s c h r i f t , p. 2S6.
") M il t 0 n - Ü b e r s e i z u n g , 3., resp. 4. Aufl.
4. Aufl.).
■") Von den poetischen Gemälden, p. 583.
— 33 -
verstellen. Müton redet durch das fianze Oedichi mit
Mass. Fluche, Zorn. Abscheue von Saian. und er pfsanzet
diese ReKU!i.ü:cn in seinen Lesern*' (I. c p, !2S9).
Bodmer verhinderten die religiösen Voruncilc, richUsr
zu sehen; bei seinen PartcigänKern waren w der Grund,
warum sie sich über Satan sünzlich hinwcKscizten. Nie
erwähnen sie seinen Charakter. Klorsiock, der auch darin
seiner Zeit entgegenkam, schuf be^:anntlich aus Mikons
Satan drei verschiedene Tenfelsresialtcn, „Zunächst ?eselUc
er zu Satan, dem wirklichen Aufwiegler und führcf der
aufrührerischen Engel, in dessen Brust der Haß Regen Gott
und seinen Messias jedes weichere Gefühl ci stickt, den
noch boshafteren Adramelech. der d\2 Eir.po'ung schon
lange vor Satan beschlossen haue. der. eben so wohl Got-
tes Feind wie Satans Nebenbuhler, weiter als dieser strebt,
den Satan zu stürzen . , . trachtet . . . Neben die beiden
stellte Klopstock nun noch den reuevollen Halbteufcl Abba-
dona, der, einst durch Satan mitvcrführiv längst dem Ein-
fluß des Bösen sich zu entziehen sucht."") Die Motive
des Umwandiungsprozesses sind klar: Für ..inen gegen
Gott mit Haß Erfüllten konnte die dam<-.'igc Zeit kein Mit-
leid aufbringen: deshalb steigerte Klopsiock die bösen
Eigenschaften noch, des Abschcucs seiner Leser sicher.
Auf der anderen Seite konnte ein völlig Zerk.iirsthic' mi
die Tränen Tausender in Deutschland rechnen.
Bodmer berichtete schon am U, Scpt 1747 an Qicim
über den Messias: ,,. . . es ist ein Charakter darin, der
Satans Ciiarakter zu übersteigen drohet. "^Ün anderer er»
wirbt sich das Mitleiden mitten untc: den verdammten
Engeln;' ")
Den Satan und die eigentliche Dichierkrai? Mütons
="•) Vgl. Muiicker. Klopstock. ?. 121/2.
") ebd., p. 70/71.
PiBSö, Milien 8
~ 34 -
2;u entdecken, war einer anderen Generation und Schule
vorbehalten. Die kritiklose BcKcIsturunt;, mit welcher der
junge Wieland") u. a."**) Klopstock turmhoch über Milton
stellten, konnte nur von einem verschiedenen Standpunkt
aus überwunden werden. Bodmer wollte zwar seinen Mil-
ton nicht aufopfern.") Seine Lehre war aber doch die
Ursaclie dieser Übertreibungen. Entrüstet er sich doch in
seiner Abhandlung von dem Wunderbaren über
die Dichter, v/elche den Engeln die Eigenschaften und Hand-
lungen der mythologischen Qötter zugeschrieben (p. 219/20),
und beweist dadurch, daß er gar nicht sieht, wie
realistisch Milton bei der Zeichnung seiner
Engel vorgej?angen isr. Wir wissen es ja : Die
/ "•') Wie I and schreibt am 29. Okt. 1751 an Bodmer: „tr
(Milton) wird unjremcin von unserem Klopstock übertroifcn.
Bey ihm '.M das Game erößcr und majestätischer', das Wunder-
bare natllrliolier, >ilaubwiirdiKer, anstiindikcr; die Ciiarakiere
besser ausßebildei, abwechselnder und rührender; die Erfindung
wahrsciicinlicher, scharfsinniger, neuer, interessanter." (Aus-
KC wühlte Briefe von C. M. Wieland an verschie-
dene Freunde, in den Jahren 1751 b i s 1810 geschrieben
und iiacn der Zeitfoljfe geordnet. Erster Band, Zürich
1815, p. 6).
•■'") Job. Arnold Ebert, der Übersetzer der Nacht-
iiedanken. .schrieb 1760 an Voun?, daß uns in Klopstock Milton
und Shakespeare vereint «CKctcn worden. (VkI. Michael
Bernays, Schrifteti zur Kritik und Litteratur-
Kcschichie, Zweiter Band, Leipzig 1898, p. 134*). Noch
das ßanzc Jahrhundert hindurch werden wir auf solche Urteile
stoGen.
'•■'') In der EinleitunK zur dritten, resp. vierten Auflage seiner
Milton übersetzuHK (1754 u. 1759): „Gewisse Leute,
welche die Messlade zu loben das vcriohrne Parad'cs an sie an-
stossen lassen, veriathen dadurch die Schwäche ihres Verstan-
des, der sie hindert die Verdienste der beydcn einzusehen und
zu unterscheiden " (p. 38 der Einleitung zur vierten
Auflage.
— .35 —
Engel Miltons sind für Bodmev nur dogmatische
Wesen und nicht Schöpiunücn der I^hanlai^ic
IV.
Wir sahen, daß die dOKn'jatisch-moraiiscb.v.n Ajischuu-
ungen der Bodmersclicn Epoche teils der Begeisterunj; für
Milton Vorschub leisteten, teils aber eine objektive B'-'-ur-
teilung verunmuKiSchtcn.
Nur was den religiösen und do^natischen En^pfindunjjcn
jener Zeit entKec:enkam, konnte aucii künst!crl5.ch nacherlebt
werden. Bodmer gibt uns eine Schilderung des Kindruckes,
den daij V. P. auf einen jungen Dichter (Klopstock) bei der
ersten Lektüre gemacht Die ersien Reden, die er davon
führete, nachdem er wieder zu sich selber gekommen war,
wicwol er noch immer xurük sah. Gameten von neuen, un»
bekasmien Ocgenden, in welche der Poci ihn geführt, von
seltenen, hohen Bekannischafteru die er ihm verschaffet,
von dem Reichihum der Ideen und der Empfindungen, den
er ihn mitgotheilt hätte. Es ist wahr, sagte ci, ich hatte
vordem einige dunkle Spuren auf einem unbetretenen Bo-
den gesehen, und etliche Züge dieser herrlichen Sccnen
erbliket: Aber hier fand ich sie in ihrem vollen Lichte vor
mir offen ligen. Vielleicht hätte ich e;nma! den Weg auf
diesem ungebahnten Gefilde fortge«ezct, und hätte \lelleicht
bis in die himmlischen Gegenden durchgebrochen, welche
Müton mir gezeiget hat, wenn ein chrfürchtvoller Schauer
mich nicht zurükgczogen hätte: Aber nachdem Milton den
Eingang in dieses Heiligthum der Gcisicswelt eröffnet hat.
nachdem ,er mich hineingeführet hat. so darf ich künftig mi/
kühnen Füssen darinnen herumwandchi, die Bekanntschaft
mit meinen neuen Freunden fortzusezen. Ich weiss nun.
wo die Tafeln des Schiksals aufgehangen sind, und ich
kan in denselben lesen." (Neue critischc Briefe, p. !5 6).
3*
- 36 -
Deshalb will Bodmcr das Wunderbare in die Poesie
ciniiihren, weil es uns dasjenige offenbart, worauf wir
hoffen (vgl. oben p. 26), weil es uns verrät, was auf den
Tafeln des Schicksals geschrieben steht.
Bodmcr empfindet nun allerdings den Schwung in Mil-
tons Sprache nicht so rein wie Pyra, Klopstock, Haller ^*)
und der junge Wieland. Sein didaktischer Sinn verläßt
ihn auch dann nicht, wenn er sich dem ästhetischen Genuß
uneingeschränkt hingeben könnte. Er denkt immer an den
Nutzen, den ihm die „hohen Bekanntschaften" in Miltons
Dichtung bringen. Daher die vielen Geschmacklosigkeiten
in seinen eigenen Dichtungen. Nach diesen zu schließen,
scheinen die Szenen, in denen das unschuldige Leben im
Paradies j,':eschildert wird, auf ihn einen großen Eindruck
gemacht zu haben. Klopstock begeisterte das Seraphische,
wie die obige Beschreibung selbst ausführt; Bodmers nüch-
ternen Sinn zog das Idyllische» das ihm auch Homer lieb
machte, besonders an.
Schon im 17. Jahrhundert hatten in Deutschland die
Schäferspicle Fuß gefaßt. Zur Zeit, da Bodmer aufkam,
träumte man sich in den Robinsonaden auf entfernte Inseh,
zu denen die Welt mit ihrer Schlechtigkeit keinen Zutritt
hatte. Der Zürcher Kritiker suchte eine bessere Zeit in der
Vergangepheit, als die Welt noch nicht bevölkert war. Das
reine Beisammensein Adams und Evas im irdischen Para-
dies war ihm die Verwirklichung seiner Ideale. Beim An-
blick unserer ersten Eltern fand sein didaktischer Sinn
volle beiriedigung. Das »»Wunderbare*' verehrte er seiner
dogmatischen Bedeutung wegen. Da die paradiesischen
Szenen des V. P. einen beinahe vollkommenen Ausdruck
") VkI. Albrecht von Hallers Oedichie, hsg. u.
eingeleitet von Ludwig Hlrzel, Frauenfeld 1882, p. 386,
wonach Haller schon 1734 in seinem ,,Sermo Academicus" von
Miltons „robur sine aeQualitate" spricht.
.- 37 —
gefunden haben, sind sie wohl die einzjk'en Partien, die
Bodmcr bis zu einem gewissen Grade künstlerisch rein
nachempfinden konnte. Denn sie zwani^cn ihn nicht, scia
ästhetisches Verständnis auf Kosten des Dojfmaiischcn zu
unterdrücken. Aber eben die Tatsache, daß Bodmer das
„Wunderbare'' im Gedichte verehrte wie das Idyllische,
2eigt uns, wie unfrei im Zürcher das ästhetische Empfinden
noch war.
So suchte er in seinen poetischen Erzeugnissen nach-
zuahmen, was ihm im V. P. Heb war: Das „VVtnd er-
bare", das bezeichnenderweise nichts Homerisches mehr
hat wie in Miltons gewaltigen Engelschlachten, und das
Patriarchalische. Dieses gibt die ürundstimmung
seiner Dichtungen ab. Mögen die Hauptpersonen Jacob,
Joseph» Rahel, Dina usw. heilienv sie sind sich immer gleich.
da sie Adam und Eva zu direkten geistigen Vorfahren
haben. Was sich Bodmer zu Anfang von Joseph und
Zulika vorgenommen, das hielt er:
Die griechischen Musen
Haben zu lange den zcrn der bloeden beiden gesunken.
Und der bloedern götter der beiden: Zu lang blieb die
Unschuld
Und die geduld, und der hoehere sieg der keuschheit
vergessen.
Als der junge Wieland nach Zürich kam und am
gleichen Tische dichtete wie Bodmer, erfuhr seine Muse
ebenfalls eine Beeinflussung nach Jer patriarchalischen
Seite hin, .vUnvernierkt drängt Hymen sich an die Stelle
des; einst feurigen Amor. Der briiütüche Liebesdichter, der
nach den glünzenden Augen und roien Lippfui sich schntc,
weidet sich an dem rührenden .Anblick, wem der ..Säug-
ling um der Mutter Brust lächelt," er schildert im letzten
Brief mit sanfter Innigkeit das Eheglück des neuen Adam.
Uüd nun, im „Geprüften Abraham", Ist für b'*3utliche Liebe
~ 38 —
überhaupt kein Platz; hier preist der Dichter die friedliche
HausKcmeinschaft des ehrwürdigen Patriarchen und seiner
Frau Sarah"."') Die Charal<tcre im Messias zog er, wie
wir sahen, denen im V. P. vor,
In patriarchalisch-miltonischer Beleuchtung war im
Zürcher Dichter auch das erste Naturgefühl erwacht. Mit
seinem Milton war der junge Bodmer aus der Stadt nach
dem idyllischen Greifensec geflohen und hatte dem Freunde
in Trogen geschrieben: „Alss ich aus der Stadt käme auf
das freye feld. v/are mir zu muthe» wie dem Satan als er
aus der helle, die mit flüssigem und gediegenem feücr
brennt, wo das gefrorne Eiss die finger versenget, und kalt
die Wirckungen des feüers verrichtet, in das paradiss
kommen, dessen Kostbarkeit und die Nakende Eva ihn fast
vergessen machten, dass er der Mr. teuffei wäre. Ein jeg-
liches ding belustigte mich, das zusammengerächte grass,
die Senten kühe, das schütteln der Nussbäumen & c. , ." *")
'") Fritz Budde, Wicland und Bodmer, Ber-
lin 1910 (Palaestra LXXXIX), p. 151. Bodmer machte Wieland
auf ZüKc im V, P. aufmerksam, in der Ncuauilage des L o b •
«csEHKes auf dit Liebe wollte W. solche benützen. Das.
crKJht sich aus den Korrekturen im Exemplar der Zürcher Siadt-
biblio'.hek, auf di«; Budde nicht weist. Nach den Versen;
Qö'tliche 'Liebe! Du weist, die unsre harmonische Seelen
Sich zu lieben, so zürtlich erschuffst, und die himmlische Doris
DcinerTi zärtlichsten Seraph und seiner Schönheit nachahmlesl
(Wielands Qcsammclte Schriften, hsij. v. d. Dcut-
sche-.i Kommission der KrI. Prcuß, .\kadcmic der Wisscn:jchaf-
icn, Berlin !909ff. F. p. 134, v. 182— S4) fügt Wieland selbj.t ein;
so lovcly fair
That Nvhat seem'd fair in all the world seem'd now
mean, or in her summ'd up, in her contain'd,
And in her looks, which from that time infus'd
Sweetness into iiiy heart» unfelt before.
(= P. L. VIII, 471ff).
*") M. Bödmer, 1. c, p. 190/1.
— 39 —
Es ist, wie wenn schon Milton vor Thomson dem sich zu
AnianK des Jahrhunderts regenden Natursiciüh! entgegen-
gekommen wäre.
Auch ßrockes übersetzte den Schlüli des vierten und
den Anfang des fünften Buches, d. h. dij Stellen, wo Satan
voller Neid Ackims und Evas Bcisamincnsein erblickt und
wo diese in einer Hymne Gottes herrliche Natur preisen.
Milton wird in die Kleinmalerci des Irdischen Vcr«
g n ü ß e n s in Gott übertragen. Naue Details kommen
dazu» Wie uns Bodmers wörilichu, holpijrlge Prosäüber«
Setzungen von einem vergeblichen Streben nach Schwung
erzählen, so verrät uns Brockcs' Ühertiagung eine einseitig
detaühai't-maUirischc Auffassung des: Vorbildes.
Kleist, lialler,^') Hagedorn, der ,vd;:s erste Paai In
Milton reizend'* fand,") begeisterten sich woh! auch für das
Naturschöne im V. P.
Auf lange hinaus wurde der Sonnenaufgang nach Mil-
tons Vorbild besungen. Qleim schreibt am 16. .laisuar 1762:
. . , ,>man gebe mir zehn Poeten, die alle die aufgehende
Sonne beschrieben haben, ich v/ül die herausfinden, die ihre
Beschreibung £us dem Müton nahmen.**"*)
*') VkI. L. Hirzel. A l b r. v. haiUrs Ü 4 dichte.
Frauciijcld 1SS2, p. 37.S, wo sich eine Außcruns: Maliers über
die Paradicsszcncn findet (aus dem Jahre 17^), Vgl auch
ebd., p. CCXCVin.
*'^) In Friedrich v. hagiiidorns tipiKramm JVmI
einen Fapcfiuuicr und Verüchter der ichön«
sten Stellen im Milton", Werke. Cärlsruhc 1777»
Krster Thcii, p. 225.
*•') So wollte ültim schreiben, verbesserte dann den letzten
Satz in: „ ... die nie aufgestanden waren, sie zu sehen", womit
er eben die Mütonnachahmcr zu meinen schein:. (Brief-
wechKel zwischen Ülcim unü Uz. hsK. u. crluu:ert
von Carl Schiiddekopf, Tübin»:cr. 1899 (Bibliothek de«
Literarischen Vereins in Stuttgart. Bd. ?IS}, p. 32t»)-
— 40 —
Alfred Biese hat gtsaRt, die christlich-puritani-
sche Phantasie Miltons sei zu biblisch gewesen, als daß
sie der Schöpfung eine sclbständiKe Bedeutung in der Poesie
hätte leihen können. „Die Natur spielt nur eine Rolle In
Bezug auf den allmächtigen Gott.*' **) Auch zur Zeit der
Milton- und Klopstockbegcisterung stand die Naturschwär>
merei in engem Zusammenhang mit der Religion. Die
patriarchalischen Idealfiguren wurden in eine idyllische
Natur gedacht. Adam und Eva erfreuten sich im V, P.
ihrer keuschen Liebe in einer Laube (bower). Diese Laube
taucht im Messias *'') wieder auf und findet sich Jahrzehnte«
lang in Gedichten, ja Briefen wieder: In Klopstocks Tod
Adams ward sie zur Braudaubc. Als .solche oder als
gewöhnliche Laube oder sonst variiert, begegnet sie uns
bei Ebert. Gcßncr. Ramler, Giseke, Herder. Voß, Miller,
Hölty, Wieland, Oerstcnberg, Maier Müller, Stollbcrg.**)
Sie ging wohl auf Kiopstock surüc.K und nur indirekt auf
Milton.
In den Zürcher F*airiarchaden herrscht selbstverständ-
lich das Naturmilieu des V. P. Fritz Budde sagt 1. c, p.i 180,
über Wieland: „Wie er in seinen ersten Dichtungen Natur-
schilderungen und idyllische Liebesmotive bevorzugte, so
bildeten für ihn ähnliche Elemente das Anziehende in Bod-
*^) .Alfred Bicsct Die Entwickelun^ des Natur-
jreiühls im Mittelalter und in der Neuzeit, Zweite
Ausgabe, LaIpziK 1892, p. 406.
") Messias I, 544, „dämmernde L*'. K 666, „scliimmeriuien L",
I!, 31 betet Eva „Du Hütte, wo er (Jesus) weiiiete, sey mir die
Laube der crstin Unschuld''. 11, 21 ,,friedsamc Laube".
■"*) (Jber das Motiv der Laube \%\, Weinhold, Ein Gvi-
dicht Hültys, Schnorrs .\rchiv für Literatur-
jjesclichta VM (Leipzig 1878), p. 193/4. Neue Beleue bei
Ludwig Krabe, C a r i F r I e d f . Gramer bin 2 u
seln«;r AmtsenthfibunK (Palaestra 44), Berlin 1907,
Anhang, p. 247/8 (zu Seite 35»).
-„ 41 —
mers Epen. liodmcr dag:gen sah diese DinKc als Raluncn
und Beiwerk an, als Ziel suchte er die Erhebung zu «jpi-
scher Handlung, zur Charakteristik und zum Wunderbaren.**
Das ist nicht jranz richtig. Nachdem wir darfcckxt, daß
für Bodmcr die Begriffe epische Handlung und Charakte-
ristik soviel wie Schilderung dc!v Dogmatischen und Idylli-
scheri bedeuteten und daß sich schon der junge Zürcher
für die Naturschilderungen im Miltonschen Liebcsidyll er«
wärmte, können uns diese Dinge in der Bodmerschen Auf-
fassung nicht bloß als „Rahmen und Beiwerk" erscheinen.
Der nüchterne Sinn des Zürcher Dichters und Wic-
lands idealistisches Streben fanden auf dem Gcbieic der
Idylle einen gemeinsamen Berührungspunkt (vgl. Buddc.
ebd.). Schilderungen unschuldiger Men-
schen und reizvoller Umgebung w a r t; n nach
Bodmer neben dem dogmatischen ..NA" u n d c r •
baren" dem Kpos unentbehrlich. Nur Heß er
sich durch seine lehrhaften Tendenzen in seiner Werken
2u lächerlichen QeschmacklosiTkeiicn verführen, während
Wieland bei ^.ieicher Frömmigkeit ein größerer poetischer
Sinn eignete. Wielands Gesicht vom Weitge rieht
durchweht seraphischer Hauch. Obschcn er Klopstocks
Sprache verwässerte,**) fand er m.ehr als Bodmer den Aus-
druck für die Sehnsucht nach dem glücklichen Ursitz der
Menschheit.
Achl wo bist du, o Paradies, der einfälligsten Freuden
Qlykücher Sita? wo scyd ihr* ihr Bacumc. h\ derea
Umschauung
Sich die ersten der Mensche«, n^ch Gott gebildet.
umarmten?
Ewig dahin! vom Tode zerstört! von den Ruthen
zerrytlütl
*») Vgl. B u d d e , l. c p. 155.
«. 42 —
Ach! du bist auch dahin, du heilige IVÜyrtcnlaubc,
Wo sich Adam zuerst, auf balsamischen Blumen
ßelagert,
Fandv sich fyhlt und mit erstem Fyhlen dem Schöpfer
zulächelt.
(Werke \\ p. 435.)
Der von Milton im 8. Buche beschriebene Moment, da
Adam auf der ersi geschaffenen Welt erwacht, um sich
sieht und Über die Schönheiten dieser Erde in Entzücken
gerüi. re^tc Wicland und nach ihm noch 'andere wie Maler
Müller zu pociischcn Ergüssen an. Wieland jauchzt in
seiner Hymne an die Sonne:
Ja dich wollte der erste der Menschen, der König der
Erde,
Als er im Paradies auf einem balsamischen Lager
Neugeschaffen sich fand und voll verwundrung
umhersah,
Als er dich sah, o Sonne, da wollt er, von ehrfurcht
erhoben,
Schöpfer dich grüßen, —
(Werke I-, p. 175.)
Viele idyllische Naturszenen entnimmt Bodmer dem
V. P. 'Die Frauen klagen im Noah wie die das Paradies
verlassende Eva "^) und beschreiben die schöne Gegend, die
sie nicht mehr sehen sollen. Auch son.st versucht er sich
In Schilderungen, Wie Adams erstes Erwachen, so mußte
die Erzählung Evas, wie sie zuerst diese Welt erblickt und
mit Adam, zusammengetroffen, Bewunderer finden. Bod-
mer verwendet sie u. a. im zweiten Gesang seiner ge-
iallonen Zilla (1755).
Ein bescheidener Dichter, K. W. Müller, übertrug diese
") Vßi; Th. Vetter. I. c. p, 364.
- 43 ~
Stelle (Buch IV, 449 ff.) in seinem !755 erschienenen Ver-
such in Q e d i c h t c n :*")
Noch denk ich oft an den Tag, als ich, vom SchluiniTicr
erwachet.
Das Licht zum erstenmal sah, and unur schattichtcn
Bäumen,
Auf weichen Blumen mich fand. Durchürungen von süssem
Erstaunen
Fragt' ich mich selbst, wer ich sey. und wie. und wöhcr
ich entstanden.
Nah bcy dem Ort, wo ich lag, drans eine rieselnde Oucllc
Aus einer Grotte hervor, und wuchs zur liüsslKcn tbnc.
Dann stand sie unbewesi still, und rein, wie der lächelnde
Himmel.
Voll von Gedanken, die mir noch neu und unbekant waren,
Gieng^ ich dann näher, und warf am «;rünen Uier mich
nieder.
Ins klare Wasser zu sehn; für mich ein anderer Himmel.
u. s. w.
Dieses Bruchsiück, das heute bei allen Aufzahlungen
übergangen wird, ist die beste Cberseizungsprobe aus dem
V. P., die wir aus jener Zeit besitzen. Bodmcrs Über-
tragung war auch in der 3. Aufiage banal geblieben, von
andern nicht zu reden.**") Daß K. W. Müller dk^i Stelle
"") Unter dem Titel: Eva an Ad:iin, aus Milions
verlöre II emParadiese. Auch sbcecruckl in der B s b 1 i o -
Ihck der schönen Wissenschaften und der
Ireycn Künste, Leipzig 176!. Scwh&un Bandes iucytc»
Stück, p, 316 ff. (bei Anlaß der Bcspred:iinz vor» Zachariä»
Übersetzung).
•'■") Bodmers Ü b e r s c i z u n k e n (= No. 4 der V'cticrtchco
Bibliographie) erschienen 1732. 1742. l75 4, 1759. 17 69.
1780. Die Äcsperrt gedruckten sind umgearbeitet. In der sucitcn
Auflaßc von 1742 bewegt sich Bodmer ctuas ircicr» während er
in der 3. eher wieder zur alten AbhanKit:l-;eit \ou der Vorlage
zurückkehrt. MiitoniibcrsetzunKcn lagen damals in der Luft
_. 44 —
wählte, scheint mir dem Geschmack jener Jahre zu ent-
sprechen,
Dit paradievSischen Szenen fanden in der Idylle ein
Fortleben, In Salomon Geüners Tod Abels kann man
bei der Schilderun;? der Schöpfung (l. Qcs„ p. 21 der 2.
Aufl.), im 2. Ges. (Erzählung Evas, wie sie das Paradies
verlassen) und im dritten Gesang (Adramelech legi sich
neben Abels Ohr, wie Satan neben dasjenige Evas) an
direkte Beeinflussung durch Milton denken.") Der ganze
erste Gesang spielt in einer Laube. Während aber Bod-
mer u. a. mit Milton wetteifern wollten, wollte Geßner nur
er selbst sein.")
Job. Stry versuchte eine, die er schon am 26. April 1746 an-
kündigte (Waniek, Qott.sched ... p. 510). Nikolaus
Dietrich Qlsecke (1724 — 65) übertrug größere ange-
druckte Partien (vgl. Poetische Werke, h.sg. v. Carl
Christian Q .'i r t n e r , Braunscliweig 1767, Einleitung, p.
XVHI f). Von Simon Q r y n ä u s ist der 1. Qs. auf der Zi^cher
Stadtbibliothak handschriftlich vorha-iden. Cr ist nicht besser
als dei Verfassers jicdrucktes Wiedererobertes Para-
dies (Basel 1752), aber nicht wie dieses in Prosa, sondern in
Hexametern. In seinem anonymen Versuch In Gedich-
ten, Leipzig 1755, übersetzte K, W, Müller Buch VI, 449-
491. C'ic l>estrcl)ungcn, das V. 1^ in ficxarnotcrn zu libertrasen.
faiideii ilirc.'i Al)scliliilJ in Friedrich Wilhelm Zaclia-
rluos l70()/fM in Allona erschienener Übersetzung. .Wüllcrii
Hexameter übertreffen an Wohlklang und Fluß diejenigen Zacha-
naes Auch in gereimten Versen wurde eine Übertragung ver
sucht von Qottlieb Siegmund Qruner, der schon 1749
handschriftliclie Proben davon vorlegte (vgl. J. BUchtold.
Qcschichte der deutschen Literatur in der
Schweiz, F.'-auenfeld 1892, p. 544).
") Vgl. Mur. cker, l. c, p. 181.
'*) Salomon Qcssncr schreibt am 8. Jan. 1763 an V i n c j n jj
Bernhard von Tscharner: . . . Indcß war meine Ab-
sicht nie mit dem Milton wetteifern, so stolz war ich nie:
ühnlichkeit im Sujet, und die gleichen Personen mußten ühn-
-~ 45 -~
In den Werken der spiiieren Idyllendichtcr tönt der
einsi so mächtige Einfluß des englisdicn Epikers \v»e ein
entfernies Echo nsch.
Zollte das Bodmersche Zeitalter dem V. P. auch bei-
nahe uneingeschränkte Anerkennung; s'i brachte es ilnn
dennoch ein unvollkojninenes Verständnis entgegen. Bod-
mers theoretische Kenntnisse sind seiner praktischen Ur-
teilsfähigkeii überlegen. Nachzuweisen, was von Milton
in Bodmer und seinen Zeitgenossen aä irklich lebendig war»
hai noch niemand ausführlich versucht.'")
liehe Seen er. hervorbrinKcn, aber ich uoht nicht Mi! Ion,
ich v^'üUe nur ich selbst scjn" (M ine i 1 u n sc n aus Brie-
fen der Jahre 1748—68 an Vmcen/ licrnhard
von T s c h a r n c r , hsv.- v. Richard H a m c ! , Rostock
1881, p. 5ü).
"*') Noch niemand hat scharf zwischen Bödmer, dem Tbvo-
r e t i k c r , der fremde Ansichtcü sich mehr oder wcniccr
aiiciiinctc. imd B.. dem K r i t i k c r v der seine Thccrien an-
weiidcn sollte, unterschieden. Wenn J. Blicht oSd. J. c^ p.
364, /.um Resultat kommt i „in der t^inäich; in das künsiicrischc
Verfahren Jcs Dichter ;4 und dessen ideale tiiüukcii stehen die
Schweizer , . auf i^lcichci Mühe mit Mosci Mendelssohn und
Lcssins':. die hier direkt an jene anknüpfen'» so kann sich dies
höchstens auf die theoretische Einsicht beziehen, Bodmer
hat eben alles zusammcnsetragen, was sich für Muten ins Feld
führen Heß. Wir haben gesehen, daß er nicht einmal in de? Ab«
h a n d I ti n K von dem Wunderbaren seine Ar.s'chtcn durch-
dachiCi,
Michael Bcrnays hat das übcnricbeue in der Ekhaup-
tunü, Bodmer habe Milton seiner politischen )l're;heitsiicb€ wcsen
verehrt, nacheewiesen (Schriften.. I!, S5ff^: Dc^ Zürcher
Kritiker hatte 1754 in seiner Einleitung zw: 3. Miiiorfibersetiiune,
wo von des Dichters politischen Schriften die Rede ist, den eng-
— 46 —
lischcn Miltonkommcniato:' Newton einfach abgeschrieber.!
Friedrich Braivmaier, Geschichte der poeti-
schen Theorie und Kritik, I. Teil, Fraucnfeld 1888,
hat wie Servaes viele richtige BemerkuiiKen. p. 220 sagt er
von Bodmer: „In Shakespeare steckte ihm offenbar zu viel
Poesie; er war zu tendenzlos, ohne religiöses wie ohne politi-
sches (!) Pathos, ohne das sich Bodmer keine Poesie denken
konnte . .". „Ferner kommt bei ihnen (den Schweizern), den
Bürgern dos frommen, ehrenfesten Zürich, noch hinzu der strcng-
rcligiüsc Charakter". Ich behaupte nun allerdings, dali der
strenge i'cügii^se Charakter nicht neben der Begeisterung und
rcicheii orL-jinalen Phantasie Bodmer für Milton gewann, sondern
bei weitem die Hauptursache der Miltonverchrung war.
Auch Braiimaier nimmt den Begriff „Wunderbar" in einem
viel zu abstrakten Sinn.
Das Beste über Bodmers Verhäitnis zu Milton sagt Q. d e
Reynold in seiner Histoire Littäraire de la
Suissc au dixhuitiöme &16cle, seccnd volume:
Bodmer et l'Ecole Suisse, Lausanne 1912. Er berück-
sichtigt das Naturgefühl in Bodmer und sagt p. 245: „Nous
voyons donc clairement l'influence que Milton va exercer. II
pousse ä l'idyllisme, ä ccttc conception d'une naturc sauvage,
mais agrcable: le Paradis, l'Arcadie, l'üge d'or. II conduit tout droit
h ia „patriarcadc", au pathos biblique, au „patois de Chanaan".
ä cette vari(5tc „protestantc" du sentimentalisme eher au XVllIc
siede. C'cst que Milton a &t& compris imparfaitcmcnt, imitc
soilcment, par Ic cöti cxtericur". Allerdings schießt Rey-
nold über das Ziel hinaus, wenn er (p. 245/6) fortführt: „En
effet, . . . Milton dcfaille toutes les fois que le langage biblique
et que le text de !a GenC:se i'cntravent; or, Bodmer et ses amis
admiraient par dessus tout, sans le savoir, ces d^failiawccs
mcmcs." Der Zürcher Kritiker bewunderte nicht die schwa-
chen Punkte im V. P. über alles, sondern sah, ihres di-
daktischen Inhults wegen, nicht, wie iinkilt.stlcrisch sie äind.
Alles Biblische im Ocdichte fesselte Bodmer; eben auch das
Patriarchalische, das aber im V. P. einen g r o (i c n
Raum einnimmt und künstlerisch beinahe voll-
endet dargestellt Ist. Eben diesen patriarchaU.schcn
Ocli^i uliiiut u. ü. die; Nouchi'Jü, die dem V. 1'. nicht, wie
R. p. 247 sagt, nur in einen: kleinen Detail gleicht. Man kann
clc<;wc;:cn nicht wie R. von Nachahmungen „P&r \s c6tö ext£-
«.. 47 --^
rieur" sprechen. Denn das Pairiarchaiischc im Ocdichtc srlcbic
Bodmcr Die Hauptsache^ die mit dem Hang zum Idy-Uschen
sehr en« verknüpften didaktischen NeiKunjjcn und die dariil
zusammenhünk'ende Vorliebe für das „Wunderbare", bsnlhrt R.
nicht. Dagegen glaubt auch er, daß die Auslassun;:cn in der Ktn-
leitunK zur 3. Übersetzunc des V, P. über den Repi:bUkancr M.
von Bödme r stammen (p. 247/48. vgl. oben).
Zweites Kapitel
Das Zeitalter Lessings
Das Haupiverdienst Bodmers besteht darin, Milton in
Deutschland populär gemacht zu haben. Der die erste
Miltonbcgeisterun? bedingende Geschmack dauerte noch
jahrzehntelang als Unterströmung fort und rief jene Unzahl
von geistlichen Dichtungen hervor, die uns als Nach-
ahmungen des Messias erscheinen.
Aber schon in den vierziger Jahren vernehmen wir hie
und da einen leisen Protest gegen eine blinde Ver-
ehrung des britischen Dichters. (Ich rede natürlich nicht
von den Qottschediancrn.) Uz schreibt am 29. März 1746
an Gleim: „Herrn Langens Heldenode hat viel ähnlichs mit
des seel. Pyra Ode auf das Langische Bibelwerk: dieselbe
scheint mir aber nicht Horatzisch zu seyn, soviel poesie
sonst darinnen ist. Das Miltonische Wesen (halten Sie
mich für keinen Leipziger; ich verehre ihn, Sie wissens)i
Miltons besondere Art des Ausdrucks schickt sich vielleicht
nicht für die Ode, wenn es nicht sparsam und mit groß'jr
Kunst, in gewissen Materien angewandt wird." 0 Und am
26. Mai 1747 an denselben über Qötz: „. . . Er hat mir
auch eine Ode auf seines Bruders Tod mitgeschicket, welche
0 B.-icfwechsäl ^wibchen Oleim unü Uz
(Blbiioihek des Literarischen Vereins in
Stuttßart, Bd. 218), p. 107.
— 49 —
schöne Bilder hat. Sic würde mir noch besser ücfallcn,
wenn er mehr den Alten» als der Pi'raischen Ode über
Langens BibeKverk oder auch dem Mihon nachjjcahniet
hätte. Ich kariTi unmöglich verdaueu. daß ein !!n,:el vom
Himmel herab kommen und mit einem Ciherischen L^pccr
das Band zwischen Leib und S<;e!c auflösen muü; -ind der-
gleichen mehr. Wann Milton mit einem durch die Alten
befestigten Geschmack gelesen wisd, so ist er vollkommen
fähig, einen mit den erhabensten Bildern und mit einem
göttlichen Feuer zu erfüllen: widrigcr.falles. g'auhe ich. kann
man zu dem unnatürlichsten Dichter durch ihn ^verdcn/")
In diesem Ausspruch finden wir eine Voralmun;?
der Ansicht, daß das Antik-heidnische den Hauptwert des
Miltonschen Gedichtes ausmacht und nicht das- Sera«
phische.
Haller hatte Klopstock nie über Milton scizen 'w.oücn.')
Nach der ersten Schwärmerei, mic der ücr .Messias be-
grüßt worden, zogen sich mehrere von Bodmers Vasallen
zurück. J. E. Schlegel rebellierte gegen Bodmer. daB üicjcr
in i e d e m Gedichte das sogfinannte Wunderbare wollte,
auch wo es nicht notwendig war.') Als der Zürcher
Dichter seine Patriarchaden losiieü, da verließ Um
selbst der einsi so eifrige Meier.') Ja, sogar Bodmcr
machte, wie wir sahen, gegen die Überschätzung des Mes-^
Sias Front.
Ra.nler kehrte unter dem Einfiuü Lessings zur Antike
zurück.") Uz mißt Milton mit dem Ma'isiab der Friinzoscn
^) ebd,. p. 166.
^) Xgl L. M i r z e i . A l b r. v. tia\Hf9 Gedichte.
Praucnield 1882. p. 30? i.
*) \'k1. oben. p. 24, Anni. 12. Über Sch.'s freiere Au'faisung
des Wunderbaren vgl. H. Bicber, J, A. SchicecU poeil-
sche Theorie. Berlin 1912 (PaK'isira CXIV). % 25 ff.
°) Vgl. Bergmann, p. 201, Milion blieb er treu
"■) Vgl. M u n c k c r , 1. c., p. !47.
Piezo, Milion 4
~. 50 -
und beklagt den Mange! der antiken edlen RInfalt/) Aber
er erkenne der Engländer ..gedankenreiche und körnichtc
Art zu dichten" '') an und ahmt Milton in ;;inem Gedichte
nach.') Uz hat sich dem Eindrucke (Miltons) nicht ent-
ziehen können, aber „durch die Weihrauchwolken, die aus
hundert Opferschalen zu Milton empordampfen, dringt er
hindurch zur ewigen Schönheit der antiken Dichter".")
Diese Schönheit besteht für ihn in der Natürlichkeit. Diu
Enk'länder haben für ihn „allzu weni^ Natur und gar zu vi-jl
Kunsi*'.*^) Üzens Geist war zu nüchtern, um MlUons
Schwung folgen zu können. Er bedurfte verständlicherer
Poesie Darum kamen er und Wieland hlntdrcinander.
Als aber dieser die ätherischen Sphären verließv er-
wachte in ihm klarer als im kurzsichtigen Uz die Einsicht,
worin Miltons Größe besteht. Verständnisvoll vergleicht er
ihn in einem Öriefe vom 24. April 1758 mii Rubens.^") Am
4. Nov. 1769 empfiehlt er der Laroche, welche einen homme
diable darstellen will, die Lektüre Miltons und Klopsiocks,
„pour Vous lamiliariser un peu avec les caract^res de leurs
diables".") Die Seraphim des englischen Dichters werden
allerdings nur noch mit Ironie erwähnt, aber seine Ach-
') Vijl. Außust Sauer, Einleitung zu den Sämtlicher,
poetischen Werken von J. P. Uz. D. L. D. 33/38 p.
XX!V/V,
^) D, L, D. 33/38, p. .368.
'■*) D. L. D. 33/.38, p. 375 Uz macht In einer poetischen
Epistel von einer Stelle des 8. Buches Gebrauch, geht also nicht
auf die Lieblinscsstclien der Patriarchadendichter ein.
^0) 1. c. p. XXVIII.
") I. c, p. XXIV.
") Ausgewühlte Briefe von C. M. Wlcland. ...
1. Bd. p. 273,
'*) Briefe an Sophie von La Roche, hsg. v.
Tranz Hörn, Berlin 1820, p. 102.
tüWK vor Mllton bewahrte Wicland such in sciiiön leizten
Jahrcr.'*)
Mit der Ei5iführun>j dos Hexamctcri> halte Kiopslock
selbst der Reaktion RCgcn die Schwürmcrcä den \Vtj{ 7.ür
Antike i^jcwiL'Scn. Die in den iüntV.i^c. Jahren iol^cndcn
Versuche. Müton in ein Kricchisch-deutschcs Gewand zu
kleiden, erachcinen uns (formell weniKstcns) als Vorboten
einer realistischeren Richtung.
J. J. Zachariac lalito diese imeihschen BesireLiinK-ien
zusammen. Er hatte Milion imtner j;^i:ebtv ühnc gerade 2u
eiert Schwärmern zu Kehörcr., 1756 hatte er am Kingang
seiner Jahreszeiten gesungen:
Hier iiast du auch oftmals, o Mu.<%c.
Deinen Thomson, die andre Natur, aufmerksam studieret;
Popens Lieder gehöru und Milion^ GcJänge bewundert,
1757 ZOK er es vor zu sa^jen (Text B),
Oder der Satane schwarze VersammlunR in Miiions Ge-
sänge n
Vor dir gesehn/' *')
'*) Vgl. in KIciia und Sinibtld (1783), V. 2651:
Ein stolzer AuKensirah! auf ihn,
(ICin Strahl, wie Mütons Scrapliii:
auf die cir Porten EnccI schicken) ...
Vgl. C. M. Wiclands Sämmt liehe Werke. 21. Bd..
Leipzig 1796. p. .?M. Im Neuen Amadiä (!771. X.. 13) spielt
Wieland auf c'ie Wirkung von rlvas Schönheil auf iicn Teufel an
(Werke, 4. Bd. Lcipzic 1794. p. 232), in den Grazien (1769,
Viertes Buch) auf die ScliilderunK der waliren 8;cistiecr Liebe
im V. P. (Werke 10. Band. Leipziyi 1795. p. 63.)
'^) Vjrl. Otto Hermann Kirch georK. Die dich-
terische Kniwickhjnß J. P, W. 7.%c\\s tiie%, (ircifs-
waldcr Diss. 19()4, p. 16 f. wo die drei Fassunzen der Jahres»
zelten miteinander verglichen sind. 1767 heiüt es: Ode; in .Viltons
Oesang den blühenden Garten von Eden / Mit dem Ücb'ichstcn
Paar, das je ein Dichter erschaffen, / Vor dir geschn.
4"
— 62 —
1760/63 kam seine Hexamcterübersetziing heraus.")
"Mit Reclit tadelte die Bibliothelc der schönen
Wissenschaften und ücr frcyen Künste (VI.
2. (1761), p. 311—323) die holprigen Verse und zog Müllers
Versuch vor. Nicolai ließ seine scharfe Verurteilung in
den L i t e r a t u r b r l e f e n (p. 184 ff.) vernehmen. Di«!
Art, wie er Miitons kernige, konzise Sprache mit Zacha-
riaes Verwüsserun? kontrastiert, läßt auf eine einsichtigere
Zeit hoffen.
Milton re;jie Zachariae zu Nachahmungen an. 1760
schreibt er an Zediiiz: „Als ich mich vor einigen Jahren mit
der Übersetzung der ersten Gesänge des verlohrnen
Paradieses beschäftigte, fühlte ich meine I:inbildung.S'
kraft von dem großen Genie Miitons so sehr erhitzt,
und angefeuert, daß ich der Versuchung nicht widerstehen
konnte, mich einmal in das Feld der ernsthaften epischen
Poesie zu wagen, und besonders eine Materie auszuarbeiten,
die bloß Erdichtung wäre*'.^') So schuf er Die
Schöpfung der Hölle und (nacli Klopstock) Die
Unterwerfung ,? e f a 1 1 c n e i' Engel (1760).
Zachariäb Einsich: erhebt sich nicht übc^- das Niveau
der Zeit Mit den damals gang und gäbe gewordenen Mit-
teln verteidigt e; (meist in AnleJmung an Newton) in den
Anmcrkjrngen seiner Übersetzung Mllton i^c^cn die alt?-n
Vorwurfe ae; Oottschcdianci Charakteristisch für die sich
anbahnende Geschmacksänderung ist die Wahl des Stoffes
in seinen Nachbildungen. Die erste der genannten Dichtun-
^^) Das V c r 1 0 li r r. 0 P a r a d i 3 s , aus dem ri n g I i -
sehen J 0 1: d n ji Miitons in R c i m f r 2 y o Verse
übers c- tut, und \nlt ölgncn sowohl als andrer
Anmerkungen begleitet von Friedrich Wil-
helm Zachariae 2 Teile, Altona 1760. 1763.
^*) Der Schöpfung: der Hölle vorwcdruckt. Mir lierft
die itwoltd! vjr!)csKcrtc Auflaub (Altcüburk 1767) vcr<
— 53 -«
gen zeigt Miltons Einfluß bis in Einzelheiten.'*; Sie führt
uns in diu H(">11ü. Zachariae reizte i.'ji Satan vorzuführen,
von dem Gott sagt:
„nie frcclijn Ocdankea sine njui'.i üiehr Gedanken
Eines Engels; er hcl>et vor Siob die eiserne Siirn auf.
Trotzt auf seine feurigen Wagen, zui Waffen und Sciiildc
Seiner Myriaden, und will selbst üoti s<;yn/' •')
Thomas Abbt schrieb darüber am 3. April IVol an
Kriegsrat von Seiner: „^ . . i die Schopf ung d er
Hölle aber mag ich nicht lesen, weil Zachariae s^-lbsi sagt,
daß Sic die Gehurt eines von Miltonischcn Bildern crhit-zten
Gehirnes sey. Man könnte von dem Verfasser eigentlich
sagen, daß er von Teufeln begeistert worden/"*') Auch
nachdem man den Gottschedianismus überwunden hatte,
wollte man sich mit Teufeln nicht abgeben.
Die alte moralische Auffassungäwcisc Wirkte noch nach.
Eine neuere realistischere brach sich erst Bahn. Gott-
scheds Berufung auf die klassische Tradition machte all-
mählich einer Rückkehr zur gricchisdicn Antike Platz, die,
wie Uz, nicht allen mit einer Anerkenv.ung Miltons verein-
bar schien.
So finden wir in den sechziger Jahrcu •.ij' D-ifchem-
andei von Urleilen über den esüglls^ihen Dichter.
Büdmer hatte es noch nicht aufgegeben, für Muten ein-
zutreten. !n den F r e y m ü t h 5$? c n N ?. c h r ; c h t e n bc-
^^) Vßl. Jos sie Croii&ri'J. /'.jchafiae ixni fj i ',.
iztt\i\\&h Models, II. Influcncc oi Müton, Thomsor, an.i
YüUii« (A r c li i V für das. t^ t u d i un der n « k e r c m
j>prawhen und Litcratiircp 19a«. LXll. Jahrcani:. CXX.
Bd., der neuen Serie XX. Bd., p. 391 ff). Auch in scir.cn Ctirte:^
führt 2. eine I3csclireibunjf der Hülle und C'nc 'Jnt.rredmg «c-
iallcnei Er.Kcl ein.
' •') p. 'J der zwcitoi; Auflage ucr S c h 0 p f u ß « ü « r Hölle.
-'") T l( 0 m a s A h b t s v c r ir i s c h » t S c h r i f t e n »
Sccuster Teil, licriln und Stettin 1781 r« M
— 54 -
irrüßtc er Zachariacs Übersetzung mit kritikloser Freude
und im Archiv der schwei&erischcn Kritik
(1768) sammelte er seine ehemaligen Streitschriften, welche
„In der Morgenröthc der Äcläutcrten Crltick in Deutsch-
land" entstanden (p. 326), und fügte (p. 339) eine Rettung
Miltons gegen den jüngeren Racine bei. Die Qöttinger
Anzeigen von Gelehrten S;ichen 1760 (7. Juli
81. Stück) priesen die Übersetzung Zachariacs als ein „vor-
treffliche.«, erhabenes, und den Leser mit sich fortreißendes
Werk".
Weithin gewann sich Milton neue Freunde. Auch nach
Österreich drang sein Name. 1762 wurde das V. P. für
Michael Denis ''') ein zweites Lesebuch, für das er noch am
Ende des Jahrhunderts eintrat; „ich gestehe," sagt er In
den Lesefrüchte Hv Zweyter Theil, Wien 1797, p. 36,
„daß einer meiner Hauptantriebe, die englische Sprache zu
lernen, war* das verlorne Paradies in der Quelle zu
studieren.'*
Milton, der Dichter des Wunderbaren kat* exochen,
diente 1763 dem jungen Johann Georg Jacobi in seiner
Dissertation Vindiciae Torquati Tassi neben Vir-
gil und Klopstock als Autorität.
Das V. P. harmonierte damals mli Jung Stillings
Seele.»-')
Daß •:£ auch in den sechziger Jahren solche gab, die
Klopstock über Milton stelltenv wissen wir.
-' ) V}:1. Michael Denis Literarischer Nach-
laß, hss:> V. Fried r. Freyherrn von Reize r, Wien
MDCCCI, p. 58, ferner P. v. H o f m a n n - W e 1 ! e n h o i f ,
Michael Denis, Ein BeitraK zur Deutsch-österreichischen
Literatur;;eschichte liss XVIII. Jahrhunderts, Innsbruck 18SU
p. 35.
") Johann {■[ ein rieh Jung's, genannt Stil-
ling, Lebensgeschichte (Der sümmtlichen
Schriften w;rster Band. Stuttgart 1835). p. 241.
— 55 ^
Wie allRcmcin üblich die nioraiis^he lieuncilun^^sweis*:?
noch war, 7X'\'j;t eine ÄuUcrunij J. K;!nis aus Q>:Yn Jahre
1 764. h^ seinen Bcobachtunjren nber das Qeföhl
des Schönen und Erhabenen führt er Milton an.")
Die Schilderung des höllischen Reiches von Milton errege
Wohl;,'eiallen, aber mit Grausen, „Von den Werken des
Witzes und des feinen Gefühls fallen die epischen Gedichte
des V i r g il s und Klopstocks ins Edle, Homers
und M i 1 1 0 n h ins Abcntcucrüchc' Das Abenteuerliche
ist nach Kant die Kiijenschaft des Schrccklich-ürhibenen,
„wenn sie Ranz unnatürlich v/ird/' VirgU und Klopstodk
sind demnach, schließt J. W. Lc)ebcil richti;:, nach Kant
».natürlicher''. Natürlichkeit kann also nur auf dem Edlen
in ihnen, d. h. auf dem sittlichen Moment beruhen. ..Diesem
zu Liebe übersieht Kant die Unbestimmtheit der Gesialten,
die doch der Natürlichkeit sehr im Wc5ic steht, verzeiht der
tiefe Denker die von Les^inj: xcrügte Urklarhcii der Ge-
danken,""*)
Lessintrs bekannte Kritik des Messias hav keine ahn»
üchc Anwendung; auf Milton zur folge .■::ehabt, Wohl xins
man auf die Alten zurück; aber die meisten standen noch
zu sehr unter dem Eindrucke des schweszerischcn Milton-
enthusiasmus. als daü sie im V. P. stwas dem antiken Epos
Verwandtes s'esncht hülten.
mDIc Odyssee hat mir ein jian^. hcues Licht über die
epische Poesie .t^eKcben,** schreibt Hamcnn. ,.Bt>dmer und
Klopstock haben beide den liojner ,4e\vili studirt; sie h;iben
ihn aber nicht anders als im Kleinen, im Detail verstanden
'^) Vgl. Kants Werke, ed. Rosenkranz, Ltipzu l*v?S,
Bd. 4, p. -100 u. 409.
") J, W. Lochen, DU Cntwickciunc der dcut»
sehen Poesie von Klcpstocks erstem Auf-
treten bis zu Qocthes Tode. I. Band. Braunichucijs;
1R56, p. 222 (Qcschichtc der Beurteilung KlopstocVv p. ?I6— ?72>,
— 56 —
nachzuahmen.'* -') Auch von Milton scheint er nicht besser
zu denken. Kr liest das wiedercrewonncne Paradies und
äußert sich dabei abschätzig über „Addison's Trompete vom
verlorenen Paradiese" -") (Brief vom 21. März 1760
an Lindner). Am 28. August 1761 schreibt er an
denselben: „Milton habe ich gelesen in fönte. In
Bodmer's Übersetzung muß ich es g 1 a u b e n v daß
es ein herrlich Gedicht war .... Klopstock scheint
mir immer seinen Geschmack verdorben zu haben in dieser
Quelle. In seiner G c i s t e r l e h r c ist Milton offenbar
sein Original gewesen, und dieser hat die Hexenlegcnden
zu den Zciicn dcr' Irrenden Ritter und des .Aberglaubens
meistcrhafi; /ai brauchen gewußt . . .Homer bleibt immer
dor einzige Hcldcndichter für meinen Geschmack." Denn
bei ihm fließe die Kunst zu detaillieren aus der Vollkom-
menheit der (}rund!agc, „wie eine gesunde Wurzel es dem
kleinsten Sprößling an Saft und Nahrung nicht fehlen läßt
zu grünen und zu blühen."") Nur in Details gefällt Ha-
mann offenbar Milton, Und die Einzelheiten stimmen mit
dem Ganzen nicht überein. Las Hamann damals das V. P.
mit dein jungen Herder der „meisterhaft gebrauchten
Hexenlegenden" wegen? Sicher sagten ihm, wie später
Herder, Homer und das A. T. mehr.
Noch weniger schien für Winckelmann der griechische
Geschmack mit einer Anerkennung Miltons vereinbar. In
seiner Geschichte der Kunst des Alierthums,
l ThelK Dresden 1764, I. Capitcl, Von dem Ur-
sprünge und Anfange der Kunst (p. 28), sagt er:
„Das vorzügliche Talent der Griechen zur Kunst zeiget sich
*»') J 0 h. Q. ri a rn a n n s Schriften, hsg. v. Fr. Roth,
Berlin 1821—1843. Bd. III, p. 6.
^') ebd. III, p. 64.
^^) ebd.. p. lOSi. Vgl. R. Unger, Hamann . . ., Jena 1911,
p. 218, 402. .^uch Unger kann mit dieser Stelle nicht viel an-
fansen. Für sonstiges vgl. sein Register.
~ 57 -^■-
noch itzo in dem «rossen fasi alUcmeintn Tak-nte der Men-
schen in den wärmsten Ländern von Italien; und in dieser
Fähigkeit herrschet die Kinbiidung:. so wie bey den denken-
den Brittcn die Vernunft über die Einbüdrn^. £s hat jemand
nicht ohne Grund gesagt, daß die Dichter jenseits der Ge-
bürge (\V, ist in Rom) durch Bilder reden, aber v:i:i\isi Bil-
der geben; man muß auch gestehen, daß die ersiaunendeii
iheils schrecklichen Bilder, in welcher. Miltons Grjße mit
bestehet, kein Vorwurf eines edlen Pinsels, scndcru Kanz
und gar ungeschickt zur Malerey sincu Die Miltonischcn
Beschreibungen sind, die einzige Liebs im Paradiese aus-
genommen, wie scliön gemalte Gorgosien. die sich ähniidi
und gleich fürchterlich sind. Bilder vieler andern Dichiei
sind dem Gehöre groß, und klein dem Verstände. Im
Homere aber ist alles gcmalei. und zur Malerey erdichtet
und geschaffen.*' Aus Winckclmann surach .mehr Tradi-
tion als eigene Betrachtung des Kunstwerkes. Denn div;
Gestalten der Miltonschen Teufel sind immer noch gött-
lich schön. Ohne nachzuprüfen, hat Wijickelmann sich vom
Namen Teufel verleiten lassen, sich etwas darunter vorzu-
stellen, woran der Dichter gar nicht dachte: Schon gemalte
Gorgonen. Unter üöllenbewohnern kann sich auch VVinckcl-
mann im Hinklangc mit seiner Zeit nichts anderes denken.
1764 beanstandete Klotz in seinen Epistolac Ho-
m e r i c a e nach bekannten Mtistcrn die Würde des V.
P. und die Einfügung der griechischen Mytliologic in dieses.
Aber schon reifte Lessing seine Ideen vom Epos aus. die
der erst in Ansätzen vorhandenen reaüstischcn Richtuiu
zum Durchbruch verhelfen sollten.
n.
Erst als Milton nicht mehr das einzige Gestirn am
poetischen Himmel war, konnte die Erkenntnis desser. was
in ihm wirklich künstlerisch ist, Fo» tsciiriuc machen. Eine
kritischere Betrachtung mußte sclni wahren Schönheiten
™ 58--^
um so mehr hervortreten lassen. Allerdings las: dann die
Gefahr nahe, daß das Interesse, das anderen Werken cnt-
ßeKcnjjebracht wurde, das V. P. vergessen ließ.''*') Das
ist bei Lcssing und seinem Kreise noch nicht der FalL
Friedrich Nicolai begeisterte sich schon früh für Mii-
ton.'") 1753 verteidigte er ihn in seiner Untersuchung,
ob Milton sein V. P. aus neueren lateini-
schen Schriftstellern ausgescli rieben habe,
gegen Lauders Verleumdungen. In seinen Briefen
über den itzigen Zustand der schönen Wis-
senschaften in Deutschland (1755) bewies er,
daß er Milton nicht mit Bodmer verwechselte.^)
Um Lessing tritt eine neue Schule auf. immer spricht
Sic mit Achtung von Milton "') und weiß ihn von seinen
") So beKeiscerten sich viele für Milton, um sich dann
anderen Poeten zuzuwenden, wie z. B. J o h. Fr. von C r o -
ncRk (vrI. Walter Qensel, Joh. Fr. v. Cr., Sein
Leben und .seine Schriften, Leipz. Diss. 1894, p. 33),
oder die Karschin. der Sulzcr (wie er am 24. Mlirz '61 an
Bodmer schreibt, Briefe vornehmer und edler Teut*
sehen an Bodmer, p. 232/3) u. a. das V. P. zu lesen gab,
das sie mit „heiühunKriKcr BcKicrde" las.
"*! VkI. Friedrich Nicolais Leben und litera-
rischer Nachlaß, hsg. von L. F. Q. Q o e c k i n c , Ber-
lin 1820, p. n (über meine z c 1 c h r t c B 1 1 d u n k) u.
AltenkrU>;cr, Fried r. Nicolais Jueendschriften,
Berlin. Diss. 1899, p. 11.
•■'-°) B e r 1 i n e r N c u d r u c k e , 3. Serie, Bd'. 11 (Berlin 1894),
p. 55/6. 125.
■'**)Z.B. Bibliothekderschönen Wissen schatten
und der { r e y e n Künste (1759 ffV Mendelssohn kriti-
siert an Basedows „Lehrbuch der WohlrcJcnheit" das Fehlen Mil-
tons (I. 1. Si(ick) und tritt in seinen Betrachtungen über
die Vcrblnduniten der schünen Künste und
Wissenschaften (1. 2. Stück) für die Allegorie ein und führt
MiltonK Sünde und Tod an.
^. 59 -^
Übersetzern zu irciipcn."-) Indem Lessin« in den :5 r i c f e n
d 5 1 neueste L i 1 1 e r a i u r betreffend (C3. u. ! 4?'.
Brief) das Unkünstlcnschc von seiaphiinhaiien Charakteren
nachweist, charakterisiert er den neuen Slandpinikt,
176ö erschien der Laokoori. Das Bruchstiick. wie
es damals vor das Publikum trat, bezieht sich vor allem
auf Homer, aber auch Milton wird hie und da >.%'nannt.
Im 14. Kapitel, wo Lessing den Ausspruch des Grafen Cay-
lus, die Brauchbarkeit für den Maler sei 6Qr ProlMerstcin
des Dichters, widerlegt, führt er Mihon neben Homer als
Beispiel anr
„Pern sey es, diesem Einfalle, auch nur durch unser
Siil! schweigen, das Ansehen einer Rejiel gewinnen zu
lalkn. Milton würde als das erste unschuldige Opfer uer>
seihen fallen. Denn es scheinet wirklich: dcQ das verächt-
liche Urthcil. welches Caj'lus über ihn spricht, nicht sowohl
NationalKcschmack, als eine FoIrc seiner vermeinten RckcI
gewesen. Der Verlust dos Gesichts, saRt er. majj wohl die
größte Ähnlichkeit seyn. die Milton mit dem Homer gehabt
hai. Freylich kann Milton keine Gallerieen füllen. Aber
müßte, solange ich das leibliche Auge hatte, die Sphäre
deßelben auch die Sph.'irc meines Innern Auges seyn. so
würde ich, um von dieser Einschränkung irey zu werden,
einen großen Werth auf den Vcrl'jst des erstem legen
..Das verlorne Paradies ist darum nicht weniger die
erste Epopee nach dem Homer, v/cil es wenig Gemflhldc
liefert; als die Leidensgeschichte Christi deswegen ein Poem
ist. weil man kaum den Kopf einer Kade! in sie setzen V.-inn.
ohne auf eins Stelle zu treffen, die nicht eine Menge der
größten Artisten beschäftige» hütte. Die EvangcSister er>
zchlen das Factum mit alier möglichen trockenen Einfalt,
und der Artlsi nutzet die mannigfaltigen Thuile deßelben,
-'"'1 In Nicolais Kritik der Übriseuunü; Zstchanit-t.
_ 60 ->
ohne daü sie ihrer Scits den ;<eringsten Funken von mahle-
rischcm Genie dabcy sezeiRi haben. Es gicbt mahlbare
und unmahlbarc Fucta, und der Qcschlchtschrelbcr Kann
dlß mahibarsicn ebenso unmahlerisch erzehlen, als der
Dichter die unmahlbarstcn mahlcrisch darzujitellen ver-
mögend ist.""" )
Der Gedanke, daß ein einziger Zug im Dichtwerk einen
Gegenstand deutlich macht, v/ird in den Entwürfen
zum L a 0 k 0 0 n oft erörtert. So Fragment A.j, p. 372,
Kap. XI: „Folgli-:!! ist es auch kein Einwurf wider das
Mahlerische eines Dichters, daß seine Wesen lauter un-
körperliclie ,'^'eistige Wesen sind, und Milton ist seinen
geistigen Wesen ungeachtet einer der größten Mahler nach
dem Home r,"
Dieser Entwurf zirkulierte im Freundeskreis, und
Moses Mendelssohn machte eine Anmerkung: „Gut! Aber
der Dichter isi desto vollkommener, je bestimmter seine
Bilder sind, je leichter es der Inagination wird, die aus-
gelasscncu Züge hinzu zu denken, und sich von den erdich-
teten Wesen nette und ausführliche: Begriffe zu machen.
Homer und Virgil hiibcn sich nur wenige solche Bilder er-
laubt, die sich der Imagination niclit ausführlich darstellen.
Aber alle ordichtetc Wesen des MiltDn sind von dieser
Beschaffenheit. Die Gewalt, die wir anwenden, sie uns
Jn ihrer Vollständigkeit vorzustellen, scheint unsere Ein-
bildunj^'skraft zu ermüden. Ihr erster Anblick frappirt un-
gemein, und erregt eine Art von Erstaunen, die dem Er-
habenen eigen ist. Aber ihre Wirkung ist so anhaltend
nicht; denn sobald wir uns erholen, und mit unserer Ein-
bildungskraft geschäftig zu iseyn anfangen, sc fühlen wir
das Unvermögen sie auszubilden nur sar zu deutlich, und
") L e s s 1 n ii 3 L a o k o o n , herausgb. und erläutere von
Hugo Bliinrner, Zweite verbesserte und vermehrte Auf-
lage. Berlin 1S80, p. 247.
— 61 —
sie fangen an unangenehm ui werden. Milion wird das
erste A^al mehr frappiren, Hemer aber dcsio öfter jrclcscn
wcrdun." "*) (Blümner p. 372/3.)
Lessing licii sich durch Mendelssohns AnnierkunR an-
rejicn. Fragment A«» Zweyter Abschnitt, XIV. (p. 395) be-
merkt er: „Homer hat nur wenige Miltonsche Bilder. Sic
frappircn, aber sie attachiren nicht. Und ebtn deswegen
bleibt Homer der größte Mahler. Er hat sich jedes Bild
ganz und nett gedacht.*'
Aber überzeugen ließ qc sich von Menuelssoh.is
Standpunkt nicht. Auch im ^wöiten Teil seines
L a 0 k ü 0 n „ in welchem Milton eine größere Rolle
zugedacht war, v;ollte er bei i;ciuer These blcibiia
und kam (Aj. XXXVII/fi. p. 401) zum Schluß: „Folg-
lich hegt es nicht an dem vorEugiichen Qenie des
Homers, daß bcy ihm alles xu mahlen ist; sondern
lediglich an der Wahl der Materie. Beweise hiervon.
Erste? Beweis» ai3S verschiedenen linsichtbaren
■'*) Noch einmal zu A2 Xlü (p. <>'62ii). „ . . Hunicf hai du
ncttcü BlSd. ein ausführliches Gemälde in Gedanken. . /' Vgl
auch Uebcr die MyiholojiJc /AJltcn-. dcuts.-be
Bibliothek, Bd. 7, Suick I. 1768, - Q c s a m m. S : h r 1 f t c n.
hrs. von Prof. Dr. Q. B. Mendelssohn, Lcipzis 1^44, IV, 2., p. MO)
V. . . wir lieben attische Feinheit, Richliskcii in der AnlaKC Net-
tigkeit in den Bildern, Grazie im Ausdruck; ar.d es ij.t nicht
Jedermanns Sache, diese £igcnsc!;af;cn mit dem Kiih'?«n, Er-
habenen und Prächtigen der asi;itischcn D'ch:kun-t so sü ver-
binden, daß der Contrast nicht beleidige , . .*'
1767 hatte er im Anschluß ai: Herders F - a £ m e n '. c sich in
der Vcrui'teilung der orientalischen Dici;tr.'n.!:sart anRCichlcüen
(Gesa mm. Schriften I\', !., p. j^S)r „Das Bild der cricntiU-
sehen Litteratur, das der Verfasser. . . cntwjrlt, hai viele treffende
Züge*'. Herder hatte gegen üic Nachahmung der orienta-
lischen Dichter protestiert, da wir eine bcccnsundigt Poesie
hervorbrirjftn müßten. Me.idc!5:tohn mcini nun, c«r.ice Züuc, ^^■ie
„Enge! des Todes", „Thron Qottijs"v körnicr beibehalten werden
-,. 63^ —
OcKunätündcn« wulchc Homer ubun so uiimuhlerisch be-
handelt hai< als Miltor, z. E. die Zwietracht etc. Zwey-
t e r Beweis; aus den sichtbaren Qejcenständen, welche
Miltoii vortrefflich behandelt hat. Die Liebe im Paradiese.
Die Klnfi'ilti^keit und Armuth der Mahler über dieses
Subjcct. Der irctrenseitige Reichthum des Milton ....
Stürk'j des Milton in successiven Qemühlden. Exempel da-
von aus allen Büchern des verlornen Paradieses'*.")
") I» C9 Kibi Lessine eine Liste der ücmülildc bcytn
MiltOii aililmiior, p. 441/2).
„I. Voi'. projrrcssivisclicn ücm.'llilJcii, von .wclchcii uns Homer
so vortreffliche Bcyspicle «icbt, finden sich auch sehr schöne
beym Miltoa. .Als
a) das trheben des Satans aus dem brennenden Plule. P. L.
B. 1. V. 221—228 (lies —229, corr. 31.).
ß) Dit erste Cröffnunji der Höüenpfortcn durch die Sünde.
B. II V. 871- S8.3.
;-) DiC nnistehiinii der Welt. B. ill. v. 708—718.
h Dar Sprung dcb Satans in das Paradies. B. IV. v. 181—183.
g) Der FluK des Raphac's zur Erde. B. V. v. 246—277.
0 Der erste Aufbruch des himmlischen Heeres wieder die
rebellischen ünKel. B. VI. v. 56—78.
7)) Die Annähijrun« der Schlange zur Eva. IX. 509. (Richtiger
494if, corr. Bl.).
d) Die Erbauung der Brücke von der Hölle zur Erde, von der
Sünde und dem Tode. X. 285.
i) Satans Zuriickkunft zur Hölle und unsichtbare Besteigung
seines Trohncs. X. 414.
x) Die Verwandlung des Saians in eine Schlange. X. 510.
„Auch die Schönheit der Form hat Milton, nach des Homers
Manier, nicht sowohl nach ihren Bcstandthcilen, als nach ihrer
Wirkunr: geschildert. .Man sehe die Stelle von der Wirkung,
welche die Schönheit der Eva auf den Satan selbst hat. Book
IX, 455—466."
Auch an wirklich malbaren Gemälden sei Milton reicher als
Caylus und V/lnckelmann glaubten. Richardson, der sie aus-
zeichnen wollen, sei in ihrer Wahl oft unglücklich geweseti, da
z. B. ein Cherubin unmahlerisch sei.
-. 63 -^
McndclfSühn urteilte wie virile seiner Zeit. Nach ihm
sollten unsichtbare Personen gar nicht in die Dichtunn' ein-
geführt werden. Lessinij: sieht ein. dali viele Mütonsche
Bilder nicht haften bleiben, iiber er macht Jem iüchtcr dar-
aus keinen Vorwurf. Und auch dem Kunstwerk wirft er des*
wegen nichts vor.
Mendelssohn urteile über .Miiion und Klopstock
gleich.'") Lessing, der diesen schon früher angej:riffcn, er*
kannte jenem eine größere Plastik zu Und zwar eine
Plastik, die dem unsichtbaren Wesen der Hngel nicht wider-
sprach. Mendelssohn, de»' nichj tntmal v/ollte. daß man
bildlich einem Schwerte sage: „kehre in die Scheide zurück!
raste allda!'*.") war mehr P!iilo>^oph als Dichter, ^nch
mochte ihn. ohne daß er sich darüber klar war. der im fipos
herrschende Widerspruch zwischen dem übersinnlichen und
handelnden Wesen der £ngel stören.
War Lessing diese Antinomie gewahr worden?
In den bislier angeführten Fragmenten kam es ihm dar-
auf an, die Möglichkeit der poetischen Harsullung des Un-
sichtbaren zu beweisen. Aber unsichtbar, geistig ist noch
nicht übersinnlich. Scharfsinnig hai Lejsing zwischen dem
leiblichen und dem inneren Auge unterschieden. In der
Dichtkunst handle es sich um Charakteristik. Da die
Poesie Handlungen male, so .seien diese um so vollkomme-
ner, je zahlreichere, Je verscMcdcnerc wider einander arbei-
tende Triebfedern darin wirksam seien.
„Der vollkommene moralische Charakter kann i'ahcr
höchstens nur eine zweyte Rolle !n diesen Handlungen
spielen; so daß, wenn ihn der Dichter ung.'ücklic?u'r Weise
auch zur ersten bestimmt hau der .^c:hlh.?mere Charakter
") B f a 1 1 jn a i e r , 1. c. Zweite*' Tcii. p. j2i. s:he;ru .Men-
delssohn alles I^ccht zusprechen zu wollen
"^l VkI. ed. Blümner, p. iJH.
— 64 ^
welcher mehr Aniheil an der Handlung nimt, als dem
vollkonui'inen seine Seelenruhe and festen Grundsätze zu
nehmen erlauben, ihn allezeit ausstechen wird. Daher der
Vorwurf, den man dem M 11 1 o n gemacht hat. daß der
Teufel sein Held sey. Und das kömmt nicht daher^ weil er
den Teufel zu ktoD, zu mächtig, zu verwegen geschildert;
der Fehler liegt tiefer. Es kömmi daher, weil der Allmäch-
tige die Anstrengung nicht braucht, die der Teufel zur Er-
reichung seiner Absicht anwenden muß, und er mitten unter
den gewaltigsten Bewegungen und Anstalten seines Fein-
des ruhig bleibet, welche Ruhe zwar seiner Hoheit gemäfi
aber keineswegs pociisch ist." (An IX, p. 370/1.)
Das von Lessing gewählte Beispiel ist nicht günstig»
denn wie der Kritiker selbst andeutet, haben wir hier nicht
nur einen moralisch vollkommenen Charakter, sondern
einen allmächtigen, dor die Anstrengungen nicht
braucht. Hier war eine Gelegenheit, bei der Lcsslng
auf den Onindfehlcr im Epos hätte aufmerksam werden
können. f)aB er nicht darauf einging, hat vielkicht seinen
Grund dariiiv daß er den Ort nicht für passend hielt, Oder
miichtc c: sich keine Geuanken darüber?
Eine zv/eite Stelle könnte dazu führen, diese Frage zu
verneinen, Ein eigenes Kapitel sollte in der Fortsetzung den
„n 0 1 h wendigen Fehler n" gewidmet werden (Di, p,
454/5). „Ich nenne notwendige Fehler solche, oluiü
welche vorzügliche Schönheiten nicht seyn würden; denen
man nicht anders ils mit Verlust dieser Schönheiten abhel-
fen kann" (p, 454).
Bei Milton ist z. ß. Adarna unnatürliche Sprachkonntnls
dn>iu zn rccliiien.
„Desgleichen geliörcn seine theologischen Fehler hier-
her: oder dasjenigo, was mit den genauem Begriffen, die
wir uns von dem Qehcimnlße der Religion zu machen
haben, zu streiten scheinet, ohne welches er aber das in
— 65 --
keiner uns sinnlich zu machenden Zclu'üUc hüitc ^rzchlen
können, was vor der Zeit geschähe Z. K. wenn er den All-
mächtigen (B. V. 604) ") zu seinen Enj;e!n sagen läßt
This day I havc bcj;:ot whoin I declarc
My only soii, and on this lioly hül
Hirn havc anointed, whom ye nou behold
At niy right hand; your head ! him appoint,
„Heute mag hier immer heißen von Ewigkeit; Gott hatte
den Sohn von CwiRkcit xezcuKt: sai- ancr dieser Sohn
war doch nicht von Ewiskcii das was er seyn «ollic. oder
er ward wenigstens nicht dafür erkannt. Es j^ab eine Zcitv
da die EnKcl nichts von ihm ^'i'I'tcru da sie ihn niiht ;!ur
Rechten des Vaters sahen, da er noch nicht für ihren Herrn
erklärt war, Und das ist nach ur.s,rer Orthodoxie faisch.
Will man sasen, Gott hatte bis dahin die Ehkc! in der Un-
wiöcnheit von den GclieMVinißen seiner Drcyeinipkcit Z'^-
lauen: »o würden eine Men^s't. abRcschmiktc una 'invc*-
danlichc Dinge daraus folgen. Die Nv.:ih»*c EntSwhukligung
des Mlhon ist diese, daß er noihwcndig diesen fehler be-
;:;ehcr> mulite. daß dieser Fehler auf keine Welse auszu-
weichen ist, wenn er das nach einer tm« vcrst kindlichen
Zcitfolijc erzehlen will, v^as in keiner soschen Zeitfolge
geschehen ist. Sol! die Ursache des faiies Je* bösen Enge!
ihre Beneidung der höhern Würde des Sohijcs seyn, so
muß man sich vorstellen, daß diese fkncidung eben so von
Ewigkeil erfolgt, als die Geburt des Sohnes etc. Allein Ich
denkw- üherhaijpt. daß Milton eine hQÜ\i- Ursache hätte er*
denkeil sollen, als diese, welche nicht in der Schrift, son-
dern nur bloß in den VorsiclIiTngen einiger Kirchenväter ge-
gründet ist," (p. 455.)
Lessing irrt, wenn er meinr. ws handle sich utn einen
theologischen Eehler MiUons, Der l\hlcr. eine außer«
«") Vielmehr HK^ (Corr. Bliimncr).
IM 3 k o . Mtllun ft
— 66 '■-
zeitliche ßcjiobcnlicit in der Zeit darstellen zu wollenv ist
üstlictiscliür Niitur. Und daß LessitiK Klaubt, dem
Übel lielic .sli:h durch Aiisinur/iinK dieser doKinatiscIicu Kin-
zelliclt abiicifcn, bestürkt uns in der Vermutung, daü sich
der schurfsinniKe Kritiker des Grundübcls des V, P. nicht
bewußt war.
Dessenungeachtet entgingen ihm die F o 1 g e n der Anti-
nomie nicht, weder die, auf die f.chon sein ehemaliger
Lehrer Voltaire hingewiesen, noch tiefer liegende, wie wir
bei seiner Auslassung über den moralischen Charakter
sahen.
Zu seiner Einsieht war Lessing durch das Studimii
Homers gekommen; ;in ihm rnaß er Miiton beständig.'"') Die
Engel des Briten setzte er den Qötteru des Griechen gleich.
Es ist bekannt, wie Lessing den Nebel, womit Apollo den
Hektor entrückt, als bloßen poetischen Ausdruck für Un-
sichtbarmachen erklarte (p. 240/0. Dieser Nebel war aber
vom griechischen Dichter sinnlich gedacht. Soweit war
Lcssim.; jedoch nicht in die mytliologislcrcnde Yolkspoesio
gedrungen, um dies zu erkennen. Die griechischen Götter
sind für ihn abstraktere Geschöpfe als für Herder. Ihr
natürlicher Zustand ist nach ihm die Unsichtbarkeit. Lessing
sah nicht, daß die Miltonschcn Engel im Unterschied zu
den Homerischen Göttern abstrakte Wesen sind. Der
große Kritiker hatte durch das Studium der griechischen
Epen sein Prinzip von der „Handlung" gewonnen. Dieses
Prinzip wandte er auf Miltons Engel an, ohne sich darum
zu kümmern, daß bei übersinnlichen Wesen von Handlung
gar nicht die Rede sein kann.
^'') An Hand von Homer tadelt er wie Voltaire Toü und
bilnüc, wührend er die kürzeren AlIcKoricn preist (p, 432). Mit
Homer (und Shakespeare) als üe«enbcispielcn kritisiert er Mii-
ton, wenn er die SchiielllKkcit und Tiefe beschreibe, anstatt
sie iii llircii WlrkuiiKcn darzustellen (p. 402 und 429/30).
i— 67 ■ -
So konnte er sich mit seiner Theorie, die wohl auf die
inenscliüchen Götter Hoiriers n:il]t, über die Anthiomit da
Kpos h;n\vcK'fiet/cn. Dabei mochte auch Keine- RclljjlOsiiüi
Mitnrsachc am Interesse sehi, das er dem V. P. ent>:ej:en-
brachte. Seine ästhetische Doktrin war aber schuld, daß
er das Grundübe! nicht aufdeckte. Ihr verdankte er
jedoch seine Einsicht in Mütcns Charaktcrisieriinjjs-
kunst. LessinK war der erste in Deutschland, der
Satan ohne Voreins:env)mrr.cnhcii gegenühcrstand. £r
wendet sich (A'' XXXV, p. 400) energisch i:ejccn
Winckehrianns Behauptun;?, Miltons Deschreibunjen seien
wie schön semalte Qorgonen, die sich ähnlich und jrlcich
fürchicrüch sind.
„Winkchnann scheinet den Mihon ucnift ücl^iscn zu
haben; sonst würde er wißcn, daß man schon längst an-
gemerkt, nur er habe Teufel zu schildern jiewußr, önne zu
der nülilichkelt der Form seine Zuflucht zu nehmen."
Und ohne Skrupel erkenni er Miltons Kunstvrrifi an,
„auf diese Art in der Person des Teufels den Peiniger und
den QepeiniKten zu trennen, welche nach dem gemeinen
Bej^rine in iimi verbunden wcrrden". Das kann nur lieiCen;
Satan, der immer noch götilichschöne Apostat, ist nicht der
häßliche Peiniger der Volkstradition, sondern der Gepei-
nigte, dem wir unsere Teilnahme nicht versagen können.
Das hatte vor Lessing: niemand voll zu-
gegeben.
III.
Diese FraRinenic blieben lange Zeit uriÄcdruckt**)
Aber Lessinjjs Methode, wie er sie an Homer exemplifiziert
hatte, mußte Schule machen.
") VgL B 1 (i m n e r s Kinlcitunjr. p. 75. Kinzclnc« wurde erst
1788 von LcssiiiKS Bruder mitectcili. Alles erst in der HcmpcU
scheu Auseabe.
.- 68» —
In den nach 1766 erscheinenden Poetiken verspüren
wir allerdings zunächst noch keine Einwirkung der Les-
singscher. Urieilswelse. .loh. Gottlielf Lindner,") Christian
Heinrich Schmid") und Friedrich Just Riedel") tragen
längst Gesagtes mehr oder weniger kritiklos zusammen.
Di(; Aussprüche über Milton zu Ende der sechziger
Jahre gehen immer noch sehr auseinander. Interessant ist,
wie die aus der Schule Gottscheds Hervorgegangenen sich
mit dem bereits anerkannten Dichter abfinden müssen.
C. C. V. Creuz, der eine Nachdichtung des ».hail holy light"
verfertigte/*) erkannte „die vielen außerordentlichen
Gedanken, Bilder und Gleichnisse; die neuerfundenen
V/orte und Redensarten" u. s. w. der Poeten der „geist-
**) Lehruucli der seil 6 neu W 1 sse n s,ch a i i en ,
insondcrlieit der Prosc und Poesie, Könics-
btrK und Lcipx-ii: 1767, p, 27 nennt er M. ein Original, p. 117 ent-
scluildim er das Pandiimonium mit der „bedingten W.alitsoh'Jin-
lichkcit", p. 117/8 entsetzt er sich über die Blutschande des To-
des mit der ?;inde, p. 129 betont er die Notwendigkeii der
Mythologie, p. 168 preist er Miltons elegisches Bild seiner Blind-
iicit, p. iU3 die aestliciisclic Lcl)haftigkcit der üedanken (Meier),
p. 228 Satans Rede im 2. Buch der Disposition \ve<ien.
■•'■') Theorie der Poesie nach den neuesien
Orundsiltsen und Nachricht von den besten
Dichtern nach dem angenommenen Urteil, Leipzic
1767, p. 427 Thomsons Vers an Milton.
*") Theorie der schönen Künste und Wissen-
Schäften. Jena 1767. Mir liek't die 2. Aufl. (1774) vor; p. 20S
meint er, M. sei oft allzu wunderbar, p. 39 sagt er, er könne
sich die Miltonschen Teufe! nicht sinnlich denken, „Ich stelle
micli vor das Ungeheuer nin und werde, anstatt es ganz zu
sehen, immer nur ein Stück von ihm gewahr; das ist unertrüg-
iich und mishandelt ••neine Begierde, immer das Ganze zu den-
ken, auf eine unausstehliche Art." Diese Stelle griff Herder
dann an, vgl. unten p. 75.
**) Oden und andere Gedichte. Frankfurt um
Mayn 1769, I. Bd., o. 193. vgl. J c n n y , p. 91/2,
-.. 69 —
rclclicü Diciuart" an. Aber von Nacliahmcrn wilj er njcht^;
wissen. Wie Klotz entrüstet er sich über das v.unsinnijre,
der Würde des (Icdichtcs Hohn sprechende" Scherzen
Gottes mit seinem Sühn.*') Die prachtig:it., Beschreibung
im V, P. jjibt er ffcgcn eine mit flaücrscher Kürze vorge-
tragene Sittenlehre."")
Alle berechtigten und iinberechti;rten Urteile wurden
u'iederholt. Die ..oriemaüsche Dichtung" stand noch sü
in Blüte, daß Herder und Mendelssohn jjlaubtcn. ihr ent-
gegentreten zu müssen.
in der» von Lessing vorRczeichncien Bahnen bewegte
sich H. W. Qerstenberjc. in seinen R e z e n .s l o n o n In
der H fj ni b u r ß i s c h c n Neuen Z c i : u n s äußert er
sich über Milton. Stück 94 (15. jun^ 57(^8) nennt er ihn
rühmend unter den Diciitern der \ eüigeii Idylle/') Be-
sonders wichtig ist das 167. Stück (20. Okt. 176S. .\nm. !ll).
GerstenberK will nicht Rcjieln aus Hümer abstrahieren
und sie auf andere Dichter anwenden. Er möchte auf die
Individualität eines jeden Dichters einsjehcn: ..Man hat der
Meßiade vorgeworfen, daü sie nicht homerisch scy: frey-
lich nlclu. sie ist Klopstockisch. Käst eben so seltsam Ist
es, dali man sie nach dem Maasstabe des verlohrenen Para-
dieses hat messen wollen*'/*)
Aber trotz der verschiedenen Methode kommt er zum
gleichen Resultate wie Lessing, nämlich daü gerade die
'•') Vgl. C. riarimann, Creaz und seine Dich-
tungen, Leipz. Diss. 1890, p. 36 f.
"') Vri den Vorbericlit zu den uräb«i'n, Frankfurt and
Mainü 1760, v^o er sicli über K'opslock und Milton schon aus-
sprich: wie in dem nach C. H n r t mann anKcführtcn. 17(>7 cnt»
standenen Briefe.
*■') Deutsche L i t e r a t u r d e n k m a '. c No. lÄ
(Berlin 1904). p. 60.
*") f.bd.. p. 124 ff.
._- 70 —
Homer iihnllchc hiüividualisicrung: der Teufel den Haupt-
wert des V. P. ausmache:
„Milton ist v/cjicn seiner Erfindung, die Characterc der
Teufel aus der ilgyptisclien und .^ricciiischcn Mythologie
zu nehmen, sehr getadelt worden: ich weis keine, um die
ich ihn mehr beneiden iriüchte. Es ist meine?.' Meynung
nach ein großes Kunststück an diesem Dichter, daß er, un-
geachtet der Inhalt ihn ganz von den poetischen Schön-
heiten der Griechen abzuführen schien, dennoch auf eine
so glückliche Art davon Gebrauch zu machen wußte, daß
sein Gedicht den antiken Geschmack behielt> ohne dem
höhern Zwecke etwas aufzuopfern".*") Bodmer hatte sich
in der Abhandlung von dem Wunderbaren (vgK
oben p. 34) vcUchilich über die Dichter ausgesprochcUv
welche den Engeln oder heiligen Menschen die Eigen-
schaften und Handlungen der mythologischen Götter zuge-
schrieben. So ein3r sei Miltcn nicht gewesen. Bei
Qerstenberg haben wir (wie bei Lessing) den
neuen entgegengesetzien Standpunkt.
!Vllt dieser Einsicht in die Charakterisierungskunst wird
das V. P. gegen alte Angrih"e verteidigt. Warum sollen sich
die Teufel im Pandämonium nicht zusammenziehen können?
„Es ist eben so natürlich, daß ein Teufel seinen Körper aus-
dehnt und zusammenzieht, als daß er sich in einen Engel
des Lichts verkleidet. Und überhaupt, wenn wir
einmal Teufel sehen sollen, so müssen
\v? i r sie von mehr Seiten, als ihrer m. o r a 1 i -
sehen, sehe n"/'")
*^) ebd., p. 126,
") ebd., p. ]2?>, p, I2n kommt dann Qersienberg; auf
Sürtüfc unü Tod za sprechen, die er theoretisch wie Bodmer mit
der Notwendigkeit 2u individuallsisren, rechtfsrUßt. Aber wüh-
rend der Zürcher Dichter die Qlaubwürdigkeit durch ,,das An-
sehen eines Qeschichtsschreibers" (i. e. Bibel) nachweisen
„... 71 '-
Auch Ranilcr mulitt sich im dieser Ansicht bcqucnieru
Die Tatsache svar ihm klar, aber die Qründe, warum
Siuan uns am meisten anzieht, suchte ct mit Äcwundenin
Sätzen und überliefertem Material i:u!2udcckc:^
Satan in Miltons verlornem Paradiese triumphirt über
den orst;;n Menschen," sa,':ct er in der dritten Auflajre scincf
Übersetzung von Batteux' Einleitung in d i c S c h ö -
n c n W i s s e n s c h a f t e n.") ..Denn wenn hier ein Held
seyn soll» so ist es gcv/i3 Satan. Wäre er er; nicht* son-
dern Adam: so war«; die Auilösuns!; U'asjisch und kcincswc:.rs
episch; and wäre sie tragisch, so wären alle übernatür*
liehe Maschinen, die in diesem Gedichte gebraucht wer-
den, unnütze- Triebräder; weil das Wunderbare keine
Vcrvw'andschaft mit dem Mitleiden hat und gar nicht daüu
gemacht istv es zu erregen. Der Tcuicl ist es also, den
man um m dem verlornen Paradiese zu bewundern gicbt
Der Gegenstand ist sonderbar; aber mal* muß ihn, wie di?
Phaniasii eines Malers, beurtheJier.. mehr nach der Aus-
iühriing, ?Js nach der Anlage des Stofis. Cbcrdom. wenn
er gleich keine Bewunderung 'irwccki sc crrej;i er doch
Erstaunen.''
Hatte Ramier seines Freunde? l^ssinsj Manusl<riptfc jfc-
sehen und sieh mit Hilfe des theoretischen Vorurteils vom
Wunderbaren mit der neuen Ansicht jb^efundcn?
wollte, erlebt jetzt G. das Weser; der verircintHchen AVu^zorkn
ganz (im QcKCJisatz auch zu Lcssinjüh
Auch In ücincn IJricie.i Jibei M t / k v fl r ü I Kk ei-
tft n ücf Literatur crw ihm G. Milloji, D l. D. 39/Mi,
p. 95 und 138.
■**) Einleitung in die ä c h «i Ji e n W i s u t n s c h a I -
teil, nach dem Französischen des Herrn Battcux mit ZusJiiz«n
vermehret von Karl Wilhelm Ramk-r, Zwcytcr BanJ, 3. Auf.
(Leipüic 1769), p. 39. In der 4. Aufl. (IV?«!), p. S^/AÜ. c^'vas er-
weitert.
>.. 72 -
Andcrü mochten sich mU der damals aufkommenden
Crklüruiij: Webby zu cuicm tieferen Verstehen des Milton-
schen Satans entschlicBan. 1771 erscliien in Leipzig J. J.
Eschcnburgs Übertragung von Daniel Webbs Betrach-
tung über die Verwandtschaft der Poesie
und Musik, nebst einem Ausluge aus eben
dieses Verfassers Anmerkungen über die
Schönheiten der Poesie. Klotzens Deutsche
Biblioihek 6. Bd. (1771), p. 478, zitiert daraus folgende
Stelle, -.Hierinnc liege der Qrund, warum sich die vor-
nehmsien Schönheiten in dem verlöhrnen Paradlese natür-
licherweise in den Beschreibungen von der Person des
Satans finden mustcn. Eine immerwahrende und unver-'
ilndcrlicho Herrlichkeit beschreiben, heißt, oh.nc Schatten
mahlen . , Die göttliche Vollkommenheit, reine und eng-
lische Wesen, können keine Wolken, keinen Contrast
haben; sie sind lauter Licht. Allein ganz anders verhält
slchs mit der Beschreibung der gefallenen Größe, eines ge-
schwächten und unterbrochenen Glanzes; eines höhern
Wesens, das :;'esunken und gefallen ist, aber zu Zeiten
sich aus seinem t^aile emporhebt. Dies ist ein so sehr
poetisches Subjekt; es giebt eine solche Reihe mannigfalti-
ger Bilder an die Hand, daß der Gegenstand auch noch so
schädlich scj'n mag; dennoch, wenn die Gefahr, wie im
gegenv/ärtigen Falle, entfernt ist, die Einbildungskraft da-
von gerührt wird, alle ruhigem Betrachtungen bey Seirp
geschaft. und die Sinne, über die Sphäre des Nachdenkens
hinweg, fortgerissen werden,"
Drittes Kapütct
Herder in Sturm und Drang
Als Herder von seinem Lehrer Hamann in üic cn;^
lischc Literatur eingeführt wi'rde. 'ernte er auch MiKons
V, P. kennen (Hayni I, p. 61). Seil 1767 sto'ion wir in
seinen Sciiriften auf den Namen des I^.pikcrs (ed. Suphan M,
166. i67. 172 w. mX
Es mochte vielleicht in seinem Leben einen Augen-
blick jrcben, da er Mütons Dichiunürsan vcruncillc als
er in seiner zweiten Sammlung der Fragmente über die
neuere Deutsche Liircratur (1766, 1767) xcKen
die Nachahm-jr.K orientalischer Bilder Pront ;nachte und
aufforderte, man solle nur die Art, vic der Oricni dich*
tete, studieren.
In dem Gespräche zwischen einem Rabbi
und einem Christen faßte ;t dann alles zusammen,
was sich KCKen Klopstockr. Missias einwenden iülit: Der
Rabbi möchte ihn mehr der orientalischen Mytho!o>;jt eni-
sprechend, der Christ würde lieber luf alle Kr.Äet ver-
zichten.
Im z w e i t c h k ri t i & c h c n Wäldchen ; 1769» hat
Herder diesen Standpunkt i'berwjne'.T. SAy.t i^t er nicht
mehr absolut k'CKcn di.. Anv/endun?' fremder A^ythr>loj:icn
in modcirnen Oed'chten, sondern •>»*enuet den (irundsat?: .'^n
„So w(c der oberste R'chter ailwjsscj.d sein muD, um
jflcichscm die cij:crthümliclie Mo'":;!itil' cinti-i jeden Herzens
-.., 74 ♦—
zu koiiiicu; .so sei der Richter über, Zeiten und Vollmer uucli
des Qcschmacks dieser Zeiten und Völker kundig, oder er
greift blind in den Loostopf der Jahrhunderte, um nichts
als ein mageres kritisches Regclchcn herauszulangen'\
(Vgl. Hayni I, 268/9.) Auf Grund einer liberalen Interpreta-
tion dieses Sprucies verteidigt er Milton gegen Klotz, be-
sonders da dier.cr die antike Mythologie im christlichen Qe-
dichte angreift, (cd. Suphan III, p. 216, 220, 222, 236.)
„Mlltou hat uns djis erste Paar bis zum Entzücken ge-
schildert, den Bau ihrer Glieder, und ihre vergnügte Mahl-
zsit, und ihre Liebkosungen, und die holde Umarmung der
Eva und - das Licblächeln Adams.^)
— ~ as Jupiter
On Juno smiles» when he impregns the clouds
That shed May flow'rs
„Welch ein Bild! Ists Erniedrigung für Adam, in
ihm den küssenden Jupiter zu sehen? Adam führt Eva
zur Brautlaubc, und da unsrc Seele durch den sichtbaren
Anblick derselben mit Freude und Ehrfurcht gleichsam er-
füllet worden; da das Auge nicht mehr sprechen kann:
siehe! so spricht die Phantasie, gleichsam in einen Traum
voriger Zeiten versenket:")
— — in shadier bower
More sacred and sequester'd, though but feign'd
Pan or Sylvanus never slcpt, nor Nymph
Nor Faunus haunted.
„So dichtet Milton: seine profanen Gleichnisse sind nichts
als Hülfsvorstellungen zum Dienste seiner heiligen Vor-
stellungen: er nimmt zu ihnen seine Zuflucht, wenn Worte
hinerhalb dem Kreise seiner Religion nicht Triebfedern
*) Buch IV, V. 499.
a) Buch IV, V. 705.
.... 75 --
geben, seine Idee so hoch zu spielen, als er sie haben will:
und nur dann irret seine Phantasie in diese ZaubcrRcgcndcn
der Qriechischen Diciitijnjj, wenn er schon unsrc Sinne
eriüllcic, und jetzt der Seele Zeit läßt, die Bilder ihrer
JuRcnd zu samnilcn. Konnte er dies nicht thun, als Dich>
tcr? Eben dadurch sch!ä;?i er ja an unscrn Geist, daB er
gleichsam sich selbst dichte. Üdcr v-twa nicht als ÜlciUer
der ReliKion? Was ist der Relis;ion würdiger, als solche
VerKieichunueh zu iiirer Crhühung? Die !3ibel. ja Jchova
selbst in ihr spricht also*' (IV, ?^il),
Ähnlich hatte auch Bodmer gesprochen, aber das neue
in Herder ist das intensive Miterleben des Gleichnisses.
Milton sieht ,,in Adam den küsse:iden Jjpiter". Der
Dichter braucht diese Bilder, um auszudrücken, was er
erblickt. .^Eben dadurch schlägt er ja an unscrn Geist* daß
er gleichsam sich selbst dichte."
Dieses vollständige Schauen der my-
thologischen Volksvor Stellungen ist der
Angelpunkt von Herders Kunsturteil, füf
ihn ist der Nebel bei Homer nicht bloß ein Symbol iQr
das Unsichtbarmachen wie für Lessing.
Dabei will er im Gegensatz zu Riedel Miltons Teufel
doch nicht sinnlich messen. Er will nicht „vor sie hin-
treten, um sie Stückweise zu zerlegen''. Denn sonst blei-
ben sie „nicht mehr die Geschöpfe der Phantasie, die als
grosse Rauchwolken mein Poetisches .\uge vorbcigehn. und
eben durch dies unsinnliche Phantastische Große und
Unermüßliche ins Gedicht würkci". soic-n'* ^4, Wäldchen.
Suphan IV, 174.)
Dieses Bestreben, die Dichtung jntuiiiV zu crfai>sen,
d. h. die Gestalten, die sie beleben, innerlich zu sehen, ver-
trägt sich wohl mit Herders realistischer >.uffassung der
griechischen Götter. Es zeigt seine Einsicht In den Unter-
schied zwischen den Homerischen und Miltonschcn Wesen.
• 76 ,^
Aber dcni Entdecker der Volkspoesic und der Volks-
mytliolois'ie m besonderen niulitcn die Kriecliisclien Oöttcr
syinputliiseher sein. Spilrlicli iluUert er slcli über die Ge-
stalten hei Milton. Kr schließt sich der Auffassung Gersten-
bergs mit IJegeistening an (V, p, 232). Aber wenn wir
seine wenigen Auslassungen über Miltons Teufel 'zusam-
menhalten, so zeigen sie uns, wie er ihr Wesen weniger
erfaßt hat als Qerstenbcrg. „Die Teufel hi Milton spotten
und lachen: sie beweisen zwar dadurch nichts anders, als
daß sie Teufel, dumme Bösewichter sind, und lachen so
charakteristisch als sie nicht reden könnten . . /', sagt er
in seiner Polemik gc;feii Klotz (III, 222).
Theorcäscii hat Herder recht, wenn er ihr Gebaren als
„charaktciistisch' erklären will; aber ihre Charaktere hat
er nicht erkanni. 1778 führt er .Miltons Satan neben Wallen-
stein und Cromwcll als „ungeheuer und wüüo Tiere'' an;
echt große Seeler. hätten auch Anlagen „die tugendhaftesten
zu werden". (Vom Erkennen der menschlichen
Seele. Bemerkungen und Träume, VIll, 219.)
Heracrs moralische und religiöse Voreingenommenheit
verhinderte ihn wie Bodmer am. Erkennen der wahren epi-
schen Kraft im V, P. Er ist Lessing nur durch sein Ver-
ständnis für die Volksmythologie voraus. Seine Abneigung
gegen Miltons Satan teilte er auch Goethe mit.
Ruft er über nichc aus; »,Dic drei größten epischen
Dichter in aller Welt. Homer. Ossian und M i 1 1 o n"
(VIH, 188, 318)? Gewiß, aber man fragt sich: Ossian
episch? Sind für Herder Homer und Milton nur insoweit
episch als Ossian? Was bedeutete Herder in solchen Aus-
sprüclien episch?
Wohl nichts anderes als mythologisch. Herders An-
betung Homers entsprang nicht einer Einsicht in die episclK;
Technik des griechischen Dichters, sondern dem Verständ-
nis, das der deutsche Entdecker der Volkspoesie der au}>
>.. 77 -
der Naturbclcbun« hcrvorseKangenen griechischen Mytho-
logie om^'cßcnbrachtc.
Aus dem A. T. besonders hatte- er iremdarlJKe Büdcr
schon zur Zeit seiner juKi-ndliclicn Naturlraumcrcicn In
sicli aufgenommen (Muym, p. 9). Was dcu Jünslinff be-
geistert hatte, suchte der Mann zu vcrtiefcn.
Es ist nicht eine patriarchalisch».: Sehnsucht, die ihm
den Orient lieb macht, sondern das Vergnügen an der Bc-
lebuni,' einer ihm unbekannten Welt. \us der Sprache, die
uns diese hinterlassen, wehen ihm Bilder einer exotische:;
Natur ontxeKcn. Wie alle alten Sprachen isi ihm das He-
brülsohc eine Natursprachc, d. h. noch voller Anschau
ungcn.
Milton hatte sich in die orieniallschc Wck zj ver-
setzen gcwußtv er hattCv selbst sprachschöpferisch, an
ihre Vorstellungen angeknüpft Bei :hm cn'strmden die?
übernommenen Anschauungen 2U neuem Leben. Das zog
Horder an. Wesen seinc7 sprrxhüchen Fähij^koiten mußte
ihm Milton als den Naturdichier::i Homer jnd Cssian ver-
gleichbar erscheinen.
Zwar gab es Perioden m Klcrdcrs Leben, ivi denen de«
Theologische in seinen Anschau.msen die Oberhand ge-
wann, in denen er, den Uisprun^j: dQr Sprache Qoti zu^
schreibend, Jede christliche Poesie von sich wlti So
konnte er in den Briefen, das Studium der
Theoloffie betreffend (2. Theil 1780. 17S5^ im 19. Brief
(Suphan X. 217/8) fragen; „Wollte ein Christ so köhn
scyn. die Phantasien seines Kopfs den Thaicfwcisen Got-
tes einzumischen, oder zwischen zu schieben, das ist,
wenn er es auch wider Wissen und Willen th.itc, sie nach
seiner Gedankcnweisc zu vertcestalien?"
Aber auch in solchen Lebenspcrioden kann er sich
dem Kindrucke, den gewisse Parlier aus dem V. P. auf
ihn machen, nicht entziehen. Einige Stellen sind
— 78 —
es ci^'o. ntlich nur» in denen er den Hauch
Gottes zu verspüren glaubt, aber sie begleiten
ihn sein .cjanzcs Leben hindurch. Bei ihnen erbebt sein
Herz.
Hüfcn wir, wie er uns in den Unterhaltungen
und Briefen über die ältesten Url<unden
(1771/2) ein Qeniülde des werdenden Tages der Schöpf-
ung gibt (Suphan VI. 133):
„Füiilen Sic i;egenwärtii; ics war, wie gesagt» die
erste Frühe des Tages) den kühlen, durchwehenden Mor-
genschauer: haben Sie ihn bei kälteren, dunkelern Nüehten
durchdringender gefühlt: haben Sie insonderheit je auf
dem Meere etwu nach einer gefährlichen, dunkeln, Qraucn-
vollon Nacht (wohin Sic eigentlich diese Scene versetzt)
auf den ersten Stral der Morgcnröthc gehofft, und alsdcnn
den webenden Qcist gefühlt, clor vor dem erwachenden
Tage sich vom Himmel, wie ein Hauch üoties sich von
der Bahn der Winde auf die Fluten senkt, wandelt, und
wie ihn der Ocean zu fühlen scheint, webet er empor —
ich dichte Ihnen nichts aus dem Kopie: Oßian und Milton
und Klopstock und Homer^ und die Morgenländischen
Dichter noch mehr, haben diesen Qeist der Nacht, diesen
Wind und Hauch Gottes lebendig gnug beschrieben . . /'
Es kommen ihm sogar während des Niederschreibens
Miltons Worte selber in den Sinn, wie in den Aeltesten
Urkunden des Menschengeschlechts (1774).
v/c er von dQt Erschaffung des Lichts erzählt (VI, 222/3);
„Welch Wunder Gottes, ein L i c h t s t r a IT' Wir mögen
„das Licht messen und spalten, in ihm Farben und Zau-
berkünste finden, damit brennen und zerstören, in Stern
und Sonne steigen — grosse Entdeckungen des Mensch-
lichen Forschungsgclstcs und wo Irgend Etwas ein Qött-
lichci, Krcditiv liclner RechtmäÜigkeii luid Würde -- Ge-
fühl ist Etwas anders! Empfindung Gottes in diesem
^ 79 -~
seinem Ersten ungeborn en Kinde, dem rein-
sten Ausfluß seines Wesens, dem ent-
zückenden Sirom, der sich durch alle
SchiJpfunK. durch Herzen nnd Seelen uncr»
forsch lieh ergculit. Organ der Qöitlieit im
Weltall!
„Hai! holy üRhi! ofsprir.g of Heav'n firsi-born!
or oft thc cternal cor*tcrnal !)c;^m!
niay \ exprcss thec unblani'd? shicc Qo(\ is sight
and never but in unapproaclied lijs'hr
dwclt jroni cternity — dwcit ihcn m thce!'* ")
Und wie das Lichi hat Milien auch die Nachi gekannt,
„i'^ne. alte, cwi^c Nacht, die der unKehcuermalcnde M i 1 ■
ton, dieser Anjjelo oder Caravaggio unier den
Dichtern allein beschreiben konnte, und die Mcr^enlandcr
so oft malen" (VI. 226').
Was Herder in Milton fiüdcl, ist „Nachhaü Ci6ttl;:hcr
Stimme in Natur und Schrit" (VII. 300). Mir seinem
ästhetischen Einleben in den Mythen schaffcnderi Geist
der Ebiäer verbindet sich immer wieder sein orthodoxer
Glaube, „Die ersten w ü r k s a m e n Geüxhtc in der
Volkssprache Vv'aren also auch, da sich die Dichtkunst
wieder empor hob, aus dem Schooi und Bus in der
Religio 11 Kinder . . . Von diesem Baume brach Milton
seinen Zweig, da er das v erlahme und uicdcr'
gefundene Paradies schrieb" (U c b e r die W ü r-
k u n £ der Dichtkunst auf die S i ♦ t^c n der V <> i .
ker in alten und neuen ZqU'^u. 1778 Vill. 405)
Im Werke Vom Geist der Ebräisohcn
Poesie (I782> 1787) brauchte Herder, da er nur vom
Geiste der Dichtung sprechen wollte, auf deren gött-
lichen Ursprung keine RücksiiMi» zu haben, sondern konnte
*) Anfang des dritten Uuctic:iv.
— 80 -
i-iicli ticiiic-n iisihctisclieji EmpfinduiiKcii saiiz iiiiiKcbcn.
Auch da erinnert er sich wieder an das „hail ho!y light/'
das er vollständiji übersetzt.*)
„Heil, heilig Licht, dir! Himmels erstes Kind»
oder des Kwigcn mitewiger Strahl!
(Dürft' ich so nennen dich:) denn Gott ist Licht
und unzuj^angbar wohnt' er ewiglich
im Lichte; v/ohnct ewig da in dir,
du Ausfluß-Qlanz vom unerschaffnen ülanze.
u. £. w. (Buch III, Vrs. 1—55, XI, 278/9.)
p 277 iQitct Gutyphron den Qcsan?: ein: Da Sie
doch aber Hymnen wollten; hier ist einer, ganz in mor-
geiiländischen Bildern. Meines WiUens giebt!:. nur Einen
Ton des Lobgesanges in allen jetzt lebenden Europäischen
Sprachen; and dör ist der Ton Hiobs, der Propheten und
Psalmen. Mihon hat -ihn insonderheit in sein unsterblich
Qcdicht eingcwcbct; mit schwächern Tritten betrat Thom-
son seine Spur und bei uns hat ihn Kleist sehr philoso-
phisch verschönert. Diesen Ton, diese Bilder sind wir
der Ebraischen Einfalt schuldig." In einer Anmerkung
lügt Herder noch hinzu: „Es sollte hier Miltons Hymnus
auf alle Qeschöpfc der Natur oder Adams Morgengesang
(Paradisc lost B. Vi.) stehn; er mußte aber wegbleiben,,
weil er zu lang ist und im Ganzen doch nur die Bilder
des 104. und 148. Psalms wiederholet."")
Weil im Geiste der hebräischen Pocbie i^eschrieben»
erschien Herder das V. P. als ein großes Dichtwerk. Des-
wegen gefallt ihm auch die Paradiesszene (XI, 327/8).
Aber bei ihm ist das ästhetische Verständnis höher
entwickelt als bei Bodmer. Allerdings: Wie der Zürcher
Kritiker sieht er nur das A. T. im V. P., aber
er ist sich dessen bewußt, und wenn er es ein großes
■*) Schon ganz früh hatte sich Herder dafür begeistert,,
vgl. IV, 254.
'') Vgl. Suphans AnmerkuriK zu dieser Stelle.
- 81 -
episclics üediclu nennt, >o uit -.t das. wcjl er »ntor
episch etwas anderes versteht als wir
Qegen Schwächen im Werke war er schon früh
nicht blind. In der A II ß c ni c ? n c r. Deutschen
Bibliothek {!767. 1770) machte ci auf die dogmati-
schen Stellen aufmerksam: »Homur hatte keine solche;
V i r g i 1 hr.be sie weniger: uno bei S\ i 1 1 o n » bei Dante,
bei A r i 0 s t müssen wir sie — übersehen Zur Epopcc
selbst: schüren sie nicht: si-c schv.ächcn den beständis:
fortwailendun Kpisclicn Ton . /' (IV, l%5,}
Und Herder sah über sie hhiwegv wie auch über das
ganze epische Gerüste. ..Wo Ml! ton TeufcIsbrOcken
bauet, rührt er nicht" (VIU. 422), sagic er v;nd hielt sich
an die wenigen Stellen, die ihm zusagten.
1778 sclirieb er in U c b e r die W ü r k ü n 2 der Dicht-
kunst a n f die S i 1 1 cn der \^ ö i k e r in alten und
neuen Zeiten (Vlll, 4!8/: .Mit Scheu setze ich
Shakespear und A\ i 1 1 o n neben einander. Der zweite
an Poetischer Kraft jenem sc unierlc>ren, ersetzte schon
durch Dichtunj;. durch leere ofi ungeheure fikticn und
durch klaßische Rundigkeit und Feinheit (welches beides
er aus Italien holte), was ihm an Kraft, durch erste Natur
und Wahrheit zu rühren und za 'Aürcken, abging/' Denn
das w e n i g ..natürliche'* in ;s\ i ! t o n "Aar hebrä-
isch, das andere „D i c h t u n g", weshalb Merder in
den Fragmenten über die beste Leitung
eines jungen Genies zu den Schütrcn der
Dichtkunst (IX, 543) sagen !:onnt.'r „Es kennen nie
größere Kontraste in der Well entsteh jn, als O ß i a n und
M i 1 1 0 n , in dem was Dichtung ist; und in mehr als Sinem
Gesichtspunkte werden Zeiten kommen, die da sagen: Wir
schlagen Homer, Virgil und M j 1 1 o n zu. und richten
aus 0 ß i a n." Dieser ist für Herder wie die Bibe! „ur-
sprünglich".
Pikio, Mllton 6
Viertes Kapitel
Sturm und Drang
I.
Als 1773 die letzten Gesänge von Klopstocks Messias
erschienen, da „schlug die Qliith der jugendlichen Begei-
sterung auch an ihnen in neuen Flammen empor, und wäh-
rend das übrige Deutschland diesen Schluß des Messias
ziemlicii lau und mit einer Art von Krmattung hinnahm,
steiften die Qüttinger sich darauf, ihrerseits in der Auf-
nahme auch dieser letzten Gesänge nicht zurückzubleiben
hinter der dankbaren Vergültcrung, mit der einst, ein Men-
schcnalter zuvor, eine andere Qeneration die ersten Qe*
sänge empfangen hatte." *)
Milton erging es wieder wie zu Bodmcrs Zeiten.
H. Christian Boie,*) Voli und seine Freunde*) hatten ihn
in ihrer Jugend begeistert gelesen, aber er mußte bald wie-
der dem Deutschen weichen. „Was ist Milton, Ossian, was
Virgil und Homer" gegen den Messiassänger? fragt Voü im
März 1773 einen Freund.*) Und in jenen Jahren urteilten
Joh. M. Miller, L. Hrch. Chr. Mölty, Joh. F. Hahn, die bei-
^)R. E. Prutz, Der Oüttinger Dichterbund,
Zur Qescliichte der deutschen Literatur, Leipzig 1841, p. 246.
»)Karl Weinhold,- H. Christian Boie, Halle
1868. p. 8.
5) W i 1 h e 1 m Herbst, Joh. Heinrich V o ß , 1. Bd.
Leipzig 1872, p. 52.
*) Herbst. 1. Bd., p. 103.
—. 83 —
den Stolbcrg nicht anders/) 1780 92 gab C. F. Cramer
seiner Vergötterung Klopstocks Ausdruck.*) C. V. l). Schu-
bart sagte: „Er (Kiopstock) kommt nicht nur den größten
Genies, die jemals gelebt haben, einem Homer, Shake-
speare, Dante und Milton vollkommen gleich, sondern über-
trifft sie an Empfindung und Erhabenheit."') In seinen
Gedichten erinner:: Schubart nur einmal an Milton. in sei-
nem „Ein Blick ins AI 1", wo er auf die Schöpfungs-
geschichte zu sprechen kommt.') Das Zeitalter Klopstocks
war für ihn die goldene Ära der deutschen Literatur. An-
fangs der siebziger Jahre klagt er: „Wie herabgesunken
unsre Dichter von der Würde der biblischen Seher, von
der Sonnenhöhe Homers, Ossians* Shakcspcar.s. Miltons,
Youngs, Bodmers, Klopstocks!" *) Darin schlössen sich ihm
der Ossianübcrsetzer Michael Denis an. Dusch, der 1770
*) Muncker, Kiopstock, p. 439.
•) C. 1*. Cramer, Kiopstock. Kr und über ihn.
') C. D. V. S c h u b a r t des Patrioten k c s a in -
ni c 1 1 e Sctiriftcn und Schicksale, Stulti^art iK39,4U,
3d. 6, p. 36/37.
*) VkI. Siimtliche Qcdichtc. !. Bd., SiuJtKart l'hS,
). 436—453.
") 0 c s a ni 11) e I ! e Schriften und Schicksale,
I. Bd., p. 286. — Bd. 2., p. 147 erzählt sein Sohn von ihm: „Nächst
dem Messias rccitirte er am liebsten Steiler: aus Lutiicr»;
Bibel: aus dem Dante und dem :!öttlichcn Mitton*'. Bd. b,
p. 39 fl druckt er Bodmers ersten neuen kriiischen Brief ab. in
svelchcm der Eindruck geschildert ist. den das V. I>. auf Klop-
stock machte, vgl. oben p. 35 f. Ebd., p. 133 meint er, Miliou
^abe durch (jelehr.<;amkcit Rcwiß seinem göulichen Oedicht v:e-
ichadct. Bd. 7, p. 224, schreibt er an Wicland unterm
20. Juni 1764 im Tone der früheren Schwärmer: «Or esset,
QIcim, Lessing, Weiß, Qerstcnbcrir — und
Milton, Kiopstock, Younj: und Sic! — welch
ein Contrast! Jene blieben bei den Quellen stehen und »»chlum-
merten bei ihrem Rieseln ein; — und diese hatten Oceane vor
sich, aus welchen Sie allein die erhabensten und der Unstcrb«-
lichkeit würdigsten Gedanken schöpfen konnten". G*
^ 84 -^
die Idee einer christlichen Mythologie wieder aufnahm,")
und Jolh Georg Schlosser, der in seinem Versuch über
das Erhabene Klopstock weit über Milton stellt,
weil er ein Dichter des Herzens sei.") Was waren diesen
Homer, Shakespeare, Milton wohl anderes als Seher?
Doch erlebte auch die von Lessing eröffnete realisti-
sche Richtung ihre Blütezeit.
In ihren jungen Jahren sind Stürmer und Dränger wie
Lenz und Müller zwar noch von den Patriarchaden und
Klopstock beeinflußt. Dann aber schlagen sie neue Wege ein.
J. M. R. Lenz zeigt in seinen Jugendgedichten die Ein-
wirkung Klopstocks.^') Youngs,") Kleists,") Thomsons, der
Bibel, Homers^") und Bodmers.'") In seinen Land-
plagen (1769) Soll ihm auch Milton vorgeschwebt haben.")
Direkter Einfluß Miltons läßt sich wohl nicht nachweisen,
auch wenn er im 5. Buche (Die Wassernoth) ausruft*.
seid mir gegrüßet.
Seid mir paradiesische Szenen gegrüßet. Auf weichem
Rasen will ich hier sitzen und alle Gerüche des Frühlings
Einziehn " ")
^") Briefe zur Bildung des Qeschmacks an
einen jungen Herrn von Stande, 4. Theil, Leipzig
und Berlin 1770, p. 127.
") In seinem der Lo ngi n ü he r se t zu n g (Leipzig 1781)
nachgedrucktem Versuch über das Erhabene, p.
301/2.
") Vgl. (). A n w a n d , Beitrüge zum Studium der
Gedichte von J. M. R. Lenz, München 1897, p. 25 f. 33.
'") ebd., p. .^.2 f.
'*) ebd., p. 7ü.
") ebd., p. 80 i.
*•») Hier vereinige sich das Vorbild Klopstocks zugleich mit
dem Thomsons und AMltons, sagt 0. F. Gruppe, Reinhold
Lenz, Leben und Werke, Berlin 1861, p. 247.
»n J. M. R. Lenz. Gesa mm che Schriften, hsg.
V. F r a n z H ! cl , München und Leipzig, 1909 f, p. 39.
-. 85 --
177vS betrat Maler Müller mit seinen Idyllen
GcBiicrs (jcbict. War die cntrianimcndc Cinicituns: zu
Adams erstem Erwachen und ersien scli-
genNächten (1778) Miiton oder Gcßner nach:::cMldet?"')
Auch bei Müller erzähle Eva ihr erstes Erwachen:
„Es war noch todtes Leben, v/ar noch lebendi;^cr Tod,
meine Seele schlummerte noch, meine Sin:ie alle noch ge-
schlossen. Bald aber erwacht' ich weiter, meine Sinne er-
öffneten sich mehr, klarer murmelten Jetzt die Bäche vor
mir, die Winde rauschten lieblicher, neben mir, über mir in
den Büschen, in den Cedern, alles so wundersam, alles —
ha! daß ichs einmahl ganz aussagen, hinlallen könnte! Die
"Winde rauschten so lieblich! Bache murmelten so klari
Die schönen lebendigen Bäume vor meinen Augeni Das
Qebrüll der Thierc in meinen Ohren! alles, so fremd und
doch mir einfü!ilend,ganz mir vcrwandi**.'*) Auch die Stelle,
"WO Gott den schlafenden Adam mit der Sehnsucht nach
Eva erfüllt.'") hat Miiton zum Vorbild.
Miiton, Young, Thomson waren für den jungen Lenz
Autoritäten."*) Als er aber mit Herder zusammenkam, er-
schloß ihm dieser die Bibel. Lenz „sieht in ihr ein Denkmal
der Volkspoesie, stellt sie auf eine Stufe mit Homer, und
"betrachtet sie mit den Augen Goethes und Herders".*') In
Herderscher Beleuchtung lernt er die Volkspoesie kennen,
Homer und Shakespeare.
Shakespeares Menschenkenntnis offenharte den Stür-
mern und Drüngern eine neue Welt. Das Seraphische zog
") Vk'l. Bernhard :?cuf(cr*, Maler Möller.
Berlin lh77, p. 118.
'") Maler Müllers Werke, l. Bd.. HcidcIlKiji IMI.
p. 15/U).
»") ebd., p. 87 i.
=*») Vel. M. N. Rosanow. Jakob M. R. Lcni. LclpiiR
1909. p. 77.
") ebd.. p. 108.
• — 86 —
sie nicht mehr an. „Aber vergiß nicht, Liebchen'*, schreibt
Lenz im März 1776 an Herder, da er die Distanz, die sie
trennt, bci^laKt: „daß wir auch Thiere bleiben, und nur
Klopstocks Engel und Miltons und Lavaters Engel auf den
Sonnenstrahlen reiten. Ich bin stolz darauf, Mensch
z u sein." "^)
Wie für Herder blieb auch für Lenz Milton ein großer
Dichter. Im Gedichte Ueber die deutsche Dicht-
kunst wird er unter den großen Geistern angerufen,")
und noch in spätem Jahren macht Lenz seinen jungen russi-
schen Freund Karamsin auch auf Milton aufmerksam.")
Aber die neuen Muster verdrängten den chemaligert
Abgott aus dem Bewußtsein der Stürmer und Drünger,.
Der Name blieb /war, doch wem bedeutete er noch ein
Erlebnis?
In der Bibel, im Volkslied fand man „ursprünglichere*''
Naturbeschreibungen» in diesem bodenständigere. Das
Naturgefühl fing an sich vom Dogma zu emanzipieren. In
Herder begegnen wir zum erstenmal dem Versuch,, die so-
genannten mythologischen Vorstellungen für sich zu ge-
nießen. Solcher Bilder gibt es auch im V. P., aber noch
'^^) Aus Herders Nachlaß, hsg. v. Heinrich
Düntzer und Ferdinand Gottfried Herder, I. Bd.
Frankfurt 1856, p. 240.
'''*) Werke, ed. Blei. p. 148:
0 Homer, o Ossian, o Shakespeare,
0 Dante, o Ariosto, o Petrarcha,
O Sophokles, o Milton, o ihr untern Geister —
0 ihr Pope, ihr Horaz, ihr Polizian, ihr Prior, ihr Wallerl
Gebt mir tausend Zungen für die tausend Namen,
Und jeder Name ist ein kühner Gedanke —
Ein Gedanke — tausend Gedanken
Unsrer heutii:en Dichter wert.
") 1787 schrieb Karamsin sein Gedicht Poesie (1792
sedruckt), wozu ihn Lenz anceregt und worin auch Milton ge-
priesen wird. V>:1. Rosanow, p. 430.
— 87 -
m c li r in der Spruche der Bibel, des Volksliedes. Ossians,
Shalsespeares.
Mit dem erwachenden realistischeren Sinn konnte sich
die Miltonsche ü ö 1 1 c r w c 1 1 nicht vertragen.
Nur eines Stürmers und Drängers Weit war von den
Engeln des V. P. crfülli: Carl Philipp .Moritz*. 1783 er-
schienen zu Berlin seine Reisen eines Deutschen
in Kngland im Jahr 1782,*') in denen auch Milton
eine große Rolle spielt.
In London, erzählt Moritz, kauft er sich für zwii
Schillinge einen Taschenmilton (p. 25). der ihn nun während
seines ganzen englischen Aufenthaltes nicht verläßt. Schon
in London liest er gern darin in der nichterccke der West-
minsterabtei (p. 60). Wenn er nach Richmond fahri, nimmt
er seinen Milton mit sich (p. 61). und auf seiner Fußwande-
rung nach Oxford ruht er gern mit ihm in einer ..schonen
grünen Hecke" aus (p. 68). Gehend und stehend liest er in
ihm (p. 87).
Womit erfüllt denn Milton seine Phantasie besonders?
Hören wir ihn. wie er seine Ankunft in Matlock beschreibt
(p. 112):
„Oben war der jähe Felsen mit grünem Ge.sträuch um-
kränzt, zuweilen kam ein Schaf oder eine Kuh von der
weidenden Hecrdc an den steilen Abhang» unc' blickte durch
das Gesträuch hinunter,
„Ich war in Miltons verlornem Paradiese, das ich nach
der Reihe durchlese, gerade bis an die Beschreibung des
Paradieses gekommen, als ich in diese Gegend kam. und
folgende Stelle, die ich nun im Grunde am Ufer des Flusses
las, that eine sonderbare Wirkung auf mich, da sie auf die
**) Deutsche Litcra turdcnkmalc No. \26 (Dritte
FoUe, No. 6), hsK. von Otto zur Linüc, Berlin 1903. Dar-
nach sind die folscndcn Zitate.
— 88 —
Natursccne, die ich hier vor mir sähe, so sehr paßte, als ob
sie der Dichter selbst davon genommen hätte:
„ delicious Paradise,
Now nearer crowns with her Enclosure green,
As "wlth a rural Mound, the Champain Head
Of a stccp Wilderncss, Whose hairy sides
With Thickct overgrown, grottcsqye and wild,
Access denicd. " ")
Und noch einmal in Northhampshire sieht er die Natur
mit Miltons Augen (p. 132):
„Da ich nun von da weiter ging, und die Berge wieder
vor mir aufstiegen, welche mir von meiner Hinreise noch
bekannt waren, las ich gerade im Milton die Schöpfungs-
scene, welche der Engel dem Adam schildert, wie sich das
Wasser senkt, und die nackten Berge ihren breiten Rücken
emporheben.
„Immediately the Mountains huge appear
Emergent, and their broad bare Backs upheave
Into the Clouds, their Tops asccnd the Sky." '^)
„Mir war es, indem ich diese Stelle las, als ob alles,
was um mich her war, erst wurde, und die Berge schienen
wirklich vor meinen Augen emporzusteigen, so lebhaft
wurde mir diese Sccne.
„Etwas ahnliches empfand ich bei meiner Herreise, da
ich gerade einem Berge gegenüber saß, dessen Spitze blos
mit Bäumen bewachsen war, und im Milton die kolossali-
sche Beschreibung von dem Streit der Engel las, wo die
abgefallenen Engel ihre Gegner mit' einem starken Bombar-
dement angreifen, diese sich aber dagegen vertheidigen, in-
dem ein jeder einen Berg gleichsam oben beim Schopf er-
greift, ihn mit der Wurzel ausreißt, und so in seinen Händen
aufgehoben trägt, um ihn auf die Feinde zu schleudern.
-') P. L. IV, 132 ff.
") P. L. VII. 285 ff.
— 89 —
,. they ran, they flew
From thcir Foundations loos'ning to and fro
They pluck't thc seated Hills will all their Load.
Rocks, Waters, Woods, and by ihc shajrjo Tops
UpliftinjT bore them in thcir Hands. ^*)
„Mir däuchte,, als sähe ich den Enjrcl stehen, wie er
den Berg, der vor mir lag, in den Lüften schüttelte."
So tief hatte ein Bodmer die Miltonschen Darstellungen
nicht erfaßt. In seiner Fähigkeit, die Katur zu beleben, ist
Moritz ein echter Stürmer und Dränjicr. aber noch r.ai
sich ihm die Natur nicht selber offenbart. Kr sieht sie
durch das Medium einer Drittperson, in diesem Falle
Miltons.
Die Schüler Herders jedoch gingen direkt auf die Na-
tur zurück. Deshalb sagte ihnen auf einmal die ganze .N\il-
tonsche Mythologie in ihrer zu großen Abstraktheit nichts
mehr. Wir hören kein Wort über sie in diesen Jahren; sie
mußten sie als Unnatur beiseite lassen.
Der realistische Ton von Goethes ewigem Juden
entsprach dem Geschmack jener Zeit. Wie ein Bänkel-
sängerlied hebt das Gedicht an, humcrvoli stellt es uns
Gottvater und seinen Sohn vor. Und doch, welcher Christus
erfüllt uns mit mehr Innigkeit, der Miltonsche, der sich
unter dem Jubel des Himmels zum Opfer für den Menschen
entschließt, oder der Goethesche, von dessei\ Niederfahrt
zur Erde nur wenige Verse erzählen:
„Er fühlt in vollem Himmelsflug
Der Irdischen Atmosphäre Zug.
Fühlt wie das reinste Glück der Welt
Schon eine Ahnung von Weh enthält.
=•) P. L. VI. 642 ff.
. _ 90 —
Er denkt an jenen Augenblick,
Da er den letzten Todesblick
Vom Sclimcrzen-Hügcl herab^^ethan,
Fieng vor sich hin zu reden an:
Sei, Erde, tausendmal gegrüßt!
Gesegnet all', ihr meine Brüder!
Zum ersten Mal mein Herz ergießt
Sich nach dreitausend Jahren wieder,
Und wonnevolle Zähre fließt
Von meinem trüben Auge nieder.
O mein Geschlecht, wie sehn' ich mich nach dir!'*
Gegen diese paar Verse können auch die „hosannas",
die die ewigen Regionen zum Preise des Sohnes erfüllen,
nicht aufkommen.
Nachdem sich einmal der Geschmack dem Menschlichen
zugewandt hatte, fanden auch die im Vergleich zu den Klop-
stockschen realistischeren Engel des V. P. selten Bewunde-
rung. Denn für Engel überhaupt war die neue Zeit
nicht mehr zu haben. Immer seltener werden die Leute,
die sich für sie erwärmen.'"') 1779 tritt der unbekannte Ver-
fasser der Betrachtungen über die englischen
Dichter für die Göttlichkeit des V. P, ein. Seine Ideen
•werden aber von der Allg. DeutschenBibliothek,
Bd. 44 (1780), p. 105 f. abgelehnt und im Teut sehen
Merkur (38. Bd. 1780, II. Vierteljahr, p. 250) „fichief"
genannt. Zeigt er doch gerade für das Realistische im Epos
kein Verständnis (p. 697, p. 71).
Die religiöse Vergötterung Miltons hatte sich überlebt.
•"'*') <^aroline Pichler, geb. von Greiner, ei zühit in
ihren Denkwürdigkeiten aus meinem Leben..,
Erster Band (1769—1798), Wien 1844, p. 81/82, wie ihr kindliches
Herz, von Miltonschen Vorstellungen ergriffen, sich den Engel
Ithuriel zum Schutzengel erkor.
— 91 -*
II.
Herder zok die Bibel, die VolksdichtunK. Shake-
speare Milton vor/') Lenz fand mir noch im mensch-
ücheri Herzen mit seinen Leidenschaften einen Gci:enstand
seines Interesses. Was konnte da Muten noch bieten?
In Lessink's poetischer Theorie halte das V. P. noch
eine sroüc Rolle gespielt, Gerstenber}: hatte mit eben-
bürtigem Verständnis das Grolic in Miltons Göttern er-
kannt, war aber nicht wie Lcssing weiter auf das Werk
cinKcjiangcn.
Lessings Urteil war es nicht wie dem Bodmerschea
vergönnt, auch in weitere Kreise zu gelangen. Denn der
Realismus entwickelte sich weiter. Von den natürlich un-
sichtbaren Göttern des großen Kritikers drängte Herder zur
Naturmythologie, und damit war es um Miitcns Kngei ge-
tan, in ihrer Doppelexistenz als konkrete und abstrakte
Wesen (und nichts haßten Herder und seine Schule mehr als
abstrakte Geschöpfe) boten sie den Stürmern und Drän-
gern nichts mehr. Nur in Übergangsptrsoncn wie Moritz
konnten sie noch als mythologische Geschöpfe leben-
dig sein. Sie wurden in diesen Jahren jedoch nicht
theoretisch abgetan, sondern das Interesse an ihnen
fiel einfach dahin. Für Herder blieb Milton der große Epi-
ker wegen seiner biblischen Sprache. So auch zum großen
Teil für Lenz.
Im Bewußtsein anderer Stürmer und Dränger lebte der
'^) J 0 h. K. L a V a t c r wollte nur den einfachen Qchalt der
Bibel. „Ihr O s s i a n e und Shakespeare, ihr M i 1 1 o n c und
Klopstockc. was habt ihr, ihr alle zusammen, was scwirkt,
das mit den WirkunKcn zu vcrRlcichcn sei, welche bereits vor
siebenzehnhundcrt Jahren die vier kunst- uud schwun^Moscn Poeten
Matthäus, Markus, Lukas und Joh.-xnncs hervor-
gebracht haben?" (Lavaicrs ausccw. Schriften, hsc
V. Jöh. K. Orelli, Zürich 1860, 3. Bd.. p. 133). Kunst- und
schwunclos wollte L. in seinen £i>cn sein.
— 92 —
eriKlischc Kpikcr nur noch in seinem menschlichsten, d. h.
höllischen Teile fort: in Satan.
In seiner Ausgabe der A e n e i s (Leipzig 1767—1775)
sagt der Altphilologe Chr. Q, Heyne bei Anlaß der Schil-
derung des Tartarus im 6. Buche: „Fatendum lamen, haec
omnia iiiferiora esse terroribus Tartari, quem Miltonus
descripsit. et Teutonum Miltonus Messiadis conditor."
(Ich zitiere nach A. Farinelli, Bullettino della Societä Dan-
tesca Italiana, Glugno 1909, f. 2, p. 101.)
Aber wer jubelte dem gefallenen Engel zu, der seine
stolze Stirn gegen den Herrn der Welt erhoben? Der Maler
Müller fühlte sicherlich seine Größe, als er seinen Lucifer
unwillig ausrufen Heß: „. . . lohnt sich der Mühe nicht
mehr, den Teufel unter diesen vermatschten Weltkindern
zu spielen, die nicht mahl mehr volle Kraft zum Sündigen
übrig haben".")
Unter den Teufeln der damaligen Faustdramen dür-
fen wir allerdings kaum geistige Nachfahren der Milton-
schen Gestalt suchen. In der Volkstradition, dem Quell der
Poesie jener Zeit, war der Böse eine absolut negative
Kraft.") Die Sage, Paracelsus, Swedenborg zeichneten
dem Goeiheschen Mephisto den Weg vcr.
Aber die Lieblingspersonen der Stürmer und Dränger,
die Herders Vorurteile nicht mehr hatten, eignete ihnen
nicht der Stolz, die Größe, der Unabhängigkeitstrieb
Satans?
") Werke. 2. Bd., Heidelberg 1811, p. 16.
*") So suchte C h. W, K i n d l e b n in seinem vielgelesenen
Buch Ueber die Non -Existenz des Teufels (Berlin
1776) die Geistißkeit des Teufels- zu erweisen. Als rein necative
Kraft, als Geist der Kabale u. ü. ist Satan dargestellt in C r a n -
Ä e n s Buch Qallerie der Teufel, bestehend in
einer auserlesenen Samlung von Qemilhlden
moralisch politischer Figuren, deren Origi-
nale zwisclien Himmel und Erden anzutreffen
— 93 ~
Dem junRcn Goethe brachten auch diese EiRenschaften
Milton nicht näher.'*) Er zog Prometheus dem ge-
fallenen Engel vor.
Im 111. Theil von Dicht unj; und Wahr-
heit. J5. Buch, sagt er später; ..Die Titanen
sind die Folie des Polytheismus, so wie man als Folie
des Monotheismus den Teufel betrachten kann; doch ist
dieser so wie der einzige Gott, dem er entgegensteht, keine
poetische Figur. Der Satan Miltons, brav genug gezeichnet,
•bleibt immer in dem Nachtheil der Subalternität, indem er
die herrliche Schöpfung eines oberen Wesens zu zerstören
sucht, Prometheus hingegen im Vorthcil, der. zum Trutz
höherer Wesen, zu schaffen und zu bilden vermag.*' ....
„Der titanisch-gigantische himmclstürmendc Snin jedoch
verlieh meiner Dichtungsart keinen Stoff. Eher ziemte sich
mir, darzustellen jenes friedliche, plastische, allenfalls dul-
dende Widerstreben, das die Obcrgcvali unerkannt, aber
sich ihr gleichsetzen möchte. Doch auch die kühneren
jenes Geschlechts, Tantalus, Ixion. Sisyphus» waren meine
sind, nebsi einigen bewährieu Reccptcn, cc-
gen die Anfechtungen der bösen Qcisicr von
Pater Qassner dem Jüngern, Krstcs Stück. Frankfurt
und Leipzifir 1776. Da erinnert Saian nur einmal an den Miltoii-
schen, wem er wie bei .N\ilton eine Rede hä!i, in der er seine
Getreuen an die vergangenen Kämpfe erinnert usw. «p, 101.)
") Wir haben kein Anzeichen daföw daß sich der junec
Goethe für Milton erwärmt hätte. Er erwähnt ihn ilüchtic in
einem Briefe an die Schwester vom 27. Sept. 1766 (Wcim. Ausß.
IV, 1. p. 71) als Dichter des hohen Stils neben Younf: usw. In
den Frankfurter Gelehrten Anseilen (1772» ruf», er
als echter Schüler Herders aus: „Geliert isi gcwiQ kein Dichter
auf der Scala, wo OQian, Klopstock. Shakespeare und .Mihon
stehen" (D. L. D. 7, p. 99). Für Ar..->pic!unKen vgl. Jubiläums-
ausg. VII, 196 und 359, vgl. auch Regisier. Klopsiocks Einfluß
hatte der Knabe Goethe hingegen bckanntliJi erfahren.
— 94 —
Heiligen. In die Gesellschaft der Götter aufgenommen,
moclitei; sie sich nicht untergeordnet genug betragen, als
übermiithige Gäste ihres wirthlichen Gönners Zorn verdient
und sich eine traurige Verbannung zugezogen haben. Ich
bemitleidete sie; . . ." (Werke, Weimarer Ausgabe, 28. Bd.,
p. 313/4.)
Goethes Prometheusfragment ist der Ausfluß des über-
mächtigen Schöpfcrgefühls, das den Schüler Herders be-
seelte. Obgleich Milton die griechische Sagenfigur vor-
.•schwebte, so verändert er sie doch nach der negativen
i^ichtunK hin. Reiner Stolz, nicht Schöpferlust ist der Grund
von Satans Abfall. Deshalb erschien er Herder als ein
„Ungeheuer''. Aus demselben Grunde sagte er Goethe nicht
zu. Ab'jr durfte ihn dieser daher eine unpoetische Figur
nennen? Konnte nicht auch der bloße unbeugsame Stolz
eine diciiterische Verkörperung erfahren? Waren Goethe
und sein Lehrer nicht ungerecht gegen die wirklich tita-
nisch-gigantische Gestalt, weil sie für sie zu wenig fried-
lich, zu wenig „plastisch" war? Entging nicht ihren
anders gearteten Naturen das wirklich Plastische in
Satan?
Miltons Satan appelliert allerdings nicht an unser Mit-
leid, sondern in erster Linie an das Heroische in uns.
Er ist eine paihetische Figur und als solche fand er in gleich-
gestimmten Herzen unter den Stürmern und Drängern
ein Echo.
Friedrich Leopold Graf zu Stolberg lebte sich in Mil-
tons Welt hinein. Schon 1771 berichtete er seiner Schwester
über die ersten Eindrücke, die er vom V. P. empfangen.")
Er zog Kiopstock noch vor; aber „mich deucht, Du liebst
Milton nicht genug. Seine Fehler will ich nicht entJichuldl-
") Vgl. Fried r> Leopold Qrai zu Stolberg . . .
von Johainia'Janssen, Freibar 2 1S77, 1. Band, p. 19, p. 189
wird Milton in einem Briefe vom 23. Juni 1786 den Größten aller
Zeiten sieichsestellt.
~ 95 —
gen. Die Kanonen der teuflischen Armee mißfallen mir so
sehr wie den Kngeln, aber was ist erhabener als der Kampf
im Himmel, wie die beiden Heere Berge entwurzeln, sie
gegen einander schleudern und unter a dismal shadc fech-
ten, bis der Messias die Teufel wie eine Heerde Ziegen vor
sich treibt." Aus dieser Stelle spricht noch der Klopstock-
jünger, wie auch aus dem Kntzückcn. in das er bei der L Lek-
türe des Morgengebetes gerät. Nur etwas zu viel Lehr-
haftes findet er in diesem. Schon zeigt sich auch die Freude
arn Realistischen.
Später aber, nachdem der Funken des Genies auch in
seinem Geiste zündend gewirkt, ist es Satan, für den er
sich begeistert. Wie er Rubens' Gemälde sieht, bemerkt er:
„Hätte Rubens Miltons verlornes Paradies erlebt, so würde
der Maler auf Flügeln des Dichters sich höher erhoben, mit
mehr Würde den Fall der herabgestürzten Engel dargestellt,
manchen Einfall zu muthwilliger Laune dem Ernste des
Gegenstandes aufgeopfert haben. Der mit Kraft der Hlmm-
iischen sich den Satanen nachschwingende, mit flrsmmcn-
dem Schwerte siegreich sie verfolgende Engel ist des MiU
tonischen Michaels nicht unwürdig, Milton würde vielleicht
an einigen der Satanc nichts getadelt, würde gewiß der dem
Maler cigenthümlichen hohen Laune Gerechtigkeit haben
widerfahren lassen. !n vielen, wo ich nicl'.t irre in den
meisten. Vorstellungen dieses Gemäldes sinkt der Maler
zum Unedlen, zum fürchterlich Possierlichen hinab/**"*)
Man wäre versucht zu sagen: Das von KlOi.stock in Stol-
berg geweckte edle Pathos wirkt noch lebendig nach und
hat sich mit dem erwachten Sinn für das Charakteristische
"^) Vgl Gesammelte Werkt Jcr Brüücr sihri.
siian und Friedrich Leopold Grafen zu Siol»
b e r g , Sechster Band. Hamburc 1S27. p. 10 f. Im 3. HJ. p. 6
und im 6. p. 33 f. Je ein Zitat aus Milton. Bd. la p. 4m .Milton
erwähnt.
— 96 —
zu einer für die Wertung des V. P. glücklichen Mischung
verbunden.
Auch Isaak Iselin gibt Lavatcr den Ratschlag, Satan
groß erscheinen zu lassen: „Es ist nichts anderes möglich»
als Sie müssen diesen Letzteren (== Jehova) für einen
untergeordneten Schöpfer und Gott, nicht für den allmäch-
tigen Schöpfer halten — und auch so wäre Satan, wie die
Franzosen bei Milton gesagt haben, mehr ihr Held, wäre
mehr sicghaf c und groß als Jehova." ")
Max Klinger, dem nach Unabhängigkeit strebenden
Kraftgenie, mochte in jenen Jahren der Höllenfürst ebenfalls
als Ideal vorschweben, wenn auch unter seinen Jugend-
werken keines die Einwirkung Miltons zeigt. Wir wissen,,
daß er dem englischen Dichter während seines ganzen
Lebens seine Zuneigung bewahrte."^) In seinem 1790 er-
schienenen Faust, der seinem Inhalte nach nicht mehr in die
Sturm- und Dranspe/iode gehört^ tönt in der ersten Höllen-
Szene Miltons Wirkung nach und zeigt uns, was dem älte-
ren Klinger aus jüngeren Jahren vom V. P. in Erinnerung
geblieben war."")
Wie Miltons Satan steht Klingers Leviathan vor uns:
^^) Vgl. A. L a n g m e s s e r ,. Jacob S a r a s i n . . .
Zürcher Diss. 1«99, p. 122.
'"*) In seinen in Rußland geschriebenen Betrachtun gen
(1803) gedenkt er noch iMiltons mit Liebe. Vgl. Max Rieger,
Klinger in seiner Reife, Darmstadt 1896, p. 474.
"") Georg Joseph Pfeiffer hat in seiner Würzburger
Dissertation (1887), Klingers Faust, Eine litterar-
historische Untersuchung, alle Züge zusammenge-
tragen, die von Milton stammen können. Schoiv^ P r o s c h ,
Klingers philosophische Romane, Wien 1882, p. 55,
hatte auf Miltons Einfluß hingewiesen. Wie sich aus Pfeif-
fers exakter Untersuchung ergibt, gehen nur kleine Züge am
Anfang des Romans auf Milton zurück (p. 41 ff).
Noch im Qiafar und im Zu frühen Erwachen de.s
Genius der Menschheil kommt Klinger auf solche Höllen-
S7.cnen zurück. Vgl. R i e g e r , 1, c, p. 299 und 345.
_- 97 —
„Der Ttufel . . . stand in erhabner, statilicher, kühner
und kraitvoller Gestalt vor dem Kreise. Fc'jrsj;e. gcbietri-
sche Augen leuchteten unter zwey schwarzen Braunen her-
vor, zwischen welchen Bitterkeit, Haß, Groll. Schmerz und
Hohn, dicke Falten zusammcngerolli halten ... Er hatte
die Miene der Kcfallnen Engel, deren Angesichte einst %'on
der Gottheit beleuchtet wurden, und die nun ein düstrer
Schleyer deckt." *")
„Fürsten, Mächtige, unsterbliche Geister,'" spricht Klin-
gers Satan seine Scharen wie der Milionsche an: „seyd
mir alle willkommen! Wollust durchglüht mich, wenn ich
über euch zalillose Helden hinblicke! Koch sind wir. nas
wir damals waren, als wir zum erstenmal in diesem Piuhl
aufwachten, zum erstenmal uns sammelten! Nur hier
herrscht E i n Gefühl, nur in der Hölle herrscht Einigkeit.***')
Den dankbarsten Verehrer unter diesen heißspornigen
Jünglingen fand aber der mächtige Beherrscher der Hölle
im jungen Schiller. Was dem schwärmerischen N'oß ") vor-
schwebte, als er am 15. Nov. 1772 an Brückner über den
*°) Vgl. F. M. Klingers Werke. Lcspzii: 1832. Bd. Hl
(Fausts Leben. T baten und Höllenfahrt), p. 48. Vj).
dazu l\ L. I. 589 fi'.:
He, above the rest
In sliapc and gcsture proudly eminent,
Stood like a tow"r; bis iorn*. had yct not !ost
All her original brightness, nor appcared
Less than Archaneel rnin'd, and the cxccss
Of glory obscur'd:
Darkened so, yet shone
Above them all the Archa:iKcl: but bis face
Dccp scars of ihunder had intrcrch'd. and care
Sat on his fadcd chcek, but under brows
Of dauntless couragc, and considcraic pridc
Waiting rcvcnge: crucl his eye, but cast
Slgns of remorse and passivon . . .
") Werke, 1. c, p. 21.
") Briefe von J. H. Voß, 1. Bd.. Halbcrstadt 1829. p. !(».
Piczo.MUton 7
— 98 —
Teufel schrieb: „Wir wollen ihn uns wie Milton und Klop-
stock Kcdcnken. Kr wird edler und schrecklicher", das
wurde in der Phantasie des Karlsschülers zur Wirklichkeit.
Der stolze, haßerfüllte Satan, der manchmal von
einem leisen Gefühl der Reue beschlichen wird und dessen
edler Gestalt der göttliche Ursprunj^ noch anzusehen ist,
mußte zum Genie gestempelt werden, dessen Verhängnis
nur ist, keinen Herrn über sich dulden zu wollen.
Die Sprache der Räuber zeigt Spuren von Klopstocks
edlem Schwung; das Stück atmet aber Revolutionsluft.
In einer nachher getilgten Szene sagt Karl Moor zu
Spiegclberg: , Das Gesetz hat noch keinsn Mann ge-
bildet, aber die Freiheit springt über die Pallisaden des Her-
kommens, und brütet Kolosse und Extremitäten aus — Ich
weis nicht Moriz ob du den Milton gelesen hast — Jener
der es nicht dulden konnte, daß einer über ihm war, und
sich anmaßte den Allmächtigen vor seine Klinge *zu fordern,
war er nicht ein ausserordentliches Genie? — Er hatte den
Unüberwundenen angegriffen, und ob er schon erlag, so
hatte er doch seine ganze Kraft erschöpft, und ward doch
nicht gedemüthiget, und macht immer neue Versuche bis
auf diesen Tag, und alle Streiche fallen auf seinen eigenen
Kopf zurück, und wird doch nicht gedemüthigt. Dieser
ists über den unsere Waschweiber das Kreutz machen."
Kurz darauf sagt Spiegclberg: „Geh mir mit dem Schla-
raffen Leben — dank du Gott, daß der alte Adam den Apfel
angebissen hat, sonst wären wir mit sammt unsern Talen-
ten und Geisteskraft auf den Polstern des Müssiggangs ver-
modert." •"■)
") Es ist gewagt, auf Qrund dieser Stellen (die zuerst von
A. C 0 h n in S c h n o r r s Archiv IX, 277 ff. u. dann bei R.
Weltrich, Friedrich Schiller, I. Bd. Stuttgart 1899,
p. 357/8 abgedruckt wurden), der Äußerung Schillers in der
Vorrede: „Miltons Satan folgen wir mit schauderndem Erstaunen
— 99 —
Als Schiller, unter der strengen Disziplin leidend, die
Räuber mit sich herumtrug, als der Unabhän:4is:kcitstricb
in ihm erwachte, da mußte der große Apostat in seinem
Merzen einen Widerhall finden. Aber nicht für lange. Als
der weltunkundige Dichter ins Leben hinaustrat und die
Niedrigkeit des Alltags kennen lernte, da empörte sich
sein edler Sinn nicht gegen Gott und seine Ordnung, son-
dern gegen die Menschen und ihre Gesetze. Die Räuber
wurden zum sozialen Drama. Deshalb wurde die „Mil-
tonszene** wohl auch gestrichen und nicht nur, wie Welt-
lich p. 357 glaubt, um den „Christlichgesinnten" kein Ärger-
nis zu geben.
Karl Moor und Satan sind „große Verbrecher'*, wie
sie der junge Schiller liebte. „Was Schiller wie Milton an
durch das unweKsamc Chaos'* (Werke. Sükularauscabc ßd. 16.
p. 17) und einJKcr Anklänjic im Drama cir.cn zu großen KirfluB
Miltons auf die R Ji u b e r anzunehmen, Heinrich KfaCicr
hat dies in seinem Byronschcn Helden typus (Munckcr-
sehe ForschunKcn VI, München 1898) im Kapitel Das F*ara-
dise lost und Schillers Räuber jician. Man darf nicht
vergessen: Kari Moor wird durch die Unccrechtlskcit der Welt
zu dem gemacht, was er ist; er empört sich k'Ck'cn die Gcsctzcs-
welt, weil sie schlecht ist, während Mütons Satan aus reinem
Stolz von Gott abfiel. Mit diesem fundamentalen Unterschied
fällt aber die HauptKrundlaye einer Bceinilussunj: dahin. Der
Satz Kracsers: „und wenn Karl Moor den Beruf für einen Brutus
oder Catilina in sich fühhe, so weist das wieder auf den Luciftr,
der Qott werden wollte und doch als Satan endicen mußte"
(p. 16) ist deshalb verfehlt, weil Brutus sich nicht an die Stelle
Cäsars setzen wollte und Gott bei Milton die ewige Liebe ist
Für den Leser des Dramas bleibt Karl Moor der Kdclsic von
allen. Das Wort Teufel, das im Stücke haufii: und in vielen \'er-
bindungen vorkommt, geht nich; nur auf Milton oder Klopsto;k
zurück. Auch bei Klinger kommt es oft vor. wie Richatd
Philipp, Beiträge zur Kenntnis von Klingers
Sprache und Stil in seinen Jugenddramen (Frcib.
i. B. Diss. 1909), p. 102, nachgewiesen hat Und daß Schiller v)n
Klintcer gelernt, ist bekannt
7»
— 100 —
diesen Gestalten bannt, ist das Verlorengehen des Edel-
sten,'' sagt Eugen Kühnemann/*) Bei beiden schlagen wir
uns, wie Schiller sich in der Selbstrezcnsion der Räuber
ausdrückt, so gern aui die Partie der Verlierer, „ein Kunst-
griff, wodurch Milton, der Panegyrikus der Hölle, auch den
zartfühlendsten Leser einige Augenblicke zum gefallenen
Engel macht" (1782, Werke, Säkularausg. 16, p. 24).
Aber nur allgemeine Züge berechtigen uns, sie neben-
einander zu stellen.
Der innere Kampf, welcher die Räuber durchtobt, geht
nicht auf das V. P. zurück. Die Erlösung, welche Moor
und seine wilden Genossen in der Ireicn Natur suchen, hat
mit der Freiheit, die Satan erstrebt, nichts zu tun/^) Es ist
wahr, Cromwell hat dem englischen Dichter vorgeschwebt,
Milton, der Republikaner, hat das Epos geschrieben. Aber
der soziale Charakter, den Rousseau seinem Zeitalter gab,
verlieh auch den Räubern eine Färbung, die das puritanische
Gedicht nicht kannte. Deshalb konnte Miltons Satan, trotz
der ästhetischen Anerkennung, keine Idealfigur Schillers
werden, wie Kracger und Kühnemann annehmen möchten.
**) Schiller von Eugen Kühnemann, Vierte Auf-
lage, München 1911, p. 79, p. 76 ff. spricht Kühnemann vom
Einfluß des V. P. auf den jungen Schiller. Meiner Ansicht nach
hat sich K. Kraesjcrs Anschauung zu sehr angeschlossen. Wenn er
p. 82 sagt: „Zu Schiller ist die Miltonische Poesie auf dem Wege
über Kiopstock gekommen," so ist das wohl nicht ganz richtig,
da eben Kippstocks Teufel dem jungen Schiller eine neue Auf-
fassung Satans nicht vermitteln konnten, sondern diese erst durch
neue Vorbilder und Strömungen ermöglicht wurde.
*•'■) Darf man aus dem Zusammenhang sich entwickelnde ähn-
liche Situationen zu einander in ursächliche Beziehung bringen?
Wenn der Räuber Moor, durch den Anblick der Sonne an seine
Jugendzeit erinnert, sich den Hut übers Gesicht drückt und sagt:
„Es war eine Zeit — laßt mich allein, Kameraden!", darf man
da an den Anflug von Reue denken, welcher Satan erfaßt, wenn
er die eben erschaffene Erde mit ihrer Glückseligkeit sieht?
— lOi —
Das auslöschende Miltonfeuer gümmt am Ende der
Sturm- und Dranjjzeit nur noch für einen kurzen Auaen-
blick auf. Seit Bodmcrs Auftreten halte Milton erst siär-
ker, dann schwächer in Deutschland gdcbt. Er hatte die
Dichter in religiöse Begeisterung verseut, sie in ideale Ge-
filde geführt, halte durch seine Plastik gewirkt und
schließlich war er dem titanischen Dran^ einer neuen
Generation entgegengekommen. Der Übergang hatte
sich allmählich vollzogen. Das eine schloO das andere
nicht aus. Wie Friedrich v. Stolbcrg. so war Schiller zu-
erst für Klopstocks erhabene Sprache entflammt. Als sich
sein Herz dem gefallenen Engel öffnete, wirkten der
Schwung und die Anschauungen des Messiasdichters in
seiner Seele noch nach. Aber es war das Schicksal des
V. P. in Deutschland, daß, sobald sich das Verständnis für
seine gewaltigste Person Balm gebrochen ha»tc. die Be-
dingungen, die für dieses größere Verständni.'; notwendig
waren, zur Folge hatten, daß das Interesse an Satan und
noch mehr am Seraphischen in den Hintergrund trat. Die
neue Zeit konnte Satan wohl begreifen, aber sie fand kein
Genüge mehr an ihm. In neuen Vorbildern, in den empor-
schießenden einheimischen Werken war das Emprlnden der
Stürmer und Dränger noch besser ausgedrückt als im
V. P. Im Q ö t z , in den Räubern, in Klingers Dramen
konnten sich die Kraftgenies mehr ausleben, als der gegen
die Allmacht blind ankämpfende Satan, Der Milionsche
Teufe), ist eine bedeutende Leistung für das puritanische
Zeitalter. Sturm und Drang hatte noch Bedeutenderes auf-
zuweisen.
Um Menschen zu schaffen, schloß sich Schiller wie
Goethe an Shakespeare an. Lenz mochte wohi dem .\us-
ruf Mirciers: „O combats d'Ossian! 6 chants tcnebrcux
de Milton! 6 enfer du Dante! «*• nuits d'Young****) zusiim-
") Mon bonnet de nuit, Ncuchätel 1784. II. p. 242.
— 102 —
mcn. Der größere Brite blieb sein Abgott. Auch Klinger
nahm sich in seinei Sturm- und Dranijpcriode Shakespeare
zum Muster. Für Milton behielt er Interesse. Aber in seinem
J^oman Fausx (1790) bewegt er sich in einer modernen
philosophischen Sphäre. Die oben erwähnte Satansszene,
nur Staffage im Ganzen, ist wie eine Erinnerung aus frühe-
ren Tagen.
Fünftes Kapitel
Die Klassik
l.
Es ist imcressant zu sehen, wie ungefähr zur gleichen
Zeit, da sich die führenden Geister Deutschlands von Mil-
ton abwenden, die wissenschaftliche oder, besser Rcsagt,
popularisierende BeschüfiiRunji: mit den enRÜschcn Dichtern
einscizt.
1781 erschienen in Altenburg: in der Richicrschcn Buch-
handlung Samuel Johnsons biographische und
kritische Nachrichten von einigen engli-
schen Dichtern, Aus dem Englischen übersetzt und
mit AnmerkunRen vermehrt. Erster Thcü. 1783 erschien
der zweite Band.
Ebenfalls 1781 wurde In Leipzig (Weygandsche Buch-
handlung) Wartons Geschichte der engli-
schen Poesie von D. Christian Heinrich Schmidt
deutsch herausgegeben.
In den Englischen Blättern, jn Gesell-
schaft mehrerer Gelehrten herausgegeben
von Ludwig Schubar». . Vierter Band. Mit Miitons
Bildnis, 1795 Erlangen (Walihersche Buchhandlung), findet
sich eine kurze Lebensbeschreibung MÜtons.
1797 erschien Das Leben Miitons von W. Hay-
lay, Nach einer zweyttn Ausgabe aus dem Englischen
übersetztv Winterthur, Steiner 1797. XXVII und 210 S.
— 104 —
Mehr nocK als durch bloße Biographien wurde durch
Ausgaben oder Stücke in Anthologien gewirkt.
1783 kündigte eine. Gesellschaft an, daß sie zur Aus-
breitung der englischen Lektüre die besten Schriftsteller,
als Shakespeare. Thomson, Pope, Milton, Yorick, zu einem
sehr billigen Preise drucken lassen wolle. Die Hermann-
sche Buchhandlung in Frankfurt am Main besorge die
Hauptversendung.
Fast gleichzeitig zeigte Dietrich in Göttingen ein ähn-
liches Unternehmen an, indem er unter Prof. Lichten-
bergs Aufsicht die Works of the English poets
with prcfaces biographical and critical by
Johnson drucken lassen wollte. 1784 erschien der L
Band mit Miltons Leben und dem V. P.v 1785 die übrigen
Werke Miltons.
1784 wurde in E'.rfurt (Kayser) herausgegeben: A
new Collection of poetical pieces original
and translated — od er neue englische poe-
tischeChresiomathie — zusammengetragen und mit
erläuternden Anmerkungen versehen von F. G. Barth,
Zweyte vornehmlich im Wortregister stark vermehrte Auf-
lage, Aus dem V. P. finden sich die ersten 375 Verse des
I. Buches darin.
In seiner Beispieisammlung zur Theorie
und Literatur der schönen Wissenschaften
gibt J. J. Von Escheuburg im 5. Band (1790), p. 309—14
Buch V, V. 1—219 und in früheren Bünden Proben aus
anderen Werken Miltons. Kurze Einleitungen orientieren.
Da die Beschäftigung mit Milton einen wissenschaft-
lichen Anstrich bekommen hatte, wurden mehr als früher
die übrigen Werke des Dichters berücksichtigt.
Auch mit Übersetzungen hielt man nicht zurück.^)
*) Vgl. die .Aufzählungen bei Qo cd ecke, Grundriß
VII, p. 712 und in der von Hermann Ullrich besorgten Aus«
— 105 ^
Bruchstücke aus dem V. P. übertrug Rainler 1782 in
dem zu Berlin erscheinenden Auszuj; des En^ii-
sehen Zuschauers in einer neuen Über-
setzung (Bd. I, p. 73/4, II, 80/82, III. 87. IV, 42. 118,9»
369/70, 372, 374, 376, 377, 396. 398: Die Stücke, welche
Addison anführt).
Diese Fragmente brachten den Verleger Chr. Fricdr.
Himburg auf den Gedanken, den Deutschen eine neue
Übertragung zu bieten. Er schrieb in dieser Sache am 21.
Okt. 1782 an Gottfr. A. Bürger: „Was sagen Sie. bester
Mann, wenn ich Sie im Nahmen aller Verehrer Miltons auf-
fodcre uns den Ersten epischen Dichter Europens in bür-
gerischcr Übersetzung zu schencken?" Ramler sei zu alt
und nicht mehr „von hell brennenden Feuer und zu pein-
lich in seinen Arbeiten". Oder ob er sich an einen der
Stolbcrgs wenden solle? Er werde einen Übersetzer sicher-
lich gut bezahlen, und das Buch aufs schönste ausstatteji.*)
Die Sache kam nicht zustande. Bü'-ger lehnte ab.')
Auch die Slolbergs scheinen nicht dafür gewonnen worden
zu sein.
Es vergingen noch elf Jahre, bis eine neue Ge.samtüber*
Setzung erschien: Joh. Miltons verlornes Para-
dies übersetzt von Samuel Goitlicb Bürde,
Berlin 1793 (bei Friedrich Vierweg, dem alleren;.
In der Zeit von 1760/63 bis 1793 waren nur Bruchstucke
' übertragen worden: Von Karl Philipp Moritz in seinen
jjabe von Miltons Werken (Hesse) . . , p. 141 ii. Meine
Aufzälilung ist vollständiger. Sowohl Goedccke als auch
Ullrich Überjichcn Moritz, Ramlcr, {a sosi:ar Herder <vgU
oben p. 80 und unten p. 120).
') VrI. Briefe von und an Gottfried .\usust
Bürger, hsg. v, .-Idolf Strodtmanr. Berlin IS74. 3.
Bd., p, 99.
^) Val. W o I f ß a n j: v. W u r z b a c t: . O. .A. B ü r g e i
Leipzig 1900, p. 216.
— 106 —
Denkwürdigkeiten zur Beförderung des
Edlen und Schönen (Zwcytes Vierteljahr, Berlin
1786. 18. Stück, p. 271—276: Adams erstes Er-
wach c n = Buch Vlil. V. 250—345; 22. Stück, p. 335—341
u. 2Z, Stück, p. 351—354: DerÜbergangvom Quten
zum Bösen — - Buch IX, 192— c. 390. Prosa); von Lud-
wig Qotthard Kosegarten („M o r g e n h y m n e" in den
Q e d i c h t e n , Leipzig 1788, !3d. I, p. 42—47, mehrmals
wiedergcdruckt'/) von unbekanntem Verfasser 1794 „Der
Löbgesang Adams und Evas" (5. Buch) in der
Neuen Bibliothek der sch"önen Wissen-
schaf t e n 53, 2; S. 237—240;*) schließlich noch von Her-
der (s. Anm, l).
II
Aus der obigen Übersicht kann man kaum den Schluß
ziehen, daß Milton in den letzten zwei Jahrzehnten des
achtzehnten Jahrhunderts in Deutschland nicht mehr lebte.
Im Gegenteil: Wollte man bloß die Ausgaben und Über-
setzungen sprechen lassen, so könnte man versucht sein
zu glauben, daß sich der Dichter wie vorher eines hohen
Ansehens erfreute.
Aber man darf nicht vergessen, daß gegen das Ende
des Jahrhunderts das allgemeine Interesse an der
Literatur zunahm, weshalb Ausgaben und Übersetzungen
fremder Dichtwerke allen Poeten, besonders denen eng-
lischer Nation, zugute kamen.
Ob Milton dem Geschmack der Allgemeinheit noch
entgegenkam?
*) Vgl. dazu Qoedecke und Ullrich.
'') Vgl. ebd. Was Qeorg Fried r. Niemeyer, A Col-
lection out of some oi the most approved Eng-
1 i s h P 0 e t s , viz. Pope, Miltor. . . . translated, Hannover 1794,
enthält, weiß ich nicht.
- 107 -^
Was dachten die größten Dichter jener Epoche und ihr
Kreis über den enjjlischen Epiker?
Goethe konnte sich sein ganzes Leben lan;: mit dem
V. P. nicht befreunden. Im Juli 1799 nalim er es neben
andern Werken vor, um, ^x•ie er in den A n n a I c n sagt,
sich „die mannichfaltigsten Zustände. Denk- und Dicht-
weisen zu vcrKejrcnwärtijrcn".") Er berichtete drsriiber am
31. Juli an Schiller:
„Das verlorne Paradies, das ich diese Ta^e zufällig in
die Hand nahm, hat mir zu wunderbaren Beirachtungen
Aniafi gej^eben. Auch bey diesem Qcdichte. wie hey allen
modernen Kunstwerken, ist es eigentlich Jas Individuum,
das sich dadurch manifestirt, welches das Interesse hervor-
bringt. Der Gegenstand ist abscheulich, äußerlich schein-
bar und innerlich wurmstichig und hohl. Außer den weni-
gen natürlichen und energischen Motiv,m ist eine ganze
Partie lahme und falj;che, die einem wehe machen. Aber
freylich ist es ein interessanter Mann, der spricht, m?.n
kann ihm Charakter, Gefühl, Verstand, Kenntnisse, dichte-
rische und rednerische Anlagen und sonst noch mancherley
Gutes nicht absprechen. Ja der seltsame einzige Fall daß
er sich, als verunglückter Revolutionair. besser in die Rolle
des Teufels als des Engels zu schicken weiß, hat einen
großen Einfluß auf die Zeichnung und Zusammensetzung:
des Gedichts, so wie der Umstand, daß der Neriasscr blind
ist auf die Haltung und das Kolorit desselben. Das Werk
wird daher immer einzig bleiben, und wie gesagt, so viel
ihm auch an Kunst abgehen mag, so sehr wird die Natur
dabey triumphieren." (Werke, H. Bd., p. 13S9).
Durch das Gedicht sei er auch genötigt worden, über
den freien Willen nachzudenken: ..er spielt in de/n Ge-
dicht, so wie in der christlichen Religion überhaupt, eine
^) Werke, Weimarer Ausgabe, 35. Bd., p. S4.
— 108 —
schlechte Rolle. Denn sobald man den Menschen von Haus
aus für füllt annimmt, so ist der freye Wille das alberne
Vermögen aus Wahl vom Guten abzuweichen und sich da-
durch schuldig zu machen." (ebd., p. 139/40.)
Am 3. Aug. kommt Goethe noch einmal auf das V. P.
zu reden.
„Miltons verlornes Paradies, das ich Nachmittags lese,
giebt mir zu vielen Betrachtungen Stoff, die ich Ihnen bald
mitzutheilen wünsche.') Der Hauptfehler, den er begangen
hat, nachdem er den Stoff einmal gewählt hatte, ist, daß
er seine Personen, Götter, Engel, Teufel, Menschen, sämmt-
lich gewissermaßen unbedingt einführt und sie nachher, um
sie handeln zu lassen, von Zelt zu Zeit, in einzelnen Fällen,
bedingen muß, wobcy er sich denn, zwar auf eine ge-
schickte, doch meistens auf eine witzige Weise zu entschul-
digen sucht. Übrigens bleibts dabey, daß der Dichter ein
fürtrefflicher und in jedem Sinne interessanter Mann ist,
dessen Geist des Erhabenen fähig ist, und man kann be-
merken, daß der abgeschmackte Gegenstand ihn bey dieser
Richtung oft mehr fördert als hindert, ja dem Gedicht bey
Lesern, die nun einmal den Stoff gläubig verschlucken, zum
großen Vortheil gereichen muß." (ebd., p. 142/3.)
Wenn Miß Mary Carr im Anschluß an die zitierten
Stellen schreibt: „It must be confessed that Goethe is right
in somc points in his criticism of Paradisc Lost, but surely,
in pronoucing the subject to be „detestable, outwardly
plausible, and inwardly wormeaten and hollow", he does
not justice to the earnest purpose of Milton in writing the
great eplc of Puritanism",*) so hat sie Goethes Ausspruch
gründlich mißverstanden.
') Er hat es, schriftlich wenigstens, nie getan.
*) Pubiicaiions of the English Goethe Society, N. IV, Lon-
don 1888, Goethe in his connection with Enelish
L 1 1 e r a t u r e , p. 55.
— 109 -
Goethe war weit davon ejitfcrnt, AJiltons ernste Ab-
sicht zu bezwcifehi. „Abscheulich (v^'ohl gleich ab-
schreckend), äußerlich scheinbar und innerlich wurmstichig
und hohl" nennt er den Stoff des V. P. in rein ästhetischer
Bczichunij; seinem undoKmatischcn Sinn war die Anti-
nomie im Gedicht nicht nur erkennbar, sondern sie machte
es ihm ungenießbar. Der Widerspruch zwischen der All-
macht Gottes und dem freien Willen des Menschen, zwi-
schen der Unbedingtheit des Wesens der r.ngel und der Be-
dingtheit ihres Handelns ist ein Grundfehler in der poeti-
schen Intuition, über welchen nur der kindliche Glaube hin-
weghelfen kann. Goethe besaß diesen Glauben nicht. Mil-
tons Persönlichkeit, dem verur glückten Revolutionär»
brachte er menschliche Teilnahme entgegen, im V. I\ selbst
erkannte er nur ,.w enige natürliche und ener-
gische iMotive" an. Was er unier diesen verstand,
ist wohl unschwer zu erraten: Die Partien im ifpos. die
sich natürlich geben und uns das Unkünsilerische der Anti-
nomie nicht fühlen lassen, die ..allgemein menschlich" wir-
ken; Stellen, wie die idyllischen Liebesszenen im irdischen
Paradies, wie der lyrische Anruf an das heilige Licht
So verhaßt war Goethe das Dogmatische im christ-
lichen Epos, daß er, wie wir sahen, nichi einmal Satan
einen poetischen Wert zuerkennen wollte. Ihm lag so sehr
jeder Dualismus fern, daß er nicht einrtal das wirklich Poe-
tische in der Gestalt des gefallenen Erzengels erkennen
wollte.
Was war ihm da erst Mutans Gott!
„Was war' ein Gott, der nur von außen stieße.
Im Kreis das All am Finger laufen ließe!
Ihm zient's, die Welt im Innern zu bewegen,
Natur in Sich, Sich in Natur zu hegen. . . ."
Das Höchste, das dem Menschen widerfahren kann,
ist, daß „sich Gott-Natur ihm offenbare". Was war gegen
— 110 —
eine solche Weltanschauung die engherzige Schöpfung des
puritanischen Dichters? Wenn der deutsche Dichter sagt:
„Vergib mir, daß ich so gerne schweige, wenn von einem
göttlichen Wesen die Rede ist . . .**, so erinnert das nur
äußerlich an die mahnenden Worte des Erzengels:
„Solicit not thy thoughts with matters hid!"") Milton
verlangt den kindlichen Glauben an die Lehren der Kirche,
Qoethe will über das Göttliche nicht reden, sondern es
fühlen.
Stoffliche Gründe, nicht nur künstlerische, ließen Qoethe
so sein Leben lang am V. P. vorbeigehen.
Ist es möglich, daß etwas vom Geiste des V. P. in den
Faust übergegangen?
Man hat versucht, in den zu Enile der neunziger Jahre
entstandenen Faustszenen Beeinflussung durch Milton nach-
zuweisen.''*') Im Juli 1799 las ja Goethe das V. P. und im
August entlehnte er für längere Zeit Zachariaes Übersetzung
aus der Weimarer Bibliothek.
Die Anklänge, denen R. Sprenger mit Sorgfalt nach-
gespürt» betreffen jedoch nur gemeinsame Einzelheiten, wie
die Personifikation Mammons und ähnliche .ausdrücke in
der Walpurgisnachtszene. Die Auffassung des Dramas
gehen sie nichts an,
Einen Einfluß dei V. P. auf diese möchte nun Max Mor-
ris annehmen. In den Goethestudien, I. Bd., 2. Aufl.,
Berlin 1902, p. 84 ff. und 224 ff. (Die Walpurgisnacht und
die Faustparalipomenii) und in Mephistophelcs
(Qoethejahrbuch XXII, p. 150 ff.) will er folgende
drei Punkte beweisen:
•) Houston Stewart Cliamberlain, Qoethe,
München 1912, p. 683 stellt die beiden Stellen nebeneinander.
") Q. V. L 0 e p e r , Hempelsche Ausgabe, 12. Teil, p. 126.
Besonders siehe R. Sprenger, Englische Studien,
Bd. 18, p. 304/6. Über Max Morris unten. Vgl. auch Jubil.-
Ausg., Register, und Faust ed. Witkowsky', Leipzig 1912, p. 357.
— 111 ~
1) In Miltons Dichtung fand Goethe eine völli.4: durch-
geführte und mit einer Fülle von anschaulichen liinrolzügcn
ausgestattete Hierarchie des Bösen. Er bcschloli. diese
Vorstellungen in das Drama einzufühcen (Goethest. I, 84).
„Unter der Einwirkung des verlorenen Paradieses plant
Goethe. Miltons Satan leibhaftig in die faustdichiung ein-
zuführen" (Goethc-Jahfouch XXII, p, 186),
2) Mephistopheles bekommt viele Züge von Miltons
Satan (Goethe-Jahrbuch XXII, p. 177 f.. 179).
3) „Aus den Miltonschcn Anregungen erwuchs endlich
auch ein Plan für den Abschluß der gesamten Faustdich-
tung, der erste zu unserer Kenntnis gelangte- Schlußpian*"
(Q.-J. XXII. p. 188. ähnlich Qoethcsi.. I. 86 and Fausi-
par. 1. c).
Als Beweis für die erste Behauptung iührt Morris neben
einigen Anklängen im Drama selbst die P a r a 1 ' p o m c n a
48 und 50 an (Goethes Werke. Weimarer Aus-
gabe, 14. Bd.. p. 305 ff.). Par. 48 ist eine Skizze zu einer
Szene, in der offenbar unter Donner und Blitz Satan er-
scheinen soll. Par. ISO ist eine dazu gehörige aus^icfülirtc
Szene. Morris druckt nicht das ganze Par 48 ab. sondern
nur einige Worte daraus, in denen \on TroinpetcnstöG«.n.
Feucrsüulen, Rauch, Qualm, einem daraus ragenden Fels
etc. die Rede ist. Dann bringt er aus dem 1. Buch des V.
P. ähnliche Stellen zusammen und ordnet sie nach den Tat-
sachen im Paraüpomenon. Die Trompetenstöße, die bei
Goethe Satans Erscheinen verkünden, gehen nun nach
Morris auf die zurück, die bei Milton die Scharen -Icr Krie-
ger ins Heerlager einberufen. Der Fels, der aus dem Rauche
hervorragt, gehi auf die Vorsvellung des feuerspeienden
Berges zurück, auf den sich A^ammon und seine gierige
Bande stürzen, um Gold zu finden.
Morris zieht alle seine Parallelstellen an den Haaren
herbei. Der in Par. 48 angedeutete Spuk hat in Tat
— 112 —
und Walirlieit mit der Miltonschcn Hölle nichts zu tun.
Das bestätigt auch Par. 50, das uns l<lar zeigt, was mit der
ganzen Szene ^:emeint ist: Ein „phantastisch-satirisches
Nachtsiück", wie Morris selbst entfährt (Goethe-Jahr-
buch XXII, p. 186).
Diese sog, Satansszenen 5;ind vielleicht viel früher ent-
standen ^^) als jGnde der neunziger Jahre. Sicherlich ge-
statten sie uns nicht anzunehmen, Goethe habe die Mil-
tonsche Hierarchie des Bösen in seinen Faust einführen
wollen. Auch nicht Miltons Satan. Denn mit diesem hat
der humoristische Geselle, der über die Schriftsteller deut-
scher Zunft Musterung abhalten sollte, nur den Namen
gemein.")
Aber, wenn der Satan der geplanten Szene nichts mit
demjenigen Miltons zu tun hat, hat es Mephistopheles?
Bis zum ersten Gespräch mit Faust, nimmt Morris an,
haben wir in Mephisto einen volksmäßigen Spuk vor uns;
dann aber, da über des Teufels Art und Wesen ein kräftig
Wörtlcin not tut, sind wir mehr auf Miltonschem Boden
(G.-J. XXII, p. 179). „Unter dem Einflüsse Miltons wandelt
sich nun die Anschauung der Faustdichtung vom Bösen
wieder ins Schärfere, Ernsthaftere. Das heitere Spiel des
Schalks Mephisto mit dem alten Herrn tritt zurück. Me-
^^) Vgl. Paralipomena zu Goethes Faust, Eni-
würfe, Skizzen, Vorarbeiten und Fragmente, geordnet und er-
lüutert von Fr. Strehlke, Stuttgart, Leipzig, Berlin, Wien
1891, p. 35.
*') In Morris' beschriebener Beweisführung finde ich nichts
Zwingendes. So könnte man alles beweisen. Dennoch scheint
Erich Schmidt sie angenommen zu haben, wenn er im 13. Bd.
der Jubiläumsausgabe p. XXVI sagt: „Nachdem Satan um Mit-
ternacht als Vulkan versunken ist — ein Motiv von Miltons
Großmacht her —-". Dabei handelt es sich, wie wir sahen, um
den Berg, auf den sich Mammon stürzt! Vgl. in dieser Ausg.
Register. Alle möglichen Anklänge werden in den Anm. an-
geführt. Sprengers wird aber nie gedacht.
— 113 —
phisto will Fausts Seele um ihrer selbst willen, er will sie
für sich, für sein höllisches Reich, das Reich der Finster-
nis, das mit dem Lichtreiche wie bei Milton in ewij^em un-
versöhnlichem Kampfe liegt", (ebd.. p. 177.)
Behauptete Morris zuerst, daß MiUons S:.!an seihst
auftreten sollte, so nimmt er hier im Widerspruch zu sich
selbst an, daß Miltons Teufel Mcphistopheles zum Vorbild
gedient.
Aber eine Welt, würde man i^iiauben, sollte xwischen
dem Satan des republikanischen Puritaners und dem Mc-
phistopheles des modernen Dichters üegen. Wo ver-
lautet denn im Faust etwar darüber, daß Mcphisio-
phe.les dem gefaücnen Erzengel gleichzusicüen sei, der
sich gegen Qott empört? Besteht wirklich ein so großer
Unterschied zwischen dem Teufel, der sich im Prolog auf
den Augenblick freut, da Faust Staub fressen soll, und dem-
jenigen, der sein Opfer durch wildes Leben, durch flache
Unbedeutendheit schleppen" will?
.Mcphistopheles ist das Produkt einer höheren Welt-
anschauung, nach v/elcher Qoit nicht im Kampfe mit dem
Bösen liegt. Wie im Buche Hiob ist der Teufel ein Diener
Gottes. Fällt er später aus der Rolle, wenn er sich defi-
niert als
„Einen Theil von jener Kraft*
Die stets das Böse will und stets das Gute schafft"?
Darf man mit Morris die Worte Mephistos
„So ist denn alles, was ihr Sünde,
Zerstörung, kurz das Böse nennt.
Mein eigentliches Element"
neben den ingrimmigen Ausruf des besiegten Erzengels
setzen:
„Nur in dem Verderben, nur in der Zerstörung
Findet dies Herz voll Bitterkeit Lust"? ")
»•) Morris zitiert (Q. J. XXU, p. 179) di« Parallclsicllen
nach der von Qocthc benutzten UbersetzuneZachariaet.
Pinto, UUtOB 8
— 114 -
Goethes Mcpliistopheles saß nie zur Rechten des All-
mächtigen. Er ist
„Ein Theil des Theils, der Anfangs Alles war,
Ein Theil der Finsternis, die sich das 'Licht gebar".
Er bleibt das ans Irdische, an den Staub geknüpfte
Wesen, das für ein höher gerichtetes Streben kein Ver-
ständnis hat. Was verbindet ihn also mit dem gefallenen
Gott, der nur in der Zerstörung Lust findet, weil es ihm
nicht gelingt, Herr zu werden und den obersten Schöpfer
zu entthronen? ^*)
Wenn wirklich Mephisto in der zweiten Hälfte des l.
Theiles dämonischer wird, warum nicht die Nachwirkun-
gen früherer Anschauungen annehmen, da ja Morris selbst
sagt, im Urfaust stelle Goethe die furchtbare Kraft des
Bösen dar?") Besonders da, wie wir sahen, Mephisto mit
Miltons Satan nichts gemein hat, sondern immer der Ver-
treter des gemeinen Irdischen bleibt, weil Goethe einen
nach der Herrschaft strebenden, aber doch nur zerstören-
den Satan für unpoetisch hielt. Denn das ist der Un-
terschied zwischen dem Teufel des deutschen und
dem des englischen Dichters. Sie sind wohl beide
negativ. Aber Mephisto, seit Ewigkeit ein Theil
der Finsternis, wollte nie Licht werden; ihm ist jegliches
Pathos fern. Satan dagegen war einst der Nächste neben
Gott und fiel, weil er selbst der erste im Reiche des
Lichtes werden wollte. Er möchte unser Mitleid er-
regen, seine Reden sind voll von republikanischem Pathos;
^*) Keine gemeinsamen Züge finddt auch David Masson
in Tlie three devils: Luthers, Miltons and
Qoethe's, London 1874, p. 46 f.
") Vgl. A. Bartscherer, Zur Kenntnis des jungen
Goethe, Dortmund 1912, p. 91: „War Ihm nicht durch sein eif-
riges Bibeliesen und das Studium des Hebräischen, ebenso durch
Klopstocks „Messias" der Satan des alten und neuen Bundes
vertraut?"
~ 115 —
denn er konnte sich vor niemand beulen. Daß aber eine
solche pathetische Figur rein nc-^^aiiv s^in s-ollte. wollte
Goethe nicht verstehenv Eine Persönlichkeit, deren Linab-
hänRiRkeitssinn ihn packte, mußte ein schaffender Prome-
theus sein. Kin Wesen aber, das nur zerstört, wurde unter
seinen Händen zu Mephisto, dem alles eignen kann, nur
nicht das, was der GrundzuR des englischen Teufels ist:
Das Heroische^ Wenn also Goethe auch den einzelnen
Ausdruck „Fliesengotf von Milton hatte, wer wagte zu
behaupten, daß wir auf Miltonschem Boden stehen? **)
Auch Morris' 3. Behauptung ist willkürlich; Daß der
in Par. 1 angedeutete „Epilog im Chaos auf dem Weg zur
Hölle" auf Milton zurückzuführen sei; Der Gedanke einer
Höllenfahrt Christi hatte immer zu Goethes Lieblingsvor-
stcllungen gehört.") Den Begriff „Chaos" kannte er von
Klopstock her.
") In derselben Szene nennt sich Mephisto
Den Qott der Ratten und der Mäuse,
Der FlicKcn, Frösche, Wanzen, Läuse.
Ob Qocthe n ir die FlicKen von Milton ecnömncn? über das
häufige Vorkommen des Ausdrucks FiieKcnsott vsl. cd. Wit-
kowsky*. p. 223.
'') Als Hauptcrund für seine Behauptung führt Morris fol-
gende Parallclstelle an. Im ParaÜp, 49:
Siehst du, er kommt den Bert hinauf
Vor weitem steht des Volckes Haut.
Es scRnen staunend sich die Frommen.
Qewiß er wird als SicKcr kümmci;
soll der Berg, den Christus offenbar hinaufkommt, nur auf Jenen
heiÜRen Berg" zurückgehen, „Wo vor der Himmlischen Heer der
große Messias erklart ward". Auch hier ist eine Fnt'chnung
unsicher, — Weil es im Prolog heißt: „Und wandelt mit be-
dächtiger Schnelle Vom Himmel durch die Welt zur Hölle",
nimmt Morris jetzt schon im Proloe eine Eccinnussung durch
Milton an, während ja in derselben Szene Mephisto noch nichts
von Miltons Satan zeigen soll. E. Schmidt, der der Interpretation
von Par, 1 zustimmt (14, XL), steht derjenigen des Verses im
Prolog skeptisch gegenüber (13, 269). 8«
— 116 —
Außer einigen Dctailschilderungen hatte somit das V.
P. dem Dichter des Faust nichts mehr zu bieten. Wenn
auch ein Zug auf eine von Max A4orris angeführte Parallel-
stelle zurückginge — auf die Auffassung und Entwicklung
der Faustdichtung blieb Milton sicherlich ohne Wirkung.
In keiner von Goethes Dichtungen verspüren wir nur einen
leisen Hauch des V. P. Noch später im Westöstlichen
Di van wird sich der Schüler Herders Jones anschließen,
der uns mit offenbarer Bitterkeit vor Augen stelle, wie ab^
surd sich Milton und Pope im orientalischen Gewand aus-
nähmen (Werke, Bd. 7, p. 219). Erst am Abend seines
Lebens wird der S ?. m s o n A g o n i s t e s Goethe „einen
höheren Begriff von Milton" vermitteln (18. Aug. 1829,
vgl. Biedermann, G's Gespräche, Bd. IV, 139).")
III.
Auch dem reiferen Schiller bedeutete das V. P. nicht
mehr viel. Anregungen empfing er von ihm keine. In
seinen philosophisch-Ustheiischcn Schriften erwähnte er zu
Anfang der neunziger Jahre Milton hie und da lobend.
Satan ist ein erhabener Charakter, weil er von den Schick-
salsschlägen unberührt bleibt. „Selbst Miltons Lucifer, wenn
er sich in der Hölle, seinem künftigen Wohnort, zum ersten
Mal umsieht, durchdringt uns, dieser Seelenstärke wegen,
mit einem Gefühl der Bewunderung" (Über dasPathe-
tische, 1793 entstanden, >A'erke, Säkularausgabe
11, 263).
In der Abhandlung Über naive und sentimen-
t all sehe Dichtung (1795) gehört Milton zu den senti-
") Am 24. Mai 1829 erhielt Goethe eine Auswahl der Ge-
dichte des Prinzen Job. v. Sachsen, darunter auch Über-
setzungen nach Milton (vgl. Goethe- Jahrbuch XXI, p. 192).
— 117 --^
mentalischen Dichtern und kann deswegen nicht ein moder-
ner Homer genannt werden. Mit Vergnügen entsinnt sich
Schiller der paradiesischen Szene; „Eine höhere Befricdi»
gung (als der Idylliker Geßner) gewährt Miltons herrliche
Darstellung des ersten Menschenpaarcs und des Standes
der Unschuld im Paradiese; die schönste mir bekannte
Idylle in der sentimentalischcn Gattung. liier ist die Natur
edel, geistreich, zugleich voll Fläche und voll Tiefe; der
höchste Qehalt der Menschheit ist in die anmuthigstc Form
eingekleidet". (Werke, Säkuhrausg. 12. 227.)
Es ist wohl kein Zufall, daß Schiller in seinen Ab-
handlungen gerade der Schilderung Adams und Evas und
eines der schönsten Charakterzüge des Satans geder.kt;
diese Stellen hatten offenbar den nachhaltigsten Eindruck
auf sein Gemüt gemacht: Wir denken aber unwillkürlich
an die „wenigen natürlichen und energischen Motive**
Goethes.
Als er auf der Höhe seiner Kunsteinsicht stand, er-
kannte Schiller das V. P. wohl auch nicht mehr als ein Gan-
• zes an. „Die Puritaner spielen so ziemlich die Rolle dcrJaco-
biner." antwortet er Goethe am 2. August 17^9, ..die Hülfs-
mittel sind oft dieselben und eben so der Ausschlag des
Kampfs. Solche Zeiten sind recht dazu gemacht Poesie und
Kunst zu verderben, weil sie den Geist aufregen und ent-
zünden, ohne ihm einen Gegenstand zl geben. Er crripidngt
dann seine Objekte von innen und die Mißgeburten der
Allegorischen, der Spitzfindigen und Mystischen Dar-
stellung entstehen."
Schiller will dasselbe sagen wie Goethe. Der Geist
empfängt in solchen Zeiten seine Objekte von innen, d. h.
abstrakte Gegenstände, und die Darstellung abstrakter
Gegenstände führt, wenn sie abstrakt bleiben sollen, zur
Allegorie und Spitzfind^igkeit Davon, meint er wohl, hat
sich auch Milton nicht frei halten können.
— 118 —
„Ich erinnere mich nicht mehr, wie Milton sich bei
der Materie vom freien Willen heraushilft," fährt Schiller
weiter. Also hat er das V. P. nicht mehr gegenwärtig.
Vielleicht hat er es seit Jahren nicht mehr gelesen, viel-
leicht nicht mehr seit dem Verlassen der Karlsschule. Er-
klärt uns aber seine Äußerung vom Jahre 1799 nicht, warum
er in seinen früheren ästhetischen Schriften nur die oben
erwähnten Motive anführt? Machte sich doch in ihnen das
Abstrakte im Gedichte nicht unangenehm bemerkbar.
Nach dem Erscheinen von Fr.A. Wolfs Prolego-
men a ad Homcrum (1795) wandte Herder sein
Interesse wieder dem Epos zu.
Häufiger begegnet uns Miltons Name wieder in seinen
Schriften. Herder reift in diesen Jahren eine Theorie des
Epos aus, die dann in der Kalligone (1800) und ganz
besonders in der Adrastea (1802—1805) ihren Ausdruck
findet. Auch hier kein Verständnis dafür, was wir epische
Gestaltung nennen.
Der Epiker muß eine Weit in sich tragen, einen Kos-
mos. „H omers, Dante's, Milton's Epopeen sind
Encyklopüdieen und Universa aus dem Herzen und Geist
ihrer Dichter; sie entwerfen die Charte ihrer Innern und
äußern Welt** (XXII, p. 148). Deshalb haben die alten
und sollten auch die neuen Epen etwas Wunderbares
haben. „Das epische Gedicht N/oIlte, es foderte einen
göttlich-menschlichen Schauplatz (XXIV,
280). „Dem alten Epos sind die Götter wesentlich,
unentbehrlich; aber auch höchst natürlich. Sie sind as
auch, wie man nicht nur bei .M 11 1 o n und K 1 o p s t o c k ,
sondern selbst bei manchem Roman siehet, jedem
wahren Epos** (XXIV, p. 240).
Aber das Göttliche im Epos birgt Gefahren in sich.
„Ist z. B. die Handlung gar nicht anschaubar, sondern
dogmatisch, allegorisch, tropisch, mystisch .... wie viel
— 119 -.
Kräfte verschwendet der Dichter, ohne daß er dennoch zu
seinem Ziel kommt.*' Mütons Erzählungen vom Abfall der
Engel, vom Bau der Hölle, von der Zukunft des Menschen-
geschlechts gehören zum Langweilen in seinem V. P.
(XXIV, p. 286).
Herders alter Haß gegen das Dogmatische und Didakti-
sche ist noch rege. Was ihm schon 1778 vorschwebte, als
er Klopstock beklagte, daß er von Milton einen Haufen
Glauben abzwingender und abwürgender Dichtungen über-
nommen (VIII, 431), das wird jetzt zum System.
i3ewußtcr denn je verlangt Herder das Mensch-
liche. Im modernen Epos muß ein neues Wunderbares
erstehen, das sich nicht an die durch die Aufklärung über-
wundenen Maschinerien eines kindischen Zeitalters anlehnt.
In Dante und Milton haben wir schon das Aufkommen
des Menschlichen in der Epopee. „In Milton, wie rein
und edel, dabei wie schwach und zart ist der Charakter
der Menschennatur gehalten! Ein von der Mutterhenne be-
brütctes Ei; ein Keim, der der sorgfältigsten Wartung be-
durfte und ihrer werth ist. Miltons Gesänge schildern
diese göttlich eWartung; aber gegen wen? vorinn?
und wie unkräftig! Ohne Zweifel lags an dem zu Miltons
Zeiten angenommenen System, daß er den ewigen N'ater.
daß er den Glorreichen Sohn, daß er Engel und Teufe! so
darstellte, und gleichsam auf Excavationcn des Abgrundes
seine neue Schöpfung baute. So viel Stärke des Genius,
so viel Macht der Sprache und Gedanken in diesen Be-
schreibungen hervorleuchtet, fühlen wir nicht in uns etwas
Widerstrebendes? Indem wir das Göttliche im Dichter mit
verdecktem Antlitz betrachten, kehren wir gern zur
Menschheit zurück und gewinnen diese in ihm desto lieber"
(XXIV, p. 292).
Mit der Frage, gegen wen der göttliche Schutz gerich-
tet sei, verrät Herder, daß ihm die Nutzlosigkeit des hiram-
— 120 --
lischen Apparates aufgefallen. Er kann das Mißbehagen,
das die Miltonsche Qötterwelt in ihm erregt, nicht so tief
begründen, wie z. B. Goethe, der die Antinomie klar er-
kannte. Aber er fühlt das Unkünstierisch-Dogmatische in
ihr. Er sieht auch, daß sie ihm nichts mehr sagt, weil er
nicht mehr an sie glauben kann.
„Du kennst Miltons klaßische Denkart und seine schöne
lateinische Verse," sagte Herder 1796 in den Hören (XVIII,
p. 486), „die stärksten und besten Stellen indeß seiner
beiden Paradiese . . . . sind rein G o t h i s c h."
Was er mit den besten und stärksten Stellen meinte,
ist nicht schwer zu erraten. Einmal die zarten paradiesi-
schen Szenen, dann aber Partien, wie das hail holy light,
mit dessen ersten Versen Herder 1800 seine in der Kalli-
gone erscheinende Abhandlung Vom Angenehmen
und Schonen eröffnet (XXII, p. 55) und das er 1802 im
dritten Bande der A d r a s t e a , Zweites Stück, nochmals
zum Teil übertragt (XXIII, p. 538/9).
Der alte Vv^ i e 1 a n d hatte trotz der Wandlungen, die
er durchgemacht, Milton seine Verehrung bewahrt. Seinen
Neuen Teutschen Merkur eröffnet er 1790 mit
einer Probe aus der noch ungedruckten Bürdeschen Über-
setzung des V. P., von dem er sagt, daß es „bey allem
was seine Tadler , mit Recht und Unrecht daran auszu-
stellen finden, immer eines der bewundernswürdigsten,
größten und interessantesten Werke des Genies und der
Musenkunst bleiben wird" (1. Stück, p. 18). Auch er ver-
ehrte es also nicht ohne Einschränkungen; und daß er den
Anfang des fünften Gesanges, der uns ins irdische Paradies
führt, als Probestück wählte, zeigt, in welchen Teilen des
Gedichts er seine Lieblingsstellen immer noch suchte.
Trotz seines Studiums der englischen Literatur im
Winter 1795/6") hat sich Wilhelm von Humboldt
^•) Vgl. Ansichten über Aesthetlk und Litera-
tur von Wilh. V. Humboldt, Seine Briefe an Christian
— 121 —
nie tiefer auf Milton eingelassen. Er kennt seinen Namen,
denn er hat sein Leben in Johnson's L i v e s gelesen.**)
sa^t einmal, man könne gewissermaßen Homer und Milton
als zwei Extreme neuer und alter Weise betrachten,*') lobt
Miltons Hölle,") erwähnt den Dichter in seinen Schriften
flüchtig") — seine Welt machen aber andere [)ichter,
Homer, Ariost, Qocthe aus. „Ein Vers Homers, selbst ein
unbedeutender, ist ein Ton aus einem Lande, das wir alle
als ein besseres und doch uns nicht fernes anerkennen. . . .
Durch das Christentum und den Zustand ;:esellschaftlicher
Wildheit . . . wurde der Mensch so mürbe gemacht, daß
natürliche Ruhe, ungestörter innerer Friede auf ewig für ihn
verloren war, . . . Man spaltete seine Natur. sctJte der
Sinnlichkeit eine reine Geistij^keit entgegen, und erfüllte
ihn mit nun nie mehr weichenden Ideen von Armut. Demut
und Sünde .... in seinem Innern zerknirscht durch ein
Gemisch gnostischer Spitzfindigkeiten und Schwärmereien,
engherziger schreckenvoller Begriffe des Judentums , " '*)
Gottfried Körner (1793—1830). hsg. v. f. Jonas-, Berlin ISSO,
p. 54.
«>) ebd., p. 55.
") ebd.. p. 88. H. meint p. SI; «Die Oichtkunsi .hat aus. dem
Gebiete des Denkens und Empfindens sovie? in ihr eigenes hin-
über Ketragcn, daß es ihr selbst manchinaJ um ihre Eisenschaft
als Kunst bange wird." Er hat di<i moderne Pociic im Auge,
Milton ist also modern, weil zu viel Gedanken in ihm sind.
^*) Briefe von W. v. Humboldt an Friedrich
Heinrich Jacobi, hsg. und vrlSutert von Mb. Leltz-
mann, Halle 1892, p. 60.
'") Gesammelte Schriften, ed. A. Lcitzmann,
hsK. V, d. kgl. preußischen Akademie der Wjsscnschahen, Ber-
lin, 1904 ff. Bd. VI, 2, p. 505.
**) Goethes B r i c f w e c n s e I mit W, u. Alex von
Humboldt, hsg. v. L. Geige r, Berlin 1909. p. 164.
— 122 —
Was war unseren Klassikern, die sich ein Ideal edier
und freier Mcnschlichl<eit gebildet, die subtile, dogmatische
Welt eines Milton? eines Puritaners?
Was Knebel, der Charlotte v. Schillers Neigung zur
englischen Literatur unterstützte,^*) von Milton zu wissen
scheint, ist nur, daß er sich nach den Reizen des himm-
lischen Lichts gesehnt.'^") Und auch Charlotte von
Schiller, die noch in späteren Jahnen Milton und Klop-
stock, die aus dem Himmlischen entsprungenen, dem nach
dem Himmlischen strebenden Dante vorzieht,")
schwebt diese Stelle vor, wenn sie sich am 8. Nov. 1787
ihrem Tagebuch anvertraut: „Schöne Sonne! wie wohl-
thätig Ist dein Einfluß auf die Erde; du erwärmst, erfreust
Alles; so auch mein Herz , . . Mit inniger Empfindung
rufe auch ich dir zu: hail, holy light".^')
Zu Anfang des 19. Jahrhunderts urteilte Jean Paul
in seiner Vorschule der Aesthetik . . . (1804, mir
liegt die zweite verbesserte Auflage von 1813 vor) wie
die Klassiker; p. 124 anerkennt er die Größe Satans, was
allerdings Goethe und Herder nicht getan, und faßt p. 522
sein Urteil zusammen: „Der Krieg der geschlagenen Teufel
gegen den Allmächtigen, ist, sobald dieser nicht selber seine
") Vjil. Charlotte v. Schiller und ihre Freunde,
Stuttgart 1860, 3. Bd., Einleitung v. Urlich, r>. XVI.
*") K. L. voii Knebels literarischer Nachlaß
und Briefwechsel, hsg. v. K. A, Varnhagen von
Ensc und Th. Mundt, Leipzig 1835/6, 3. Band, p. 291
(Ueber die Natur des Menschen, 1792/3).
") C h. V. S c h i 1 1 e r' u n d ihre Freunde, Erster Bd.,
p. 123 (Jahr 1820).
") ebd., p. 47. Vgl. auch Briefe von Goethe und
dessen Mutter an Fried r. Freiherrn von Stein,
Nebst einigen Beilagen, hsg. v. J. J. H. Ebers u. Aug. K a h -
l0rt, Leipzig 1846, p. 124, wo sie ausruft: „Ich habe doch die
Engländer gar lieb".
~ 123 -»
Feinde untcrstüizi und krönt, ein Krieg der Schatten gegen
die Sonne, des Nichts gegen das All; so, daß dagegen bloße
Ungereimtheiten fast verschwinden, solche sx'ie z. B. eine
gefährliche Kanonade zwischen Unsterblichen, — die ein-
fältigen Schildwachen und Schweizer von Engeln vor dem
Kdenthore. damit die Teufel nicht wagrcchi einschleichen,
welche dafür nachher steilrecht anlangen, usw. Aber man
braucht diesem großen Dichter nur seine Hülismaschinen
von Hülfsengeln wegzunehmen* so ist ihm geholfen und
durch die Menschen wird er göttlicher als durch die Engel."
Noch 1847 wirkte in Alexander von Humboldt
die Anerkennung der Paradiesszenen nach, als er im
Kosmos il, p. 64 schrieb: „Der ganze Reichtum der
Phantasie und der Sprache ist auf die Schilderung der
blühenden Natur des Paradieses ausgegossen. . ."
IV.
Mit Jean Paul haben wir schon nicht klassischen Boden
betreten.
Wir wissen, wie das wissenschaftliche Studium sich
auch Miltons angenommen und ,wic der Name des Dichters
in weitere Kreise getragen wurde. Manchen war das V.
P. noch vertraut, wie Georg Christoph Lichtenberg **) u. a.
Was bot die Dichtung denjenigen zu Ende des Jahr-
hunderts, die sich nicht auf klassischer Höhe bewegten?
-•) Vgl. seine Aphorismen D. L. D. 46/7. Ui. 127. 1«.
136.1 wo die Rciiistcr die Siellen anheben, die von Milton han-
deln. Ebenso Lichtenbergs Briefe, hsc v. Albert
Leitzmann u. Carl SchQddekcpf, Leipzig 1901 f., Bd.
2 u. 3 (s. Recister). Es handelt sich mehr um kurze Bcmer*
kuHKen, Anführuiiscn u. 5. D. L D. 136. p. 73 sasrt L, er schätze
Dichter wie Milton, Vircil, Horaz erst recht, seitdem er mit der
Welt bekannt geworden.
— 124 —
Daß es immer Klopstockschwärmer gab, die die
Mcssiadc wenn nicht dem V. P. vorzogen, so doch ihm
gleichstellten, bezeugt uns nicht nur der in Deutschland
reisende Colcridge/") sondern auch die Tatsache, daß die
1796/7 erschienenen Abhandlungen von C. F. Benkowitz'O
und J. C. A. Qrohmann ") preisgekrönt wurden.
Noch gab es Leute, denen das V. P. ein Erlebnis bedeu-
tete: Lichtenberg, Asmus Jakob Carstens,") der Zürcher
Maler Heinrich Füßli, der in seiner neuen Heimat London
1799 eine Miltonaussicllung veranstaltete,") dann aber be-
•'"») VkI. M. Bernays, Schriften . . . II. p. 135. Als
ColeridKe von einem Ratieburger Pastor gesagt wurde, Klop-
stock sei der Jciitschc Milton, soll er geantwortet haben;
„Wahrhaftig ein gar deutscher Milton".
^^) Der Messias von Klopstock, ästhetisch
beurteilt und verglichen mit der Iliade, der
Aeneide und dem verlornen Paradies von C. F.
Benkowitz, Eine Preisschrift, die von der Amsterdamer Ge-
sellschaft zur Beförderung der schönen Wissenschaften eine
doppelte Medaille erhalten hat, Breslau 1797, vgl. Q. Jenny,
p. 81 ff,
"')Aesthetische Beurteilung des Klop-
stock i sehen Messias, von J. C. A. G r o h m a n n , Eine
von der Amsterdamer Akadenie der Dichtkunst und schönen
Wissenschaften gekrönte Preisschrift, Leipzig 1796, Benko-
witz' und Qrohmanns Abhandlungen griff A. W. Schle-
gel an. (Vgl, Werke, Leipzig 1847. 11, Bd., p. 153).
"") Vgl. Leben des Künstlers Asmus Jakob
Carstens . . . von Carl L u d w i g F e r n o w , p. 29, wo er-
zählt wird, daß Carsten 1780 Adam und Eva nach Milton malte.
Ungef. 1790 schul er seinen Sturz der Engel (vgl. ebd., p.
88), der in Carstens Werken in ausgewühlten Um-
riß-Stichen von Wilhelm Müller, hsg. v. Hermann
Riegel, Leipzig 1869, Tafel 4 u 5, wiedergegeben ist,
•*) Heinrich Füßli (1741—1825) sollte Anfangs der
neunziger Jahre die Illustrationen zu einer von Cowper beab-
sichtigten .Ausgabe von .Miltons Werken machen. Cowper
wurde aber geisteskrank, sodaß die Ausgabe nicht zustande kam.
— 125 —
sonders der alle Denis, der im zweiten Teil seiner Lese-
fr ü c h t c (Wien 1797) eine Lanze für den englischen Dich-
ter brach.
Als W. V. Humboldt in Wien war, kam ihm Deni? als
der Repräsentant einer vergangenen Zeit vor.") Und doch
waren weder Füßli noch Denis blinde Verehrer Milien'».
Der Zürcher Maler meint in schien A p h o r i s m s spöt-
tisch: ,v. . . Milton dropt the trumpet that had asionishcd
hell, ieft Paradise, and introduccd a pcdatrogue to Hea-
vcn".^°) Der Wiener Dichter macht auch auf unschöne
Stellen aufmerksam. Neben anderen schönen Schilde-
rungen ziehen ihn die Paradiesszenen am meisten an.
FüÜli stellte seine 40 Qcmaldc (uovon 27 nach dem V. P.i 1799
in Pall Mall aus. Vgl. Jchn Kno-vlcs, The Life and
writinßs oi Henry Füsclj . . . Vol. ], London
MDCCCXXXI. p. 171 ff, p. 193 u. p. 204 ff.
Füßli hatte offenbar seine Mütcnbcscisic.'wnz nach Eng-
land von zu Hause milKenommcn. Bodrner becinflusstc ihn. Wir
wissen, daß Rudolf Füßli, sein älterer Bruder. 1758 eifrig im
V. P. las (so berichtet Wieland am 24. April 1758 an Zimmer-
mann, AusKC wählte Briefe von C. M. W., p. 274).
K n 0 w 1 e s gibt uns die Themata der Gemälde und p. 236 be-
richtet er uns vom Verkaufe verschiedener. In Hrch. PucSIis
Saemmtlichen Werken, von denen nur iwc. Licfcran-
Ken herauskamen, befindet sich im 2. Heft (Zürich !*09) ein Stich
„Satan, von Ithuricls Speer berührt". Ijcssings Rat, die Engel
nicht zu malen, befolgte P. nicht
") Vgl. Neue Briefe W, v, Humboldt» an
Schiller (1796-1803), bearbeite, a. hrsg. v. Fried r. Cle-
mens Ebrard, Berlin 1911, p. 154 (4. September 1797):
„Unter den Menschen, die ich bisher sali, hat mich noch am
meisten der alte Denis intercssir:. Cr hat das für sich, dafl er,
wie alle älteren Leute, außer seiner eignen Individualität eine
sanze Zeit und eine ganze Classe rcpräscntirt . . . Lob der
frühern Deutschen Literatur, Khge, daß das goldnc .K\\ct vor-
über ist, . . .".
»•) Knowles, 3. Bd.. p. 68.
— 126 —
Und verraten nicht die in den achtziger und neun-
ziger Jahren entstandenen Übersetzungsfragmente, daß
man sich auch in den weitern Kreisen mit Vorliebe der
paradiesischen Motive oder der lyrischen Partien er-
innerte?
Wenn also noch von einem Lebendigsein Miltons die
Rede sein kann, so betrifft das nur die wenigen angedeu-
teten Stellen, unter welchen natürlich auch die Hymne an
das Licht, die Fr. von Matthison kennt,") oder einige Züge
der Größe in Satans Charakter.^^) 1797 setzte der Musikus
Reichard, der Besitzer zweier Opernhäuser, für sie den
Morgen gesang in Musik (Text von Bürde nach Mil-*
ton), der oft aufgeführt und Jahrzehnte hindurch zu den
klassischen Musikwerken gerechnet wurde."')
V/as war Milton den Gelehrten? Es mochte noch
solche geben, die wie Adelung gegen den schwülijtigen
•'■) Vgl. Briefe von Fr. Matthison, verb. Anfluge,
Zürich 1802, p. 234 (14. Juli 1793). Beim Hinaustreten aus der
Quelle bei Pfäffers erzählt er: „Hierauf begaben wir uns auf den
Rückweg; und freudig, wie Milton nach seiner Hüllenreise,
begrüßte ich das Sonr.cnlicht, als wir wieder beim Badehause
ankamen". (Ähnlich in den Erlnnerungea von Fr. v.
Matthison, 1. Bd., Zürich 1810, p. 168). Imfs. Bd. der Er-
innerungen (Zürich 1812), p. 23 f erzählt ^\., wie Joh. v.
Müller ihm ein Fragment über die beste Leistung
eines jungen Genies gegeben, woraus er 'die p. 81 unten
angeführte Stelle von Herder zitiert.
**) Darauf weist auch Carstens Stoffwahl, s. oben p. 124.
Jo h. Q e 0 r g M ü 1 1 e r schreibt am 31. Jan. 1791 an seinen Bru-
der Johann: „An v/ahrer Größe ziehe ich Milton weit vor.
Klopstoks Engel sind oft schwache empfindclnde Seelen". (Der
Briefwechsel der Brüder J. Georg Müller und
Joh. v. Müller, 1789—1809, hsg. von Eduard Haug,
Frauenfeld 1893, p. 25 f.). In längst vergessenen, schwer
zugänglichen Dichtungen ließe sich vielleicht noch ein. Nachfahr
Satans, finden.
»*) Vgl. Wilhelm Bode, Die Tonkunst in
Goethes Leben. Berlin 1912, 1. Bd., p. 259.
~ 127 —
Milton auftraten (über den deutschen Styl !78I). Sie
bilden jedoch die Ausnahme.
J. J. Eschenburg schrieb 1784 in seinem E ni w wri
einer Theorie und Literatur der schönen
Redekünste zur Qrundlasrc bei Vorlesun-
gen (p, 216 der Ausgabe von 1817, ßeriin und Stettin):
„Das klassische epische Gedicht der Engländer, und zu-
gleich das edelste und erhaben! te Muster der neuem Re~
ligionsepopöe, ist Milton's "veriornes Paradies:
reich an Dichtung, an kühnen und großen Bildern, man*
nichfaltiger Beschreibung, hoher Dichtersprache, und vielen
andern Schönheiten, über die man einigen Widersinn in
der Anlage des Ganzen imd im Gebrauch der Maschinen
leicht vergiüt." Wie wir sahen, wählte er für seine Bei-
spielsammlung (1788) den Anfang des 5. Buches,
In der in der Allgemeinen deutschen Bibllo«
thek von 1794 (Bd. 10. 2. Stück) erschienenen Anzeige
von Bürdcs Übersetzung heißt es (p. 532k „Man 'vciß, daE
sich an der Manier des großen, und im Giinzen mit Ri'chi
bewunderten, englischen Dichters manches aussetzen Ilßt»
, . . Besonders gehört dahin Milions oft verschwendete ind
übel angebrachte Gelehrsamkeit, der scientifischc Schwung
in manchen Unterredungen seiner Personen, die cinge-
flochtcncn Erörterungen theologischer und metaphysischer
Spitzfindigkeiten u, s. f." Deshalb hätte der Übersetzer
kürzen «ollen.
Ähnlich lauten die Urteile in den um die Jahrhundert-
wende erscheinenden theoretischen "Schriften.
Die Nachträge zu Sulzers allgemeiner
Theorie der :>chöncn Künste (oder Charak-
tere der vornehmsten Dichter aller Natio-
nen... von einer Gesellschaft von Gelehrten. 7. Bandes
1. Stück, Leipzig 1803) widmen John A\ilton und besonders
dem V. P. eine längere Abhandlung (p.I69— 208). Sie rüh-
men an der Dichtung die gewaltige poetische Kraft, beson-
— 128 —
ders in der Schilderung des himmlischen Krieges (p. 191).
„Aber leider! drängte sich in die Darstellung des alttesta-
mentlichen Mythus die christliche Dogmatik ein und unter-
jochte die Einbildungskraft des Dichters, so daß sie nur
bisweilenv in dem Gefühl ihrer eigenthümlichen Macht, die
usurpirte Gewalt von sich stieß und ihren Fesseln ent-
schlüpfte." Die Antinomie wird hervorgehoben (p. 197 f.).
Auch die Schilderung des ersten Menschenpaares ist durch
Pedanterie verdorben (p. 203). Aber ».nichts ist schöner
und reichhaltiger, als die Beschreibung des Traums, in
welchem Adam die Schöpfung des Weibes erblickt (VIII»
355); eine Beschreibung, welcher vielleicht nur die beseelte
Schilderung von Adams erstem Besinnen und Aufmerken
(VIII, 253") an die Seite gestellt werden kann." (p. 205.)
Noch andere mächtige Einzelszenen werden gerühmt. Pro-
ben werden in Bürdescher Übersetzung angeführt.
Ludwig Wachler meint in seinem Handbuch der
allgemeinen C u 1 1 u r , Zwcyte Hälfte 1805, p. 759,
Miltons unsterbliches Meisterwerk sei „das Produkt einer
lange unterhaltenen, melancholisch-erhabenen Gemüths-
stimmung, in welchem das Gefühl eines unbefriedigten Da-
seyns laut und kräftig ausgesprochen" sei. Obwohl dies
Urteil kaum von eigener Lektüre zeugt, redet auch Wachler
das Allgemeingut gewordene Urteil nach, daß sich Milton
nur zu oft theologische, dogmatisch-polemisierende und
allegorisierende Digressionen erlaube; überall herrsche
aber großes Leben, tiefe Empfindung und unerschöpflich
reiche Phantasie.
Weil das V. P, nicht mehr gelesen wurde, arteten die
Urteile in Phrasen aus. Die Meinung über Milton war
mehr' oder weniger bei allen dieselbe, wenn auch die theo-
retische Begründung je nach den überlieferten Maßstäben
verschiedene Färbung erfuhr.
Friedrich Bouterwek macht sich in seiner Qe-
-^ 129 -'
schichte der Künste und Wissenschaften
seit der Wiederherstellung derselben bis
an das Ende des 18. Jahrhunde rtSv Dritte Abtei-
lung, Geschichte der schönen Wissenschaf-
ten» 7. Bd. (Göttinnen 1809). p.4!6 ff. anheischig', die hohc.a
Schönheiten und großen Fehler des V. R im richtigen Ver-
hältnisse zueinander darzustellen.
Das Gedicht lasse sich aber nicht nach den alt licrge-
brachtcn Regeln beurteilen. Boutei'-vck kommt zum Kr-
gebnis, daß das V. P. eine gelungene Verschmelzung meh-
rerer Dichtungsaiten sei. (p. 420 ) „Wah'-haft episch sind
in dem verlornen Paradiese nur die Partiecn, in denen die
bösen Geister glänzen, und die Erzählung des wundervollen
Krieges, den längst vorher die guten Geister mit den abge-
fallenen geführt usw." Adam und Eva und der allmilchiigc
Gott seien nicht heroisch, sondern nur Satan, dessen Größe
Bouterwek anerkennt*") (p. 418,9). Hinter dem Epischen
verberge sich auch Dramatisches.
Aber das Interesse sei mehr didaktisch als episch.
Die didaktischen Stellen seien sehr gu: in die Erzählung
*°) In seiner A c s t h c t i k (Leipzig iS(i6» schreibt er, zui-
sclien seiner moralischen und äsiiieiischcr Aufiassunj: kämpfrnd,
(p. 157/S): „Nicht das Moralische seihst, sonJcrn das Imposante
in der nioralisciicn Natur, hat aejthetischc Grüße" . . . ^ber
wen:: dann auch ein rniltonischcr Satan in seiner Art nichts zu
wünschen übrig liiüt, so darf das höhere Bewußtscyn dts Großen
in tns doch nur ein weni»: in die acsthctischc Reflexion ein-
drin,4cn, und die canze satanische Majestät versinkt unter der
Erscheinung eines kidpstockischen Messias". Solch ein LTtcil
crkläri; uns. warum Bouterwek Satan nie als „Held* des Kp.is
ansehen wollte. Von moralischen Faktoren hat er sich noch
nicht voüstündiß befreit, was er in der Geschichte....
jedoch nicht merken laßt. Da hat er auch die frühere Behaup-
tung fallen lassen, den höllischen Geistern Miltons fehle trotz
ihrer Manigfaltigkeit eine „bestimmte acsthctischc Idee" (Acsihe-
tik p. 258/9).
PUeo, MJlton d
— 130 —
verflochten. Daher sei der Eindruck auf ein für religiöse
Poesie empfängliches Gemüt hinreißend und begeisternd,
(p. 417.)
Doch auch für didaktische Poesie sei Milton nicht ge-
boren gewesen. „Sobald er Verse machte, wurde sein
Gefühl lyrisch, und selbst die moralischen und religiö-
sen Betrachtungen, denen er sich so gern überließ, erhielten
einen lyrischen Ausdruck. Das Interesse der Erzählung
war ihm also auch bei der Erfindung seines verlornen Para-
dieses das untergeordnete. Er fand keine Begebenheit, an
welche er seine Lieblingsgefühle und Betrachtungen so poe-
tisch anknüpfen könnte, als, an die biblische Geschichte
des Sündenfalls. Den Himmel und die Hölle, zwei Extreme
im moralischen Sinne, feierlich zu beschreiben, und zwi-
schen beide das reizende Bild der Unschuld der Stamm-
eltern des Menschengeschlechts in einer lieblichen Glorie
hinstellen; was konnte seiner kühnen und doch immer auf
das Moralische gerichteten Phantasie willkommener sein?"
(p. 41S).
In seiner A e s t h c 1 1 k (Zweyter Theil, p. 388) hatte
Bouterwek die Behauptung aufgestellt, das V. P. habe eine
verkehrte Einheit, denn eine Verherrlichung Satans wolle
es doch nicht sein. Dadurch hatte er sich auf Lessings
Seite gestellt, der darlegte, daß das Interesse an Satan
dasjenige am Allmächtigen weit übertreffe. .letzt aber
sprach er dem Gedichte überhaupt jegliche Einheitlich-
keit ab.
Bouterwek bietet uns keine durchdachte Auffassung
des V. P., sondern eine geschickte und gelehrte Zusammen-
fassung dessen, was schon darüber gesagt wurde. Schablo-
nenmäßig gliedert er das Gedicht in seine epischen, drama-
tischen und didaktischen Bestandteile. Soweit ist er aka-
demisch-objektiv.
— 131 -^
Wenn er aber behauptet, Milions Qeiüh! werde lyrisch,
sobald er Verse mache — dann wird er willkürlich. Kr-
kenni er doch selbst an. daß gewisse Szenen „wiindcrvoll
episch** seien. Noch willkürlicher ist er, wenn er saRt,
das Interesse der Erzählung sei Milton das untergeordnete
gewesen. Da schreibt er Milton zu. was c r verschuldet
Ihm ist die Fabel Nebensache, nicht dem Dichter. Ihm
gefällt nur das Lyrische.
Herder, der das „Wunderbare" im Gedichte nicht ver-
dauen konnte, machte das puritanische Dogma dafür ver-
antwortlich. Er war darin klüger als Boutcrwek, obschon
er so wenig wie dieser den Grund einsah, weshalb das V.
P. als Ganzes unkünstlerisch ist.
Aber das Ziel, dasBouterwek auf seinem Weg erreichte,
war schließlich auch die bloße Anerkennung einiger „Lieb-
lingsgefühle und Betrachtungen**.
So stand der Gelehrte dem Geschmacke seiner Zeit
nicht fern, besonders, wenn er, der Tradition gemäß, das
Gelehrte, Scholastische und manchmal allzu Groteske im
Gedichte kritisierte (p. 423/4). Die Leute, die Klopstocks
Pathos nicht mehr verstanden, unterschrieben wohl den
Satz, daß der gleichförmig-feierliche Gang von Miltons
Sprache auf die Länge ermüde (p. 424).
Bouterwek packten vor allem die lyrischen Stellen.
dann auch „die Schrecken der Hölle und die Freuden des
Paradieses** (p. 423).
Bei denjenigen, die fremde und -eigene Anschauungen
zusammenstoppeln, ist die Erkenntnis dessen, was in
ihnen von einem Kunstwerk lebendig ist, nicht leicht.
Vielleicht ist sogar das wenige, das wir aus Bouterwcks
„aesthetischem Kramladen** herausdestilliert haben, nicht
das, was ihm Milton sagte, sondern nur das Echo zusam-
mengetra;5ener fremder Wertschätzungen. Aber auch in
diesem Falle ist es für uns interessant, da es uns zeigt.
— 132 —
was ein Mann, der das Wissen seiner Zeit zusammenfassen
wollte, über den Dichter des V. P. sagt. Deckt sich doch
Bouterweks „Geschmack" im Grunde mit den von uns ge-
sammelten Geschmacksäußerungen, die er also bestätigt.
Sechstes Kapitel
Die Frühromantik
„Welcher Lebendige, Sinnbcjrablc, liebt nicht vor allen
Wundererscheinungen des verbreiteten Raums um ilm, das
allerfrculiche Licht — mit seinen färben, seinen Strahlen
und Wogen, , . . . Wie ein König ^qt irdischen Natur ruft
es jede Kraft zu zahllosen Verwandlungen» knüpft und löst
unendliche Bündnisse, hängt sein himmlisches Bild jedem
irdischen Wesen um. — Seine Gegenwart allein offenbart
die Wunderherrlichkeit der Reiche der Welt.
„Abwärts wend ich mich zu der heiligen, unaussprech-
lichen, geheimnisvollen Nacht . . . /*
„Wie arm und kindisch dünkt mir das Licht nun."
So sang um die Jahrhundertwende Novalis.*) Cr, der
trunken der göttlichen Liebe im Schoß lag. suchte das Über«
irdische nicht mehr im Glänze des holy light. sondern Ira
geheimnisvollen Dunkel der Naclit. Und was ist gegen
diese Miltons Nacht, die Herder noch so sehr geiricsen.
In Hardenbergs mystisches Reich wollten alle Früh-
romantlkcr steigen. Eine neu erwachte Religiosität erfüllte
sie, aber eine Relijriosität, die sie von Milton weg in die
*) Nova]is Schriften. Kritische Ncuauss:abe lut
Gfiind des handschriftlichen Nachlasses von Ernst Heil*
born, Erster Teil, Berlin 1901. p. 4'<5 6.
— 134 —
Arme Dantes trieb.'*) Tieck/) Schelling,*) Caroline Schle-
j;cl,'') vielleicht auch Heinrich Steffens *) und Fichte '') mag
das V, P. in ihrer Jugend vorübergehend etwas gewesen
sein ~ in ihrem späteren Leben spielte es sozusagen keine
Rolle mehr.
Es war um 180Ö, als Friedrich Schlegel nach einer
neuen Mythologie suchte und in Schelling einen Gleich-
gesinnten fand. Unter dem Einfluß der idealistischen Phi-
losophie kam Schlegel zum Postulat einer Mythologie, die
sich nicht wie die alte unmittelbar an das Nächste und
Lebendigste der sinnlichen Welt anschließen darf, sondern
aus der Tiefe des Geistes herausgebildet werden muß. Die
Mythologie ist somit die neue Poesie überhaupt, die, als
reelle Erscheinung, mit dem Ideellen, dem sie entsprungen,
in Einklang steht. Die Dichtung ist die sinnliche Pro-
jektion des Universalgeistes. Zur selben Ansicht kam
Schelling: „Die Philosophie schaut das Absolute in seinen
') Vgl. Arturo Farinelli in seiner Rezension von Emil
Sulger-QebinK» Qoetlie und Dante, Bullettino della So-
cietä Dantesca Italiana vol. XVI, f. 2. (Qiugno 1909)^
p. 91 ff.
^) Tieck schreibi am 17. Dez. 1818 anSoiger: „Zuwider waren
mir fast immer die geistliclien und christlichen Dichter, wie
Milton, vor allem aber Klopstock in seinem Messias." (Sol-
gers nachgelassene Schriften und Brief-
wechsel I., hsg. V. L. Tieck u. Fr. v. R a u m e r , Leipzig
1826, p. 695). Vgl. auch E. A. Regener, Tieckstudien, Ro-
stocker Diss. 190.3, p. 22. M. kommt in einem unveröffentlichten
Aufsatz T.s über das Erhabene vor.
*) Vgl. Aus Schellingä Leben, In Briefen, Erster
Band (1775-1803), Leipzig 1869, p. 17.
'■•) Vgl. Caroline, Briefe' aus der Frühromantik, Nach
üeorg Waitz vermehrt hsß. v. Erich Schmidt, Leipzig
1913. p. 74.
") Vgl Heinrich Steffens, Was ich erlebte,
Zweiter Bd. (Breslau 1840), p. 112.
') Vgl. J. Q. F i c h t e s Leben und literarischer Briefwechsel,
Von seinem Sohne J. H. Fichte. 2. Aufl., L Bd., Leipzig 1862,
p. 17 Anm.
^ 135 -
besonderen Formen an, den Ideen, wie sie zn sich sind, den
Urbildern. Auch die Kunst schaut das Urschönc in seinen
besonderen Formen an, aber den Ideen, sofern sie real sint!,
— den GeKenbildern*'.')
Nach dieser Theorie kann also der Ünivcrsalseisi, Qot:,
in der Kunst nur in seinem GeKcnbilde. der Welt, dargestellt
werden und niclit in persona. Deshalb finden v-ir bei den
Romantikern nur ablehnende Urteile über das V. P.
Der Katholizismus hat eine wahrhaft poeiische Mytho-
logie geschaffen, die der Protestantismus durch sein ab-
strakteres Wesen zerstörte.
!n neuer Formulierung taucht der Vorwurf ^cgen die
Antinomie im V. P. auf.
Der orientalische Dichter, sagt Sclielling in seiner
Philosophie der Kunst, ist ..mit seiner Einbildungs-
kraft ganz in der übersinnlichen oder Intellektuaiwelt, wo-
hin er auch die Natur versetzt, statt umgekehrt die Intel-
Icktualwelt — als die, worin Endliches und Unendliches eins
sind — durch die Natur zu symbolisircn und so ins Reich
des Endlichen zu versetzen.*) . . ." ..Wollte man die Engel
als Personificationen von Wirkungen Gottes auf die
Sinnenwelt denken, so wären sie als solche in ihrer Unbe-
stimmtheit doch wiederum ein bloßer Schematismus, und
also zur Poesie unbrauchbar".'*") Im Gegensatz zu Milton
ist Dante das Muster eines Univcrsalgeistes, da er die
ganze Welt in ihrer realen Form hat darstellen können.")
*) VrK für diese Stelle: Dr. .^riiz Strich. Die My-
thologie in der deutschen Literatur von Klop-
stock bis Wagner, Halle 1910. Zweiter Band. p. 125 u$u.
(s. Register).
°) Vgl. Vorlesungen über die Philosophie der
Kunst (gehalten 1802/3 und 1804 In Jena und 18fi5 in Würi-
burg) in den Sämmtlichen Werken, 1. Abt., 5. Bd.
(Stuttgart und Argsburg 1859), p. 422.
'") ebd., p. 43^.
'') Werke, 1. Abt, 5. Bd.. p. 152/163 (im Aufsau Ucber
Dante in philosophischer Bexiebung).
— 136 —
An Hand dieser Philosophie deckt A. W. Schlegel in
seinen Vorlesungen über schöne Litteratur
und Kunst'') alle Widersprüche im V. P. auf, und
predijit Friedrich Schlegel in seiner Geschichte der
alten und neuen Litteratur") die indirekte
Darstellung des Christentums, d. h. die Darstellung des
Einflusses, den sein Geist auf die Poesie ausübt.
Diese Betrachtungsweise war aber nicht die bloße
Folge einer philosophischen Abstraktion, sondern der Aus-
fluß eines Scelenzusiandes oder Geschmackes, der in der
Weltanschauung der Frühromantik seinen Ausdruck fand.
Dieser Seelenzustand war nicht verschieden von demjeni-
gen Hardenbergs, als er sich zur Befriedigung seiner gött-
lichen Sehnsucht vom klaren Lichte abwandte.
Die Romantiker wollten das Göttliche nur ahnen,
nicht sehen. „Was ist es denn, was im Homer, in den
Nibelungen, im Dante, im Shakespeare die Gemüter so un-
widerstehlich hinreißt, als jener Orakelspruch, des Herzens,
jene tiefen Ahnungen, worin das dunkle Räthsel unseres
Daseyns sich aufzulösen scheint", schreibt einmal A. W.
V. Schlege!.'')
Schlecht verträgt sich das Heroische mit dem Rätsel-
haften, Unbestimmten. „Wie freut es mich, daß Sie die
kindliche, spielende Seite der Religion fühlten !*', ruft Tieck
in einem Briefe an Solger aus.") „Wie hat Klopstocks
M i 1 1 0 n immer nur das Ernste, ja Abschreckende dabei im
^^) Im 2. Teil, vQeschichte der klassischen Litte-
ratur (1802—1803) --= D. L. D. Bd. 18, p. 205 ff.
!''■) Vorlesungen gehalten 1812, gedruckt 1815 in Wien,
Zweyter Teil. vgl. p. 9 if. und ?. 142,
»*) Vgl. Briefe an Fr. Baron de la Motte Fouqu6,
hsg. V. Dr. H. Klctkö, Berlin 1848, p. 357 (12. März 1806).
") Vgl. Solgers nachgelassene Schriften...
1. Bd.. p, 453 (13. Okt. 1816).
— 137 —
Sinne!" Auch Friedrich Schlegel empfahl, man solle Jen
christlichen Teufel in Form von Sataniskcn einführen (ob-
gleich vielleicht der Satan der italienischen und cnclisclien
Dichter poetischer sei). „Es giebt vielleicht kein ange-
messneres Wort und Bild für gewisse Bosheiten en minia-
ture, deren Schein die Unschuld lieb;; und für jene reizend
groteske Farbenmusik des erhabensten und zartesten Math-
willens, welche die Oberfläche der Größe so gern zu um-
spielen pflegt**.")
Aus der bloßen romantischen Theorie läßt sich die
Stellung, die die neue Schule Milton gegenüber einnimmt,
nicht völlig erklären. Denn wenn sie vom Dichter ver-
langte, daß er sich auf diese Welt beschränken solle, so
konnte ihr Miltou zum Teil auch genügen, nämlich da. wo
er unserer ersten Eltern idylliscncs Leben schildert, und in
einigen höllischen Szenen, Bleibt also die Frage, ob die
Romantiker die künstlerisch vollkommenen Partien des V.
P. rein ästhetisch beurteilten oder ob auch diese ihnen
aus psychologischen Gründen nicht zusagten.
Da die Schule sich für das Ahnuiigsvol e, Rätselhafte
begeisterte, konnte sie nicht diese Eigenschaften auch in
den oben angedeuteten Stellen vermissen?
Unter den Frühromanlikern war August Wilhelm
Schlegel in seiner Wertschätzung des V. P. der doktri-
närste.
Und zwar wurde die .Meinung, die er von Milun hcgic,
immer schlechter, je mehr er sich in die neuen Lehren hin-
einlebte. Früh schon verglich er die Teufel Mütons mit
denjenigen Dantes.") 1794 nannte er in dem neben seiner
*") Vgl. Jak. .Minors Ausgabe dtr Prosaischen
Jugendschriften (Wien 1882). 2. Bd^ p. 271.
*') Vgl. Germanistische Abhandluntcn. Mer-
mann Paul zum 17. Märt 1902 dargtbrach;. StraBburg 1902,
— ISS'-
Danteübcrsctzung herlaufenden Kommentar Miltons
Satan „gigantisch, aber durchaus edel'*") und erkannte
den Kunstgriff an, „wodurch er (Milton) die Bewohner der
Hölle, die sonst aus der Poesie eben sowohl wie aus dem
Himmel verbannt sein müßten, einer schönen Darstellung
fähiger gemacht hat". Noch 1797 urteilt er ähnlich.")
Zwei Jahre später warf er im Athenäum ") einen
scheelen Seitenblick auf den kindlichen Anthropomorphis-
mus im V. P.
Obgleich er Dantes Teufel bevorzugte, erkannte Schle-
gel 1794 auch das Poetische des Miltonschen Satans an.
In seinen 1802/3 abgehaltenen Vorlesungen hingegen spricht
er nur den Geschöpfen des Italieners dichterische Existenz-
berechtigung zu. „Er (Milton) behauptet ausdrücklich, daß
die bösen Engel durch den Fall nicht alle Tugenden ein-
gebüßt haben, und in der That spricht Satan wie ein Cato;
dieß widerspricht aber dem Begriff, denn so wäre er 'ja
nicht wirklich in der Hölle gewesen, die nichts anders be-
deuten kann als die vollendete innre Verderbniß".*^)
Qoethe fand Miltons Satan zu negativ, Schlegel zu po-
sitiv. Dieser ließ sich offenbar durch die philosophische
These irre machen, daß die Kunst das reelle Qegenbild des
Ideellen sein soll. Das der Hölle entsprechende Ideelle ist
das rein Böse, das in seinem reellen Pendant nichts Gutes
haben kann. Infolge dieser Theorie trägt A. W. Schlegel
noch viel mehr Abstraktes in die Kunst als Milton, er ver-
Auk'ust Wilhelm Schlegel und Dante, von Emil
S u 1 g e r - G e b i n g , p. 122 u. 124.
") SUmmtliche Werke, ed. Ed. Böcking, Leipzig
1846 f. Bd. III, p. 290 f.
") ebd., 11. Bd.. p. 156, in der Beurteilung von Benko-
wltz' u. Qrohmanns Schriften.
*>) II. Bd., 2. Stück, p. 208..
") D. L. D. 18, p. 206,
— 139 —
langt direkt eine abstrakte Poesie, welche eine contradictio
in adjccto ist, weil das Wesen der Kunst das Konkrete und
Individuelle ist.
Deshalb findet Schlegel auch an den prächtigen
Kämpfen zwischen den bösen und guten Engeln nichts
Gutes. Sic haben keine „symbolische Bedeutung".
„Diese fehlt bey Milton gänzlich; und in der Tliat, wie
ist es denkbar, daß Geister anders mit einander fechten,
als durch Gedanken und Gesinnungen; und was soll ans ein
Krieg der Engel, wenn darin nicht der im Universum sich
offenbarende Kampf des guten und bösen Princips einge-
kleidet ist? Hier berühre ich den Hauptmangel des ganzen
Gedichts, daß es ihm nämlich an religiöser .N\ystik
und symbolischer Naturansicht fehlt....
So wie der Fall Lucifers unter Miltons Händen eine ganz
äußerliche und zufällige Begebenheit geworden, so hat er
auch den Sündcnfall. dieses heilige Rüthscl. weiches am Ein-
gange der Geschichte der Menschheit steht, diese ewige
Hieroglyphe durch sein moralisierendes Detail gänzlich ent-
mystisirt und tu einer kahlen Verständlichkeit gebracht" ")
A. W. Schlegel wurde so gerade den Partien, in wel-
chen Müton seine Individualisierungskunst zeigt, nicht ge-
recht. Nur etwas erkannte er im V, P. an; Die Allegorie
von Sünde und Tod.
Auf Grund derselben Weltanschauung kam Schellinif
zu einem günstigeren Urteil über die Dichtung. .\uch er
vermißte im Gedichte die Symbolik und wahre Mythologie
und entrichtete damit der romantischen Theorie seinen
Tribut. Aber die Einsicht, daß im sog. reellen Gcgcnbild
alles individuell dargestellt werden müsse, bewahrte ihn
vor weiteren Irrtümern. „Miltons Gestalten sind zum Thcil
wenigstens wirkliche Gestalten mit Umriß und Bcstimmt-
") ebd., p 208.
— 140 ^
licit, so dali man z. B. seinen Satan, den er als einen Qig:an-
ten oder Titanen behandelt, von einem Qcmälde abge-
nommen glauben könnte, während bei Klopstock alles
Wesen- und gestaltlos, ohne Gediegenheit wie ohne Form,
schwebt".") „In der Thai verräth M i 1 1 o n eine Bildsam-
keit des Geistes, die kaum zweifeln läßt, daß, wenn er das
unverstellte Vorbild des Epos vor Augen hatte, er sich ihm
beträchtlich mehr genähert hätte, als es geschehen ist, . . -
Milton theilt übrigens die meisten Fehler des Virgil, z. B.
den Mangel derjenigen Absichtslosigkeit, die zum Epos
gehört, obvvohi er in Ansehung der Sprache z. B. sich ver-
hältnißmäßig der Einfalt des Epos mehr als Virgil nähert.
Zu den Fehlern, die '^r mit Virgil gemein hat, kommen die
eigcnthiimlichcn hinzu, deren Grund in den Begriffen und
dem Charakter der Zeit, sowie in der Natur des Gegen-
standes liegen".-*)
V^ie alle jener Zeit kann Schclling das Lehrhafte im
V. P., das Absichtliche, nicht ertragen. Aber er gibt doch
Miltons Gestaltungskraft zu, wenn ihm auch, eben wegen
des Stoffes, das Gedicht nichts mehr zu sagen scheint.
Friedrich Schlegel verurteilt an Hand der romantischen
Doktrin v/ohl die direkte Darstellung des Christlichen, fügt
aber dann hinzu: „Der Werth dieses epischen Werks liegt
daher nicht sowohl in dem Plar des Ganzen» als in ein-
zelnen Schönheiten und Stellen, und demnächst in der Voll-
kommenheit der höhern dichterischen Sprache. Was dem
Milton die allgemeine Bewunderung erworben hat, die er
im achtzehnten Jahrhundert fand, das sind die einzelnen
Züge und Darstellungen paradiesischer Unschuld und
Schönheit, und dann das Gemähide der Hölle, und die Cha-
-') Philosophie der Kunst. Werke, 1. Abt., Bd. V,
p. 441.
") ebd., p. 656.
Liter?
Il*^ ~ 141 —
rakteristik ihrer Bewohner, die er in einer j^roCen und fast
antiken Art wie (jijrantcn des Abj;rundes schildert".")
Schlcjjel ist in einem Irrtum befangen, wenn er glaubt,
im achtzehnten Jahrhundert hätten nur einzelne Stellen des
V. P. gefallen. Diese sind nach seinem Qeschmackc das
einzig Schöne des Gedichtes.
ihm stimmt Ludwig Tieck bei. wenn er im Brief an
Solger sein Urteil über Milton zusammenfaßt: „Im Muten
ist gerade die Allegorie von Sünde und Tod. die man hat
tadeln wollen, recht, die Schilderungen des Paradieses und
der Unschuld schön, einige Qcmüthsbewcgungen Satans
groß, und Gott Vater und die Hierarchie, die Disputation im
Himmel, der Kntschluß Christi für die We'.t zu sterben, und
alles, was damit zusamenhängt, höchst albern".'*) Daß
t^in A. W. Schlegel oder ein Tieck die Alhgoric von Sünde
und Tod anerkennen würde, war bei ilirer Vorliebe für
alles, hinter dem sich noch etwas suchen läßt, zu tru arten.
Als Schiller in dem uns bekannten Brief auf Miltons
Zeit zu reden kam, verglich er sie mit der eigenen, die der
Entstehung der allegorischen Kunst auch förderlich sei: Cr
stellte also Miltons Dichtungsari der romantischen zur Seite.
Nicht mit Unrecht, macht sich doch in beiden das Ab-
strakte schädlich bemerkbar. Aber die Romantiker waren
doch vom Wahne frei, das Übersinnliche verkörpern zu
wollen. Deshalb kamen sie zu Ergebnissen, die sich mit
denjenigen der Klassiker decken. Goethe will das Gött-
liche fühlen, die Romantiker es ahnen.
Wir haben die romantischen Urteile iibcr .Milton im
19. Jahrhundert suchen müssen: aber in ihnen spiegeln sich
die Gedanken, die die junge Generation um 1800 erfüllten.
'*) Geschichte . . . Zweiter Teil. p. M3.
^*)Sol]i;ers nachgelassene Schriften. Bd. 1.,
p. 453.
— 142 —
Fr. Schlegels Vorlesungen besonders zeigen uns den roman-
tischen Geschmack in seiner abgeklärtesten Form.
Weder den Romantikern, noch den Klassikern sagte
das V. P. etwas; sie erkannten in ihm nur einige Partien an,
die vielen ihrer Zeitgenossen ein Erlebnis bedeuten konnten.
Miltons Verlornes Paradies hat in Deutschland ein
eigenartiges Schicksal erfahren.
Den begeisterten Empfang, der ihm vor 1750 auf deut-
schem Boden bereitet wurde» verdankte es' nicht in erster
Linie seinen künstlerischen Vorzügen, sondern seinem dog-
matisch-didaktischen Inhalt. Gerade Miltons Gestaltungs-
fähigkeit, wie sie in seinem Satan zum Ausdruck kommt,
wurde am wenigsten gewürdigt.
Seil Lessing erst wurde des Dichters Schö'pierkraii
als solche gewertet. Satan fand Anerkennung, ja Ver-
ehrung. Abe»* im aufkommenden realistischeren Geschmack,
der dem V. P. mehr Gerechtigkeit verschaffte, lag Miltons
Todesurteil begründet: Das Seraphische, das im Gedicht 2
keinen reinen Ausdruck gefunden, wurde bei Seite gescho-
ben und dann abschätzig verurteilt. Selbst Satan, der sich
im dogmatischen Milieu nicht ganz ausleben kann, fand
in den Gestalten anderer Dichter, die dem neuen Ge-
schmack und Verständnis mehr zusagten, eine erdrückende
Konkurrenz. So kam gerade das beinahe Beste, das Milton
hervorgebracht, in Deutschland nie recht zur Geltung.
Besser als dem gefallenen Erzengel erging es den
Szenen, in denen Adams und Evas unschuldiges Leben ge-
schildert wird; sie fanden, weil in ihnen Dogma und Kunst
beinahe völlig verschmolzen sind, sowohl zu Bodmers Zeit
als auch später begeisterte Leser.
Sie, einige gewaltige Satanszenen und die lyrischen
Stellen, wurden zu Ende des Jahrhunderts auch von den
Liier?
H-' — 143 —
maßgebenden Dichtern mehr oder weniger gebilligt, ohne
daß sie ihnen etwas bedeutet hätten. Denn das deutsche
Geistesleben hatte um 1800 solche Höhen erklonmicn. daß
die fraglichen Partien, schon ihres bnichstückariigcn Cha-
rakters wegen, nur noch Geistern, die der neuen Zeit nicht
folgen konnten, zum Erlebnis wurden.
Das neunzehnte Jahrhundert bewegt sich in seinem
Urteil in den von der Klassik und Romantik vorgczcich-
nctcn Bahnen.
Miltons Name stirbt nicht;") aber selten tritt ein Be-
wunderer auf wie .\ug. v. Plaien."*) Von Zeit zu Zeit wird
eine Übersetzung versucht 1S64 kann Immanuel Schmidt
inHerrigsArchiv (Bd. 36, p. 117) sagen: .,In Deutsch-
land . V . gibt es nur höchst Wenige, die mit dem Verlornen
Paradiese bekannt sind; unserer Zeit scheint alles Interesse
an Milton's Poesie zu fehlen". Kenner der englischen Lite-
ratur gab und gibt es immer, für sie niag das Dichterwort
gelten:
„Verschollen ist der Lärm der Gasse,
Döch ob Jahrhundert um Jahrhundert flicht,
Von einem bangen Mädchen aufgeschrieben.
Sind Miltons Rächerverse stchu gebüeben.
Verwoben In sein ewig Lied".
(C. F. Me>cr, Miltons Rache.)
'0 Die historische Persönlichkeit wird sogar auf die Bühne
zcbracht. Zu einem Singspiel M i 1 1 o n von S p o n 1 1 n i schrieb
Qeorc Fr. Treitschke den Text (Wien 1S05). .\uch R a u •
pach und Carl von Holtei truzcn sich mit dem ücdankcn.
für S p o n t i n i dasselbe zu tun. Vj:l. Qocdcckc, Grund-
riss IX, p. 521.
='') Daß In Heines Schöpfungsliedern Qott aui
Satans Vorwürfe im V. P. antworte, nimmt S i e e. Lcvy ohne
zwingende Gründe an. (Vgl. Schnorrs Archiv . . Bd. 12,
p. 482/3). Die Vorwürfe erhebt der Dichter selbst und läßt den
verhöhnten Gott darauf erwidern.
Curriculum vitae
Ich, Enrico Pizzo aus Padua, wurde am 6. Apri! 1890
als Sohn eines Italieners und einer Deutschschweizerin in
Zürich geboren. 1896—1902 besuchte ich daselbst die
Primarschule und 1902— 190S das kantonale Literargym-
nasium, das ich im Oktober 1908 mit dem Reifezeugnis
verließ. Darauf habe ich an der ersten Sektion der philo-
sophischen Fakultät der Universität Zürich mit Ausnahme
eines Jahres (Herbst 1910 bis Herbst 1911), während dessen
ich an der Royal Gramm.ar School Colchester eine Lehr-
stelle bekleidete und die Edinburger Ferienkurse mitmachte,
bis Frühling 1913 germanische und englische Philologie
studiert, ich besuchte die Vorlesungen und Seminarien der
Herren Professoren A. Bachman, A. Frey," NX'. Freytag, 0.
Meyer von Knonau, A. Stadler f, A. Wreschner, Th. Vetter
und der Herren Privatdozenten R. Faesi, B. Fehr, K. Frey.
Am 26. April bestand ich das Doktorexamen. Gegenwärtig
bin ich Hilfslehrer an den höheren Stadtschulen Winterihur
und am Gymnasium Zürich. Allei;i meinen Lehrern, beson-
ders aber den Herren Professoren A. Bachmann, A. Frey
und Th. Vetter sei für das Empfangene der herzlichste Dank
ausgesprochen.
Literarhistorische rorschun'geu . .<.■ .^■:\..,:rg
lieft IS ilcliodor niul seine ncdptiljuisr ftir i' f. ••,
Ocftoriii;:. -j.— M. r^iib-k-ij.tso;.«' :
,: 19 Thomas Kjd's SpaisUh Ti-nrödjr. \,, . , ., , k^-j^,.;.
- ^' ?/'e""J'^,'' '^''-^'^ '""^ .•^>!?S''''i.^^^ ^ raV5!-,.if« .'i:i«'af(V„ Qn*r.^.
,. 20 Wort iiik] r.rru'utunar in (^oothos Sivrn.h«' ^ i>,-„^v*
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H'huhte (icT i^o^0IlMn^lf^Iu■rn^'^ n. Von Wem r l)<eiir' ' ■'^'
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„ 22 LiiJsri I'.ilcl ixuil tho Mf-rjaufi-» Mory^or*. iJr f...v.is ,,,, . ,^
2.— ."\I, Sul>kr:pii(t:)i-prcis 1.70 Ji *
' -'^ I^.i't- Uffrain l» .<lcr frarizrrsischpa Cha <v,r. Von Cu«iar ?htir*u.
1^ — M, Snbskriptiotiiiprcs !0.1>» M
" -'• ^VA^^Vr yV■^^^'.^'•'»»^• Kjn^'rnto^sn.-^ ^^•:JheimM;?^.nc:^
_.iO :^l, hnliikniuon^prois 2.2;.» M
.. 5.-) Der Ma.inliohnor Miak?sponn\ nir n.s<>liioh> d^
LJulc-lJcrnny«. 2.-~M, j^uhr; "vM
„ 2G l)ic nio.VrliijMliM;!«'» «nd tlfulM-Iu« I{«irH»:jt,nsoi. vom Tli^nin.
K.vd« SpanJsh Tnigodv. Von »t-M." t?-hü'?jnverlh ts - ^
Snl)sknj)i.on;-'j)rcis 7. - >l
,, 27 Ilfiuiioli Ht'WjfK VorhHIfnis /.a I^^nj ilvi .s». Vnp ¥>''/•% ^«olc«. r
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,. 28 IJalicl Vaniliufffii und die nosnaiti^k. Vor fL iiraf 'j?0 >f
i'>uh.s.jriptionsprcif? 2.— M " '
„ 2i3 !)«(> LlolK'sliiroHn der Provpm -.»l.'n i-.. di.i .V
Stauforzdi. Ivne ÜJcraihiiäU:^:^.:};.- l', • — i;tinnif
doritz. .'{. - M, Snliskription"-;):.;:! 2.<lc^ ■■'
,. 30 Natlimilcl loo's Traii<>jspWl Tlt(>.'Kt<H,Sit* . - r (Vr,. Vnn
Fritx Hesß. K-V) M, S!ili-kji()iio;5sr.ro- 4.- - ^t
,, 31 JoJin IJanlajs Arsronls. Eine !itc-r^';i , r^«. »l^ ?* . ,
Kar! FrifnJrich Hchtni.!. }.— >J, f*i:' . /> sl
,, 32 IJopvc-AinIcthiis. Das alifraiur,siMhi; Kjk.^ ,. liamtonc
;!ii(l (icr l-rspruiii; der Hamlclcaef. Von lln^^U /.eu,>-r '.. - M
Subskriptionspreis *>.— M
„ ci SMIoy und die Frauen. Von Otto Maurer. 3..,, M, Subskrip«
tionsprciK 3.— M "^
,. 34 Ben JonsoM. 3I;t ciium nüdi.'s. Vcn Ph-I; -,; .«ror^-^ii. <• .. M
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., 35 Sltidles \n Kn-^MMi Fauvl I.lleratnrr. V^r. Ali; tj K H-. • ard»
J. 'Ihc Fn^ilish Wa^rntr Book o( J.M^J F^iied wiih h.tjv-.JuMi^.tj ml
>of.(s. J..7) M, Sul^kriplior.iipreis j.— M
., 3C Ileinc und sein >Vifz. Von Kr» eh K^'k <•.»/. 4 ~ Af j^unskrn.
tionsprcis 3.'»0 31 • • t i
,, 37 Neue IJcWriice zur Ix-fknnde und Kritik. InsW^ndere lam CÄMir
l5orj:!a uiid zur S(,plionMuu Von Ulio Mehr. 3^:»M fciuUinfc.
lionsprciB 3X»0 M ' '
, 38 Itohert IlroMnlnsrR Vcrhillini« i:« Frnnkrflifc. Von K^rl F. hniidt
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„ 3& Die drei Diauianlen de»; I.op<' de V<fra u
Von ])r. Gertrud Xlunsner. 1 — M. • a.- >!
VERLAG von EMIL FELBER in ESERLi.N' \V 57
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PR Pizzo, Enrico
3562 Miltons Verlornes
P59 Paradies im deutschen
urteile des 18. Jahrhunderts
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