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Full text of "Miltons Verlorenes Paradies im deutschen Urteile des 18. Jahrhunderts"

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iltons 

Verlornes  Paradies 

im  dsutsehen  Urteile 
des  18-  Jahrhunderts 


Von 

Enrico  Pizzo 


f      '^1 


V^rls-g  vor.   E ra t f -E'ei-be r 
1914 


•^'C 


1016  7  7  3 


Meinen  verehrten  Lehrern 

Prof.  Dr.  A.  Frey 

und 

Prof.  Df.Th.Veiier 

in  Dankbarkeit  zugeeignet 


Vorwort 


Die  Anregung  zu  diesar  Arbelt  verdanke  ich  Herrn 
Prof.  Dr.  Th,  Vetter,  der  mir,  wie  auch  Herr  Prof.  Dr.  A.  Frey^ 
während  der  Ausführung  wohlwollend  und  hilfreich  zur 
Seite  stand.  Der  Auffassung  der  Arbeit  hat  die  Lektüre  von 
Benedetto  Croces  Schriften  viel  genützt. 

Verschiedene  Winke,  Auskünfte  und  Zustellungen  von 
Büchern  schulde  Ich  d^n  Herren  Prof.  F.  Hübler  (Graz),  Prof. 
Dr.  M.  Koch  (Breslau),  Prof.  Dr.  H.  Maync  (Bern),  Prof.  Dr. 
j.  0.  Robertson  (London)  und  Prof.  Dr.  A.  Stern  (Zürich). 
Auch  sei  der  Stadt-  und  Kantonsbiblioihek  Zürich,  der  deut- 
schen Seminarbibliothek  Zürich  und  der  kgl.  Hof-  und 
Staatsbibliothek  München,  deren  Schätze  ich  ausgiebig  be- 
nützen konnte,  dankbar  gedacht. 

Die  Arbelt  wurde  im  April  1013  abgeschlossen. 


Inhalt 


Vorwort 

Vorbemerkung 

Einleitung.  Mütons  Bekanntwerden  in  Deutschland 

1.  Kapitel.  Bodmer  und  seine  Zeit    .    . 

2.  Kapitel.  Das  Zeitalter  Leasings ;    .    . 

3.  Kapitel.  Herder  in  Sturm  und  Drang 

4.  Kapitel.  Sturm  und  Drang     .... 

5.  Kapitel.  Die  Klassik 

6>  Kapitel.  Die  Prühromantlk 


Seite 


l 

15 
48 
73 
82 
103 
133 


Vorbemerkung 

In  dieser  Arbelt  habe  Ich  festzustellen  versucht,  inwie- 
fern Mlltons  Verlornes  Paradies  während  des 
achtzehnten  Jahrhunderts  in  Deutschland  zum  ilterarischen 
Erlebnis  geworden. 

Es  kam  mir  darauf  an,  in  jeder  Periode  das  vltalo 
Interesse  an  der  Dichtimg  zu  'Ermitteln,  auch  wenn  es  sich 
hinter  einer  Theorie  verbarg.  Denn  während  bei  Lessing 
Theorie  und  spontaner  Qoschmack  übereinzustimmen 
scheinen,  ergeben  sich  z.  B.  bei  Bodmer  zwischen  dem  ge- 
lehrten Wissen  und  der  angewandten  Kritik  interessante, 
noch  nie  recht  hervorgehobene  Unterschiede,  die  das  wahre 
Verhältnis  su  Milton  erst  aufdecken. 

Oft  fand  ich  in  2inwirkungen  auf  Dichtwerke  Auf- 
schluß. Ich  benutzte  die  Arbeiten  von  J.  Bächtold,  Th. 
Vetter,  Fr.  Muncker  und  F.  Hübler,^)  während  mir  Gustav 
Jennys  Leipziger  Dissertation  Mlltons  verlornes 
Paradies  in  der  deutschen  Literatur  des  18» 
Jahrhunderts  (1890)  wenig  Brauchbares  bot. 

Für  die  Einleiiung  lieferte  mir  J.  Q.  Robertsons  Vor- 
trag Miitons  Farne  on  the  Continent^)  einige 
wichtige  Einzelheiten.  Über  des  Dichters  Wirken  nach  der 
Seraphik  fand  ich  mn  wenige  Detcilforschungen  vor.  Vie- 
les habe  ich  .selbst  zusaVnmengetragcn.  Beinahe  immer 
war  mir  das  Symptomatische  die  Hauptsache. 

Das  gewonnene  Material  bemühte  ich  mich  synthetisch 
zu  verarbeiten,  vom  Bestreben  geleitet;  die  Veränderungen 
im  Qeschmack  der  verschiedenen  Perioden  deutlich  her- 
vortreten zu  lassen. 


*)  T h.  V e  1 1 c r ä  und  Fr.  Munckers  Arbeiten  werden 
an  Ort  und  Steüe  angeführt  werden.  F.  H  ü  b !  e  r  s  Progranm- 
schrlft  ist  betitelt .  Milton  und  K 1  o  p  3 1  c  c  k  j  Reichenberg 
I.  B.  1893—1.895,  3  Hefte. 

»)    From    the   Procäsdinas    of    the    British 
Acadcmy,  vol,  HL,  London  1908. 


Einleitung 

Miltons  Bekanntwerdet!  in  Deutschland 

Der  Umstand,  daß  John  Miltonv  als  er  sein  Para- 
d  i  s  e  Lost  vollendete,  sich  schon  als  Staatsmann  und  po- 
litischer Schriftsteller  einer.  vv':iithin  reichenden  Namen  ge- 
macht hatte,  erleichterte  dem  Dichter  Milton  das  Be- 
kanntwerden auf  dem  Kontinent.  Absr  bis  ins  achtzehnte 
Jahrhundert  blieb  aut  dem  fcstlande  das  Verlor eno 
Paradies  beinahe  t'nbeachtet.  Noch  1732  begann  J.  J, 
Bodmcr  die  Einleitung  zu  seiner  Miltonübertragung:  „MU- 
ton  wäre  in  Deutschland  noch  vor  wenig  Jahren  alleine 
berühmt  als  ein  grosser  Freund,  und  Secretar  des  Protec- 
tors  Olivier  Cromwels.  Von  seinen  vortrefilichen  Gedich- 
ten wußten  nur  einige  wenige  auserlesene  Kenner  zu 
-agen/* 

Solcher  Kenner  hatve  es  gegeben.  Im  Staatsdienste 
,'16  auch  nach  seiner  Erblindung  verkehrte  Milton  mit 
Deutschen,  Zu  s.'Jnen  Bek.?.r.nten  gehörte  wahrscheinlich 
auch  der  in  England  lebende  Theodor  Haake,^)  der  arste^ 


*)  Vgl.  A.  Stern;,  Milton  u  Ji  d  ü  e :  n  e  Zeit,  Zweiter 
Teil,  Drittes  Bu:h,  Leipzis  1879,  p.  .?6  und  J  o  h.  3  o  1 1  e ,  Die 
beiden  Ultcsten  V&rd&utschungen  von  Miltcns 
Verlöre  iiem  Paiadies,  Zeitschrift  fürvergl. 
L  i  t  s  r  a  t  u  r  2  e  s  c  h  i  c  h  •.:  e .  N.  F.  I.  (Berlin  1887/88),  p.  430  f. 
Ein  Manu£l<ript  der  liaakeschen  Übersetzung  hat  sich  auf  der 
Landesbibliothek  zu  Kassel  arbalten.  Es  umfaßt  die  ersten  drei 
Bücher  und  SO  Verse  des  vierten. 

PtKSO,  Miltoo.  1 


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der  das  V.  P.  (ßegen  das  Ende  der  siebziger  Jahre  des  17. 
Jahrh.)  zu  übersetzen  beg:ann  und  es  2uch  anderen  Deutschen 
zuKänglich  zu  machen  versuchte:  Er  muß  zwei  Kopien  sei- 
ner nie  gedruckten  Übertragung  nach  Deutschland  gesandt 
haben,  eine  an  einen  gewissen  Joh.  Sobald  Fabricius 
(16.22--?),  der  ihm  schmeichelhaft  antwortete:  „Incrcdibile 
est,  Quantum  nos  afieccrit  gravitas  stili  et  copia  lectissi- 
morum  verborum'*,*)  und  eine  an  Ernst  Qottlieb  v.  Berge,') 
den  er  zu  einer  zweiten  1682  zu  Zerbst  erschienenen  Über- 
setzung anregte.  Berges  Arbeit  ist  eine  Verschlimmbesse- 
rung derjenigen  seines  Vorgängers;  die  noch  unbeholfe- 
nere, dunklere  und  verworrenere  Sprache  zeigt  uns,  wie 
schwerverstUncilich  Miltons  hoher  Stil  den  Deutschen  jener 
Zeit  var. 

Andere  Deutsche»  die  nach  England  kamen,  wurden 
von  Kaakc  auf  den  englischen  Dichter  aufmerksam  ge- 
macht, so  M.  L.  Benthem,  der  als  Frucht  eines  englischen 
Aufenthalte.  1694  jungen  Theologen  zur  Anleitung  seinen 
Enge  Hündischen  Kirch-  und  Schulenstaat 
schrieb,  In  welchem  er  über  Haakes  und  Berges  Versuche 
und  auch  über  Milton  selbst  unterrichtete/)  Benthems 
Werk  wurde  dann  in  den  Monatlichen  Unter- 
redungen Einiger  guter  Freunde  von 
allerhand  Büchern  und  andern  annehm- 
lichen Geschichten,  October  1694  .  .  .  ausgezogen. 

')  So  erzählt  K.  L.  Benthem  im  Engelländl- 
schen  Kirch-  und  Schulenstaat,  p.  116  der  mir  vor- 
liegenden Neuauflajre  von  1732. 

")  Vgl.  J.  B  0  1 1  e ,  !.  c,  p.  427  f« 

*)  Die  erste  Auflage  war  mir  nicht  zugänglich.  Nach  J.  0. 
Robertson  äußert  er  sich  p.  57 ff.;  in  der  zweiten  Auflage 
p.  115  ff  und  1121  ff.  Die  erste  Auflage  erschien  in  Lüneburg,  die 
zweite  in  Leipzig, 


p.  831/2  finden  wir  die  Nachricht  über  Haakc  und  Berge 
noch  einmal. 

Auch  Daniel  Qcorg  Morhof  war  das  V.  R  bekannt. 
1682  erwähnt  er  es  in  seinem  Unterricht  .  .  .')  und 
1688  in  seinem  Polyhistor.*)  Das  Gedicht  scheini  ihm 
nichts  zu  sagen.  Nur  der  Mangel  des  Reims  fällt  ihm  auf. 
Im  Polyhistor  sagt  er  über  Miltons  Dichtungen:  „Piena  in- 
genii  et  acuminis  sunt,  sed  insi:avii  tarnen  vidcntur  ob 
Thythrni  defccturn;  quem  ego  abesse  a  tali  cirminum  gcncre 
non  posse  existimo.  .  .  .*' 

Wie  Morhof,  so  mochte  den  meisten  Gclehncn  das  V. 
P.  äußerlich  bekannt  gewesen  sein,  besonders  nachdem  es 
Hog  1690  ins  Lateinische  üb;rtragcn,  um  es  auch  .extcrls 
rcgionibus"  zugänglich  zu  machen.  In  Bayles  D  i  c  t  i  o  n  - 
nairchlstorique  et  crltique  (1695—1697,  II,  59*J). 
in  den  ActaEruditorum  (1700,  p.  371)  »si  es  erwähnt. 
J.  F<  Buddeus  nennt  es  in  seinem  Allgemeinen 
historischen  Lexicon  (1709)  „vortrefflich"  J.  B. 
Mencke  hingegen  erwähnt  es  in  seinem  Comped lösen 
Qeichrtcn-Lexicon  (1713)  nicht.') 

Aber  war  das  V,  P.  damals  für  niemand  etwas  mehr 
als  ein  bloßer  Name?  Für  Gelehrte  nicht;  wohl  aber  für 
einzelne  vom  Schicksal  Begünstigte,  welche,  ohne  akade- 
mische Vorurteile,  die  englische  Literatur  direkt  kennen 

*)  Daniel  Oeoree  Morhoftn  Unterricht 
von  der  Teutschcn  Sprache  und  Poesie,  deren 
Uhrsprung,  Fortcang  und  Lehrsätzen.  Kiel  16^1, 
p.  568/9. 

**)  Polyhistor  sive  de  notitia  «uctorum  et 
rerum  conmcr.  taril,  Lübeck  I6S8,  Üb.  I.  Kapt.  XXIV, 
p.  302,  §  82. 

'')  Trotzdem  sicli.  wie  Robcrtsonv  p.  3.  nachueisu  aux 
der  Bibiiothcca  Menckeniana,  Leipzig;  1723.  p.  561, 
ergibt,  daß  Mencke  ein  Exemplar  des  V.  P.  besaß. 

V 


lernten/)  Aus  Kamburg,  das  mit  England  lebhafte  Be- 
ziehungen pflegte,  tönen  uns  zu  Anfang  des  neuen  Jahr- 
hunderts zwei  Stimmen  entgegen,  die  als  prophetische  Vor- 
boten einer  neuen  Zeit  erscheinen.  Es  ist  interessant,  daß 
die  zwei  Hamburger  Dichter,  mit  dferen  Streit  für  uns  die 
neue  Ära  des  Geschmacks  zu  beginnen  scheint,  Christian 
Heinrich  Postel,  der  eifrige  Vertreter  des  Marinismus,  und 
sein  Gegner,  der  von  Bodmer  später  als  Herold  der  neuen 
Zeit  gepriesene  Christian  Wernigke,  beide,  einmal  mit  der 
englischen  Literatur  in  Berührung  gekommen,  sich  dem 
Eindrucke  des  V.  P.  nicht  entziehen  konnten.  In  der  Vor- 
rede zu  seiner  Listigen  Juno  (1700)  spricht  Postel  von 
dem  „vortreflichen  Engländer  Milton" ')  und  in  den  reichen 
Anmerkungen  zu  dieser  Übersetzung  des  14.  Buches  der 
llias  führt  er  unter  den  Parallelstellen  bei  neueren  Dichtern 
auch  die  bei  Milton  an.  Wie  manche  mochten  sich  damals 
wohl  an  der  wunderschönen  Laube  erwärmen,  „darin  Adam 
und  Eva  sich  ergetzet"  (p.  484)?  In  den  Fußnoten  zu  sei- 
nem Großen  Wittekind  führt  Postel  alle  Anklänge 
an  Iremde  Dichter  selbst  an;  die  an  Milton  übergeht  er.") 

*)  Wie  bekannt  das  V.  P.  damals  In  England  war,  darüber 
orientiert  R.  D.  Havens  in  Englische  Studien,  1909 
(40.  Band),  2.  Heft,  Seventeenth  Century  notices 
of  Milton,,  p.  175—186  und  ebd.  The  Early  reputatlon 
of  the  Paradise  Lost,  p.  187—199. 

®}  Die  Listige  Junö.  Wie  solche  von  d<;ni  großen 
Homer  /  Im  vier2ehenden  Buche  der  llias  abgebildet  /  Nach- 
mahls von  dem  5i£choff  zu  Thessalonich  Custatius  ausgeläget  / 
Nunmehr  in  Teutschen  Versen  vorgestsllet  und  mit  Anmärckun- 
gen  erkülhret  Durch  Christian  Henrich  Postel,  Ham- 
burg 1700. 

**)  Schon  J.  j.  ß  0  d  m  e  r  machte  auf  einige  Ähnlichkeiten 
aufmerksam  in  seiner  Ausgabe  von  Gotthard  Heideggers 
kleineren  deutschen  Schriften.  ..  JVlit  kritischen 
Vorreden  und  Nachrichten,  1732,  p.  175.  Auch  Georg  Fins- 
1er,  Homer  in  der  Neuzeit  von  Dante  bis  Goethe. 


Chr,  Wcrnigke  besingt  den  blinden  Mllton,  von  dem 
er  nötig  findet  zu  sagen,  wer  er  sei;  **)  er  gesteht,  daß  er 
früher  dem  Hoffmannswaldau  mehr  unjrehangen  hibc.  a^s 
er  noch  keinen  englischen  und  französischen  Poeten  gelesen 
und  die  lateinische  Sprache  nur  der  Sprache  wegen  ge- 
trieben hatte.  Lohenslein  und  Hoffmannswaldau  hauen  in 
ihren  Schriften  mehr  falschen  als  wahren  Witz;  ein  Mangel 
sei  es,  daß  Hoffmannswaldau  in  seiner  Vorrcdü  den  Milion 
nicht  erwähne.")  Was  Wernigke  an  Milton  anzog,  läßt 
sich  erraten;  denn  in  der  Vorrede  zu  seinen  Gedichten  er- 
fahren wir,  was  er  wünschte:  Eine  Poesie,  die  aufs  Herz 
geht. 

In  Deutschland  gelangte  abe«*  In  den  ersten  Dezennien 
des  18.  Jahrhunderts  die  Verstandespoesie  zur  Herr- 
schaft.   Für  Milton  war  die  Zei:  noch  nicht  gekommen.") 


.  .  .  Leipzig  u.  Berlin  1912,  giaubt,  Milton  habt  Pcsicl  bcosn- 
flußt  (p.  390).  Mir  sind  bcsonderä  im  vierter.  Buche,  vo  Lucifer 
Wittekind  Untcrjrang  schwört,  Ankiänsrs  aufKcfallcr;:  Austrabe 
Hamburfc  1724,  p.  93  (v.  763  ff)  und  p.  94  (v.  787«). 

")  Poetischer  Versuch/in  einem  Hc^dcn^Ocdtcht  tnd 
etlichen  Scliüffer-Qedichtcn  /  Mchrcntcüs  aber  In  Cbcrschriff- 
tcn  bestehend HajTiburg  1704,  p.  333.  Wiederabge- 
druckt: Christian  Wcrnigkes  Epiframmc,  hrs.  unU 
einsci.  von  Rudolf  Pcchcl,  Bcriir  1909  (Palaestra 
LXXI).  p.  492. 

")  p.  170  f,  im  Neudruck  p.  3?6, 

^')  In  den  Nova  Literaria  Oermaniae,  Cot* 
lecta  iiamburfti,  Cditaque  Jilii  .MDCCIII,  p.  245.  in  der 
Neuen  Bibli  othek  oder  Nacbric.h  t  undUrtheile 
von  neuen  BQchern,  Frankfurt  und  Leipzig.  An.  1710.  p. 
472,  536,  im  Neuen  3ücher-Saa!  der  Gelehrten 
Welt.  XVII.  OfinunjT  (1712),  p.  343  wird  M.  sjiKCJührt,  aber  nur 
als  Schriftsteller.  F.bcnso  in  den  auch  von  Robertson,  p.  2 
angeführten  Werken*.  C.  Qryphiu-s,  Anparatus  sive 
dissertatio  isazogica  de  scriptürlbus  histo- 
riam  seculi  XVH  illustratibus,  Leipzig  1710.  p.  S2(K 
333 ff;    V.  Paravicijii.Sinsularia    de    viris   erudi- 


~    6    — 

Addisons  Spcctatoraufsätze  über  das  V.  P.  fanden  zu- 
erst in  Hamburii  Eingang;  ein  Jahrzelint  später  auch  in  der 
Sghweiz.  Barthold  Heinrich  Brocl^es,  der  früh  Englisch 
gelernt  und  unter  Marinos  Einfluß  eine  Vorliebe  für  biblische 
Stoffe  rjefaßt  hatte,  ließ  sich  wohl  bald  durch  Addison  zur 
Lektüre  Miltons  anregen.")  Dann  machte  er  sich  aucn  an 
eine  Übertragung.")  Erschienen  sind  ehiige  Bruchstücke 
erst  1740  und  1746.'°) ,  An  eine  Beeinflussung  von  Brockes' 
Hauptwerk  Irdisches  Vergnügen  in  Gott  (9  Bde.v 
1721—45)  durch  Milton  j^laube  ich  nicht.")  Gott  in  de:  Natur 
zu  suchen,  lernte  Brockes  von  Leibnitz,  Thomasius  u.  a. 
Milton  bestärkte  ihn  wohl  nur  in  dieser  Neigung.") 

In  den  übrigen  Gegenden  des  deutschen  Sarachgebie« 


tlon e  Claris.  Basel  1713,  p.  207.  Auf  den  PoiltiKcr  Milton 
wies  der  In  Deutschland  oft  erwähnte  Freidenker  Toland  in 
seinem  Life   o  f    Milton. 

-*)  Wenn  Job.  U.  König,  der  während  der  zweiten  De- 
zenniums in  Hamburg  war,  am  28.  Milrz  1724  an  Bodmer  schreibt, 
die  englischen  Dichter  seien  ihm  teils  durch  Übersetzungen,  teils 
durch  einen  geschickten  Freund  bekannt,  der  ihm  die  besten 
daraus  erkUtrt,  so  weist  das  auf  frühe  gemeinschaftliche  Lektüre 
der  beiden.  (Vgl.  Litterarische  Pamphlete  au.s  der 
Schweiz,  Zürich  1781,  p.  46). 

")  Ober  die  Abfassungszeit  vgl.  A.  B  r  a  n  d  I .  B.  H. 
Brockes,  Innsbruck  187S,  p.  100. 

")  Er  übersetzte  den  Schluß  des  4.  Buches  und  das  Mor- 
gengebet zu  Anfang  des  5.  Beide  gedruckt  in  seiner  Übertragung 
von  Popcs  Versuch  vom  Menschen,  Hamburg  1740, 
p.  140 ff.  Das  Morgengebet  nochmals  im  VIII.  Buche  des  Irdi- 
schen Vergnügens  in  Qott  (1746),  p.  629—632. 

•'')  Wie  Jenny  p.  15  behauptet,  der  sich  aber  den  Nach- 
weis schenkt.  Nur  einmal  findet  Brockes  das  Miltonsche  Pathos. 
Vgl.  Alfred  Biese,  Die  Entwickelung  des  Naturgefühls  im 
Mittelalter  und  in  der  Neuzelt,  Zweite  Ausgabe,  Leipzig  1892» 
p.  289. 

*')  A.  Brand!,  p.  46,  schreibt  dem  Morgengesang  am' 
Anfang  des  5.  Buches  des  V.  P.  ^insn  großen  Einfluß  auf  die  Ent- 
wicklung von  B.K  Weltanschauung  zu. 


—    7    — 

tes  blieb  der  Dichter  des  V.  P.  während  des  zweiten  und 
der  ersten  Häh'te  des  dritten  Jahrzehnts  beinahe  so  wenis: 
bekannt  wie  vorher.  Beinahe!  Denn  da  in  Trankrcich  das 
Interesse  im  Zunehmen  begriffen  war,")  so  mußte  es  sich 
auch  in  dem  vom  Nachbarn  abhänk'ifrcn  Deutschland, 
vor  allem  in  dessen  Qclehrtenzeitungen  spiegeln. 
So  sagt  die  Erste  Nachlese  der  neuen  Biblio- 
ihec  Franckfuri  und  Leipzig  1717»  p.  136),  indem  *\q  nach 
dem  Journal  Literaire  de  i'Ann'k;  MDCCXA'K 
T  0  m  e  H  u  i  t  i  e  m  e ,  P  r  e  m  i  e  r  e  P  a  r  t  i  c  .  die  Popesche 
Iliasüb:rsetzung  anzeigt:  „Die  Invcnsion  ist  der  Grund 
eines  Gedichts.  li  o  m  c  r  u  s »  spricht  der  4  u  t  o  r,  übertrifft 
dariiin  alle  andere  ...  Es  ist  ein  Feu.*r  n  V  i  r  t;  i  H  o . 
aber  ci  ist  nur  wie  ein  Wiederschein  im  Spic.^.!l  .  .  ,  In 
M  i  1 1 0  n  wird  es  durch  die  Kjuist,  als  in  einem  Ofen  unter- 
halten, und  in  Shakespear  schlägt  es  unvcrmuthct  als 
ein  DonncrschlflR".  Die  Zeitschrift  findet  es  für  nötig,  in 
einer  Anmerkung  zu  erklären:  „Miltoa  und  Shakespear  sind 
zwey  Englische  Poeten  davon  der  eine  in  Helden-  und  der 
andere  in  Theatralischen  Gedichten  excclüret  hat " 

hl  der  Bibliothcca  Eruditorum  praeco- 
cium  (1717)*")  weiß  J.  Klefeker  mehr  über  Milton  als  die 
früheren  Lexikographen,  aaf  welche  er  verweist  „Para- 
disus  amissus  (P  a  r  a  d  i  s  e  Lost)  poema  elcgantissimum 
Epicumv  decem  (!)  libris  divisum,  ...  In  hoc,  vcnus,to 
pochnatc  latino,  lusii  Sam.  Barrow,  Doctor  Mcdicus  Anglus, 
quod  non  modo  inseruit  libro  suc  Tolasidus  p.  136,  scd  ctlam 
de  praestantia  ejus  multa  disseruit:  Poema  ilkid  his  disii- 
chis  absolvitur: 

'•)  Vgl.  J.  .VI.  Tellecn,  Milton  dans  !a  litii- 
rature  francaise,  Paris  !904.  p.  7 fi. 

^')  Klefckcri  Blbliothc;'*  Erudiiorum  prae- 
c  0  c  i  u  m  sivc  ad  scripta  huius  areuncnti  Spicücsium  et  acccw* 
sioncs.  Karobursi  apud  Christianum  Uel>cteit  MDCCXVII.  p. 
233—2-14. 


—    8    - 

Cedite  Romani  Scriptores,  cedite  Qraji, 
Et,  quo:  fama  reccn<;,  vel  ceicbravit  anus, 
Haec  quicunque  leget,  tantum  cecinisse  putabit 
Moeonidem  ranas,  Virgilium  Culices."  ^*) 

Neben  dem  V.  P.  kennt  Klefeker  auch  noch  andere  Ülch- 
tu;!igen  Mütons. 

Zu  dieser  Zeit  kamen  die  Buchhändlier  von  Leyden 
haag  und  Amsterdam  dem  Bedürfnisse  des  französischen 
Publikums  nach  englischen  Büchern  entgegen,  welche  sie 
in  französischer  Sprache  verbreiteten.  Seit  1717  er'^^hien 
in  Amsterdam  die  Bibliotheque  Angloise"  ou 
histoire  Literaire  de  la  Grande  Bretagne. 
Par  Mr.  D.  L  R.  Was  in  ihr  und  im  ebenfalls  holländi- 
schen Journal  litt^raire  steht,  wird  in  den  deui- 
sehen  Zeitungen  gewissenhaft  registriert.*')  Im  J  o  u  r  n  a  l 
littßraire  erschien  1717  (IX.  3d.)  die  bekannte  Dis^ 
sertaticn  nur  la  Poösie  angloise,  in  der  Mii- 
ton  eine  hervorragende  Stellung  eingeräumt  ist  (p.  177  ff.). 
Ein  gewisser  Krause   wollte  sie  in  den  zwanziger  Jahren 

"')  p.  241. 

•*')  So  wird  in  der  oben  erwähnten  Ersten  Nach- 
lese ..  .  1717  aus  ZV/elter  Hand  auf  Sir  Richard  Black- 
niore'ti  2ssay  upon  severa!  subjects  hingewiesen 
und  hervorc:3hobcn,  daß  Bi.  auch  vcm  Hcldengedichi;  handle. 
p.  ?46f  heiSt  es  dann:  „Die  Engellünder  haben  die  Vortrefflich- 
keit Von  des  Miltons  vcrlohrnem  ParadieS  lange 
nicht  erkanl,  endlich  aber  durch  daßelbe  und  des  P.  L  e  B  o  s  s  u 
tractat  sich  aufmuntern  laßen,  di^  Regeln  dieser  Art  von 
Poesie  zu  studieren". 

In  den  Neuen  Zeitungen  von  gelehrten 
Sachen,  Leipzig  1715  if,  finden  wir  Müton  bisweilen  erwähnt 
„£r  folgt  nicht  biol2  den  Alien,  sondern  hat  immer  etwas  neues", 
heißt  es  172.1?  (p.  188)  von  ihm  im  Anschluß  an  J.  Trapps 
Oxfordervorlesungen  Pr aelecti  ones  Poeticae.  p  293 
wieder  erwähnt-,  1724  p.  706. 


für    das  Journal    der  Bobcrfcldischnn  Gcsellschafl    über- 
setzen.**) 

Es  ist  nicht  imwahrscheinllch,  daE  Johann  Jacob 
Bodmer  (1698—1783)  durch  eine  dcranixe  Erwähnung  in 
einer  deutschen  oder  französischen  Zeitung  auf  Miiton  aaf- 
merlcsam  wurde.-*)  „Aücin,"  sagt  Hans  Bodmer  mit  Recht, 
„konnte  nicht  auch  Zellwegcr  den  BUck  des  Freundes  auf 
einen  Dichter  gelenkt  haben,  dessen  Werk  dieser  doch  aus 
seinen  Händen  zuerst  empfing?'**')  Wie  sich  Bodmcrs 
Herz  am  Werke  des  englischen  Dichiccrs  :jntzündetc  und 
wie  er  den  Plan  zu  seiner  Überiray.ung  faßte,  ist  bekannt 
Auch  von  den  ersten  Eindrücken,  die  er  von  der  Dichtung 
erhielt,  erzählen  uns  Bodmers  Briefe  an  ZcUweger, 

Trotzdem  man  dem  Namen  des  enxlischcn  Dichters  in 
Poetiken")  v..  ä  begcianiet  (selbst  mit  Uriicilen,  die  nach 
den  französischen  Regeln  gefaßt  sind),  $o  wurde  er  In 
Deutschland'  doch  erst  bekannter,  als  man  In  Prankreich 

^=»)  So  schreibt  U.  König  am  IS.  Juni  1756  an  Bodtncr. 
Am  gleichen  Orte  spricht  er  auch  die  Absicht  aus.'  eine  Rezen- 
sion von  Haakes  Übcrsctzurg  zu  s.chrcibca  (A.  Brand!, 
Brockes,  p.  157). 

'*)  Vgl.  Die  AnfSnKC  des  zürcherischen  Mii- 
ton, von  Hans  Bodmer  (Stwdien  zu  Llttcratar- 
«eschichtc»  .Michael  Bcnayi  ;c  widmet  von 
Schülern  und  Freunden),  Hamburie  und  Leipxia  iSW, 
p.  179—199.    p.  183  diese  Fraec  bttrcffe^c, 

''')  ebd.,  p.  183. 

-°)  Wie  z.  B.  in  der  1725  zu  Breslau  erschienenen  .Anlei- 
tung zur  Poesie  /  Darinnen  ihr  Uisprunc  /  Wachsihum 
/  Beschaffenheit  und  rechter  Gebrauch  unicrsuchct  und  jiczcieel 
wird  .  ,  ,  p.  7C,  und  p.  15.5:  „Unter  «^encr.  SnuJandcrn  hat  Mllton 
ein  Carmen  cpicum  geschrieben,  da;-  vciiustiite  ParadciO  ge- 
nannt, ist  aber  eigentlich  kein  Meldcn-Qcdichtc.  weil  Adam  und 
Eva  fi^llcn,  i;nd  nicht  in  der  Heroischen  Acli(*n  ia  Ende  be- 
harren. Es  ist  sonsi  von  ziemlicher  Empfindunz.  aber  £>chr  hoch 
und  tiefsinnig,  nach  der  Englischen  Art". 


—    10    — 

von  ihm  zu  sprechen  anfing.  Voltaires  Essai  sur  la 
Poesie  öpique  (1727,  zuerst  englisch,  dann  überset7.t 
von  Abb6  Dcsfontalnes,  1732  von  Voltaire  französisch  über- 
arbeite:), N.  F.  Dupr6  de  Saint-Maurs  Übersetzung 
(Paris  1727),"")  Addisons  ins  Franzosische  übertragene  Auf« 
Sätze,-*/  dii  gegen  ihre  Übertreibungen  gerichtete  Dis- 
sertation critique  sur  le  Paradis  Perdu 
(1729)  von  C.  F.  Constantin  de  Magny  machten  das  V,  P. 
zu  einer  viel  besprochenen  Dichtung. 

Im  Anw^chluß  an  diese  Schriften  wurden  die  deutschen 
Qclehrtenzeitungen  gesprächiger  über  Miiton. 
Bald  kündigten  sie  auch  Courbevüles  neue  l'ranzösiche, 
Zantens  holländische  und  Rollis  italienische  Über- 
s  e  t  z  n  n  k  '*")  an,  1730  äußerte  auch  Qottsched,.  auf  die  ^ 
Franzosen  gestüti:t,  seine  ersten  Bedenken  gegen  den  eng* 
lischcu  Dichter  (Kritische  Dichtkunst). 

"')  Ss!ner  übarsetzung  schickt  Dupr6  de  Saint-Maur 
eine  Übcrsetzunji  von  Eiijah's  Life    of  Milton    voraus, 

^®)  In  der  ersten  ÜberlragunK  des  Spectator  figurierten 
bckannicrwolse  die  Aufsätze  über  Milton  nicht.  D  u  p  r  c  de 
Saint-Maur  übertrug  sie  jetzt  mit  Hilfe  B  a  r  r  e  t  s  ins  Fran- 
zösische. 

•'*)  Neue  Zeitungen  von  gelehrten  Sachen 
(1728),  p  654  (RolHs  Übers,  versprochen),  p.  186 f  die- 
jenige 3ain;'-Maurs  angezeigt,  p.  764  dicjnnise  i^ollis, 
p,  223  diejenige  Zantens,  p<  344  dlejerTisic  Courbevüles.    . 

!73l  werden  Saint-Maurs  Anmerkungen  zu  seiner 
Übersetzung:  resümiert:  „  ,  ,  man  hü!t  davor,  Korr  Addison  habe 
dieses  Kck'en-Gcdicht  allzu  sehr  bewundert;  und  da  es  einigen 
mißJallcn,  daP  Herr  Addison  sagt,  v/enr.  man  dem  vcrlohrncn 
Paridies  den  Titel  eines  Helden-Gedichtes  streitig  mache,  solle 
man  es  Qin  Göttliches  Gedicht  nen^ien;  so  haben  sie  es  vielmehr 
ein  teuflisches  Gedicht  benlehmen  (!)  wollen,  well  ...  der  Satan 
der  He!c  des  Verlohrnen  Paradieses,  und  die  nachgeahmte  That 
seine  iistiie  Aufführung,  die  ersten  Eltern  zu  verführen,  sey . . ." 
(p.  762). 


-..  11 

Wie  mochte  Bodmer  alles,  was  über  Milton  gesagt 
wurdCv  verschlinKcn!  Um  den  Dichter  xcgcn  die  Einwände 
Voltaires  und  MaRnys  zu  veneidigenv  cntu'arf  ei-  1729—30 
eine  Abhandlung  über  das  Wunderbare,  die 
er  seinem  italienischen  Freund  Calepio  zuschickio.-^)  Mit 
diesem  diskutierte  er  über  den  \Vc:*.  Miltons.  1732  konnte 
er,  nachdem  alle  übrigen  KuUurstaaten  voranKeganis'cn. ' 
seine  Übersetzung;  mit  schweren  finanziellen  Opfern  drucken 
lassen;'*)  dabei  stellte  er  eine  Verteidigungsschrift  in 
Aussicht 

Noch  knapp  vor  der  Publikaiion  des  Bodmerscheu 
Milton  war  Gottsched  in  seinen  Bcyträgen  zur  kri- 
tischen Hisicorie  der  deutsche  vi  Sprache, 
Poesie  und  Beredsamk<'.lt.  Erstes  Stück»  p.  85 ft. 
auf  den  Dichter  zu  sprechen  gekommen,  ür  fühlt  sich 
durch  das  französische  Vorgehen  crmuMgi:  „Es  ist  seit 
zwanzig  Jahren  in  Engeland,  und  seit  kurzer  Zeit  auch  dis- 
seit  des  Meeres  so  viel  von  Miltons  verU/hrntm  Paradiese 
gemacht,  geredet  und  geschrieben  wordijn,  daß  wir  es  der 
Mühe  werth  halten,  auch  unsern  Lesern  c.nen  Bccriff  v»m 
diesem  berühmten  Gedichte  zu  machen,  welches  Jie  Ehre 
verdienet  hat,  so  wohl  als  das  befreyetc  Jerusalem  des 
Tasso,  einer  Üias  und  Acncls  an  die  Seite  gesetzt  zu  A'cr- 
den."  In  seinem  Urteil  ist  er  v/ie  in  der  Kritischen 
Dichtkuivst  von  den  Franzosen  abhängig.  F.cim  Er- 
scheinen der  Bodmerschen  überiragun?  erwähnt  er  die 
verschiedenen  Übersetzer,  rühr:t  Bodmer  u::d  hält  mit  sei- 
ner Ansicht  zurück.    Hier  wie  brief.jch  ")  deutet  er  sie  nur 


"*)  il  8£«sio  del  tr&ttato  da  voi  idtaio  sopra  ;!  «Libiinie  mi 
i  stato  carissimo",  schreibt;:  .hm  Graf  Caicpio  am  1.  febr. 
1730.     M.  S.  Stadtbibliothek  Zürich. 

"*)  Johann  Miltons  Verlust  dts  Paradieses,  tin  Hclden- 
Oedicht,    In  uncebundcncr  Rede  flbersclzt«    Zürich  173J. 

*')  „Übrigens  wünsche    ich    ehestens    das    versprochene 


—    12'  — 

an.  Er  :el  gespannt  auf  die  Verteidigung.  Nach  dem  Bruche 
mit  Bodmer  prallten  dann  in  den  vierziger  Jahren  die  Mei- 
nungen  aufeinander. 

Einmal  bekannt  geworden,  fand  das  V.  P.  bei  vielen 
Entgesenkcmmen,  so  bei  Albr^cht  von  Haller,")  bei  Fried- 
rich von  Hagedorn  ;''*)  andere  hatten  dieselben  Bedenken 
wie  Gottsched. 

Ausführlich  wurde  im  Nöthigen  Beytrag  zu 
den  wöchentlich  herauskommenden  Neuen 
Zeitungen  von  Gelehrten  Sachen  (1734 ff.) 
nochmals  das  meiste  angeführt  und  ergänzt,  was  über 
Milton  ;?rschienen. 

In  seinem  Character  der  Teuischen  Ge- 
dichte (1734)  postulierte  Bodmer  die  Darstellung  des 
Wunderbaren,  die  der  französiche  Klassizismus  verurteilte. 


Werk  zur  Verthcldigung  Milton's  zu  sehen.  Ich  gestehe,  daS  ich 
begieriis  bin,  die  Regeln  zu  wissen,  nach  welchen  eine  so  regel- 
lose Einbildungskraft,  als  die  Milton's  seine  war,  entschuldigt 
werden  kann."  (7.  Okt.  1732),  vgl.  Gustav  Waniek,  Gott- 
sched und  die  deutsche  Literatur  seiner  Zeit, 
Leipzig  1897,  p.  322. 

")  Vgl.  Ferdinand  Vetter,  Der  junge  h aller, 
Bern  1905,  p.  48  ff.  In  der  ersten  Hälfte  dos  Jahres  1733  hatte 
Bodmer  Hp.llcr  cÜö  Miltoniibersctzung  zum  Tausch  angeboten. 
Am  20.  Mai  findet  Maller,  daß  sie  viel  getreuer  sei  als  die  fran- 
zösisclic,  am  1*4.  Nov.  l)lttct  er  um  die  Zusendung  einiger  Exem- 
plare. Es  ist  nicht  ^u  crwxiisen,  daß  Halicr  schon  auf  seiner 
cnglischon  Reise  Milton  kennen  lernte;  vgl.  Albrecht  von 
Hallers  Gedichte,  hrsg.  u.  eingeleitet  von  L.  H  l  r  2  e  1 . 
Frauenfcld  1)Sp>2,  p.  XLII.  Aber  Jenny  sagt  wohl  mit  Recht 
p.  39:  „In  Basel  wurde  er  durch  »einen  Freund,  den  Physiker 
Stähelin.  näher  in  die  englische  Literatur  eingeführti  ...  Da 
er  dort  mit  Pope,  Shaftcsbury  usw.  bekannt  wird,  dürfen  wir 
wohl  von  dorther  seine  Kenntnis  Miltons  datieren.  Sicher  aber 
wurde  er  auf  Milton  geführt  durch  den  Brlef\vcchsül  mit  Böd- 
met, .  .  ." 

**)  Am  3.  Juli  1742  schreibt  er  an  Bodmer,  seit  1721  habe 
er  keine  Schrift  Bodmcrs  ungclescn  gelassen. 


-^    13    — 

Erweitere  und  vermehre 
Des  Wissens  schmale  Schranck.    Di«  ist  nicht  uabckandt 
Was  jene  Schaar  beginnt,  mit  der  dein  Qeist  verwandt. 
Die  durch  Gesetze  fliegt,  zwar  stlil  und  ungesehen.") 

Die  Miltonbcgeisterung  begann.  Im  Laublinger  Lieder- 
zyklus Thirsis  und  Dämons  ifreundschaft» 
liehe  Liedern  (1736—44),")  in  Hallcrs  Ursprunu 
des  Übels")  findet  man  Miltons  Einfluß.  Immanuel 
Jacob  Pyra  besang  in  seinem  Tempel  der  wahren 
Dichtkunst  (1737)  die  himmlische  Poesie: 

Mit  majestätischen  Schritten 
Trat  iMilton  nun  einher.    Er  hat  die  Poesie 
Von  heydnischen  Parnaß  ins  Paradies  geiahrct.") 
Auch  Pyras  Won  des  Höchsten  (1738)*»)  zeigt 
Miltons  Einwirkung.    Was  aber  Verehrer  wie  Pyra  beun- 
ruhigte, war,  daß  ihre  Schwärmerei  für  Mihon    mit  den 
Regeln  der  Dichtkunst  unvereinbar  war.    „Ich   gestehe,** 
sagt  Pyra  im  Vorv;ort  zur  eben  genannten  Dichtung,  „es 


°'^)  Abgedruckt  ia  Vier  krilUchc  Oedicbtc  von 
J.  J.  B 0 d m c r ,  hsg.  von  J.  Bächthold,  Heilbronn  1883 
(Deutsche  Liter?,turdcnkmale  12),  p.  38.  Auch  Entlahnunscn  aus 
dem  V.  P.  finden  sich  iv  dem  Qcdichte,  v^L  Theodor  Vei- 
ter, L  J<  Bodmcr  unu  die  cngiisch&  Litieratur, 
J.  J.  Bodmcr  Denkschrift  Y.\:m  CC,  Q'-hnrttxtz, 
Zürich  1900,  p.  323—24. 

••^)  Von  Pyra  u.  Lance»  vßl  0.  Waniek,  Immaouel 
Pyra,  Lcipzie  I8S2,  p.  54,  60. 

")  Vg).  Jenny,  p.  39 1. 

^•)  Vgl.  Freundschafihche  Lieder  von  l.  j. 
Pyra  und  S  Q.  Lange,  fieübron  ]SS5  (—  D.  L,  D.  22), 
p.  115  In  der  Einleitung  dazu  spricht  A  neust  Sauer,  p. 
XXXIH—XXXV,  über  die  Beeinflussung:  des  Gcdichvs  durch  Mil- 
ien. Ebenso  Wanick,  p,  36.  Pyra  kaunic  .Mihon  aus  Uod- 
mcrs  Übcrsctzunjr. 

^•)  Vgl.  A.  Sauer,  !.  c.  p,  XLIJI  i. 


—    14    — 

ist  vcrwcKcn.  die  obcrn  Qeisier  mit  in  die  menschlichca 
Handlungen  einzumischen.  Es  scheint,  daß  es  unter  den 
christiiclicn  Dichtern  noch  nicht  ausgemacht  sey,  wie  weit 
wir  sie  nach  der  Wahrscheinlichkeit  mit  hincinflcchtcn 
dürfen.*  *') 

Die  Bejs'eistcrung  war  da,  aber  es  fehlte  noch  die  theo- 
retische Sanktion,  die  alle  Bedenken  verscheuchen  sollte. 
Diese  Sanktion  kam  mit  Joh.  Jac.  Bodmers  Cr i tischer 
Abhandlung  von  dem  Wunderbaren  Inder 
Poesie  und  dessen  Verbindung  mic  dem 
Wahrscheinliche n.  In  einer  Vertheidigung 
des  Gedichtes  Joh.  Miltons  von  dem  ver- 
lohrnen  Paradiese;  der  beygefüget  ist  Jo- 
seph Addisons  Abhandlung  von  den  Schön- 
heiten in  demselben  Gedichte,  Zürich,  ver- 
legts  Conrad  Orell  u.  Comp.  1740. 

*")  l  c,  p.  126. 


Erstes    Kapitel 
Bodmer  und  seine  Zeit 

Charakterisieren  wir  nun  die  Stellunj(  der  Züricher 
zum  V.  P. 

Naclidem  Bodmer  in  seiner  Abhandlung  von 
dem  Wunderbaren  seine  Aufiassunj?  Miltons  uar- 
selegt  hatte,  wurde  kein  v/esentlich  neuer  Standpunkt  mehr 
aufgestellt,  weder  von  J.  Pyra.')  noch  von  dem  in  seine 
durch  den  Tod  entstandene  Lücke  tretenden  ehemaligen 
Gottschedianer  Georg  Fr.  Meier.*)    Wir    nehmen  deshalb 

^)  hl  seinem  Erweis,  daü  die  G*ttsch*dlarij- 
sche  Sekte  der  Geschmack  verderbe,  Marrburc 
und  Leipzig  1743,  und  in  der  Fcrise'.zuriß  ücs  er- 
weises,  daß  die  Q*ttsch*di£nlsche  Sckvi  den 
Geschmack  verderbe,  Berlin  1744, 

-)  VrI.  Dr.  pliil.  Ernst  ßtrürnann.  GcorK  Fried- 
ricii  Meier  als  Mitberrrfinder  der  dcuisclien 
A  e  s  t  h  e  t  i  k  ,  Leipziger  Habiliiat'onsSv;hrif'.  191(v.  Auch  unter 
dem  Titel  Die  Begründun  2  der  deJxscJiCn  Aes- 
thetik  durch  A.  Q.  BaumKarier.  und  Gcors  Fr. 
Meier,  Leipzig  1911.  handelt  das  Buch  speziell  von  Meier  und 
laat  nur  durch  Vcröffcntlichuns  der  für  ui.s  vichtiücn  Mcicr« 
sehen  Briefe  einen  Zuwachs  erhalten.  Mcicr  vcröffcmÜchte  im 
Herbst  1744  in  den  Greifs  walder  krinschcn  Ver- 
suchen (13,  Stück,  p.  39 — 49)  die  Untersuchunc,  0  b 
Milton  in  der  Wahl  seiner  Haupthandluns 
glücklich  gewesen.  Obschon  Meier  diese  Frage  beiahu 
erhebt  er  einige  bescheidene  EinwSndc,  die  Bodrrcr  in  den  C  r  I  - 


—    16    — 

hauptsächlich  Bodmers  Schriiien")  zur  Grundlage  unserer 
Abhandlung,  ohne  jedoch  die  Werke  der  eben  Genannten 
außeracht  zu  lassen.  Denn  sie  spiegeln  den  Geschmack 
der  Zeit,  wie  es  auch  die  aus  der  Miltonverehrung  hervor- 
gegangenen Dichtungen  tun>  Gottsched  wird  weniger  zu 
Wort  kommen  als  diejenigen,  die  er  kritiklos  kopiert. 


tischen  Briefen,  Zürich  1746,  7.  Brief;  An  Herrn  Q.  F» 
M(eler]  (p.  125 f)  zu  entkräften  sucht.  In  einem  Privat- 
schreiben vom  24.  Juni  1746  (bei  Bergmann  p.  248)  bringt 
Meier  seine  jetztcn  Bedenken  vor,  welche  Bodmei*  im  8.  criti- 
schen  Brief  zerstreut.  Meier  wurde  nun  der  eigentliche  Verkün- 
der der  Seraphik.  „ich  nehme  in  meinem  coUegio  aesthetico 
meine  besten  Exempel  aus  dem  Milton,  und  ich  sehe  mit  Vcr- 
.^niigen  auf  don  Gesichtern  meiner  Zuhörer  die  Spuren  der  Ent- 
zückung, wenn  ich  Ihnen  ein  Stück  aus  dem  Milton  vorlesrC." 
(Bergmann,  p.  248,  im  obigen  Brief).  Er  untersuchte  die 
Frage,  ob  in  einem  Heldengedicht»  welches  von 
einem  Christon  verfertigt  wird,  die  Engel  und 
Teufel  die  Stelle  der  heidnischen  Qütter  ver- 
treten können  und  müssen  (Grciiswaldcr  kritische  Ver- 
suche 1746,  15.  Stück,  p.  179—200);  !rat  für  Klopstock  ein  in 
seiner  Beurtheilung  des  Heldengedichts  der 
Messias,  Halle  1749,  in  der  Vertheidigung  seiner  Be- 
urtheihing  (1749),  und  in  der  Fortsetzung  der  Beur-y/ 
thel  lu  iig  .  -  .  (1751).  Auch  in  seinen  A  n  f  an  gsg  f  ü  nde  n 
aller  schönen  Wissenschaften  und  Künste,  Halle 
1748 — 50,  die 'auf  Baumgarten  fußen,  bringt  er  Beispiele  aus 
Milton. 

=*)  Bodmers  hauptsiichlich  in  Betracht  kommende  Schriften 
sind  neben  der  Abhandlung  von  dem  Wunderbaren 
Joh.  Jac.  Bodmers  Criiische  Betrachtungen 
über  die  Poetischen  Qemilhlde  der  Dichter,. 
Zürich  1741  (—  No.  13  der  von  Th.  Vetter  in  der  Bodmerdenk- 
schrift,  p.  389  ff,  gegebenen  Bibliographie);  SammlungCri- 
tischer,  Poetischer  und  anderer  geistvollen 
Schriften,  Zürich  1741—44  (—  No.  14);  C  ritische 
Briefe,  Zürich  1746  (~  No.  19)-  Neue  Crltische 
Briefe.  Zürich  1749  (—  No.  23). 


V 


-     17    -^- 

I. 

Milton  hat  in  seinem  Verlöre iicn  Parad!;;s  den 
Versuch  scemachr.  einen  Stoff  episch  zu  hdiaiideln.  in  dem 
Gottvater  und  die  himmlischen  Heerscharen  auftreten.    Die 
alten  Rpcn  der  heidnischen  Dichier  hatscn  es  mit  Göttern 
zu  tun,  welche  sich  in  ihren  Eigenschaften  wenig  von  <ian 
Menschen  unterscheiden.    Der  Gott  des  Alten  Testaments 
hingegen  ist  jener  allmächtige  Herrscher,  der  die  Welt  aus 
dem  Nichts  geschaffen,  der  Herr  de?  Schicksals,  und  nicht 
wie  Zeus  ihm  Untertan.     Wenn    wir    im  A.  T.  von    ihm 
hören,  verspüren  wir  den  Hauch  des  überirdischen     Die 
knappen  Worte,   die    über  ihn   berichleri.   erscheinen   uns 
als  Ausfluß    des  lyrischen  Gefühls  eines  Msnschen.    der 
sich  einem  unbekannten  Höheren  ninRibt.   Wie  kann,  fragen 
wir,  diese  geahnte  Macht  anders  besungen  werden  ils  im 
lyrischen  Erguß,  in  welchem  die  unbestimmbaren  Gefühle 
ihren  besten  Ausdruck  finden? 

Und  düch  hat  Milton  Qoii  als  Person  jtj  i-on  i:ru .  cin- 
gefühn  und  um  ilin  herum  eine  ungezählte  Schar  von  En- 
geln, den  Trägern  und  Vollstreckern  seines  Willens.  Kr 
knüpfte  an  die  ÜberMeferung  an.  inde.Ti  er  die  überirdischen 
Wesen  vermenschlichte.  Um  sie  aber  aU  das  7-ü  charakte* 
risieren>  was  sie  sind,  verlieh  er  ihnen  übermenschliche 
Eigenschaften:  Die  Engel  sind  gewaltig  groü.  aus  anderem, 
feinerem  Stoffe  als  wir:  ihre  Kampfesv.affen  sind  ungeheuer, 
sie  entwurzeln  Berge,  um  sie  auf  die  emporklimmenden 
Teufel  zu  schleudern.  Schmerzen,  fühlen  sie  nicht.  Gott- 
vater selbst  greift  in  die  Handlungen  nicht  ein.  Er  befehlt, 
daß  sie  geschehen,  und  gibt  seinen  Trabanten  die  Kraft,  sie 
auszuführen.    Denn  er  ist  ja  allmächtig. 

Der  Leser  aber  fragi  sich:  Hat  es  Qoti  nötig,  seine 
Engel  in  die  Schlacht  zu  schicken?  Genügt  seih  .Machtwort 
nicht,  den  Gegner»  den  er  geschaffen,  svieder  zu  vernich- 

PItXO,   UiltOB  <^ 


-     18'  — 

ten?  Du  er  die  Zukunft  nach  seinem  Willen  gestalten 
kann,  wozu  die  Hilfe  der  EnRcl? 

Um  Qott  und  seine  Engel  darzustellen,  entkleidete  Mil- 
ton  sie  ihres  übersinnlichen  Charakters;  da  er  ihnen  diesen 
aber  lassen  wollte,  verwickelte  er  sich  in  eine  sonderbare 
Antinomie.  Sein  Qott  ist  einerseits  die  Almighty  Power, 
die  etwas  nur  wünschen  muß,  um  es  verwirklicht  zu  sehen; 
anderseits  ?bcr  hat  er  seine  Absichten  und  Wünsche  wie 
irgend  ein  menschliches  Wesen.  Deshalb  fesseln  uns  der 
Allmächtige  und  seine  Krieger  liloß  so  lange,  als  wir  uns 
ihr  eigentliches  Wesen  aus  dem  Kopfe  schlagen. 

Die  aus  der  erwähnten  Antinomie  erwachsenen  Unge- 
reimtheiten forderten  Voltaires  und  Magnys  Kritik  heraus. 
„.  .  .  ä  quoi  bon  tracer  les  portraits  de  ces  Etres  si  par- 
faitement  6trange;s  au  Lecteur,  qu'il  ne  peut  en  aucune 
fagon  s'intercsser  pour  cux?"  fragt  jener.*)  „Ces  mcmes 
Critiques  (gerncini  sind  die  französischen)  dcsaprouveroicnt 
les  Anges,  qui  enlevent  les  niontagnes.  les  bois,  6:  les 
rochers,  6:  les  jettent  k  la  tete  de  leurs  ennemis.  Plus  une 
pareille  invention,  diroient-ils,  tend  au  sublime,  plus  eile  est 
hasse  Jt  pudrile"  (p.  295).  —  „L'artillerie  (der  Teufel)  est  du 
meme  goiM,  &  encoro  plus  absurde,  parce  iiu'elle  est  plus 
inutiie.  Pourquoi  ces  machincs  de  guerres  sonc-elles-lä, 
puisqu  'elles  ne  peuvent  blesser  les  ennemis,  mais  les  pous- 
ser  seulement  hors  de  leur  place  et  les  faire  tomber  par 
terre?  .  .     .  les  chüscs  qui  sont  sl  terriblcs  6t  sl  grandes 

sur  la  tcrre  deviennent   bien    petites  &  bien  meprisables 

• 

"•)  Oeuvres,  de  M.  Voltaire,  contenant  rHenriade. 
Essai  sur  le  pceme  Epique  .  .  .,  Amsterdaiti  MDCCXXXVI,  p. 
295.  Bödmet  beziehe  sich  auf  die  erste  Fassune  von  Voltaires 
Ifssai,  die  vor.  Defomaincs  aus  dem  Ens:lirchen  übersetzt  worden 
Ist.  Das  spricht  dafür,  daß  Bodmer  früh  an  die  VerteidiRunKS- 
schriit  dachte,  wie  ja  auch  aus  dem  Brief  Calepios  zu  ersehen 
Ist  (vKi.  oben  p.  Vi), 


—    19    ~ 

dans  le  Cid"  (p.  295/6) Je  nt  piMs  obmeurc  !ci  la 

contradiction  qui  regne  dans  un  Kpisod;.  Dieu  sjnvoyc  les 
fideles  Ansjes  combattre,  rcdiiire  et  p.mir  !cs  rchcücsr  Aile'<. 
dit-il  k  Michel  &  ä  Gabriel. 

And  10  the  brow  of  heavcn 
PursuinK,  drivc  ihcm  out  from  Ooü  and  bliss 
!nto  thcir  place  of  punishir.eni.  the  Qulph 
öf  Tartarus,  wich  (!)  ready  opcns  wide 
His  fiery  chaos  to  receivc  their  fall. 

„Conimeni  se  peut-il  donc  faire,  apris  un  ordre  si  prt'- 
eis,  quo  la  bataüle  reste  douteuse.  6t  pouj  qucJ  Dieu  Ic  Pcrc 
commande-t-il  ä  Gabriel  &  k  Raphae)  de  faire  ce  qu'il  cxc- 
cute  eiiSiiite  par  !e  niinistere  de  son  Filsr*'    (p.  296,7), 

Das  ist  Voltaires  Haupteinwand.')  Constantin  de  Magny 
beanstandete  in  erster  Linie  die  sichtbare  Darsttüun's'  der 
Enge!,  weil  sie  sich  mit  ihrer  göttlichen  Würde  nicht 
vertrage. 

J.  J.  Bodmer  war  bereits  seit  Jahren  ein  Verehrer 
Miltons,  als  Voltaires  und  Magnys  Schriften  v^rschlcncn.  Du 
Einwände,  die  diese  gegen  den  englischen  Dicl'.tcr  erhoben, 
waren  nicht  neu.  Gegen  Tassos  Darstellung  von  Engeln 
und  Teufeln  hatte  Boileau  sein  Veto  eingelegt.*)    Auch  In 


')  Sonst  preist  er  Miltons  Imagination,  er  »s»  c:r.2ücki  ül>cr 
dig  Paradicsszcnciu  Der  Bau  des  Pand5moniu:^s  «chcir.t  ihm  aller- 
dingä  zu  Uicherlich  für  ein  Heldenepos,  die  AlicKCiie  vor.  Sünde 
and  Tod  verletzt  ihn  wctrcn  ihrer  saicte.  Die  Errndung  des 
Chaos  erscheint  ihm  nutzlos,  das  „Paradisc  of  fools"  u.  ä.  töri.-ht. 
Diese  Einw.'inde  werden  in  Deutschland  während  des  18.  Jahr- 
hunderts von  Klasslzlstcn  bestSndiR  wiederholt,  \v.  ticr  zweiicn 
Fassung  seines  Essai  betont  Voltaire  dis  Müngcl  de»  V.  P. 
noch  mehr,  üodm'jr  scheint  nur  die  c.stc  k'ckaniit  za  haben, 
wo  sich  der  fraiizCsische  Kritiker  mehr  für  .M.  erwärmt. 

")  Boileau.  L'Art  poctique  (1674).  IM,  19^ ff. 

C'cst  donc  hicn  vaincment  que  nos  auteurs  de^us 

2» 


—    20    — 

Deutschland  war  die  Frage  des  Wunderbaren  durch  das 
befreite  Jerusalem  aufgekommen/)  Miltons  An- 
greifer und  Verteidiger  hatten  Vorganger. 

Bodmer  bediente  sich  der  Anschauungen  Muratoris, 
Dubos',  Addisons,  als  er  seinen  Lieblingsdichter  in  der 
Abhandlung  von  dem  Wunderbaren  zu  recht- 
fertigen unternahm. 

Es  ist  schon  des  öftern  hervorgehoben  worden/)  wie 
Bodmer  und  Breitlnger  die  Freiheit  der  Phantasie  betonten. 
Aber  an  dieser  lag  ihnen  weniger.  Sie  entschuldig- 
ten damit  nur  Milton,  wenn  er  die  übersinnlichen  Wesen 
sinnlich  machte  und  die  Bcgrih'e  Sünde  und  Tod  verkör- 
perte. Die  Hauptsache  war  ihnen,  daß  Milton  der  mensch- 
lichen Qestalt  eine  Schönheit  und  einen  Glanz  beilegt, 
„welche  sie  auf  den  höchsten  Qrad  setzen,  eine  Grösse,  die 
alle  menschliche  übertrifft",  usw.  (p.  55  der  A  b  h  a  n  d  1  u  n  g 
vom  Wunderbaren).  ,,In  den  cörperlichen  Eigcnschaf- 


Banissciu  de  icurs   verä  ce&  oriicmcniü;  rcifus, 
Penscnt  iaire  agir  Dieu,  ses  saints,  et  ses  prophötes, 
Comme  ces  deux  cclos  du  cerveau  des  poötes; 
Mettent  h  chaque  pas  le  iecteur  en  enfer,  ,  .  . 
■•')  Schon  Dietrich  v.  d.  Werder  hatte  seine  T  a  s  s  o  - 
ÜbCi'ietzuiiK  verteidigt:  Dc-r  Dichter  sei  auf  die  Phantasie 
angewiesen   und  müsse    daher   dasjenige,    „was  Gott  auf  uner- 
forschüchc  Art  regicri  und  ordnet,  und  was  die  bösen  Geister 
unsichtbarer  Weise  saften  und  anrichten,  sichtbarlich  gleichsam 
beschreiben  und  vor  Augen  steilen".     (Vgl.  Karl  Borinski. 
Die  Poetik    der   Renaissance    und    die  Anfänge 
der    llrer&ris.;hen  Kritik    in    Deutschland,    Ber- 
lin  1886,  p.   120.) 

•)  Franz  Se/vaes,  Die  Poetik  Gottscheds  und 
acr  Schweizer,  Stras.sburg  1887  (=  Quellen  und 
Forschutigcn  zur  Sprach-  und  Culturgsschlchte 
der   germanischen   Völker,   LX),   p.    105/6. 

Friedrich  Brait  maier,  Geschichte  der 
poetischen  Theorie  und  Kritik  von  den  Diskursen 
der  Maler  bis  auf  Lessing.    Erster  Teil,  Frauenfeld  1888,  p,  220. 


^    2\    .^ 

ten  des  Himmels  und  der  englischen  WcrckzcuKC  und 
Waffen  bewerckstelüjjet  er  eben  diese  Erhöhung:  derselben 
über  die  irdischen*'  (p.  56). 

Miltons  Verdienst  besteht  somit  nicht  in  der  Verkörpe- 
rung, denn  diese  war  eine  Notwendigkeit,  sondern  in  der 
Fähigkeit,  die  Kngel  zu  idealisieren*  Diese  FähiRkcii  scheint 
Bodmer  genügend  zu  sein,  um  die  Antinomie  zu  ühcr- 
brücken.  Der  Widerspruch,  der  zwischen  dem  Sinnlichen 
und  Übersinnlichen  in  der  Konzeption  der  Engel  besteht.  Ist 
ihm  nicht  nur  nicht  aufgefallen,  sondern  wcim  er  in  seinen 
Erörterungen  darauf  stößt,  täuscht  er  sich  selbst  darüber 
hinweR.  p.  41/42  besteht  er  der  Theorie  der  I^hanta- 
sie  gemäß  darauf,  daß  der  Leib  und  die  Gesiali  der 
Engel  keine  Zufälligkeiten  oder  Eigenschaften  sind, 
die  andern  Wesen  zukommen,  daß  die  Enge!  „Epschc, 
historische  Personen"  sind,  „die  in  ihrem  eignen  Namen 
da  sind,  die  sich  selber  und  niemand  andern  vorstcllcnv  die 
hl  ihrem  eigenen  Charakter  erscheinen,  als  Originale,  nicht 
als  Nachbilder*',  p.  60  aber  läßt  er  »ich  durch  Caiepics  Ein- 
wand, Engel  dürfen  nicht  einmal  verletzt  werden,  zum 
Ausspruche  hinreißen:  „Wann  er  hier  nicht  aus  der  Acht 
gelassen  hatte  .  .  ..  daß  die  Gestalten,  unter  welchen  die 
Engel  vorgesteliet  werden,  nur  poetische  Verkleidungen 
sind,  so  hätie  er  leicht  gesehen  daii  es  mit  diesen  Ver- 
letzungen der  Enge*  eine  gantz  andere  Bewandiniß  hat.  als 
mit  den  Verwundungen  der  Menschen;  Bey  den  AlenFchcn 
macht  der  Cörpcr  einen  wescntüchen  Theil  aus.  er  ist  nicht 
eine  blosse  ihnen  gelehnte  Maßke,  hingccicn  ist  der  05rpcf, 
der  den  Engeln  von  dem  Poeten  zugciheilet  a  ird.  nur  etwas 
fremdes  und  entlehntes;  daher  gehen  die  Vcr'ctzungcn 
dieser  leztern  nicht  auf  etwas  wesentliches,  wie  die  Ver- 
letzungen der  Menschen,  nichts  wird  bcy  ihnen  getroffen. 
als  die  poetische  Larve,  unter  welcher  diciu  unsichtbaren 
Geister  der  Phantasie  zu  sehen  gegeben  werden  '*  So  setzt 
sich  Bodmer  mit  einem  Trugschluß    über   die  Antonomie 


^    22    — 

weg.  Die  Miltonschen  Engel  führen  in  seiner  Auffassung 
eine  Doppelexisienz,  der  er  sich  nicht  bewußt  ist.  Er  i<ann 
nicht  verstehen,  daß  die  Veritörperung  das  Übersinnliche 
ausschließt.  Er  hat  sich  die  fremden  Argumente  nicht 
völlig  zu  eigen  gemacht; 

Was  ihn  ge:.jen  den  Hauptfehler  im  Epos  blind  macht, 
ist  der  Umstand,  daß  seine  Fabel  der  Bibel  entnommen  ist. 
Wenn  Scrvacs  (1.  C-,  p.  105/6)  sagt;  „Ob  Milton  die  Heilig- 
keit und  i^einhcit  der  Engel  mit  religiöser  Inbrunst  und  Ge- 
fühlsrcinheit    erfaßt  habe,    war    nebensächlich  nelien  der 
Frage,  ob  er  nicht  gegen  die  kirchlich  approbierten  Lehren 
verstoßen  habe",  so  ist  das  nur  halb  richtig.   Bodmer  unter- 
suchte das  V.  P,  nicht  auf  seine  dogmatische  Richtigkeit; 
diese   aber  erleichterte    ihm    den    ästheti- 
schen  Genuß.    Auf  Magnys  Einwurf,   daß  der  neuge- 
schaffene Adam  den  Erzählungen  des  Erzengels  Gabriel  gar 
nicht  zu  folgen  imstande  sein  konnte,  erwidert  u.  a.  Bodmer 
triumphierend:    „Damit  wir   unserm    raschen  Criticc  den 
Mund  auf  einmahl  stopfen,  wollen  wir  ihm  nur  zu  betrach- 
ten geben,  daß  der  göttliche  Geschichtsschreiber  Moses  in 
die  Critick,  dia  er  gegen  unscrn  Poeten    macht,    mitcin- 
verv, ikelt  würde"'  (o.  190).    D i e  „h eiligen  Scriben- 
t e n''  sind  ihm  die   letzte  Instanz;    sie  ermög- 
lichen es  ihm,  sich  über  die  im  Gedichte  herrschende  Antl* 
nomie   hinwegzusetzen.     „Die   Haupt-Geschichte  ....  ist 
würcklich   vorgegangen,   und    wir   haben   unverwerffliche 
•  Zeugnisse  davon,  zum  Ex.  von  dem  Aufstand  Satans  und 
seines  Anhangs,  von  ihrem  Fall  vom  Himmel,    und   Ver- 
stossung  in  die  Hölle;   von  Satans  Verführung  der  ersten 
Menschen**  (p.  A2).    Selbst  die  Darstellung  von  Sünde  und 
Tod  sucht  Bodmer  durch  die  Bibel  zu  erhärten.    Und  die 
Anbringung    der    griechischen  Mythologie  im  christlichen 
Gedichte  entschuldigt  er  nicht  mit  der  Freiheit  des  Dich- 
ters, sondern  damit,  daß  er  betont,  sie  würde  ja  nur  als 


Gleichnis  gebraucht.  „Wir  sehen  aisüv  wie  e.'Uiernt  dieser 
verständige  und  gottselige  Poet  gewesen,  die  heidnischen 
Fabehi  der  Mythologie  vor  wahrhaftige  Geschichten  auszu- 
geben, oder  sie  mit  den  geoffenbarten  Geschichten  von 
Engeln  oder  heiligen  Menschen  zu  verwechseln,,."  (p.  219). 

Diese  Voreingenommenheit  machi  die  A b h a  n d I  u ni; 
von  dem  Wunderbaren  zu  einem  seltsam :n  Ge- 
misch von  Scharfsinn  und  spitzfindiger  Borniertheit.  Aus 
den  frühesten  AiJÜerungen  über  Milton  ist  zu  ersehen,  wie 
die  dogmatisclien  Probleme  dem  Zürcher  Kritiker  zu  den- 
ken gaben.")  Auch  Vorstellungen,  wie  die  der  geistigen 
ehelichen  Vermischung  der  Kngc!.  beschäftigten  ihn.") 

In  der  Abhandlung  von  d  e  m  W'  u  n  d  e  r  b  a  r  c  n 
hai  er  alle  Zweifel  dieser  Art  überwunden.  Und  das  gewiß 
durch  seinen  festen  Glauben.  Milton  steht  für  ihn  auf  einer 
Stufe  mit  den  heiligen  Scribenten.  Jch  meine  mich  keines  ^/ 
hyperbolischen  Verbrechens  schuldig  zu  machen,  \venn  ich 
Milton  in  den  Rang  dieser  sonderbaren  Menschen  setze, 
weiche  auf  der  Leiter  der  Wesen  zu  cbcrst  unter  den  Men- 
schen stehen,  und  gleich  über  sich  ditjeriigcr  Oeister  haben, 
die  zuerst  vom  Cörper  frey  sind"  (p.  10  U).    Heim  Anblick 

'•')  Vg!  Hans  B  o  d  :n  c  r ,  i.  c,  p.  192/3.  Das  J^rohle»fi  d«* 
freien  Willens  im  Epos  veranlaßt  Bodmcr  lu  einem  längeren 
Exkurs.  Den  Ausspruch  des  AUnitichticcn:  Jch  machte  den 
Menschen  gut  und  gerecht,  tüchtig  zu  stehen,  doch  üass  er 
seinen  frcyon  Willen  hatte,  wenn  er  faller  wolle*'  .  .  .  kann  er 
nicht  recht  verstehen  .  .  „supponicri  dass  der  Mensch  wäre 
unfiihig  gemacht  worden,  zu  sündigen,  so  hätte  er  nur  eine 
selten  gehabt,  die  ihn  zu  dem  giten  geneigt  hüttc;  .las  wfirc 
seine  Natur  gewesen.."  Und  B.  schließt:  Jn  allem  gefüllt  mir 
besser  dass  mar:  mir  sage:  dicsr.  s  :s?  alsc,  -.vciJ  es 
Oott  also  hat  wollen;  als  d^iss  es  hclüsc:  Oott  hat  dieses 
alsc  wollen,  weil  er  die  oder  uiesc  ursach  darzu  ^chalU  Hut." 
Dieser  Ausspruch  erklärt  uns  Bodmcrs  ganze  Sieüung  zum  V,  P 
-'■)  ebd.,  p.   186. 


—    24    — 

der  Mitionsch(3iii  Welt  können  die  Leser  „dasjenige,  was 
sie  hoffen,  vorsehen  und  dadurch  ciniKcrmassen  vorge- 
niessen*"  (p.  26). 

Dies  ist  es,  was  Büdmcr  das  V.  P.  lieb  machte,  mehr 
a\i  die  Schöpferkraft  des  Genies.")  Der  Begriff  des 
Wunderbaren  dockt  sich  bei  ihm  fast  mit 
d  e  m  des  l)  ü  g  ni  a  t  i  s  c  h  u  n.  Darum  kommt  er  in  sei- 
nen Kritiken  dazu,  das  Wunderbare  in  jedem  Epos  zu  ver- 
langen, auch  wo  *is  nich^  hingehört.^') 


11. 

Bodmers  Verteidigungsschrift  beseitigte  mir  einem 
Schlage  alle  ßeclcnkcn  der  heranwachsenden,  für  Miltor. 
schon  entflammten  Dichtergcncratioii.  Diese  fand  im  eng- 
lischen Epiker,  was  sie  in  der  Poesie  suchte,  einen  Ge- 
halt. Wo  hiitte  sie,  des  kalten  Klassizismus  müde,  einen 
solchen  finden  soHen,  wenn  nicht  in  der  Religion? 

Deshali  genügte  den  Anhängern  der  Schweizer  Bod- 
mers Abhandlung  vollauf.  Noch  mehr:  Einmal  gerecht- 
fertigt, wurde  das  V.  P.  selbst  Malistab,  ..Milton  hat  weiter 
nichts  gethan,  als  die  grössten  Religionswahrheiten  durch 
sinnliche  Vorstellungen    in  ein    recht  würdig  hohes  Licht 

'')  Franz  Scrvacü  saut  I.  c,  p.  108,  über  Bodmcr:  „Er 
hatte  das  QctiihI,  einem  OcwaltiKcn,  aber  UnfnGl)arcn  Kc^cn- 
über  zu  stehen.  °s  Kcbrach  ihm  das  volle  und  frohe  Verstiind- 
nis,  da&  ihn  bcfähisi  haben  wiirdc,  die  thürlchten  Redereien 
eines  Maijny  und  Voltaire  mit  Verachtung  2u  strafen."  Das  Ist 
unrichtitc.  Bodmer  glaubte  Milton  zu  verstehen,  was  er  nicht 
tat,  aber  nicht,  well  er  auf  die  Einwände  eincä  Voltaire  einging, 
die  zum  «roßcn  Teil  nicht  „thöi'ichtc  Redereien"  sind. 

^^)  So  In  Johann  Ellas  Schletjcis  Heinrich  dem 
Lüwcn,  woKcjcen  der  Dichter  in  einem  Briefe  protestierte. 
Vgl.  Dr.  Eugen  Wölfi.  Job.  E.  Schlegel,  Berlin 
1889,  p.  94. 


—    25    -- 

setzen;  und  das  ist  die  höchste  Pflicht  cine& 

H  e  1  d  c  n  d  1  c  h  t  c  r  s.  In  diesem  Stücke  hat  er  Honur 
und  Virgil  sehr  weit  überstiegen:  vcil  er  bcy  einem  unend- 
lich heilern  Lichte  wandelte,"  sajjt  Pyra  (l'rwcis. ..  29^30). 

Für  uns  seien  die  heidnischen  GotthcUcn  Chimurvn. 
meint  0.  Fr.  Meier.  An  ihre  Stelle  milsscn  die  Enjici  und 
Teufel  treten.  Dali  diese  dem  christlicher.  Heldenjjcdlchtc 
alle  S  hönheit  verleil.en,  beweis'.'  die  BiheJ.  die  hierin 
selbst  dQn  Homer  übertreffe."") 

Die  kritiklose  Miltonschwärmerci  ward  Mode,  garn- 
ier sclirelbt  am  20.  Mai  1745  an  ü!«-im'  „Bin  \zh  zu  Haust 
und  lese  AAiltons  verlornes  Paradies,  so  will  ich  ein  He!- 
dcuKcdichi  anfanjicn;"  .  .  .  aber  am  JO  Jan.  1747  scestchi 
er;  „Wenn  sie  einmahl  den  Muten  imd  Bodmer.'^.  vom  Wun- 
derbaren in  die  Hände  bekommen,  so  lejicn  sie  ihn  für  mich 
zurcchi,  if eh  habe  diese  weitläuftize  Crltick  über  den  Miltoii 
noch  nicht  g:clesen  und  den  Mihon  selbst  noch  nie  kri- 
tisiert.** ^'•)  Von  Christian  Ewald  vor.  Kicjsi  wird  crz3hlt, 
daß  er  in  die.sen  Jahren  über  der  Lektüre  Mliton»»  einmal 
die  Wache  abzulösen  vcrKcssen  habs.') 

")  G  r  c  i  I  s  w  a  i  d  c  r  Kritische  \'  c  r  »  u  c  h  e  (15. 
Stück  1 746,  p.  179— .'UO) :  Ob  in  einem  h  c  3  d  c  n  2  c  c  i  c  h  t , 
.  ,  ,  s.  oben  p.  16.  Ich  zitiere  nach  BcrKmarn,  19«'i  1.  Bevor  alle 
seine  tliüorctischcii  Ucdcnkcn  verscheucht  waren,  hatte  tr  schon 
am  24.  Juni  1746  an  Bndnier  ceschricben;  „Ich  schätze  den  Müton 
so  hoch,,  daß  ich  ihn  lieber  lese  ?ls  Jie  Odyssee,  .  .  .  (BerR* 
mann,  p.  248).  Auch  hier  hinkJc  die  theorctij^chc  Beyriindunji 
dem  Qcächmack  nach. 

")  B  r  i  e  f  u  e  c  h  s  c  I  z  w  1  s  c  h  e  r*  0  I  c  i  »tj  und  R  a  m  • 
I  e  r ,  hsK.  V.  Carl  S  c  h  ü  d  d  c  k  o  p  j ,  Tubinxcn  19(>6  (—  Bib- 
liothek des  literarischer.  Vereins  in  5^  t  v  m  k  a  r  t 
Nr.  242).  p.  3  ur.d  71  f. 

")  Werke  (Hcmpcl)  Bd.  1,  p.  XXVlil.  In  ^cmcn  Werken 
kann  auch  Sauer  keine  Beeinflussune  durcii  .Müton.  der.  «r  m 
der  Bodmcrschen  Übersetzung  kannte,  nachweise.-!. 


_    26    — 

Noch  u'ouiijer  als  von  den  Zürchern  wurde  von  den 
Leipzigern  nach  1740  etwas  neues  zutage  gefördert. 
Qcitsciicd  beanstandete  unaufhörlich  die  Stellen,  die  schon 
Voltaire  kritisiert,  die  Reimlosigkeit  des  Gedichtes  und  die 
Sprache,  der  er  verständnislos  gegenüberstand. 

Gerade  Mlltons  Sprache  konnte  vielleicht  von  Bodrner 
und  noch  mehr  von  Pyra,  Kleist,  Haller,  Klopstock  u,  a. 
am  ehesten  nachempfunden  werden.  „Es  gehört  kein  plum- 
per Geist  dazu,  sich  aus  der  Tiefe,  in  welcher  wir  nieder- 
gedrückt sind,  zu  erheben,  und  über  die  Qränzen  des  Welt- 
gebäudcs  hinwegzufliegen,  hernach  über  das  ungemessene 
Chaos  in  den  Kerker  der  verdammten  Geister  überzu- 
sezcn,  die  Geschäfie  und  Anschläge  der  Einwohner  in 
diesen  dunkeln  Gegenden  zu  verkundschaften.  Und  zur 
Ausdrükung  dieser  Gedanken  und  Geschichte  braucht  es 
freylich  fremde  Bilder,  seltsame  Erscheinungen,  unge- 
wöhnliche Worte  und  Ausdrüke,"  sagt  Bodmer.'*)  Ihn 
fesselte  hauptsächlich  das  Bildhafte,  die  anderen  vor  allem 
der  Schwung.  Die  Zeit  erwärmte  sich  für  liallers  Pathos, 
damals  hub  der  deutsche  Odenschwall  an.  ».Wenn  von 
dem  Heldengedichte  zwölf  Bücher  so  poetisch,  feurig  und 
erhaben  fertig  werden,  so  sind  Sie  Milton,''  schreibt  Qlcim 
an  Lange  am  24.  Mai  1745.^0 

Aus  diesem  lyrischen  Grundcharakter  der  Zeit  erklärt 
sich  die  begeisterte  Aufnahme  der  drei  ersten  Gesänge  des 
Mcisias  (1747).  Dieser  kam  dem  Bedürfnis  der  Zeit 
nach  Vergötterung  entgegen.  Klopstock  war  den  Gefahren 
der  Vermenschlichung  aus  dem  Wege  gegangen,  indem  er 

*")  Von  der  poetischen  Schreibari  Miltons» 
in  SammiunK  Critischer,  Poetischer  .  .  .,  p.  128. 

^')  M.  S.  Q.  Lange,  Sammlung  gelehrter  und 
freundschattllcher  Briefe,  Zweyter  Theil,  Hulle  1770, 
p.  133. 


^    27    - 

rein  äihcrische  Gestalten  schui.    £r  verhall  sich  zi  Miho!i 
wie  der  Lyriker  zuiji  Epiker. 

Gerade  den  Unterschied  zwischen  den  beiden  merktt: 
man  kaum.  Kiopstock  wurde  ohne  A'citercf  ncbc".  Muten 
gestellt,  von  Malier  allerdin8:s  nur  der  ..nachdrücklichen, 
poetischen  und  erhabenen  Kraft  in  den  Ausdrücken** 
wegen,")  von  den  meisten,  wie  Bodmer,  0.  Fr.  Moser,  S. 
Q.  Lange,  Kleist,  Hagedorn,  Ramicr ' *)  als  epischer  Dichter 
überhaupt.  Da  sie  in  Milton  der  religiöse  Schwung  ge- 
fesselt, mußten  sie  im  Messias  die  Verwirklichung  ihrer 
Wünsche  sehen.  Deshalb  zogen  auch  einige  das  deutsche 
Gedicht  dem  englischen  vor.  „Wenn  er  (Kl.)  seinirn  Plan 
vollführt,  so  wird  Milton  ihm  weichen.*  ini\m  Gleim.  und 
Bodmer  klagt  am  Anfange  des  Noah; 

„Leider!  ein  Tag  wird  kommen   der  Milions  erhabne 

Gedichte 
Auch  rnit  Vergessen  bedeckt,  dli  ewig  zu  leben 

vcrdicnfH."  ^^) 
Neue   Theoretische  Abhandlungen   iianJciten    nu?    von 
KIcpstock.")    Nicht  ganz  mit  Unrecht  spottete  Triller: 
Von  dem  Wurmsaamen.  der  it.zo  so  reichliche  Prüchte 

schon  trfigt. 

'')  Göttin  gischc  Zeitunk'sn  von  gelehrten 
Sachen,  29.  August  1748,  95.  Stück):  „Wir  !ai.seii  uns  dadurch 
gar  nicht  hindern,  eine  ungemein  nachdrükliche.  poetische  und 
erhabene  Kraft  in  den  Ausdrüken  durchgihcnds  zu  finden,  die 
wir  in  unserer  Sprache  noch  selten  so  Miho'-i«vch  und  sc  voll- 
kommen bemerket  haben.*" 

'")  Vgl.  Franz  Munckcr.  Friedrich  Oottheb 
Klopstock,  Stuttgart  18S8,  p.  144  ff«  wo  sich  die  L'ricilc  Q'>cr 
den  Messias  finden. 

'•"')  Auch  Meier  stellte  den  Mcljüis  in  seiner  l.  Bcurteiliins 
über  Milton.    Vgl.  Muncker,  p.  147. 

^»)  Vgl.  Muncker,  1.  c.  p.  15&-161. 


^  -«    28    — 

Daß  nun  die  DIchtkiinst  der  Deutschen  ein  anderes 

Wesen  beginnet, 
Sing  ich  Miltonisch.  ja  über  Miltonisch, 

begeistert."  ") 
/'       In  den  fünfziger  Jahren  war  es  Wicland,  der  Klopstocks 
/    Überlegenheit  über  Milton  laut  proklamierte.    Und  noch  auf 
Jahrzehnte  hinaus  gab  es  solche  Schwärmer. 

III. 

Die  Bibel  und  nicht  die  dichterische  Phantasie 
war  es,  die  Bodmcr  das  V.  P.  vor  allem  lieb  machte. 
Denselben  lehrhaften  Inhalt»  den  er  in  jener 
fand,  suchte  er  in  der  Dichtung.  Niemals  hören  wir 
weder  von  ihm  noch  von  den  Seinigen  eine  Bemer- 
kung, die  darauf  schließen  ließe,  dali  die  didaktischen  Stel- 
len im  Gedicht  in  jener  Zeit  als  unkünstlerisch  empfunden 
worden  wären.  Der  junge  Bodmer  schreibt  an  Zell  weger: 
„Ich  wäre  so  emsig  die  Miltonischcn  Ideen  in  meinen  Kopf 
einzupregen,  daß  ich  glaube,  mein  gehirn  seje  nunmehr  in 
die  gleichen  falten  und  Traces  gebogen  wie  Miltons  ge- 
wesen, oder  damit  ich  Mahlcrisch  rede,  die  Taffei  meines 
gehirns  mit  den  färben,  strichen,  bildnissen  6:-<,  gemahlet, 
wie  Miltons  gemahlet  wäre." "")  Dabei  denkt  er  nicht  zum 
wenigsten  .an  die  theologischen  Vorstellungen  im  Gedichte, 
wie  die  Auffassung  vom  freien  Willen  u.  ä.  .  .  Den  Glauben, 
daß  der  Zweck  der  Kunst  lehrhaft  sei,  teilten  alle  Zeit- 
genossen  Bodmers.   Haller  in   seinem  Ursprung  des 

")  Der  W  u  r  m  s  a  a  m  e  n ,  Sechs  poetische  Streitschriften 
aus  den  Jahren  1751  und  17.52,  hsß.  von  Georg  W  i  t  k  o  \v  s  k  i . 
Leipzig  1908  (Mitteilungen  der  Deutschen  Qesellschaft  zur  Er- 
lorschuMK  vateriündischer  Sprache  und  Altertümer  in  Leipzig, 
Zehnter  Band,  2.  iicft),  p.  21. 

")  Hans  Bodmer.  l.  c,  p.  192.  Es  handelt  sich  um  den  oben 
p.  23  Anmerkung  19  erwähnten  Brief. 


—    29    — 

Übels  und  Klopstock  im  Nordischen  Aufseher, 
wo  er  erklärt,  der  Vorranji  ^Qt  schönen  Wissenschaften 
sei,  „die  Menschen  moralischer  zu  machen."  *') 

Bödmet  und  seine  Mitkämpier  bedienten  sich  ircmder 
ästhetischer    Regeln,   um   den    Kunslwert    des   V.  P.   lu 
erweisen.      Während    Gottsched    solche    Regeln    mecha» 
nisch  anwendete,  erfüllte  sie  der  Schweizer  Kritiker  mit 
einem   eigenen,   ihnen   fremden   Gehalt.     Gottsched    warf 
dem    V.     P.      1732     unmoralischen     Charakter     vor ''): 
„Viele    unter     den     neuern    Kunstrichtern     oder    Crillcls 
haben    es     an    dem    Miiton     nicht     loben    wollen,     daß 
er  sich  eine  so  abscheuliche  That  als  die  Verführunx  des 
Menschen    ist,    zur  Haupthandlung    seines  Gedichtes    cr- 
wählei.     Der  Satan  ist  sein  Held,  und   seine   Hcldenthat 
bestehet  darinn,  daß  er  sich  an  dem  Allerhöchsten  rächet, 
welches   ihm    auch,    alles  Wiederstandes  ungeachtet,    ge- 
linRCt.    Dieses  ist  allerdings  eine  schreckliche  Vorsteliun?/' 
Um  diesen  Punkt  konnte  der  ju.iKe  Meier  zuerst  nicht  her- 
um.   Bodmer  beruhigte  ihn  mit  einem  gelehrten  Spruch: 
„Die  Handlung,  welche  von  den  Alten  die  Fabel  genannt 
worden,  ist  zum  Dienste  der  Charakter  erfunden:  sie  stehi 
unter  denselben.    Die  Charakter  können  sich  z\:r  Noth  ohne 
eine  Handlung  beym  Ansehen  erhalten,  und  nutzbar  seym 
aber  die  Handlung  ohne  Charakter  ist  ein  kindisches  Spiel; 
wenn  sie  nicht  ein  leerer  Traum  ist.    Demnach  muss  der 
epische  Poet  vor  der  Handlung  um  die  Charakter  besorgt 
seyn"  (Criiische  Briefe,  der  siebende  Brief,  p.  125).    So 
beruhigt  Bodmer  sein  und  seines  Freundes  Gewissen:  denn, 
sagt  er,  ein  Mensch,  auch  wenn  er  einen  Fehltritt  begeht, 
kann  dem  Charakter  nach  doch  gut  sein.  Also  ist  die  Moral 


-*)  Im  Aufsatz:  Vom  Rance  uer  $ahör=en  Kttntie 
und  der  schönen  Wissenschaften. 
=')  B  e  i  i  r  ä  ß  e  .  V  .  ^  Erstes  Siück,  p.  90. 


—    30    — 

des  Qedichtes  ^creitctl  „Der  Fall  ist  allcrdinK»  ein  schwe- 
res Verbrechen,  welches  mit  der  Tugend  eines  iirossen  Gei- 
stes nichi  besteht,  und  wir  finden  den  «rossen  Qeist  in  dem 
Falle  nichi,  oder  sehr  verdunkelt;  aber  wir  finden  ihn  vor 
dem  Falle;  und  nach  dem  selber,  fan^'t  er  nach  und  nach 
an,  wieder  zu  erscheinen,  und  sich  empor  zu  heben.  Das 
dllnkct  mich  genug  zu  einem  Helden,  oder  zu  der  ersten 
Person  in  dem  epischen  Gedichte'*  (p.  129).  Ja,  wenn  sich 
der  Held  i.ach  der  Übeltat  bessert,  so  erscheint  er  uns  In 
nur  um  so  günstigerem  Lichte  (achter  Brief,  p.  138  f.). 
Meier  will  noch  mehr,  Er  ülcht  den  Zweck  der  Fabel  nicht 
ein.  Wir  können  nicht  mehr  vor  Adams  Fehltritte  gewarnt 
werden,  weshalb  das  Gedicht  unnüi;:i  ist.  Bodmer  erwidert 
ihm;  „mich  dünki  vielmehr,  da  sie  wissen,  dass  Adam  ohne 
dass  er  vorhcrge^ündiget,  noch  eine  so  verderbte  Natur 
hatte»  Wie  «;le  liaben.  mit  so  leichter  Mühe  verfüret  worden, 
sollten  sie  daher  nur  einen  stärkeren  Beweggrund  nehmen 
sich  an  seiner  Übertretung  zu  stossen,  nachdem  sie  nicht 
mehr  mit  der  Unschuld,  und  der  Aufrichtigkeit,  wie  er, 
dagegen  bewafnet  sind''  (p.  144)."'') 

Solche  Skrupel  hatte  Meier  zu  beseitigen,  um  der  Ver- 
künder  der  Seraphik  zu  werden,  und  Bodmer  ging  auf  sie 
ein,  um  mit  Hilfe  der  Alten  das  Moralische  des  V.  R  zu 
beweisen!' 

Was  verstand  der  Zürcher  Kritiker  unter  Charakteren? 
Theoretisch  hat  er  in  seinen  Poetischen  Qemähl- 
d  e  n  (in  Anlehnung  an  St.  Evremont)  viel  Gescheidtes  über 
Charaktermalerei  gesagt,  so  daß  Servas  nicht  umhin  kann, 
seinem    Scharfblick    in    der    Beurteilung    psychologischer 

'*)  Bodmer  hatte  sich  in  der  A  b  h  a  n  d  i  u  n  g  von  dem  Wun- 
derbaren (p.  191  ff.)  selbst  daran  gestoßen,  daß  Adam  den 
Fehltritt  begangen;  jetzt  gibt  er  auch  darin  Milton  recht,  weil 
Adam  nur  aus  Liebe  zu  Eva  fehle. 


—    31    --^ 

Phänomene  Bewunderung  zu  zollen.*')  Ks  Jälk  aiicrüinjcs 
Servaes  auf,  dali  Bodmcr  in  seinen  Dichtun^ien  nicht  ein- 
mal den  Versuch  jremacht  hat.  Gesialicn  zu  zeichnen.'*) 
Uns  bleibt  die  Aufgabe,  seine  Einsicht  In  Miltcns  Charaktc- 
risicrunRskunst  xu  beleuchten,  d.  h.  xu  untersuchen,  ivlc  er 
seine  Theorien  anwendet.  Auch  hier  zeisri  sichv  da!!  sein 
Urteil  trotz  seines  Wissens  von  moraüschtn  Assoziationi-u 
bücinfUißt  ist.  Da  hatte  ihm  eben  kein  Sf  Rvrcmont  vor« 
gearbeitet. 

Die  einzigen  Qestalten,  die  er  versteht,  sind  die  un- 
serer unschuldigen  Vorfahren.  Adam  ist  würdig  und  un- 
serer Hochachtung  wert.  Eva  ebenso.  Es  ist  zweifellos, 
d'dß  Bodmer  in  den  eigenen  Produkten  we>;cn  seiner  Un- 
fähigkeit kein  Charakter  gelungen  ist;  dazu  kom?nt  aber 
seine  Absicht,  nur  Tugendmenschen  zu  besingen,  Adam 
und  Eva  bleiben  seine  Vorbilder. 

Der  gewaltigsten  Figur  hinjiegen,  die  Milton  gcscliailcn, 
brachte  Bodmer  kein  Verständnis  entgegen.  Satan,  der 
ewige  Widersacher  des  AllmäLhtigen.  wurde  vom  Dichter 
mit  einer  Reihe  von  Zügen  ausgestattet,  weiche  ihn  unserer 
Teilnahme  sichern.  Es  ist  keineswegs  reine  Bosheit,  die 
ihn  zum  Abfall  bewogen,  sondern  imbeugsamer  Stolz. 
Diester  und  die  heimlichen  Anwandlungen  von  Heue  bringen 
ihn  uns  menschlich  näher.  Seine  Devise  ?si:  „Besser  in  der 
Höhe  herrschen,  a!s  Knecht  im  Himmel  sein."  „Seine  Qe- 
stalt  drängt  sich  so  sehr  hervor,  daß  Addison  keinen  An- 
stand genommen  hat,  ihn  de.i  „Heros''  des  Epos  zu  nennen. 
Und  ohne  Zweifel  läßt  dieses  Wor-:  sich  richiiirtigen  .  .  . 
unvermerkt  wächst  die  Figur  des  Satan  in  t.iese  Rolle 
hinein." '') 

")  1.  Ch  P.  139. 
"«)  1.  c,  p.  142/3. 


9C 


)  S  1 1  r  n  V  M 11 1 0  n  \\\  p.  TJ. 


—    32    — 

Darüber,  daß  der  gefallene  Erzengel  zum  Helden  eines 
Epos  gewählt  worden,  war  Qoitschcd  entrüstet  (vgl.  oben 
p.  29).  Bodmcr,  gewiß  nicht  weniger  moralisch  als 
Qoftschcd,  behauptet,  Adam  sei  der  Held,  denn  er  habe 
unsere  Hochachtung.  So  kann  er  Satan  ebenso  sehr  ver- 
abscheuen wie  Gott.schcd.  Zwar  entgeht  ihm,  wenn  er 
Miltons  und  Dantes  Teufel  miteinander  vergleicht,  der 
Unterschied  zwischen  den  beiden  nicht.  „Milton  hat  seinem 
Satan  mehr  Ansehen  gegeben,  und  dieses  hat  ihm  auch 
seine  Religion  nicht,  sondern  die  Majestät  gelehrt,  die  in 
seinem  Gedichte  herrschen  sollte."  "'^)  Einmal  spricht  er 
vom  „vortrefflichen  Rest  von  dem  alten  Glänze'*.")  Seine 
moralisch-rciligiöscn  Anschauungen  drängen  jedoch  die 
bessere  Einsicht  zurück.  „Meines  Bedünckens  kömmt  es 
allezeit  darauf  an.  dass  man  die  Würde  der  christlichen 
Hölle  darinnen  setze,  worinnen  sie  eigentlich  liegt,  ncmlich 
in  dem  hohen  Character  von  gottlosem  Hochmuth,  verhär- 
teter Verstockung»  verfluchter  Begierde  dem  Höchsten  zu 
widerstreben^  welche  sich  bey  den  gefallenen  Engeln  in 
allen  ihren  Gedancken,  Entschlüssen,  Handlungen  und  Reden 
erzeigen.  Dieses  hat  Milton  beobachtet."  ")  Im  kriiischeii 
Brief  an  Meier  heißt  es.  „Satan  wird  in  seiner  äussersten 
Wuth,  und  äusserstern  Hochmuth  bey  seinem  tiefsten  Elende 
vorgestellt.  Man  wird  dieser  Person  auch  ihre  Tüchtigkeit 
in  oinem  epischen  Gedichte  mit  der  gehörigen  Würde  .^a 
erscheinen,  nicht  absprechen  können.  Satans  Grösse  ist 
zwar  keine  wahre  Grösse,  well  sie  aller  Tugend  beraubet 
ist;  er  ist  jibci  auch  nicht  der  Held  des  Poeten,  Adam 
ist  der  wahre  Held  Miltont^,,  wer  den  Satan  dazu  machen 
wollte,  müsste  sehr  .geneigt  seyn,  den  Poeten  unrecht  zu 


"*)  Vgl.  B  c  d  m  e  r  d  e  n  k  s  c  h  r  i  f  t ,  p.  2S6. 

")   M  il  t  0  n  -  Ü  b  e  r  s  e  i  z  u  n  g ,   3.,   resp.   4.   Aufl. 

4.  Aufl.). 

■")  Von  den  poetischen  Gemälden,  p.  583. 


—    33    - 

verstellen.  Müton  redet  durch  das  fianze  Oedichi  mit 
Mass.  Fluche,  Zorn.  Abscheue  von  Saian.  und  er  pfsanzet 
diese  ReKU!i.ü:cn  in  seinen  Lesern*'  (I.  c  p,  !2S9). 

Bodmer  verhinderten  die  religiösen  Voruncilc,  richUsr 
zu  sehen;  bei  seinen  PartcigänKern  waren  w  der  Grund, 
warum  sie  sich  über  Satan  sünzlich  hinwcKscizten.  Nie 
erwähnen  sie  seinen  Charakter.  Klorsiock,  der  auch  darin 
seiner  Zeit  entgegenkam,  schuf  be^:anntlich  aus  Mikons 
Satan  drei  verschiedene  Tenfelsresialtcn,  „Zunächst  ?eselUc 
er  zu  Satan,  dem  wirklichen  Aufwiegler  und  führcf  der 
aufrührerischen  Engel,  in  dessen  Brust  der  Haß  Regen  Gott 
und  seinen  Messias  jedes  weichere  Gefühl  ci stickt,  den 
noch  boshafteren  Adramelech.  der  d\2  Eir.po'ung  schon 
lange  vor  Satan  beschlossen  haue.  der.  eben  so  wohl  Got- 
tes Feind  wie  Satans  Nebenbuhler,  weiter  als  dieser  strebt, 
den  Satan  zu  stürzen  .  ,  .  trachtet  .  .  .  Neben  die  beiden 
stellte  Klopstock  nun  noch  den  reuevollen  Halbteufcl  Abba- 
dona,  der,  einst  durch  Satan  mitvcrführiv  längst  dem  Ein- 
fluß des  Bösen  sich  zu  entziehen  sucht."")  Die  Motive 
des  Umwandiungsprozesses  sind  klar:  Für  ..inen  gegen 
Gott  mit  Haß  Erfüllten  konnte  die  dam<-.'igc  Zeit  kein  Mit- 
leid aufbringen:  deshalb  steigerte  Klopsiock  die  bösen 
Eigenschaften  noch,  des  Abschcucs  seiner  Leser  sicher. 
Auf  der  anderen  Seite  konnte  ein  völlig  Zerk.iirsthic'  mi 
die  Tränen  Tausender  in  Deutschland  rechnen. 

Bodmer  berichtete  schon  am  U,  Scpt  1747  an  Qicim 
über  den  Messias:  ,,.  .  .  es  ist  ein  Charakter  darin,  der 
Satans  Ciiarakter  zu  übersteigen  drohet.  "^Ün  anderer  er» 
wirbt  sich  das  Mitleiden  mitten  untc:  den  verdammten 
Engeln;' ") 

Den   Satan   und   die   eigentliche    Dichierkrai?    Mütons 

="•)   Vgl.   Muiicker.   Klopstock.    ?.   121/2. 
")  ebd.,  p.  70/71. 

PiBSö,  Milien  8 


~     34    - 

2;u  entdecken,  war  einer  anderen  Generation  und  Schule 
vorbehalten.  Die  kritiklose  BcKcIsturunt;,  mit  welcher  der 
junge  Wieland")  u.  a."**)  Klopstock  turmhoch  über  Milton 
stellten,  konnte  nur  von  einem  verschiedenen  Standpunkt 
aus  überwunden  werden.  Bodmer  wollte  zwar  seinen  Mil- 
ton nicht  aufopfern.")  Seine  Lehre  war  aber  doch  die 
Ursaclie  dieser  Übertreibungen.  Entrüstet  er  sich  doch  in 
seiner  Abhandlung  von  dem  Wunderbaren  über 
die  Dichter,  v/elche  den  Engeln  die  Eigenschaften  und  Hand- 
lungen der  mythologischen  Qötter  zugeschrieben  (p.  219/20), 
und  beweist  dadurch,  daß  er  gar  nicht  sieht,  wie 
realistisch  Milton  bei  der  Zeichnung  seiner 
Engel  vorgej?angen  isr.     Wir  wissen  es  ja :    Die 

/  "•')  Wie  I  and  schreibt  am  29.  Okt.  1751  an  Bodmer:  „tr 
(Milton)  wird  unjremcin  von  unserem  Klopstock  übertroifcn. 
Bey  ihm  '.M  das  Game  erößcr  und  majestätischer',  das  Wunder- 
bare natllrliolier,  >ilaubwiirdiKer,  anstiindikcr;  die  Ciiarakiere 
besser  ausßebildei,  abwechselnder  und  rührender;  die  Erfindung 
wahrsciicinlicher,  scharfsinniger,  neuer,  interessanter."  (Aus- 
KC wühlte  Briefe  von  C.  M.  Wieland  an  verschie- 
dene Freunde,  in  den  Jahren  1751  b  i  s  1810  geschrieben 
und  iiacn  der  Zeitfoljfe  geordnet.  Erster  Band,  Zürich 
1815,  p.  6). 

•■'")  Job.  Arnold  Ebert,  der  Übersetzer  der  Nacht- 
iiedanken.  .schrieb  1760  an  Voun?,  daß  uns  in  Klopstock  Milton 
und  Shakespeare  vereint  «CKctcn  worden.  (VkI.  Michael 
Bernays,  Schrifteti  zur  Kritik  und  Litteratur- 
Kcschichie,  Zweiter  Band,  Leipzig  1898,  p.  134*).  Noch 
das  ßanzc  Jahrhundert  hindurch  werden  wir  auf  solche  Urteile 
stoGen. 

'•■'')  In  der  EinleitunK  zur  dritten,  resp.  vierten  Auflage  seiner 
Milton  übersetzuHK  (1754  u.  1759):  „Gewisse  Leute, 
welche  die  Messlade  zu  loben  das  vcriohrne  Parad'cs  an  sie  an- 
stossen  lassen,  veriathen  dadurch  die  Schwäche  ihres  Verstan- 
des, der  sie  hindert   die  Verdienste  der  beydcn  einzusehen  und 

zu  unterscheiden "     (p.  38  der  Einleitung   zur   vierten 

Auflage. 


—    .35    — 

Engel    Miltons   sind    für    Bodmev    nur   dogmatische 
Wesen  und  nicht  Schöpiunücn  der  I^hanlai^ic 


IV. 

Wir  sahen,  daß  die  dOKn'jatisch-moraiiscb.v.n  Ajischuu- 
ungen  der  Bodmersclicn  Epoche  teils  der  Begeisterunj;  für 
Milton  Vorschub  leisteten,  teils  aber  eine  objektive  B'-'-ur- 

teilung  verunmuKiSchtcn. 

Nur  was  den  religiösen  und  do^natischen  En^pfindunjjcn 
jener  Zeit  entKec:enkam,  konnte  aucii  künst!crl5.ch  nacherlebt 
werden.  Bodmer  gibt  uns  eine  Schilderung  des  Kindruckes, 
den  daij  V.  P.  auf  einen  jungen  Dichter  (Klopstock)  bei  der 

ersten  Lektüre  gemacht Die  ersien  Reden,  die  er  davon 

führete,  nachdem  er  wieder  zu  sich  selber  gekommen  war, 
wicwol  er  noch  immer  xurük  sah.  Gameten  von  neuen,  un» 
bekasmien  Ocgenden,  in  welche  der  Poci  ihn  geführt,  von 
seltenen,  hohen  Bekannischafteru  die  er  ihm  verschaffet, 
von  dem  Reichihum  der  Ideen  und  der  Empfindungen,  den 
er  ihn  mitgotheilt  hätte.  Es  ist  wahr,  sagte  ci,  ich  hatte 
vordem  einige  dunkle  Spuren  auf  einem  unbetretenen  Bo- 
den gesehen,  und  etliche  Züge  dieser  herrlichen  Sccnen 
erbliket:  Aber  hier  fand  ich  sie  in  ihrem  vollen  Lichte  vor 
mir  offen  ligen.  Vielleicht  hätte  ich  e;nma!  den  Weg  auf 
diesem  ungebahnten  Gefilde  fortge«ezct,  und  hätte  \lelleicht 
bis  in  die  himmlischen  Gegenden  durchgebrochen,  welche 
Müton  mir  gezeiget  hat,  wenn  ein  chrfürchtvoller  Schauer 
mich  nicht  zurükgczogen  hätte:  Aber  nachdem  Milton  den 
Eingang  in  dieses  Heiligthum  der  Gcisicswelt  eröffnet  hat. 
nachdem  ,er  mich  hineingeführet  hat.  so  darf  ich  künftig  mi/ 
kühnen  Füssen  darinnen  herumwandchi,  die  Bekanntschaft 
mit  meinen  neuen  Freunden  fortzusezen.  Ich  weiss  nun. 
wo  die  Tafeln  des  Schiksals  aufgehangen  sind,  und  ich 
kan  in  denselben  lesen."  (Neue  critischc  Briefe,  p.  !5  6). 

3* 


-    36    - 

Deshalb  will  Bodmcr  das  Wunderbare  in  die  Poesie 
ciniiihren,  weil  es  uns  dasjenige  offenbart,  worauf  wir 
hoffen  (vgl.  oben  p.  26),  weil  es  uns  verrät,  was  auf  den 
Tafeln  des  Schicksals  geschrieben  steht. 

Bodmcr  empfindet  nun  allerdings  den  Schwung  in  Mil- 
tons  Sprache  nicht  so  rein  wie  Pyra,  Klopstock,  Haller  ^*) 
und  der  junge  Wieland.  Sein  didaktischer  Sinn  verläßt 
ihn  auch  dann  nicht,  wenn  er  sich  dem  ästhetischen  Genuß 
uneingeschränkt  hingeben  könnte.  Er  denkt  immer  an  den 
Nutzen,  den  ihm  die  „hohen  Bekanntschaften"  in  Miltons 
Dichtung  bringen.  Daher  die  vielen  Geschmacklosigkeiten 
in  seinen  eigenen  Dichtungen.  Nach  diesen  zu  schließen, 
scheinen  die  Szenen,  in  denen  das  unschuldige  Leben  im 
Paradies  j,':eschildert  wird,  auf  ihn  einen  großen  Eindruck 
gemacht  zu  haben.  Klopstock  begeisterte  das  Seraphische, 
wie  die  obige  Beschreibung  selbst  ausführt;  Bodmers  nüch- 
ternen Sinn  zog  das  Idyllische»  das  ihm  auch  Homer  lieb 
machte,  besonders  an. 

Schon  im  17.  Jahrhundert  hatten  in  Deutschland  die 
Schäferspicle  Fuß  gefaßt.  Zur  Zeit,  da  Bodmer  aufkam, 
träumte  man  sich  in  den  Robinsonaden  auf  entfernte  Inseh, 
zu  denen  die  Welt  mit  ihrer  Schlechtigkeit  keinen  Zutritt 
hatte.  Der  Zürcher  Kritiker  suchte  eine  bessere  Zeit  in  der 
Vergangepheit,  als  die  Welt  noch  nicht  bevölkert  war.  Das 
reine  Beisammensein  Adams  und  Evas  im  irdischen  Para- 
dies war  ihm  die  Verwirklichung  seiner  Ideale.  Beim  An- 
blick unserer  ersten  Eltern  fand  sein  didaktischer  Sinn 
volle  beiriedigung.  Das  »»Wunderbare*'  verehrte  er  seiner 
dogmatischen  Bedeutung  wegen.  Da  die  paradiesischen 
Szenen  des  V.  P.  einen  beinahe   vollkommenen  Ausdruck 

")  VkI.  Albrecht  von  Hallers  Oedichie,  hsg.  u. 
eingeleitet  von  Ludwig  Hlrzel,  Frauenfeld  1882,  p.  386, 
wonach  Haller  schon  1734  in  seinem  ,,Sermo  Academicus"  von 
Miltons  „robur  sine  aeQualitate"  spricht. 


.-    37    — 

gefunden  haben,  sind  sie  wohl  die  einzjk'en  Partien,  die 
Bodmcr  bis  zu  einem  gewissen  Grade  künstlerisch  rein 
nachempfinden  konnte.  Denn  sie  zwani^cn  ihn  nicht,  scia 
ästhetisches  Verständnis  auf  Kosten  des  Dojfmaiischcn  zu 
unterdrücken.  Aber  eben  die  Tatsache,  daß  Bodmer  das 
„Wunderbare''  im  Gedichte  verehrte  wie  das  Idyllische, 
2eigt  uns,  wie  unfrei  im  Zürcher  das  ästhetische  Empfinden 
noch  war. 

So  suchte  er  in  seinen  poetischen  Erzeugnissen  nach- 
zuahmen, was  ihm  im  V.  P.  Heb  war:  Das  „VVtnd er- 
bare", das  bezeichnenderweise  nichts  Homerisches  mehr 
hat  wie  in  Miltons  gewaltigen  Engelschlachten,  und  das 
Patriarchalische.  Dieses  gibt  die  ürundstimmung 
seiner  Dichtungen  ab.  Mögen  die  Hauptpersonen  Jacob, 
Joseph»  Rahel,  Dina  usw.  heilienv  sie  sind  sich  immer  gleich. 
da  sie  Adam  und  Eva  zu  direkten  geistigen  Vorfahren 
haben.  Was  sich  Bodmer  zu  Anfang  von  Joseph  und 
Zulika  vorgenommen,  das  hielt  er: 
Die  griechischen  Musen 

Haben  zu  lange  den  zcrn  der  bloeden  beiden  gesunken. 

Und  der  bloedern  götter  der  beiden:  Zu  lang  blieb  die 

Unschuld 

Und  die  geduld,  und  der  hoehere  sieg  der  keuschheit 

vergessen. 
Als  der  junge  Wieland  nach  Zürich  kam  und  am 
gleichen  Tische  dichtete  wie  Bodmer,  erfuhr  seine  Muse 
ebenfalls  eine  Beeinflussung  nach  Jer  patriarchalischen 
Seite  hin,  .vUnvernierkt  drängt  Hymen  sich  an  die  Stelle 
des;  einst  feurigen  Amor.  Der  briiütüche  Liebesdichter,  der 
nach  den  glünzenden  Augen  und  roien  Lippfui  sich  schntc, 
weidet  sich  an  dem  rührenden  .Anblick,  wem  der  ..Säug- 
ling um  der  Mutter  Brust  lächelt,"  er  schildert  im  letzten 
Brief  mit  sanfter  Innigkeit  das  Eheglück  des  neuen  Adam. 
Uüd  nun,  im  „Geprüften  Abraham",  Ist  für  b'*3utliche  Liebe 


~    38    — 

überhaupt  kein  Platz;  hier  preist  der  Dichter  die  friedliche 
HausKcmeinschaft  des  ehrwürdigen  Patriarchen  und  seiner 
Frau  Sarah"."')  Die  Charal<tcre  im  Messias  zog  er,  wie 
wir  sahen,  denen  im  V.  P.  vor, 

In  patriarchalisch-miltonischer  Beleuchtung  war  im 
Zürcher  Dichter  auch  das  erste  Naturgefühl  erwacht.  Mit 
seinem  Milton  war  der  junge  Bodmer  aus  der  Stadt  nach 
dem  idyllischen  Greifensec  geflohen  und  hatte  dem  Freunde 
in  Trogen  geschrieben:  „Alss  ich  aus  der  Stadt  käme  auf 
das  freye  feld.  v/are  mir  zu  muthe»  wie  dem  Satan  als  er 
aus  der  helle,  die  mit  flüssigem  und  gediegenem  feücr 
brennt,  wo  das  gefrorne  Eiss  die  finger  versenget,  und  kalt 
die  Wirckungen  des  feüers  verrichtet,  in  das  paradiss 
kommen,  dessen  Kostbarkeit  und  die  Nakende  Eva  ihn  fast 
vergessen  machten,  dass  er  der  Mr.  teuffei  wäre.  Ein  jeg- 
liches ding  belustigte  mich,  das  zusammengerächte  grass, 
die  Senten  kühe,  das  schütteln  der  Nussbäumen  &  c. ,   ."  *") 

'")   Fritz  Budde,  Wicland   und  Bodmer,  Ber- 
lin 1910  (Palaestra  LXXXIX),  p.   151.  Bodmer  machte  Wieland 
auf  ZüKc  im  V,  P.  aufmerksam,     in  der  Ncuauilage  des  L  o  b  • 
«csEHKes  auf  dit  Liebe  wollte  W.  solche  benützen.    Das. 
crKJht  sich  aus  den  Korrekturen  im  Exemplar  der  Zürcher  Siadt- 
biblio'.hek,  auf  di«;  Budde  nicht  weist.    Nach  den  Versen; 
Qö'tliche  'Liebe!     Du  weist,  die  unsre  harmonische  Seelen 
Sich  zu  lieben,  so  zürtlich  erschuffst,  und  die  himmlische  Doris 
DcinerTi  zärtlichsten  Seraph  und  seiner  Schönheit  nachahmlesl 
(Wielands  Qcsammclte  Schriften,  hsij.  v.  d.  Dcut- 
sche-.i  Kommission  der  KrI.  Prcuß,  .\kadcmic  der  Wisscn:jchaf- 
icn,  Berlin  !909ff.  F.  p.  134,  v.  182— S4)  fügt  Wieland  selbj.t  ein; 

so  lovcly  fair 
That  Nvhat  seem'd  fair  in  all  the  world  seem'd  now 
mean,  or  in  her  summ'd  up,  in  her  contain'd, 
And  in  her  looks,  which  from  that  time  infus'd 
Sweetness  into  iiiy  heart»  unfelt  before. 

(=  P.  L.  VIII,  471ff). 
*")  M.  Bödmer,  1.  c,  p.  190/1. 


—    39    — 

Es  ist,  wie  wenn  schon  Milton  vor  Thomson  dem  sich  zu 
AnianK  des  Jahrhunderts  regenden  Natursiciüh!  entgegen- 
gekommen wäre. 

Auch  ßrockes  übersetzte  den  Schlüli  des  vierten  und 
den  Anfang  des  fünften  Buches,  d.  h.  dij  Stellen,  wo  Satan 
voller  Neid  Ackims  und  Evas  Bcisamincnsein  erblickt  und 
wo  diese  in  einer  Hymne  Gottes  herrliche  Natur  preisen. 
Milton  wird  in  die  Kleinmalerci  des  Irdischen  Vcr« 
g n  ü  ß e n s  in  Gott  übertragen.  Naue  Details  kommen 
dazu»  Wie  uns  Bodmers  wörilichu,  holpijrlge  Prosäüber« 
Setzungen  von  einem  vergeblichen  Streben  nach  Schwung 
erzählen,  so  verrät  uns  Brockcs'  Ühertiagung  eine  einseitig 
detaühai't-maUirischc  Auffassung  des:  Vorbildes. 

Kleist,  lialler,^')  Hagedorn,  der  ,vd;:s  erste  Paai  In 
Milton  reizend'*  fand,")  begeisterten  sich  woh!  auch  für  das 
Naturschöne  im  V.  P. 

Auf  lange  hinaus  wurde  der  Sonnenaufgang  nach  Mil- 
tons  Vorbild  besungen.  Qleim  schreibt  am  16.  .laisuar  1762: 
.  .  ,  ,>man  gebe  mir  zehn  Poeten,  die  alle  die  aufgehende 
Sonne  beschrieben  haben,  ich  v/ül  die  herausfinden,  die  ihre 
Beschreibung  £us  dem  Müton  nahmen.**"*) 

*')  VkI.  L.  Hirzel.  A  l  b  r.  v.  haiUrs  Ü  4  dichte. 
Frauciijcld  1SS2,  p.  37.S,  wo  sich  eine  Außcruns:  Maliers  über 
die  Paradicsszcncn  findet  (aus  dem  Jahre  17^),  Vgl  auch 
ebd.,  p.  CCXCVin. 

*'^)  In  Friedrich  v.  hagiiidorns  tipiKramm  JVmI 
einen  Fapcfiuuicr  und  Verüchter  der  ichön« 
sten  Stellen  im  Milton",  Werke.  Cärlsruhc  1777» 
Krster  Thcii,  p.  225. 

*•')  So  wollte  ültim  schreiben,  verbesserte  dann  den  letzten 
Satz  in:  „  ...  die  nie  aufgestanden  waren,  sie  zu  sehen",  womit 
er  eben  die  Mütonnachahmcr  zu  meinen  schein:.  (Brief- 
wechKel  zwischen  Ülcim  unü  Uz.  hsK.  u.  crluu:ert 
von  Carl  Schiiddekopf,  Tübin»:cr.  1899  (Bibliothek  de« 
Literarischen  Vereins  in  Stuttgart.  Bd.  ?IS},  p.  32t»)- 


—    40    — 

Alfred  Biese  hat  gtsaRt,  die  christlich-puritani- 
sche Phantasie  Miltons  sei  zu  biblisch  gewesen,  als  daß 
sie  der  Schöpfung  eine  sclbständiKe  Bedeutung  in  der  Poesie 
hätte  leihen  können.  „Die  Natur  spielt  nur  eine  Rolle  In 
Bezug  auf  den  allmächtigen  Gott.*'  **)  Auch  zur  Zeit  der 
Milton-  und  Klopstockbegcisterung  stand  die  Naturschwär> 
merei  in  engem  Zusammenhang  mit  der  Religion.  Die 
patriarchalischen  Idealfiguren  wurden  in  eine  idyllische 
Natur  gedacht.  Adam  und  Eva  erfreuten  sich  im  V,  P. 
ihrer  keuschen  Liebe  in  einer  Laube  (bower).  Diese  Laube 
taucht  im  Messias  *'')  wieder  auf  und  findet  sich  Jahrzehnte« 
lang  in  Gedichten,  ja  Briefen  wieder:  In  Klopstocks  Tod 
Adams  ward  sie  zur  Braudaubc.  Als  .solche  oder  als 
gewöhnliche  Laube  oder  sonst  variiert,  begegnet  sie  uns 
bei  Ebert.  Gcßncr.  Ramler,  Giseke,  Herder.  Voß,  Miller, 
Hölty,  Wieland,  Oerstcnberg,  Maier  Müller,  Stollbcrg.**) 
Sie  ging  wohl  auf  Kiopstock  surüc.K  und  nur  indirekt  auf 
Milton. 

In  den  Zürcher  F*airiarchaden  herrscht  selbstverständ- 
lich das  Naturmilieu  des  V.  P.  Fritz  Budde  sagt  1.  c,  p.i  180, 
über  Wieland:  „Wie  er  in  seinen  ersten  Dichtungen  Natur- 
schilderungen und  idyllische  Liebesmotive  bevorzugte,  so 
bildeten  für  ihn  ähnliche  Elemente  das  Anziehende  in  Bod- 

*^) .Alfred  Bicsct  Die  Entwickelun^  des  Natur- 
jreiühls  im  Mittelalter  und  in  der  Neuzeit,  Zweite 
Ausgabe,  LaIpziK  1892,  p.  406. 

")  Messias  I,  544,  „dämmernde  L*'.  K  666,  „scliimmeriuien  L", 
I!,  31  betet  Eva  „Du  Hütte,  wo  er  (Jesus)  weiiiete,  sey  mir  die 
Laube  der  crstin  Unschuld''.    11,  21  ,,friedsamc  Laube". 

■"*)  (Jber  das  Motiv  der  Laube  \%\,  Weinhold,  Ein  Gvi- 
dicht  Hültys,  Schnorrs  .\rchiv  für  Literatur- 
jjesclichta  VM  (Leipzig  1878),  p.  193/4.  Neue  Beleue  bei 
Ludwig  Krabe,  C a  r  i  F  r  I e d  f .  Gramer  bin  2 u 
seln«;r  AmtsenthfibunK  (Palaestra  44),  Berlin  1907, 
Anhang,  p.  247/8  (zu  Seite  35»). 


-„    41    — 

mers  Epen.    liodmcr  dag:gen  sah  diese  DinKc  als  Raluncn 
und  Beiwerk  an,  als  Ziel  suchte  er  die  Erhebung  zu  «jpi- 
scher  Handlung,  zur  Charakteristik  und  zum  Wunderbaren.** 
Das  ist  nicht  jranz  richtig.    Nachdem  wir  darfcckxt,  daß 
für  Bodmcr  die  Begriffe  epische  Handlung  und  Charakte- 
ristik soviel  wie  Schilderung  dc!v  Dogmatischen  und  Idylli- 
scheri  bedeuteten  und  daß  sich  schon  der  junge  Zürcher 
für  die  Naturschilderungen  im  Miltonschen  Liebcsidyll  er« 
wärmte,  können  uns  diese  Dinge  in  der  Bodmerschen  Auf- 
fassung nicht  bloß  als  „Rahmen  und  Beiwerk"  erscheinen. 
Der  nüchterne  Sinn  des  Zürcher  Dichters  und  Wic- 
lands  idealistisches  Streben  fanden  auf  dem  Gcbieic  der 
Idylle    einen  gemeinsamen  Berührungspunkt  (vgl.  Buddc. 
ebd.).      Schilderungen      unschuldiger     Men- 
schen und  reizvoller  Umgebung  w  a  r  t;  n  nach 
Bodmer  neben  dem  dogmatischen  ..NA"  u  n  d  c  r  • 
baren"    dem  Kpos    unentbehrlich.    Nur  Heß  er 
sich  durch  seine  lehrhaften  Tendenzen  in  seiner  Werken 
2u  lächerlichen  QeschmacklosiTkeiicn  verführen,  während 
Wieland  bei  ^.ieicher  Frömmigkeit  ein  größerer  poetischer 
Sinn  eignete.    Wielands  Gesicht  vom  Weitge rieht 
durchweht    seraphischer  Hauch.    Obschcn    er  Klopstocks 
Sprache  verwässerte,**)  fand  er  m.ehr  als  Bodmer  den  Aus- 
druck für  die  Sehnsucht  nach  dem  glücklichen  Ursitz  der 
Menschheit. 

Achl  wo  bist  du,  o  Paradies,  der  einfälligsten  Freuden 
Qlykücher  Sita?  wo  scyd  ihr*    ihr  Bacumc.    h\    derea 

Umschauung 
Sich  die  ersten  der  Mensche«,  n^ch  Gott  gebildet. 

umarmten? 
Ewig  dahin!  vom  Tode  zerstört!  von  den  Ruthen 

zerrytlütl 

*»)  Vgl.  B  u  d  d  e ,  l.  c  p.  155. 


«.    42    — 

Ach!  du  bist  auch  dahin,  du  heilige  IVÜyrtcnlaubc, 
Wo  sich  Adam  zuerst,  auf  balsamischen  Blumen 

ßelagert, 
Fandv  sich  fyhlt  und  mit  erstem  Fyhlen  dem  Schöpfer 

zulächelt. 
(Werke  \\  p.  435.) 

Der  von  Milton  im  8.  Buche  beschriebene  Moment,  da 
Adam  auf  der  ersi  geschaffenen  Welt  erwacht,  um  sich 
sieht  und  Über  die  Schönheiten  dieser  Erde  in  Entzücken 
gerüi.  re^tc  Wicland  und  nach  ihm  noch 'andere  wie  Maler 
Müller  zu  pociischcn  Ergüssen  an.  Wieland  jauchzt  in 
seiner  Hymne  an  die  Sonne: 

Ja  dich  wollte  der  erste  der  Menschen,  der  König  der 

Erde, 
Als  er  im  Paradies  auf  einem  balsamischen  Lager 
Neugeschaffen  sich  fand  und  voll  verwundrung 

umhersah, 
Als  er  dich  sah,  o  Sonne,  da  wollt  er,  von  ehrfurcht 

erhoben, 

Schöpfer  dich  grüßen, — 

(Werke  I-,  p.  175.) 

Viele  idyllische  Naturszenen  entnimmt  Bodmer  dem 
V.  P.  'Die  Frauen  klagen  im  Noah  wie  die  das  Paradies 
verlassende  Eva  "^)  und  beschreiben  die  schöne  Gegend,  die 
sie  nicht  mehr  sehen  sollen.  Auch  son.st  versucht  er  sich 
In  Schilderungen,  Wie  Adams  erstes  Erwachen,  so  mußte 
die  Erzählung  Evas,  wie  sie  zuerst  diese  Welt  erblickt  und 
mit  Adam,  zusammengetroffen,  Bewunderer  finden.  Bod- 
mer verwendet  sie  u.  a.  im  zweiten  Gesang  seiner  ge- 
iallonen  Zilla  (1755). 

Ein  bescheidener  Dichter,  K.  W.  Müller,  übertrug  diese 


")  Vßi;  Th.  Vetter.  I.  c.  p,  364. 


-    43    ~ 

Stelle  (Buch  IV,  449  ff.)  in  seinem  !755  erschienenen  Ver- 
such in  Q  e  d  i c h  t  c n  :*") 
Noch  denk  ich  oft  an  den  Tag,  als  ich,  vom  SchluiniTicr 

erwachet. 
Das  Licht  zum  erstenmal  sah,  and  unur  schattichtcn 

Bäumen, 
Auf  weichen  Blumen  mich  fand.   Durchürungen  von  süssem 

Erstaunen 
Fragt'  ich  mich  selbst,  wer  ich  sey.  und  wie.  und  wöhcr 

ich  entstanden. 
Nah  bcy  dem  Ort,  wo  ich  lag,  drans  eine  rieselnde  Oucllc 
Aus  einer  Grotte  hervor,  und  wuchs  zur  liüsslKcn  tbnc. 
Dann  stand  sie  unbewesi  still,  und  rein,  wie  der  lächelnde 

Himmel. 
Voll  von  Gedanken,  die  mir  noch  neu  und  unbekant  waren, 
Gieng^  ich  dann  näher,  und  warf  am  «;rünen  Uier  mich 

nieder. 
Ins  klare  Wasser  zu  sehn;  für  mich  ein  anderer  Himmel. 

u.  s.  w. 
Dieses  Bruchsiück,  das  heute  bei  allen  Aufzahlungen 
übergangen  wird,  ist  die  beste  Cberseizungsprobe  aus  dem 
V.  P.,  die  wir  aus  jener  Zeit  besitzen.  Bodmcrs  Über- 
tragung war  auch  in  der  3.  Aufiage  banal  geblieben,  von 
andern  nicht  zu  reden.**")    Daß  K.  W.  Müller  dk^i  Stelle 

"")  Unter  dem  Titel:  Eva  an  Ad:iin,  aus  Milions 
verlöre  II  emParadiese.  Auch  sbcecruckl  in  der  B  s  b  1  i  o  - 
Ihck  der  schönen  Wissenschaften  und  der 
Ireycn  Künste,  Leipzig  176!.  Scwh&un  Bandes  iucytc» 
Stück,  p,  316  ff.  (bei  Anlaß  der  Bcspred:iinz  vor»  Zachariä» 
Übersetzung). 

•'■")  Bodmers  Ü  b  e  r  s  c  i  z  u  n  k  e  n  (=  No.  4  der  V'cticrtchco 
Bibliographie)  erschienen  1732.  1742.  l75  4,  1759.  17  69. 
1780.  Die  Äcsperrt  gedruckten  sind  umgearbeitet.  In  der  sucitcn 
Auflaßc  von  1742  bewegt  sich  Bodmer  ctuas  ircicr»  während  er 
in  der  3.  eher  wieder  zur  alten  AbhanKit:l-;eit  \ou  der  Vorlage 
zurückkehrt.     MiitoniibcrsetzunKcn    lagen   damals    in    der   Luft 


_.    44    — 

wählte,  scheint  mir  dem  Geschmack  jener  Jahre  zu  ent- 
sprechen, 

Dit  paradievSischen  Szenen  fanden  in  der  Idylle  ein 
Fortleben,  In  Salomon  Geüners  Tod  Abels  kann  man 
bei  der  Schilderun;?  der  Schöpfung  (l.  Qcs„  p.  21  der  2. 
Aufl.),  im  2.  Ges.  (Erzählung  Evas,  wie  sie  das  Paradies 
verlassen)  und  im  dritten  Gesang  (Adramelech  legi  sich 
neben  Abels  Ohr,  wie  Satan  neben  dasjenige  Evas)  an 
direkte  Beeinflussung  durch  Milton  denken.")  Der  ganze 
erste  Gesang  spielt  in  einer  Laube.  Während  aber  Bod- 
mer  u.  a.  mit  Milton  wetteifern  wollten,  wollte  Geßner  nur 
er  selbst  sein.") 

Job.  Stry  versuchte  eine,  die  er  schon  am  26.  April  1746  an- 
kündigte (Waniek,  Qott.sched  ...  p.  510).  Nikolaus 
Dietrich  Qlsecke  (1724 — 65)  übertrug  größere  ange- 
druckte Partien  (vgl.  Poetische  Werke,  h.sg.  v.  Carl 
Christian  Q  .'i  r  t  n  e  r ,  Braunscliweig  1767,  Einleitung,  p. 
XVHI  f).  Von  Simon  Q  r  y  n  ä  u  s  ist  der  1.  Qs.  auf  der  Zi^cher 
Stadtbibliothak  handschriftlich  vorha-iden.  Cr  ist  nicht  besser 
als  dei  Verfassers  jicdrucktes  Wiedererobertes  Para- 
dies  (Basel  1752),  aber  nicht  wie  dieses  in  Prosa,  sondern  in 
Hexametern.  In  seinem  anonymen  Versuch  In  Gedich- 
ten, Leipzig  1755,  übersetzte  K,  W,  Müller  Buch  VI,  449- 
491.  C'ic  l>estrcl)ungcn,  das  V.  1^  in  ficxarnotcrn  zu  libertrasen. 
faiideii  ilirc.'i  Al)scliliilJ  in  Friedrich  Wilhelm  Zaclia- 
rluos  l70()/fM  in  Allona  erschienener  Übersetzung.  .Wüllcrii 
Hexameter  übertreffen  an  Wohlklang  und  Fluß  diejenigen  Zacha- 
naes  Auch  in  gereimten  Versen  wurde  eine  Übertragung  ver 
sucht  von  Qottlieb  Siegmund  Qruner,  der  schon  1749 
handschriftliclie  Proben  davon  vorlegte  (vgl.  J.  BUchtold. 
Qcschichte  der  deutschen  Literatur  in  der 
Schweiz,  F.'-auenfeld  1892,  p.  544). 

")  Vgl.  Mur.  cker,  l.  c,  p.  181. 

'*)  Salomon  Qcssncr  schreibt  am  8.  Jan.  1763  an  V  i  n  c  j  n  jj 
Bernhard  von  Tscharner:  .  .  .  Indcß  war  meine  Ab- 
sicht nie  mit  dem  Milton  wetteifern,  so  stolz  war  ich  nie: 
ühnlichkeit  im  Sujet,  und  die  gleichen  Personen  mußten  ühn- 


-~     45     -~ 

In  den  Werken  der  spiiieren  Idyllendichtcr  tönt  der 
einsi  so  mächtige  Einfluß  des  englisdicn  Epikers  \v»e  ein 
entfernies  Echo  nsch. 


Zollte  das  Bodmersche  Zeitalter  dem  V.  P.  auch  bei- 
nahe uneingeschränkte  Anerkennung;  s'i  brachte  es  ilnn 
dennoch  ein  unvollkojninenes  Verständnis  entgegen.  Bod- 
mers  theoretische  Kenntnisse  sind  seiner  praktischen  Ur- 
teilsfähigkeii  überlegen.  Nachzuweisen,  was  von  Milton 
in  Bodmer  und  seinen  Zeitgenossen  aä  irklich  lebendig  war» 
hai  noch  niemand  ausführlich  versucht.'") 

liehe  Seen  er.  hervorbrinKcn,  aber  ich  uoht  nicht  Mi!  Ion, 
ich  v^'üUe  nur  ich  selbst  scjn"  (M  ine  i  1  u  n  sc  n  aus  Brie- 
fen der  Jahre  1748—68  an  Vmcen/  licrnhard 
von  T  s  c  h  a  r  n  c  r ,  hsv.-  v.  Richard  H  a  m  c  ! ,  Rostock 
1881,  p.  5ü). 

"*')  Noch  niemand  hat  scharf  zwischen  Bödmer,  dem  Tbvo- 
r  e  t  i  k  c  r ,  der  fremde  Ansichtcü  sich  mehr  oder  wcniccr 
aiiciiinctc.  imd  B..  dem  K  r  i  t  i  k  c  r  v  der  seine  Thccrien  an- 
weiidcn  sollte,  unterschieden.  Wenn  J.  Blicht  oSd.  J.  c^  p. 
364,  /.um  Resultat  kommt i  „in  der  t^inäich;  in  das  künsiicrischc 
Verfahren  Jcs  Dichter ;4  und  dessen  ideale  tiiüukcii  stehen  die 
Schweizer  ,  .  auf  i^lcichci  Mühe  mit  Mosci  Mendelssohn  und 
Lcssins':.  die  hier  direkt  an  jene  anknüpfen'»  so  kann  sich  dies 
höchstens  auf  die  theoretische  Einsicht  beziehen,  Bodmer 
hat  eben  alles  zusammcnsetragen,  was  sich  für  Muten  ins  Feld 
führen  Heß.  Wir  haben  gesehen,  daß  er  nicht  einmal  in  de?  Ab« 
h  a  n  d  I  ti  n  K  von  dem  Wunderbaren  seine  Ar.s'chtcn  durch- 
dachiCi, 

Michael  Bcrnays  hat  das  übcnricbeue  in  der  Ekhaup- 
tunü,  Bodmer  habe  Milton  seiner  politischen  )l're;heitsiicb€  wcsen 
verehrt,  nacheewiesen  (Schriften..  I!,  S5ff^:  Dc^  Zürcher 
Kritiker  hatte  1754  in  seiner  Einleitung  zw:  3.  Miiiorfibersetiiune, 
wo  von  des  Dichters  politischen  Schriften  die  Rede  ist,  den  eng- 


—    46    — 

lischcn  Miltonkommcniato:'  Newton  einfach  abgeschrieber.! 
Friedrich  Braivmaier,  Geschichte  der  poeti- 
schen Theorie  und  Kritik,  I.  Teil,  Fraucnfeld  1888, 
hat  wie  Servaes  viele  richtige  BemerkuiiKen.  p.  220  sagt  er 
von  Bodmer:  „In  Shakespeare  steckte  ihm  offenbar  zu  viel 
Poesie;  er  war  zu  tendenzlos,  ohne  religiöses  wie  ohne  politi- 
sches (!)  Pathos,  ohne  das  sich  Bodmer  keine  Poesie  denken 
konnte  .  .".  „Ferner  kommt  bei  ihnen  (den  Schweizern),  den 
Bürgern  dos  frommen,  ehrenfesten  Zürich,  noch  hinzu  der  strcng- 
rcligiüsc  Charakter".  Ich  behaupte  nun  allerdings,  dali  der 
strenge  i'cügii^se  Charakter  nicht  neben  der  Begeisterung  und 
rcicheii  orL-jinalen  Phantasie  Bodmer  für  Milton  gewann,  sondern 
bei  weitem  die  Hauptursache  der  Miltonverchrung  war. 
Auch  Braiimaier  nimmt  den  Begriff  „Wunderbar"  in  einem 
viel  zu  abstrakten  Sinn. 

Das  Beste  über  Bodmers  Verhäitnis  zu  Milton  sagt  Q.  d  e 
Reynold  in  seiner  Histoire  Littäraire  de  la 
Suissc  au  dixhuitiöme  &16cle,  seccnd  volume: 
Bodmer  et  l'Ecole  Suisse,  Lausanne  1912.  Er  berück- 
sichtigt das  Naturgefühl  in  Bodmer  und  sagt  p.  245:  „Nous 
voyons  donc  clairement  l'influence  que  Milton  va  exercer.  II 
pousse  ä  l'idyllisme,  ä  ccttc  conception  d'une  naturc  sauvage, 
mais  agrcable:  le  Paradis,  l'Arcadie,  l'üge  d'or.  II  conduit  tout  droit 
h  ia  „patriarcadc",  au  pathos  biblique,  au  „patois  de  Chanaan". 
ä  cette  vari(5tc  „protestantc"  du  sentimentalisme  eher  au  XVllIc 
siede.  C'cst  que  Milton  a  &t&  compris  imparfaitcmcnt,  imitc 
soilcment,  par  Ic  cöti  cxtericur".  Allerdings  schießt  Rey- 
nold über  das  Ziel  hinaus,  wenn  er  (p.  245/6)  fortführt:  „En 
effet,  .  .  .  Milton  dcfaille  toutes  les  fois  que  le  langage  biblique 
et  que  le  text  de  !a  GenC:se  i'cntravent;  or,  Bodmer  et  ses  amis 
admiraient  par  dessus  tout,  sans  le  savoir,  ces  d^failiawccs 
mcmcs."  Der  Zürcher  Kritiker  bewunderte  nicht  die  schwa- 
chen Punkte  im  V.  P.  über  alles,  sondern  sah,  ihres  di- 
daktischen Inhults  wegen,  nicht,  wie  iinkilt.stlcrisch  sie  äind. 
Alles  Biblische  im  Ocdichte  fesselte  Bodmer;  eben  auch  das 
Patriarchalische,  das  aber  im  V.  P.  einen  g  r  o  (i  c  n 
Raum  einnimmt  und  künstlerisch  beinahe  voll- 
endet dargestellt  Ist.  Eben  diesen  patriarchaU.schcn 
Ocli^i  uliiiut  u.  ü.  die;  Nouchi'Jü,  die  dem  V.  1'.  nicht,  wie 
R.  p.  247  sagt,  nur  in  einen:  kleinen  Detail  gleicht.  Man  kann 
clc<;wc;:cn  nicht  wie  R.  von  Nachahmungen  „P&r  \s  c6tö  ext£- 


«..    47    --^ 

rieur"  sprechen.  Denn  das  Pairiarchaiischc  im  Ocdichtc  srlcbic 
Bodmcr  Die  Hauptsache^  die  mit  dem  Hang  zum  Idy-Uschen 
sehr  en«  verknüpften  didaktischen  NeiKunjjcn  und  die  dariil 
zusammenhünk'ende  Vorliebe  für  das  „Wunderbare",  bsnlhrt  R. 
nicht.  Dagegen  glaubt  auch  er,  daß  die  Auslassun;:cn  in  der  Ktn- 
leitunK  zur  3.  Übersetzunc  des  V,  P.  über  den  Repi:bUkancr  M. 
von  Bödme r  stammen  (p.  247/48.  vgl.  oben). 


Zweites   Kapitel 

Das  Zeitalter  Lessings 

Das  Haupiverdienst  Bodmers  besteht  darin,  Milton  in 
Deutschland  populär  gemacht  zu  haben.  Der  die  erste 
Miltonbcgeisterun?  bedingende  Geschmack  dauerte  noch 
jahrzehntelang  als  Unterströmung  fort  und  rief  jene  Unzahl 
von  geistlichen  Dichtungen  hervor,  die  uns  als  Nach- 
ahmungen des  Messias  erscheinen. 

Aber  schon  in  den  vierziger  Jahren  vernehmen  wir  hie 
und  da  einen  leisen  Protest  gegen  eine  blinde  Ver- 
ehrung des  britischen  Dichters.  (Ich  rede  natürlich  nicht 
von  den  Qottschediancrn.)  Uz  schreibt  am  29.  März  1746 
an  Gleim:  „Herrn  Langens  Heldenode  hat  viel  ähnlichs  mit 
des  seel.  Pyra  Ode  auf  das  Langische  Bibelwerk:  dieselbe 
scheint  mir  aber  nicht  Horatzisch  zu  seyn,  soviel  poesie 
sonst  darinnen  ist.  Das  Miltonische  Wesen  (halten  Sie 
mich  für  keinen  Leipziger;  ich  verehre  ihn,  Sie  wissens)i 
Miltons  besondere  Art  des  Ausdrucks  schickt  sich  vielleicht 
nicht  für  die  Ode,  wenn  es  nicht  sparsam  und  mit  groß'jr 
Kunst,  in  gewissen  Materien  angewandt  wird."  0  Und  am 
26.  Mai  1747  an  denselben  über  Qötz:  „.  .  .  Er  hat  mir 
auch  eine  Ode  auf  seines  Bruders  Tod  mitgeschicket,  welche 


0  B.-icfwechsäl  ^wibchen  Oleim  unü  Uz 
(Blbiioihek  des  Literarischen  Vereins  in 
Stuttßart,  Bd.  218),  p.  107. 


—    49    — 

schöne  Bilder  hat.  Sic  würde  mir  noch  besser  ücfallcn, 
wenn  er  mehr  den  Alten»  als  der  Pi'raischen  Ode  über 
Langens  BibeKverk  oder  auch  dem  Mihon  nachjjcahniet 
hätte.  Ich  kariTi  unmöglich  verdaueu.  daß  ein  !!n,:el  vom 
Himmel  herab  kommen  und  mit  einem  Ciherischen  L^pccr 
das  Band  zwischen  Leib  und  S<;e!c  auflösen  muü;  -ind  der- 
gleichen mehr.  Wann  Milton  mit  einem  durch  die  Alten 
befestigten  Geschmack  gelesen  wisd,  so  ist  er  vollkommen 
fähig,  einen  mit  den  erhabensten  Bildern  und  mit  einem 
göttlichen  Feuer  zu  erfüllen:  widrigcr.falles.  g'auhe  ich.  kann 
man  zu  dem  unnatürlichsten  Dichter  durch  ihn  ^verdcn/") 

In  diesem  Ausspruch  finden  wir  eine  Voralmun;? 
der  Ansicht,  daß  das  Antik-heidnische  den  Hauptwert  des 
Miltonschen  Gedichtes  ausmacht  und  nicht  das-  Sera« 
phische. 

Haller  hatte  Klopstock  nie  über  Milton  scizen  'w.oücn.') 
Nach  der  ersten  Schwärmerei,  mic  der  ücr  .Messias  be- 
grüßt worden,  zogen  sich  mehrere  von  Bodmers  Vasallen 
zurück.  J.  E.  Schlegel  rebellierte  gegen  Bodmer.  daB  üicjcr 
in  i  e  d  e  m  Gedichte  das  sogfinannte  Wunderbare  wollte, 
auch  wo  es  nicht  notwendig  war.')  Als  der  Zürcher 
Dichter  seine  Patriarchaden  losiieü,  da  verließ  Um 
selbst  der  einsi  so  eifrige  Meier.')  Ja,  sogar  Bodmcr 
machte,  wie  wir  sahen,  gegen  die  Überschätzung  des  Mes-^ 
Sias  Front. 

Ra.nler  kehrte  unter  dem  Einfiuü  Lessings  zur  Antike 
zurück.")    Uz  mißt  Milton  mit  dem  Ma'isiab  der  Friinzoscn 


^)  ebd,.  p.  166. 

^)  Xgl    L.    M  i  r  z  e  i .    A  l  b  r.  v.    tia\Hf9    Gedichte. 
Praucnield  1882.  p.  30?  i. 

*)  \'k1.  oben.  p.  24,  Anni.  12.    Über  Sch.'s  freiere  Au'faisung 
des  Wunderbaren  vgl.  H.  Bicber,  J,  A.  SchicecU  poeil- 
sche  Theorie.  Berlin  1912  (PaK'isira  CXIV).  %  25  ff. 
°)  Vgl.  Bergmann,  p.  201,    Milion  blieb  er  treu 
"■)  Vgl.  M  u  n  c  k  c  r ,  1.  c.,  p.  !47. 

Piezo,  Milion  4 


~.    50    - 

und  beklagt  den  Mange!  der  antiken  edlen  RInfalt/)  Aber 
er  erkenne  der  Engländer  ..gedankenreiche  und  körnichtc 
Art  zu  dichten" '')  an  und  ahmt  Milton  in  ;;inem  Gedichte 
nach.')  Uz  hat  sich  dem  Eindrucke  (Miltons)  nicht  ent- 
ziehen können,  aber  „durch  die  Weihrauchwolken,  die  aus 
hundert  Opferschalen  zu  Milton  empordampfen,  dringt  er 
hindurch  zur  ewigen  Schönheit  der  antiken  Dichter".") 
Diese  Schönheit  besteht  für  ihn  in  der  Natürlichkeit.  Diu 
Enk'länder  haben  für  ihn  „allzu  weni^  Natur  und  gar  zu  vi-jl 
Kunsi*'.*^)  Üzens  Geist  war  zu  nüchtern,  um  MlUons 
Schwung  folgen  zu  können.  Er  bedurfte  verständlicherer 
Poesie     Darum  kamen  er  und  Wieland  hlntdrcinander. 

Als  aber  dieser  die  ätherischen  Sphären  verließv  er- 
wachte in  ihm  klarer  als  im  kurzsichtigen  Uz  die  Einsicht, 
worin  Miltons  Größe  besteht.  Verständnisvoll  vergleicht  er 
ihn  in  einem  Öriefe  vom  24.  April  1758  mii  Rubens.^")  Am 
4.  Nov.  1769  empfiehlt  er  der  Laroche,  welche  einen  homme 
diable  darstellen  will,  die  Lektüre  Miltons  und  Klopsiocks, 
„pour  Vous  lamiliariser  un  peu  avec  les  caract^res  de  leurs 
diables".")  Die  Seraphim  des  englischen  Dichters  werden 
allerdings  nur  noch  mit  Ironie  erwähnt,  aber  seine  Ach- 

')  Vijl.  Außust  Sauer,  Einleitung  zu  den  Sämtlicher, 
poetischen  Werken  von  J.  P.  Uz.  D.  L.  D.  33/38  p. 
XX!V/V, 

^)  D,  L,  D.  33/38,  p.  .368. 

'■*)  D.  L.  D.  33/.38,  p.  375  Uz  macht  In  einer  poetischen 
Epistel  von  einer  Stelle  des  8.  Buches  Gebrauch,  geht  also  nicht 
auf  die  Lieblinscsstclien  der  Patriarchadendichter  ein. 

^0)  1.  c.  p.  XXVIII. 

")  I.  c,  p.  XXIV. 

")  Ausgewühlte  Briefe  von  C.  M.  Wlcland.  ... 
1.  Bd.  p.  273, 

'*)  Briefe  an  Sophie  von  La  Roche,  hsg.  v. 
Tranz  Hörn,  Berlin  1820,  p.  102. 


tüWK  vor  Mllton  bewahrte  Wicland  such  in  sciiiön  leizten 
Jahrcr.'*) 

Mit  der  Ei5iführun>j  dos  Hexamctcri>  halte  Kiopslock 
selbst  der  Reaktion  RCgcn  die  Schwürmcrcä  den  \Vtj{  7.ür 
Antike  i^jcwiL'Scn.  Die  in  den  iüntV.i^c.  Jahren  iol^cndcn 
Versuche.  Müton  in  ein  Kricchisch-deutschcs  Gewand  zu 
kleiden,  erachcinen  uns  (formell  weniKstcns)  als  Vorboten 
einer  realistischeren  Richtung. 

J.  J.  Zachariac  lalito  diese  imeihschen  BesireLiinK-ien 
zusammen.  Er  hatte  Milion  imtner  j;^i:ebtv  ühnc  gerade  2u 
eiert  Schwärmern  zu  Kehörcr.,  1756  hatte  er  am  Kingang 
seiner  Jahreszeiten  gesungen: 

Hier  iiast  du  auch  oftmals,  o  Mu.<%c. 
Deinen  Thomson,  die  andre  Natur,  aufmerksam  studieret; 
Popens  Lieder  gehöru  und  Milion^  GcJänge  bewundert, 

1757  ZOK  er  es  vor  zu  sa^jen  (Text  B), 
Oder  der  Satane  schwarze  VersammlunR  in  Miiions  Ge- 
sänge n 
Vor  dir  gesehn/'  *') 

'*)  Vgl.  in  KIciia  und  Sinibtld  (1783),  V.  2651: 

Ein   stolzer  AuKensirah!   auf   ihn, 

(ICin  Strahl,  wie  Mütons  Scrapliii: 
auf  die  cir Porten  EnccI  schicken)  ... 
Vgl.  C.  M.  Wiclands  Sämmt  liehe  Werke.  21.  Bd.. 
Leipzig  1796.  p.  .?M.  Im  Neuen  Amadiä  (!771.  X..  13)  spielt 
Wieland  auf  c'ie  Wirkung  von  rlvas  Schönheil  auf  iicn  Teufel  an 
(Werke,  4.  Bd.  Lcipzic  1794.  p.  232),  in  den  Grazien  (1769, 
Viertes  Buch)  auf  die  ScliilderunK  der  waliren  8;cistiecr  Liebe 
im  V.  P.  (Werke  10.  Band.  Leipziyi  1795.  p.  63.) 

'^)  Vjrl.  Otto  Hermann  Kirch  georK.  Die  dich- 
terische Kniwickhjnß  J.  P,  W.  7.%c\\s  tiie%,  (ircifs- 
waldcr  Diss.  19()4,  p.  16  f.  wo  die  drei  Fassunzen  der  Jahres» 
zelten  miteinander  verglichen  sind.  1767  heiüt  es:  Ode;  in  .Viltons 
Oesang  den  blühenden  Garten  von  Eden  /  Mit  dem  Ücb'ichstcn 
Paar,   das  je  ein   Dichter  erschaffen,  /  Vor  dir   geschn. 

4" 


—    62    — 

1760/63  kam  seine  Hexamcterübersetziing  heraus.") 
"Mit  Reclit  tadelte  die  Bibliothelc  der  schönen 
Wissenschaften  und  ücr  frcyen  Künste  (VI. 
2.  (1761),  p.  311—323)  die  holprigen  Verse  und  zog  Müllers 
Versuch  vor.  Nicolai  ließ  seine  scharfe  Verurteilung  in 
den  L  i  t  e  r  a  t  u  r  b  r  l  e  f  e  n  (p.  184  ff.)  vernehmen.  Di«! 
Art,  wie  er  Miitons  kernige,  konzise  Sprache  mit  Zacha- 
riaes  Verwüsserun?  kontrastiert,  läßt  auf  eine  einsichtigere 
Zeit  hoffen. 

Milton  re;jie  Zachariae  zu  Nachahmungen  an.  1760 
schreibt  er  an  Zediiiz:  „Als  ich  mich  vor  einigen  Jahren  mit 
der  Übersetzung  der  ersten  Gesänge  des  verlohrnen 
Paradieses  beschäftigte,  fühlte  ich  meine  I:inbildung.S' 
kraft  von  dem  großen  Genie  Miitons  so  sehr  erhitzt, 
und  angefeuert,  daß  ich  der  Versuchung  nicht  widerstehen 
konnte,  mich  einmal  in  das  Feld  der  ernsthaften  epischen 
Poesie  zu  wagen,  und  besonders  eine  Materie  auszuarbeiten, 
die  bloß  Erdichtung  wäre*'.^')  So  schuf  er  Die 
Schöpfung  der  Hölle  und  (nacli  Klopstock)  Die 
Unterwerfung  ,?  e  f  a  1 1  c  n  e  i'  Engel  (1760). 

Zachariäb  Einsich:  erhebt  sich  nicht  übc^-  das  Niveau 
der  Zeit  Mit  den  damals  gang  und  gäbe  gewordenen  Mit- 
teln  verteidigt  e;  (meist  in  AnleJmung  an  Newton)  in  den 
Anmcrkjrngen  seiner  Übersetzung  Mllton  i^c^cn  die  alt?-n 
Vorwurfe  ae;  Oottschcdianci  Charakteristisch  für  die  sich 
anbahnende  Geschmacksänderung  ist  die  Wahl  des  Stoffes 
in  seinen  Nachbildungen.    Die  erste  der  genannten  Dichtun- 

^^)  Das  V  c  r  1  0  li  r  r.  0  P  a  r  a  d  i  3  s  ,  aus  dem  ri  n  g  I  i  - 
sehen  J  0 1:  d  n  ji  Miitons  in  R  c  i  m  f  r  2  y  o  Verse 
übers  c- tut,  und  \nlt  ölgncn  sowohl  als  andrer 
Anmerkungen  begleitet  von  Friedrich  Wil- 
helm Zachariae    2  Teile,    Altona  1760.  1763. 

^*)  Der  Schöpfung:  der  Hölle  vorwcdruckt.  Mir  lierft 
die  itwoltd!  vjr!)csKcrtc  Auflaub  (Altcüburk  1767)  vcr< 


—    53    -« 

gen  zeigt  Miltons  Einfluß  bis  in  Einzelheiten.'*;  Sie  führt 
uns  in  diu  H(">11ü.  Zachariae  reizte  i.'ji  Satan  vorzuführen, 
von  dem  Gott  sagt: 

„nie  frcclijn  Ocdankea  sine  njui'.i  üiehr  Gedanken 
Eines  Engels;  er  hcl>et  vor  Siob  die  eiserne  Siirn  auf. 
Trotzt  auf  seine  feurigen  Wagen,  zui  Waffen  und  Sciiildc 
Seiner  Myriaden,  und  will  selbst  üoti  s<;yn/'  •') 

Thomas  Abbt  schrieb  darüber  am  3.  April  IVol  an 
Kriegsrat  von  Seiner:  „^  .  .  i  die  Schopf  ung  d  er 
Hölle  aber  mag  ich  nicht  lesen,  weil  Zachariae  s^-lbsi  sagt, 
daß  Sic  die  Gehurt  eines  von  Miltonischcn  Bildern  crhit-zten 
Gehirnes  sey.  Man  könnte  von  dem  Verfasser  eigentlich 
sagen,  daß  er  von  Teufeln  begeistert  worden/"*')  Auch 
nachdem  man  den  Gottschedianismus  überwunden  hatte, 
wollte  man  sich  mit  Teufeln  nicht  abgeben. 

Die  alte  moralische  Auffassungäwcisc  Wirkte  noch  nach. 
Eine  neuere  realistischere  brach  sich  erst  Bahn.  Gott- 
scheds Berufung  auf  die  klassische  Tradition  machte  all- 
mählich einer  Rückkehr  zur  gricchisdicn  Antike  Platz,  die, 
wie  Uz,  nicht  allen  mit  einer  Anerkenv.ung  Miltons  verein- 
bar schien. 

So  finden  wir  in  den  sechziger  Jahrcu  •.ij'  D-ifchem- 
andei  von  Urleilen  über  den  esüglls^ihen  Dichter. 

Büdmer  hatte  es  noch  nicht  aufgegeben,  für  Muten  ein- 
zutreten.   !n  den  F r  e y  m ü  t  h 5$? c n  N  ?. c h  r ; c h  t e  n  bc- 

^^)  Vßl.  Jos  sie  Croii&ri'J.  /'.jchafiae  ixni  fj  i ',. 
iztt\i\\&h  Models,  II.  Influcncc  oi  Müton,  Thomsor,  an.i 
YüUii«  (A  r  c  li  i  V  für  das.  t^  t  u  d  i  un  der  n  «  k  e  r  c  m 
j>prawhen  und  Litcratiircp  19a«.  LXll.  Jahrcani:.  CXX. 
Bd.,  der  neuen  Serie  XX.  Bd.,  p.  391  ff).  Auch  in  scir.cn  Ctirte:^ 
führt  2.  eine  I3csclireibunjf  der  Hülle  und  C'nc  'Jnt.rredmg  «c- 
iallcnei  Er.Kcl  ein. 

'  •')  p.  'J  der  zwcitoi;  Auflage  ucr  S  c  h  0  p  f  u  ß  «  ü  « r  Hölle. 

-'")  T  l(  0  m  a  s  A  h  b  t  s  v  c  r  ir  i  s  c  h  » t  S  c  h  r  i  f  t  e  n  » 
Sccuster  Teil,  licriln  und  Stettin  1781    r«    M 


—    54     - 

irrüßtc  er  Zachariacs  Übersetzung  mit  kritikloser  Freude 
und  im  Archiv  der  schwei&erischcn  Kritik 
(1768)  sammelte  er  seine  ehemaligen  Streitschriften,  welche 
„In  der  Morgenröthc  der  Äcläutcrten  Crltick  in  Deutsch- 
land" entstanden  (p.  326),  und  fügte  (p.  339)  eine  Rettung 
Miltons  gegen  den  jüngeren  Racine  bei.  Die  Qöttinger 
Anzeigen  von  Gelehrten  S;ichen  1760  (7.  Juli 
81.  Stück)  priesen  die  Übersetzung  Zachariacs  als  ein  „vor- 
treffliche.«, erhabenes,  und  den  Leser  mit  sich  fortreißendes 
Werk". 

Weithin  gewann  sich  Milton  neue  Freunde.  Auch  nach 
Österreich  drang  sein  Name.  1762  wurde  das  V.  P.  für 
Michael  Denis ''')  ein  zweites  Lesebuch,  für  das  er  noch  am 
Ende  des  Jahrhunderts  eintrat;  „ich  gestehe,"  sagt  er  In 
den  Lesefrüchte Hv  Zweyter  Theil,  Wien  1797,  p.  36, 
„daß  einer  meiner  Hauptantriebe,  die  englische  Sprache  zu 
lernen,  war*  das  verlorne  Paradies  in  der  Quelle  zu 
studieren.'* 

Milton,  der  Dichter  des  Wunderbaren  kat*  exochen, 
diente  1763  dem  jungen  Johann  Georg  Jacobi  in  seiner 
Dissertation  Vindiciae  Torquati  Tassi  neben  Vir- 
gil  und  Klopstock  als  Autorität. 

Das  V.  P.  harmonierte  damals  mli  Jung  Stillings 
Seele.»-') 

Daß  •:£  auch  in  den  sechziger  Jahren  solche  gab,  die 
Klopstock  über  Milton  stelltenv  wissen  wir. 

-' )  V}:1.  Michael  Denis  Literarischer  Nach- 
laß, hss:>  V.  Fried  r.  Freyherrn  von  Reize  r,  Wien 
MDCCCI,  p.  58,  ferner  P.  v.  H  o  f  m  a  n  n  -  W  e  1 !  e  n  h  o  i  f , 
Michael  Denis,  Ein  BeitraK  zur  Deutsch-österreichischen 
Literatur;;eschichte  liss  XVIII.  Jahrhunderts,  Innsbruck  18SU 
p.  35. 

")  Johann  {■[  ein  rieh  Jung's,  genannt  Stil- 
ling,  Lebensgeschichte  (Der  sümmtlichen 
Schriften  w;rster   Band.     Stuttgart  1835).  p.  241. 


—    55    ^ 

Wie  allRcmcin  üblich  die  nioraiis^he  lieuncilun^^sweis*:? 
noch  war,  7X'\'j;t  eine  ÄuUcrunij  J.  K;!nis  aus  Q>:Yn  Jahre 
1 764.  h^  seinen  Bcobachtunjren  nber  das  Qeföhl 
des  Schönen  und  Erhabenen  führt  er  Milton  an.") 
Die  Schilderung  des  höllischen  Reiches  von  Milton  errege 
Wohl;,'eiallen,  aber  mit  Grausen,  „Von  den  Werken  des 
Witzes  und  des  feinen  Gefühls  fallen  die  epischen  Gedichte 
des  V i r g il s  und  Klopstocks  ins  Edle,  Homers 
und  M  i  1 1 0 n  h  ins  Abcntcucrüchc'  Das  Abenteuerliche 
ist  nach  Kant  die  Kiijenschaft  des  Schrccklich-ürhibenen, 
„wenn  sie  Ranz  unnatürlich  v/ird/'  VirgU  und  Klopstodk 
sind  demnach,  schließt  J.  W.  Lc)ebcil  richti;:,  nach  Kant 
».natürlicher''.  Natürlichkeit  kann  also  nur  auf  dem  Edlen 
in  ihnen,  d.  h.  auf  dem  sittlichen  Moment  beruhen.  ..Diesem 
zu  Liebe  übersieht  Kant  die  Unbestimmtheit  der  Gesialten, 
die  doch  der  Natürlichkeit  sehr  im  Wc5ic  steht,  verzeiht  der 
tiefe  Denker  die  von  Les^inj:  xcrügte  Urklarhcii  der  Ge- 
danken,""*) 

Lessintrs  bekannte  Kritik  des  Messias  hav  keine  ahn» 
üchc  Anwendung;  auf  Milton  zur  folge  .■::ehabt,  Wohl  xins 
man  auf  die  Alten  zurück;  aber  die  meisten  standen  noch 
zu  sehr  unter  dem  Eindrucke  des  schweszerischcn  Milton- 
enthusiasmus.  als  daü  sie  im  V.  P.  stwas  dem  antiken  Epos 
Verwandtes  s'esncht  hülten. 

mDIc  Odyssee  hat  mir  ein  jian^.  hcues  Licht  über  die 
epische  Poesie  .t^eKcben,**  schreibt  Hamcnn.  ,.Bt>dmer  und 
Klopstock  haben  beide  den  liojner  ,4e\vili  studirt;  sie  h;iben 
ihn  aber  nicht  anders  als  im  Kleinen,  im  Detail  verstanden 

'^)  Vgl.  Kants  Werke,  ed.  Rosenkranz,  Ltipzu  l*v?S, 
Bd.  4,  p.  -100  u.  409. 

")  J,  W.  Lochen,  DU  Cntwickciunc  der  dcut» 
sehen  Poesie  von  Klcpstocks  erstem  Auf- 
treten bis  zu  Qocthes  Tode.  I.  Band.  Braunichucijs; 
1R56,  p.  222  (Qcschichtc  der  Beurteilung  KlopstocVv  p.  ?I6— ?72>, 


—    56    — 

nachzuahmen.'*  -')  Auch  von  Milton  scheint  er  nicht  besser 
zu  denken.  Kr  liest  das  wiedercrewonncne  Paradies  und 
äußert  sich  dabei  abschätzig  über  „Addison's  Trompete  vom 
verlorenen  Paradiese"  -")  (Brief  vom  21.  März  1760 
an  Lindner).  Am  28.  August  1761  schreibt  er  an 
denselben:  „Milton  habe  ich  gelesen  in  fönte.  In 
Bodmer's  Übersetzung  muß  ich  es  g  1  a  u  b  e  n  v  daß 
es  ein  herrlich  Gedicht  war  ....  Klopstock  scheint 
mir  immer  seinen  Geschmack  verdorben  zu  haben  in  dieser 
Quelle.  In  seiner  G  c  i  s  t  e  r  l  e  h  r  c  ist  Milton  offenbar 
sein  Original  gewesen,  und  dieser  hat  die  Hexenlegcnden 
zu  den  Zciicn  dcr'  Irrenden  Ritter  und  des  .Aberglaubens 
meistcrhafi;  /ai  brauchen  gewußt  .  .  .Homer  bleibt  immer 
dor  einzige  Hcldcndichter  für  meinen  Geschmack."  Denn 
bei  ihm  fließe  die  Kunst  zu  detaillieren  aus  der  Vollkom- 
menheit der  (}rund!agc,  „wie  eine  gesunde  Wurzel  es  dem 
kleinsten  Sprößling  an  Saft  und  Nahrung  nicht  fehlen  läßt 
zu  grünen  und  zu  blühen."")  Nur  in  Details  gefällt  Ha- 
mann offenbar  Milton,  Und  die  Einzelheiten  stimmen  mit 
dem  Ganzen  nicht  überein.  Las  Hamann  damals  das  V.  P. 
mit  dein  jungen  Herder  der  „meisterhaft  gebrauchten 
Hexenlegenden"  wegen?  Sicher  sagten  ihm,  wie  später 
Herder,  Homer  und  das  A.  T.  mehr. 

Noch  weniger  schien  für  Winckelmann  der  griechische 
Geschmack  mit  einer  Anerkennung  Miltons  vereinbar.  In 
seiner  Geschichte  der  Kunst  des  Alierthums, 
l  ThelK  Dresden  1764,  I.  Capitcl,  Von  dem  Ur- 
sprünge und  Anfange  der  Kunst  (p.  28),  sagt  er: 
„Das  vorzügliche  Talent  der  Griechen  zur  Kunst  zeiget  sich 


*»')  J  0 h.  Q.  ri a rn a  n n s  Schriften,  hsg.  v.  Fr.  Roth, 
Berlin  1821—1843.    Bd.  III,  p.  6. 

^')  ebd.  III,  p.  64. 

^^)  ebd..  p.  lOSi.  Vgl.  R.  Unger,  Hamann  .  .  .,  Jena  1911, 
p.  218,  402.  .^uch  Unger  kann  mit  dieser  Stelle  nicht  viel  an- 
fansen.    Für  sonstiges  vgl.  sein  Register. 


~    57    -^■- 

noch  itzo  in  dem  «rossen  fasi  alUcmeintn  Tak-nte  der  Men- 
schen in  den  wärmsten  Ländern  von  Italien;  und  in  dieser 
Fähigkeit  herrschet  die  Kinbiidung:.  so  wie  bey  den  denken- 
den Brittcn  die  Vernunft  über  die  Einbüdrn^.  £s  hat  jemand 
nicht  ohne  Grund  gesagt,  daß  die  Dichter  jenseits  der  Ge- 
bürge  (\V,  ist  in  Rom)  durch  Bilder  reden,  aber  v:i:i\isi  Bil- 
der geben;  man  muß  auch  gestehen,  daß  die  ersiaunendeii 
iheils  schrecklichen  Bilder,  in  welcher.  Miltons  Grjße  mit 
bestehet,  kein  Vorwurf  eines  edlen  Pinsels,  scndcru  Kanz 
und  gar  ungeschickt  zur  Malerey  sincu  Die  Miltonischcn 
Beschreibungen  sind,  die  einzige  Liebs  im  Paradiese  aus- 
genommen, wie  scliön  gemalte  Gorgosien.  die  sich  ähniidi 
und  gleich  fürchterlich  sind.  Bilder  vieler  andern  Dichiei 
sind  dem  Gehöre  groß,  und  klein  dem  Verstände.  Im 
Homere  aber  ist  alles  gcmalei.  und  zur  Malerey  erdichtet 
und  geschaffen.*'  Aus  Winckclmann  surach  .mehr  Tradi- 
tion als  eigene  Betrachtung  des  Kunstwerkes.  Denn  div; 
Gestalten  der  Miltonschen  Teufel  sind  immer  noch  gött- 
lich schön.  Ohne  nachzuprüfen,  hat  Wijickelmann  sich  vom 
Namen  Teufel  verleiten  lassen,  sich  etwas  darunter  vorzu- 
stellen, woran  der  Dichter  gar  nicht  dachte:  Schon  gemalte 
Gorgonen.  Unter  üöllenbewohnern  kann  sich  auch  VVinckcl- 
mann  im  Hinklangc  mit  seiner  Zeit  nichts  anderes  denken. 
1764  beanstandete  Klotz  in  seinen  Epistolac  Ho- 
m  e  r  i  c  a  e  nach  bekannten  Mtistcrn  die  Würde  des  V. 
P.  und  die  Einfügung  der  griechischen  Mytliologic  in  dieses. 
Aber  schon  reifte  Lessing  seine  Ideen  vom  Epos  aus.  die 
der  erst  in  Ansätzen  vorhandenen  reaüstischcn  Richtuiu 
zum  Durchbruch  verhelfen  sollten. 

n. 

Erst  als  Milton  nicht  mehr  das  einzige  Gestirn  am 
poetischen  Himmel  war,  konnte  die  Erkenntnis  desser.  was 
in  ihm  wirklich  künstlerisch  ist,  Fo»  tsciiriuc  machen.  Eine 
kritischere  Betrachtung  mußte  sclni  wahren  Schönheiten 


™    58--^ 

um  so  mehr  hervortreten  lassen.  Allerdings  las:  dann  die 
Gefahr  nahe,  daß  das  Interesse,  das  anderen  Werken  cnt- 
ßeKcnjjebracht  wurde,  das  V.  P.  vergessen  ließ.''*')  Das 
ist  bei  Lcssing  und  seinem  Kreise  noch  nicht  der  FalL 

Friedrich  Nicolai  begeisterte  sich  schon  früh  für  Mii- 
ton.'")  1753  verteidigte  er  ihn  in  seiner  Untersuchung, 
ob  Milton  sein  V.  P.  aus  neueren  lateini- 
schen Schriftstellern  ausgescli rieben  habe, 
gegen  Lauders  Verleumdungen.  In  seinen  Briefen 
über  den  itzigen  Zustand  der  schönen  Wis- 
senschaften in  Deutschland  (1755)  bewies  er, 
daß  er  Milton  nicht  mit  Bodmer  verwechselte.^) 

Um  Lessing  tritt  eine  neue  Schule  auf.  immer  spricht 
Sic  mit  Achtung  von  Milton "')  und  weiß  ihn  von  seinen 

")  So  beKeiscerten  sich  viele  für  Milton,  um  sich  dann 
anderen  Poeten  zuzuwenden,  wie  z.  B.  J  o  h.  Fr.  von  C  r  o  - 
ncRk  (vrI.  Walter  Qensel,  Joh.  Fr.  v.  Cr.,  Sein 
Leben  und  .seine  Schriften,  Leipz.  Diss.  1894,  p.  33), 
oder  die  Karschin.  der  Sulzcr  (wie  er  am  24.  Mlirz  '61  an 
Bodmer  schreibt,  Briefe  vornehmer  und  edler  Teut* 
sehen  an  Bodmer,  p.  232/3)  u.  a.  das  V.  P.  zu  lesen  gab, 
das  sie  mit  „heiühunKriKcr  BcKicrde"  las. 

"*!  VkI.  Friedrich  Nicolais  Leben  und  litera- 
rischer Nachlaß,  hsg.  von  L.  F.  Q.  Q  o  e  c  k  i  n  c ,  Ber- 
lin 1820,  p.  n  (über  meine  z  c  1  c  h  r  t  c  B  1 1  d  u  n  k)  u. 
AltenkrU>;cr,  Fried  r.  Nicolais  Jueendschriften, 
Berlin.  Diss.  1899,  p.  11. 

•■'-°)  B  e  r  1  i  n  e  r  N  c  u  d  r  u  c  k  e ,  3.  Serie,  Bd'.  11  (Berlin  1894), 
p.  55/6.  125. 

■'**)Z.B.  Bibliothekderschönen  Wissen  schatten 
und  der  { r  e  y  e  n  Künste  (1759  ffV  Mendelssohn  kriti- 
siert an  Basedows  „Lehrbuch  der  WohlrcJcnheit"  das  Fehlen  Mil- 
tons  (I.  1.  Si(ick)  und  tritt  in  seinen  Betrachtungen  über 
die  Vcrblnduniten  der  schünen  Künste  und 
Wissenschaften  (1.  2.  Stück)  für  die  Allegorie  ein  und  führt 
MiltonK  Sünde  und  Tod  an. 


^.    59     -^ 

Übersetzern  zu  irciipcn."-)  Indem  Lessin«  in  den  :5  r  i  c  f  e  n 
d  5 1  neueste  L  i  1 1  e  r  a  i  u  r  betreffend  (C3.  u.  !  4?'. 
Brief)  das  Unkünstlcnschc  von  seiaphiinhaiien  Charakteren 
nachweist,  charakterisiert  er  den  neuen  Slandpinikt, 

176ö  erschien  der  Laokoori.  Das  Bruchstiick.  wie 
es  damals  vor  das  Publikum  trat,  bezieht  sich  vor  allem 
auf  Homer,  aber  auch  Milton  wird  hie  und  da  >.%'nannt. 
Im  14.  Kapitel,  wo  Lessing  den  Ausspruch  des  Grafen  Cay- 
lus,  die  Brauchbarkeit  für  den  Maler  sei  6Qr  ProlMerstcin 
des  Dichters,  widerlegt,  führt  er  Mihon  neben  Homer  als 
Beispiel  anr 

„Pern  sey  es,  diesem  Einfalle,  auch  nur  durch  unser 
Siil! schweigen,  das  Ansehen  einer  Rejiel  gewinnen  zu 
lalkn.  Milton  würde  als  das  erste  unschuldige  Opfer  uer> 
seihen  fallen.  Denn  es  scheinet  wirklich:  dcQ  das  verächt- 
liche Urthcil.  welches  Caj'lus  über  ihn  spricht,  nicht  sowohl 
NationalKcschmack,  als  eine  FoIrc  seiner  vermeinten  RckcI 
gewesen.  Der  Verlust  dos  Gesichts,  saRt  er.  majj  wohl  die 
größte  Ähnlichkeit  seyn.  die  Milton  mit  dem  Homer  gehabt 
hai.  Freylich  kann  Milton  keine  Gallerieen  füllen.  Aber 
müßte,  solange  ich  das  leibliche  Auge  hatte,  die  Sphäre 
deßelben  auch  die  Sph.'irc  meines  Innern  Auges  seyn.  so 
würde  ich,  um  von  dieser  Einschränkung  irey  zu  werden, 
einen  großen  Werth  auf  den  Vcrl'jst  des  erstem  legen 

..Das  verlorne  Paradies  ist  darum  nicht  weniger  die 
erste  Epopee  nach  dem  Homer,  v/cil  es  wenig  Gemflhldc 
liefert;  als  die  Leidensgeschichte  Christi  deswegen  ein  Poem 
ist.  weil  man  kaum  den  Kopf  einer  Kade!  in  sie  setzen  V.-inn. 
ohne  auf  eins  Stelle  zu  treffen,  die  nicht  eine  Menge  der 
größten  Artisten  beschäftige»  hütte.  Die  EvangcSister  er> 
zchlen  das  Factum  mit  alier  möglichen  trockenen  Einfalt, 
und  der  Artlsi  nutzet  die  mannigfaltigen  Thuile  deßelben, 

-'"'1  In  Nicolais  Kritik  der  Übriseuunü;  Zstchanit-t. 


_    60    -> 

ohne  daü  sie  ihrer  Scits  den  ;<eringsten  Funken  von  mahle- 
rischcm  Genie  dabcy  sezeiRi  haben.  Es  gicbt  mahlbare 
und  unmahlbarc  Fucta,  und  der  Qcschlchtschrelbcr  Kann 
dlß  mahibarsicn  ebenso  unmahlerisch  erzehlen,  als  der 
Dichter  die  unmahlbarstcn  mahlcrisch  darzujitellen  ver- 
mögend ist."""  ) 

Der  Gedanke,  daß  ein  einziger  Zug  im  Dichtwerk  einen 
Gegenstand  deutlich  macht,  v/ird  in  den  Entwürfen 
zum  L  a  0  k  0  0  n  oft  erörtert.  So  Fragment  A.j,  p.  372, 
Kap.  XI:  „Folgli-:!!  ist  es  auch  kein  Einwurf  wider  das 
Mahlerische  eines  Dichters,  daß  seine  Wesen  lauter  un- 
körperliclie  ,'^'eistige  Wesen  sind,  und  Milton  ist  seinen 
geistigen  Wesen  ungeachtet  einer  der  größten  Mahler  nach 
dem  Home  r," 

Dieser  Entwurf  zirkulierte  im  Freundeskreis,  und 
Moses  Mendelssohn  machte  eine  Anmerkung:  „Gut!  Aber 
der  Dichter  isi  desto  vollkommener,  je  bestimmter  seine 
Bilder  sind,  je  leichter  es  der  Inagination  wird,  die  aus- 
gelasscncu  Züge  hinzu  zu  denken,  und  sich  von  den  erdich- 
teten Wesen  nette  und  ausführliche:  Begriffe  zu  machen. 
Homer  und  Virgil  hiibcn  sich  nur  wenige  solche  Bilder  er- 
laubt, die  sich  der  Imagination  niclit  ausführlich  darstellen. 
Aber  alle  ordichtetc  Wesen  des  MiltDn  sind  von  dieser 
Beschaffenheit.  Die  Gewalt,  die  wir  anwenden,  sie  uns 
Jn  ihrer  Vollständigkeit  vorzustellen,  scheint  unsere  Ein- 
bildunj^'skraft  zu  ermüden.  Ihr  erster  Anblick  frappirt  un- 
gemein, und  erregt  eine  Art  von  Erstaunen,  die  dem  Er- 
habenen eigen  ist.  Aber  ihre  Wirkung  ist  so  anhaltend 
nicht;  denn  sobald  wir  uns  erholen,  und  mit  unserer  Ein- 
bildungskraft geschäftig  zu  iseyn  anfangen,  sc  fühlen  wir 
das  Unvermögen  sie  auszubilden  nur  sar  zu  deutlich,  und 

")  L  e  s  s  1  n  ii  3  L  a  o  k  o  o  n ,  herausgb.  und  erläutere  von 
Hugo  Bliinrner,  Zweite  verbesserte  und  vermehrte  Auf- 
lage. Berlin  1S80,  p.  247. 


—    61    — 

sie  fangen  an  unangenehm  ui  werden.  Milion  wird  das 
erste  A^al  mehr  frappiren,  Hemer  aber  dcsio  öfter  jrclcscn 
wcrdun."  "*)    (Blümner  p.  372/3.) 

Lessing  licii  sich  durch  Mendelssohns  AnnierkunR  an- 
rejicn.  Fragment  A«»  Zweyter  Abschnitt,  XIV.  (p.  395)  be- 
merkt er:  „Homer  hat  nur  wenige  Miltonsche  Bilder.  Sic 
frappircn,  aber  sie  attachiren  nicht.  Und  ebtn  deswegen 
bleibt  Homer  der  größte  Mahler.  Er  hat  sich  jedes  Bild 
ganz  und  nett  gedacht.*' 

Aber  überzeugen  ließ  qc  sich  von  Menuelssoh.is 
Standpunkt  nicht.  Auch  im  ^wöiten  Teil  seines 
L  a  0  k  ü  0  n  „  in  welchem  Milton  eine  größere  Rolle 
zugedacht  war,  v;ollte  er  bei  i;ciuer  These  blcibiia 
und  kam  (Aj.  XXXVII/fi.  p.  401)  zum  Schluß:  „Folg- 
lich hegt  es  nicht  an  dem  vorEugiichen  Qenie  des 
Homers,  daß  bcy  ihm  alles  xu  mahlen  ist;  sondern 
lediglich  an  der  Wahl  der  Materie.  Beweise  hiervon. 
Erste?     Beweis»    ai3S    verschiedenen     linsichtbaren 

■'*)  Noch  einmal  zu  A2  Xlü  (p.  <>'62ii).  „  .  .  Hunicf  hai  du 
ncttcü  BlSd.  ein  ausführliches  Gemälde  in  Gedanken.  .  /'  Vgl 
auch  Uebcr  die  MyiholojiJc  /AJltcn-.  dcuts.-be 
Bibliothek,  Bd.  7,  Suick  I.  1768,  -  Q  c  s  a  m  m.  S  :  h  r  1  f  t  c  n. 
hrs.  von  Prof.  Dr.  Q.  B.  Mendelssohn,  Lcipzis  1^44,  IV,  2.,  p.  MO) 
V.  .  .  wir  lieben  attische  Feinheit,  Richliskcii  in  der  AnlaKC  Net- 
tigkeit in  den  Bildern,  Grazie  im  Ausdruck;  ar.d  es  ij.t  nicht 
Jedermanns  Sache,  diese  £igcnsc!;af;cn  mit  dem  Kiih'?«n,  Er- 
habenen und  Prächtigen  der  asi;itischcn  D'ch:kun-t  so  sü  ver- 
binden, daß  der  Contrast  nicht  beleidige  ,  .  .*' 

1767  hatte  er  im  Anschluß  ai:  Herders  F  -  a  £  m  e  n  '.  c  sich  in 
der  Vcrui'teilung  der  orientalischen  Dici;tr.'n.!:sart  anRCichlcüen 
(Gesa  mm.  Schriften  I\',  !.,  p.  j^S)r  „Das  Bild  der  cricntiU- 
sehen  Litteratur,  das  der  Verfasser. . .  cntwjrlt,  hai  viele  treffende 
Züge*'.  Herder  hatte  gegen  üic  Nachahmung  der  orienta- 
lischen Dichter  protestiert,  da  wir  eine  bcccnsundigt  Poesie 
hervorbrirjftn  müßten.  Me.idc!5:tohn  mcini  nun,  c«r.ice  Züuc,  ^^■ie 
„Enge!  des  Todes",  „Thron  Qottijs"v  körnicr  beibehalten  werden 


-,.    63^  — 

OcKunätündcn«  wulchc  Homer  ubun  so  uiimuhlerisch  be- 
handelt hai<  als  Miltor,  z.  E.  die  Zwietracht  etc.  Zwey- 
t  e  r  Beweis;  aus  den  sichtbaren  Qejcenständen,  welche 
Miltoii  vortrefflich  behandelt  hat.  Die  Liebe  im  Paradiese. 
Die  Klnfi'ilti^keit  und  Armuth  der  Mahler  über  dieses 
Subjcct.  Der  irctrenseitige  Reichthum  des  Milton  .... 
Stürk'j  des  Milton  in  successiven  Qemühlden.  Exempel  da- 
von aus  allen  Büchern  des  verlornen  Paradieses'*.") 

")  I»  C9  Kibi  Lessine  eine  Liste  der  ücmülildc  bcytn 
MiltOii  aililmiior,  p.  441/2). 

„I.  Voi'.  projrrcssivisclicn  ücm.'llilJcii,  von  .wclchcii  uns  Homer 
so  vortreffliche   Bcyspicle   «icbt,  finden   sich   auch   sehr   schöne 
beym  Miltoa.    .Als 
a)  das  trheben  des  Satans  aus  dem  brennenden  Plule.  P.  L. 

B.  1.  V.  221—228  (lies  —229,  corr.  31.). 
ß)  Dit   erste   Cröffnunji    der    Höüenpfortcn   durch    die    Sünde. 

B.  II  V.  871-  S8.3. 
;-)  DiC  nnistehiinii  der  Welt.  B.  ill.  v.  708—718. 
h  Dar  Sprung  dcb  Satans  in  das  Paradies.  B.  IV.  v.  181—183. 
g)   Der  FluK  des  Raphac's  zur  Erde.  B.  V.  v.  246—277. 
0  Der   erste    Aufbruch    des   himmlischen    Heeres   wieder    die 

rebellischen  ünKel.  B.  VI.  v.  56—78. 
7))  Die  Annähijrun«  der  Schlange  zur  Eva.  IX.  509.  (Richtiger 

494if,  corr.  Bl.). 
d)  Die  Erbauung  der  Brücke  von  der  Hölle  zur  Erde,  von  der 

Sünde  und  dem  Tode.  X.  285. 
i)  Satans  Zuriickkunft  zur  Hölle   und  unsichtbare  Besteigung 

seines  Trohncs.  X.  414. 

x)  Die  Verwandlung  des  Saians  in  eine  Schlange.  X.  510. 

„Auch  die  Schönheit  der  Form  hat  Milton,  nach  des  Homers 

Manier,  nicht  sowohl  nach  ihren  Bcstandthcilen,  als  nach  ihrer 

Wirkunr:  geschildert.     .Man   sehe  die   Stelle   von   der  Wirkung, 

welche  die  Schönheit  der  Eva  auf  den  Satan  selbst  hat.  Book 

IX,  455—466." 

Auch  an  wirklich  malbaren  Gemälden  sei  Milton  reicher  als 
Caylus  und  V/lnckelmann  glaubten.  Richardson,  der  sie  aus- 
zeichnen wollen,  sei  in  ihrer  Wahl  oft  unglücklich  geweseti,  da 
z.  B.  ein  Cherubin  unmahlerisch  sei. 


-.     63    -^ 

McndclfSühn  urteilte  wie  virile  seiner  Zeit.  Nach  ihm 
sollten  unsichtbare  Personen  gar  nicht  in  die  Dichtunn'  ein- 
geführt werden.  Lessinij:  sieht  ein.  dali  viele  Mütonsche 
Bilder  nicht  haften  bleiben,  iiber  er  macht  Jem  iüchtcr  dar- 
aus keinen  Vorwurf.  Und  auch  dem  Kunstwerk  wirft  er  des* 
wegen  nichts  vor. 

Mendelssohn  urteile  über  .Miiion  und  Klopstock 
gleich.'")  Lessing,  der  diesen  schon  früher  angej:riffcn,  er* 
kannte  jenem  eine  größere  Plastik  zu  Und  zwar  eine 
Plastik,  die  dem  unsichtbaren  Wesen  der  Hngel  nicht  wider- 
sprach. Mendelssohn,  de»'  nichj  tntmal  v/ollte.  daß  man 
bildlich  einem  Schwerte  sage:  „kehre  in  die  Scheide  zurück! 
raste  allda!'*.")  war  mehr  P!iilo>^oph  als  Dichter,  ^nch 
mochte  ihn.  ohne  daß  er  sich  darüber  klar  war.  der  im  fipos 
herrschende  Widerspruch  zwischen  dem  übersinnlichen  und 
handelnden  Wesen  der  £ngel  stören. 

War  Lessing  diese  Antinomie  gewahr  worden? 

In  den  bislier  angeführten  Fragmenten  kam  es  ihm  dar- 
auf an,  die  Möglichkeit  der  poetischen  Harsullung  des  Un- 
sichtbaren zu  beweisen.  Aber  unsichtbar,  geistig  ist  noch 
nicht  übersinnlich.  Scharfsinnig  hai  Lejsing  zwischen  dem 
leiblichen  und  dem  inneren  Auge  unterschieden.  In  der 
Dichtkunst  handle  es  sich  um  Charakteristik.  Da  die 
Poesie  Handlungen  male,  so  .seien  diese  um  so  vollkomme- 
ner, je  zahlreichere,  Je  verscMcdcnerc  wider  einander  arbei- 
tende Triebfedern  darin  wirksam  seien. 

„Der  vollkommene  moralische  Charakter  kann  i'ahcr 
höchstens  nur  eine  zweyte  Rolle  !n  diesen  Handlungen 
spielen;  so  daß,  wenn  ihn  der  Dichter  ung.'ücklic?u'r  Weise 
auch  zur  ersten  bestimmt  hau  der  .^c:hlh.?mere  Charakter 

")  B  f  a  1 1  jn  a  i  e  r ,  1.  c.  Zweite*'  Tcii.  p.  j2i.  s:he;ru  .Men- 
delssohn alles  I^ccht  zusprechen  zu  wollen 
"^l  VkI.  ed.  Blümner,  p.  iJH. 


—    64    ^ 

welcher  mehr  Aniheil  an  der  Handlung  nimt,  als  dem 
vollkonui'inen  seine  Seelenruhe  and  festen  Grundsätze  zu 
nehmen  erlauben,  ihn  allezeit  ausstechen  wird.  Daher  der 
Vorwurf,  den  man  dem  M 11 1  o  n  gemacht  hat.  daß  der 
Teufel  sein  Held  sey.  Und  das  kömmt  nicht  daher^  weil  er 
den  Teufel  zu  ktoD,  zu  mächtig,  zu  verwegen  geschildert; 
der  Fehler  liegt  tiefer.  Es  kömmi  daher,  weil  der  Allmäch- 
tige die  Anstrengung  nicht  braucht,  die  der  Teufel  zur  Er- 
reichung seiner  Absicht  anwenden  muß,  und  er  mitten  unter 
den  gewaltigsten  Bewegungen  und  Anstalten  seines  Fein- 
des  ruhig  bleibet,  welche  Ruhe  zwar  seiner  Hoheit  gemäfi 
aber  keineswegs  pociisch  ist."    (An  IX,  p.  370/1.) 

Das  von  Lessing  gewählte  Beispiel  ist  nicht  günstig» 
denn  wie  der  Kritiker  selbst  andeutet,  haben  wir  hier  nicht 
nur  einen  moralisch  vollkommenen  Charakter,  sondern 
einen  allmächtigen,  dor  die  Anstrengungen  nicht 
braucht.  Hier  war  eine  Gelegenheit,  bei  der  Lcsslng 
auf  den  Onindfehlcr  im  Epos  hätte  aufmerksam  werden 
können.  f)aB  er  nicht  darauf  einging,  hat  vielkicht  seinen 
Grund  dariiiv  daß  er  den  Ort  nicht  für  passend  hielt,  Oder 
miichtc  c:  sich  keine  Geuanken  darüber? 

Eine  zv/eite  Stelle  könnte  dazu  führen,  diese  Frage  zu 
verneinen,  Ein  eigenes  Kapitel  sollte  in  der  Fortsetzung  den 
„n  0 1  h  wendigen  Fehler  n"  gewidmet  werden  (Di,  p, 
454/5).  „Ich  nenne  notwendige  Fehler  solche,  oluiü 
welche  vorzügliche  Schönheiten  nicht  seyn  würden;  denen 
man  nicht  anders  ils  mit  Verlust  dieser  Schönheiten  abhel- 
fen kann"  (p,  454). 

Bei  Milton  ist  z.  ß.  Adarna  unnatürliche  Sprachkonntnls 
dn>iu  zn  rccliiien. 

„Desgleichen  geliörcn  seine  theologischen  Fehler  hier- 
her: oder  dasjenigo,  was  mit  den  genauem  Begriffen,  die 
wir  uns  von  dem  Qehcimnlße  der  Religion  zu  machen 
haben,  zu  streiten  scheinet,  ohne  welches  er  aber  das  in 


—    65     -- 

keiner  uns  sinnlich  zu  machenden  Zclu'üUc  hüitc  ^rzchlen 
können,  was  vor  der  Zeit  geschähe    Z.  K.  wenn  er  den  All- 
mächtigen (B.  V.  604) ")  zu  seinen  Enj;e!n  sagen  läßt 
This  day  I  havc  bcj;:ot  whoin  I  declarc 
My  only  soii,  and  on  this  lioly  hül 
Hirn  havc  anointed,  whom  ye  nou    behold 
At  niy  right  hand;  your  head  !  him  appoint, 
„Heute  mag  hier  immer  heißen  von  Ewigkeit;  Gott  hatte 
den  Sohn  von  CwiRkcit  xezcuKt:  sai-    ancr  dieser  Sohn 
war  doch  nicht  von  Ewiskcii  das  was  er  seyn  «ollic.  oder 
er  ward  wenigstens  nicht  dafür  erkannt.    Es  j^ab  eine  Zcitv 
da  die  EnKcl  nichts  von  ihm  ^'i'I'tcru  da  sie  ihn  niiht  ;!ur 
Rechten  des  Vaters  sahen,  da  er  noch  nicht  für  ihren  Herrn 
erklärt  war,    Und  das  ist  nach  ur.s,rer  Orthodoxie  faisch. 
Will  man  sasen,  Gott  hatte  bis  dahin  die  Ehkc!  in  der  Un- 
wiöcnheit  von  den  GclieMVinißen  seiner  Drcyeinipkcit  Z'^- 
lauen:  »o  würden  eine  Men^s't.  abRcschmiktc  una  'invc*- 
danlichc  Dinge  daraus  folgen.    Die  Nv.:ih»*c  EntSwhukligung 
des  Mlhon  ist  diese,  daß  er  noihwcndig  diesen  fehler  be- 
;:;ehcr>  mulite.  daß  dieser  Fehler  auf  keine  Welse  auszu- 
weichen ist,  wenn  er  das  nach  einer  tm«  vcrst kindlichen 
Zcitfolijc   erzehlen   will,   v^as   in   keiner   soschen   Zeitfolge 
geschehen  ist.    Sol!  die  Ursache  des  faiies  Je*  bösen  Enge! 
ihre  Beneidung  der  höhern  Würde  des  Sohijcs    seyn,   so 
muß  man  sich  vorstellen,  daß  diese  fkncidung  eben  so  von 
Ewigkeil  erfolgt,  als  die  Geburt  des  Sohnes  etc.    Allein  Ich 
denkw-  üherhaijpt.  daß  Milton  eine  hQÜ\i-  Ursache  hätte  er* 
denkeil  sollen,  als  diese,  welche  nicht  in  der  Schrift,  son- 
dern nur  bloß  in  den  VorsiclIiTngen  einiger  Kirchenväter  ge- 
gründet ist,"  (p.  455.) 

Lessing  irrt,  wenn  er  meinr.  ws  handle  sich  utn  einen 
theologischen  Eehler  MiUons,  Der  l\hlcr.  eine  außer« 

«")  Vielmehr  HK^  (Corr.  Bliimncr). 

IM  3  k  o  .  Mtllun  ft 


—    66    '■- 

zeitliche  ßcjiobcnlicit  in  der  Zeit  darstellen  zu  wollenv  ist 
üstlictiscliür  Niitur.  Und  daß  LessitiK  Klaubt,  dem 
Übel  lielic  .sli:h  durch  Aiisinur/iinK  dieser  doKinatiscIicu  Kin- 
zelliclt  abiicifcn,  bestürkt  uns  in  der  Vermutung,  daü  sich 
der  schurfsinniKe  Kritiker  des  Grundübcls  des  V,  P.  nicht 
bewußt  war. 

Dessenungeachtet  entgingen  ihm  die  F  o  1  g  e  n  der  Anti- 
nomie nicht,  weder  die,  auf  die  f.chon  sein  ehemaliger 
Lehrer  Voltaire  hingewiesen,  noch  tiefer  liegende,  wie  wir 
bei  seiner  Auslassung  über  den  moralischen  Charakter 
sahen. 

Zu  seiner  Einsieht  war  Lessing  durch  das  Studimii 
Homers  gekommen;  ;in  ihm  rnaß  er  Miiton  beständig.'"')  Die 
Engel  des  Briten  setzte  er  den  Qötteru  des  Griechen  gleich. 
Es  ist  bekannt,  wie  Lessing  den  Nebel,  womit  Apollo  den 
Hektor  entrückt,  als  bloßen  poetischen  Ausdruck  für  Un- 
sichtbarmachen erklarte  (p.  240/0.  Dieser  Nebel  war  aber 
vom  griechischen  Dichter  sinnlich  gedacht.  Soweit  war 
Lcssim.;  jedoch  nicht  in  die  mytliologislcrcnde  Yolkspoesio 
gedrungen,  um  dies  zu  erkennen.  Die  griechischen  Götter 
sind  für  ihn  abstraktere  Geschöpfe  als  für  Herder.  Ihr 
natürlicher  Zustand  ist  nach  ihm  die  Unsichtbarkeit.  Lessing 
sah  nicht,  daß  die  Miltonschcn  Engel  im  Unterschied  zu 
den  Homerischen  Göttern  abstrakte  Wesen  sind.  Der 
große  Kritiker  hatte  durch  das  Studium  der  griechischen 
Epen  sein  Prinzip  von  der  „Handlung"  gewonnen.  Dieses 
Prinzip  wandte  er  auf  Miltons  Engel  an,  ohne  sich  darum 
zu  kümmern,  daß  bei  übersinnlichen  Wesen  von  Handlung 
gar  nicht  die  Rede  sein  kann. 


^'')  An  Hand  von  Homer  tadelt  er  wie  Voltaire  Toü  und 
bilnüc,  wührend  er  die  kürzeren  AlIcKoricn  preist  (p,  432).  Mit 
Homer  (und  Shakespeare)  als  üe«enbcispielcn  kritisiert  er  Mii- 
ton, wenn  er  die  SchiielllKkcit  und  Tiefe  beschreibe,  anstatt 
sie  iii  llircii  WlrkuiiKcn  darzustellen  (p.  402  und  429/30). 


i—    67     ■  - 

So  konnte  er  sich  mit  seiner  Theorie,  die  wohl  auf  die 
inenscliüchen  Götter  Hoiriers  n:il]t,  über  die  Anthiomit  da 
Kpos  h;n\vcK'fiet/cn.  Dabei  mochte  auch  Keine-  RclljjlOsiiüi 
Mitnrsachc  am  Interesse  sehi,  das  er  dem  V.  P.  ent>:ej:en- 
brachte.  Seine  ästhetische  Doktrin  war  aber  schuld,  daß 
er  das  Grundübe!  nicht  aufdeckte.  Ihr  verdankte  er 
jedoch  seine  Einsicht  in  Mütcns  Charaktcrisieriinjjs- 
kunst.  LessinK  war  der  erste  in  Deutschland,  der 
Satan  ohne  Voreins:env)mrr.cnhcii  gegenühcrstand.  £r 
wendet  sich  (A''  XXXV,  p.  400)  energisch  i:ejccn 
Winckehrianns  Behauptun;?,  Miltons  Deschreibunjen  seien 
wie  schön  semalte  Qorgonen,  die  sich  ähnlich  und  jrlcich 
fürchicrüch  sind. 

„Winkchnann  scheinet  den  Mihon  ucnift  ücl^iscn  zu 
haben;  sonst  würde  er  wißcn,  daß  man  schon  längst  an- 
gemerkt, nur  er  habe  Teufel  zu  schildern  jiewußr,  önne  zu 
der  nülilichkelt  der  Form  seine  Zuflucht  zu  nehmen." 

Und  ohne  Skrupel  erkenni  er  Miltons  Kunstvrrifi  an, 
„auf  diese  Art  in  der  Person  des  Teufels  den  Peiniger  und 
den  QepeiniKten  zu  trennen,  welche  nach  dem  gemeinen 
Bej^rine  in  iimi  verbunden  wcrrden".  Das  kann  nur  lieiCen; 
Satan,  der  immer  noch  götilichschöne  Apostat,  ist  nicht  der 
häßliche  Peiniger  der  Volkstradition,  sondern  der  Gepei- 
nigte, dem  wir  unsere  Teilnahme  nicht  versagen  können. 

Das  hatte  vor  Lessing:  niemand  voll  zu- 
gegeben. 

III. 

Diese  FraRinenic  blieben  lange  Zeit  uriÄcdruckt**) 
Aber  Lessinjjs  Methode,  wie  er  sie  an  Homer  exemplifiziert 
hatte,  mußte  Schule  machen. 

")  VgL  B  1  (i  m  n  e  r  s  Kinlcitunjr.  p.  75.  Kinzclnc«  wurde  erst 
1788  von  LcssiiiKS  Bruder  mitectcili.  Alles  erst  in  der  HcmpcU 
scheu  Auseabe. 


.-    68» — 

In  den  nach  1766  erscheinenden  Poetiken  verspüren 
wir  allerdings  zunächst  noch  keine  Einwirkung  der  Les- 
singscher.  Urieilswelse.  .loh.  Gottlielf  Lindner,")  Christian 
Heinrich  Schmid")  und  Friedrich  Just  Riedel")  tragen 
längst  Gesagtes  mehr  oder  weniger  kritiklos  zusammen. 

Di(;  Aussprüche  über  Milton  zu  Ende  der  sechziger 
Jahre  gehen  immer  noch  sehr  auseinander.  Interessant  ist, 
wie  die  aus  der  Schule  Gottscheds  Hervorgegangenen  sich 
mit  dem  bereits  anerkannten  Dichter  abfinden  müssen. 
C.  C.  V.  Creuz,  der  eine  Nachdichtung  des  ».hail  holy  light" 
verfertigte/*)  erkannte  „die  vielen  außerordentlichen 
Gedanken,  Bilder  und  Gleichnisse;  die  neuerfundenen 
V/orte  und  Redensarten"  u.  s.  w.  der  Poeten  der  „geist- 

**)  Lehruucli  der  seil  6  neu  W  1  sse  n  s,ch  a  i  i  en  , 
insondcrlieit  der  Prosc  und  Poesie,  Könics- 
btrK  und  Lcipx-ii:  1767,  p,  27  nennt  er  M.  ein  Original,  p.  117  ent- 
scluildim  er  das  Pandiimonium  mit  der  „bedingten  W.alitsoh'Jin- 
lichkcit",  p.  117/8  entsetzt  er  sich  über  die  Blutschande  des  To- 
des mit  der  ?;inde,  p.  129  betont  er  die  Notwendigkeii  der 
Mythologie,  p.  168  preist  er  Miltons  elegisches  Bild  seiner  Blind- 
iicit,  p.  iU3  die  aestliciisclic  Lcl)haftigkcit  der  üedanken  (Meier), 
p.  228  Satans  Rede  im  2.  Buch  der  Disposition  \ve<ien. 

■•'■')  Theorie  der  Poesie  nach  den  neuesien 
Orundsiltsen  und  Nachricht  von  den  besten 
Dichtern  nach  dem  angenommenen  Urteil,  Leipzic 
1767,  p.  427  Thomsons  Vers  an  Milton. 

*")  Theorie  der  schönen  Künste  und  Wissen- 
Schäften.  Jena  1767.  Mir  liek't  die  2.  Aufl.  (1774)  vor;  p.  20S 
meint  er,  M.  sei  oft  allzu  wunderbar,  p.  39  sagt  er,  er  könne 
sich  die  Miltonschen  Teufe!  nicht  sinnlich  denken,  „Ich  stelle 
micli  vor  das  Ungeheuer  nin  und  werde,  anstatt  es  ganz  zu 
sehen,  immer  nur  ein  Stück  von  ihm  gewahr;  das  ist  unertrüg- 
iich  und  mishandelt  ••neine  Begierde,  immer  das  Ganze  zu  den- 
ken, auf  eine  unausstehliche  Art."  Diese  Stelle  griff  Herder 
dann  an,  vgl.  unten  p.  75. 

**)    Oden    und    andere   Gedichte.    Frankfurt  um 
Mayn  1769,  I.  Bd.,  o.  193.  vgl.  J  c  n  n  y  ,  p.  91/2, 


-..    69    — 

rclclicü  Diciuart"  an.  Aber  von  Nacliahmcrn  wilj  er  njcht^; 
wissen.  Wie  Klotz  entrüstet  er  sich  über  das  v.unsinnijre, 
der  Würde  des  (Icdichtcs  Hohn  sprechende"  Scherzen 
Gottes  mit  seinem  Sühn.*')  Die  prachtig:it.,  Beschreibung 
im  V,  P.  jjibt  er  ffcgcn  eine  mit  flaücrscher  Kürze  vorge- 
tragene Sittenlehre."") 

Alle  berechtigten  und  iinberechti;rten  Urteile  wurden 
u'iederholt.  Die  ..oriemaüsche  Dichtung"  stand  noch  sü 
in  Blüte,  daß  Herder  und  Mendelssohn  jjlaubtcn.  ihr  ent- 
gegentreten zu  müssen. 

in  der»  von  Lessing  vorRczeichncien  Bahnen  bewegte 
sich  H.  W.  Qerstenberjc.  in  seinen  R e  z  e  n  .s l o n  o  n  In 
der  H  fj  ni  b  u  r  ß  i  s  c  h  c  n  Neuen  Z  c  i :  u  n  s  äußert  er 
sich  über  Milton.  Stück  94  (15.  jun^  57(^8)  nennt  er  ihn 
rühmend  unter  den  Diciitern  der  \  eüigeii  Idylle/')  Be- 
sonders wichtig  ist  das  167.  Stück  (20.  Okt.  176S.  .\nm.  !ll). 

GerstenberK  will  nicht  Rcjieln  aus  Hümer  abstrahieren 
und  sie  auf  andere  Dichter  anwenden.  Er  möchte  auf  die 
Individualität  eines  jeden  Dichters  einsjehcn:  ..Man  hat  der 
Meßiade  vorgeworfen,  daü  sie  nicht  homerisch  scy:  frey- 
lich nlclu.  sie  ist  Klopstockisch.  Käst  eben  so  seltsam  Ist 
es,  dali  man  sie  nach  dem  Maasstabe  des  verlohrenen  Para- 
dieses hat  messen  wollen*'/*) 

Aber  trotz  der  verschiedenen  Methode  kommt  er  zum 
gleichen  Resultate  wie  Lessing,  nämlich  daü  gerade  die 

'•')  Vgl.  C.  riarimann,  Creaz  und  seine  Dich- 
tungen, Leipz.  Diss.   1890,  p.  36  f. 

"')  Vri  den  Vorbericlit  zu  den  uräb«i'n,  Frankfurt  and 
Mainü  1760,  v^o  er  sicli  über  K'opslock  und  Milton  schon  aus- 
sprich: wie  in  dem  nach  C.  H  n  r  t  mann  anKcführtcn.  17(>7  cnt» 
standenen  Briefe. 

*■')  Deutsche  L  i  t  e  r  a  t  u  r  d  e  n  k  m  a  '.  c  No.  lÄ 
(Berlin  1904).  p.  60. 

*")  f.bd..  p.  124  ff. 


._-    70    — 

Homer  iihnllchc  hiüividualisicrung:  der  Teufel  den  Haupt- 
wert des  V.  P.  ausmache: 

„Milton  ist  v/cjicn  seiner  Erfindung,  die  Characterc  der 
Teufel  aus  der  ilgyptisclien  und  .^ricciiischcn  Mythologie 
zu  nehmen,  sehr  getadelt  worden:  ich  weis  keine,  um  die 
ich  ihn  mehr  beneiden  iriüchte.  Es  ist  meine?.'  Meynung 
nach  ein  großes  Kunststück  an  diesem  Dichter,  daß  er,  un- 
geachtet der  Inhalt  ihn  ganz  von  den  poetischen  Schön- 
heiten der  Griechen  abzuführen  schien,  dennoch  auf  eine 
so  glückliche  Art  davon  Gebrauch  zu  machen  wußte,  daß 
sein  Gedicht  den  antiken  Geschmack  behielt>  ohne  dem 
höhern  Zwecke  etwas  aufzuopfern".*")  Bodmer  hatte  sich 
in  der  Abhandlung  von  dem  Wunderbaren  (vgK 
oben  p.  34)  vcUchilich  über  die  Dichter  ausgesprochcUv 
welche  den  Engeln  oder  heiligen  Menschen  die  Eigen- 
schaften und  Handlungen  der  mythologischen  Götter  zuge- 
schrieben. So  ein3r  sei  Miltcn  nicht  gewesen.  Bei 
Qerstenberg  haben  wir  (wie  bei  Lessing)  den 
neuen    entgegengesetzien    Standpunkt. 

!Vllt  dieser  Einsicht  in  die  Charakterisierungskunst  wird 
das  V.  P.  gegen  alte  Angrih"e  verteidigt.  Warum  sollen  sich 
die  Teufel  im  Pandämonium  nicht  zusammenziehen  können? 
„Es  ist  eben  so  natürlich,  daß  ein  Teufel  seinen  Körper  aus- 
dehnt und  zusammenzieht,  als  daß  er  sich  in  einen  Engel 
des  Lichts  verkleidet.  Und  überhaupt,  wenn  wir 
einmal  Teufel  sehen  sollen,  so  müssen 
\v?  i  r  sie  von  mehr  Seiten,  als  ihrer  m.  o  r  a  1  i  - 
sehen,  sehe n"/'") 

*^)  ebd.,  p.  126, 

")  ebd.,  p.  ]2?>,  p,  I2n  kommt  dann  Qersienberg;  auf 
Sürtüfc  unü  Tod  za  sprechen,  die  er  theoretisch  wie  Bodmer  mit 
der  Notwendigkeit  2u  individuallsisren,  rechtfsrUßt.  Aber  wüh- 
rend  der  Zürcher  Dichter  die  Qlaubwürdigkeit  durch  ,,das  An- 
sehen   eines    Qeschichtsschreibers"    (i.    e.    Bibel)    nachweisen 


„...    71    '- 

Auch  Ranilcr  mulitt  sich  im  dieser  Ansicht  bcqucnieru 
Die  Tatsache  svar  ihm  klar,  aber  die  Qründe,  warum 
Siuan  uns  am  meisten  anzieht,  suchte  ct  mit  Äcwundenin 

Sätzen    und    überliefertem  Material    i:u!2udcckc:^ 

Satan  in  Miltons  verlornem  Paradiese  triumphirt  über 
den  orst;;n  Menschen,"  sa,':ct  er  in  der  dritten  Auflajre  scincf 
Übersetzung  von  Batteux'  Einleitung  in  d  i  c  S c h ö - 
n  c  n  W  i  s  s  e  n  s  c  h  a  f  t  e  n.")  ..Denn  wenn  hier  ein  Held 
seyn  soll»  so  ist  es  gcv/i3  Satan.  Wäre  er  er;  nicht*  son- 
dern Adam:  so  war«;  die  Auilösuns!;  U'asjisch  und  kcincswc:.rs 
episch;  and  wäre  sie  tragisch,  so  wären  alle  übernatür* 
liehe  Maschinen,  die  in  diesem  Gedichte  gebraucht  wer- 
den, unnütze-  Triebräder;  weil  das  Wunderbare  keine 
Vcrvw'andschaft  mit  dem  Mitleiden  hat  und  gar  nicht  daüu 
gemacht  istv  es  zu  erregen.  Der  Tcuicl  ist  es  also,  den 
man  um  m  dem  verlornen  Paradiese  zu  bewundern  gicbt 
Der  Gegenstand  ist  sonderbar;  aber  mal*  muß  ihn,  wie  di? 
Phaniasii  eines  Malers,  beurtheJier..  mehr  nach  der  Aus- 
iühriing,  ?Js  nach  der  Anlage  des  Stofis.  Cbcrdom.  wenn 
er  gleich  keine  Bewunderung  'irwccki  sc  crrej;i  er  doch 
Erstaunen.'' 

Hatte  Ramier  seines  Freunde?  l^ssinsj  Manusl<riptfc  jfc- 
sehen  und  sieh  mit  Hilfe  des  theoretischen  Vorurteils  vom 
Wunderbaren  mit  der  neuen  Ansicht  jb^efundcn? 

wollte,  erlebt  jetzt  G.  das  Weser;  der  verircintHchen  AVu^zorkn 
ganz  (im  QcKCJisatz  auch  zu  Lcssinjüh 

Auch  In  ücincn  IJricie.i  Jibei  M  t  /  k  v  fl  r  ü  I  Kk  ei- 
tft n  ücf  Literatur  crw  ihm  G.  Milloji,  D  l.  D.  39/Mi, 
p.  95  und  138. 

■**)  Einleitung  in  die  ä  c  h  «i  Ji  e  n  W  i  s  u  t  n  s  c  h  a  I  - 
teil,  nach  dem  Französischen  des  Herrn  Battcux  mit  ZusJiiz«n 
vermehret  von  Karl  Wilhelm  Ramk-r,  Zwcytcr  BanJ,  3.  Auf. 
(Leipüic  1769),  p.  39.  In  der  4.  Aufl.  (IV?«!),  p.  S^/AÜ.  c^'vas  er- 
weitert. 


>..    72    - 

Andcrü  mochten  sich  mU  der  damals  aufkommenden 
Crklüruiij:  Webby  zu  cuicm  tieferen  Verstehen  des  Milton- 
schen  Satans  entschlicBan.  1771  erscliien  in  Leipzig  J.  J. 
Eschcnburgs  Übertragung  von  Daniel  Webbs  Betrach- 
tung über  die  Verwandtschaft  der  Poesie 
und  Musik,  nebst  einem  Ausluge  aus  eben 
dieses  Verfassers  Anmerkungen  über  die 
Schönheiten  der  Poesie.  Klotzens  Deutsche 
Biblioihek  6.  Bd.  (1771),  p.  478,  zitiert  daraus  folgende 
Stelle,  -.Hierinnc  liege  der  Qrund,  warum  sich  die  vor- 
nehmsien  Schönheiten  in  dem  verlöhrnen  Paradlese  natür- 
licherweise in  den  Beschreibungen  von  der  Person  des 
Satans  finden  mustcn.  Eine  immerwahrende  und  unver-' 
ilndcrlicho  Herrlichkeit  beschreiben,  heißt,  oh.nc  Schatten 
mahlen  .  ,  Die  göttliche  Vollkommenheit,  reine  und  eng- 
lische Wesen,  können  keine  Wolken,  keinen  Contrast 
haben;  sie  sind  lauter  Licht.  Allein  ganz  anders  verhält 
slchs  mit  der  Beschreibung  der  gefallenen  Größe,  eines  ge- 
schwächten und  unterbrochenen  Glanzes;  eines  höhern 
Wesens,  das  :;'esunken  und  gefallen  ist,  aber  zu  Zeiten 
sich  aus  seinem  t^aile  emporhebt.  Dies  ist  ein  so  sehr 
poetisches  Subjekt;  es  giebt  eine  solche  Reihe  mannigfalti- 
ger Bilder  an  die  Hand,  daß  der  Gegenstand  auch  noch  so 
schädlich  scj'n  mag;  dennoch,  wenn  die  Gefahr,  wie  im 
gegenv/ärtigen  Falle,  entfernt  ist,  die  Einbildungskraft  da- 
von gerührt  wird,  alle  ruhigem  Betrachtungen  bey  Seirp 
geschaft.  und  die  Sinne,  über  die  Sphäre  des  Nachdenkens 
hinweg,  fortgerissen  werden," 


Drittes    Kapütct 

Herder  in  Sturm  und  Drang 

Als  Herder  von  seinem  Lehrer  Hamann  in  üic  cn;^ 
lischc  Literatur  eingeführt  wi'rde.  'ernte  er  auch  MiKons 
V,  P.  kennen  (Hayni  I,  p.  61).  Seil  1767  sto'ion  wir  in 
seinen  Sciiriften  auf  den  Namen  des  I^.pikcrs  (ed.  Suphan  M, 
166.  i67.  172  w.  mX 

Es  mochte  vielleicht  in  seinem  Leben  einen  Augen- 
blick jrcben,  da  er  Mütons  Dichiunürsan  vcruncillc  als 
er  in  seiner  zweiten  Sammlung  der  Fragmente  über  die 
neuere  Deutsche  Liircratur  (1766,  1767)  xcKen 
die  Nachahm-jr.K  orientalischer  Bilder  Pront  ;nachte  und 
aufforderte,  man  solle  nur  die  Art,  vic  der  Oricni  dich* 
tete,  studieren. 

In  dem  Gespräche  zwischen  einem  Rabbi 
und  einem  Christen  faßte  ;t  dann  alles  zusammen, 
was  sich  KCKen  Klopstockr.  Missias  einwenden  iülit:  Der 
Rabbi  möchte  ihn  mehr  der  orientalischen  Mytho!o>;jt  eni- 
sprechend,  der  Christ  würde  lieber  luf  alle  Kr.Äet  ver- 
zichten. 

Im  z w e i t c h  k ri t i & c h c  n  Wäldchen  ;  1769»  hat 
Herder  diesen  Standpunkt  i'berwjne'.T.  SAy.t  i^t  er  nicht 
mehr  absolut  k'CKcn  di..  Anv/endun?'  fremder  A^ythr>loj:icn 
in  modcirnen  Oed'chten,  sondern  •>»*enuet  den  (irundsat?:  .'^n 
„So  w(c  der  oberste  R'chter  ailwjsscj.d  sein  muD,  um 
jflcichscm  die  cij:crthümliclie  Mo'":;!itil'  cinti-i  jeden  Herzens 


-..,    74  ♦— 

zu  koiiiicu;  .so  sei  der  Richter  über,  Zeiten  und  Vollmer  uucli 
des  Qcschmacks  dieser  Zeiten  und  Völker  kundig,  oder  er 
greift  blind  in  den  Loostopf  der  Jahrhunderte,  um  nichts 
als  ein  mageres  kritisches  Regclchcn  herauszulangen'\ 
(Vgl.  Hayni  I,  268/9.)  Auf  Grund  einer  liberalen  Interpreta- 
tion dieses  Sprucies  verteidigt  er  Milton  gegen  Klotz,  be- 
sonders da  dier.cr  die  antike  Mythologie  im  christlichen  Qe- 
dichte  angreift,    (cd.  Suphan  III,  p.  216,  220,  222,  236.) 

„Mlltou  hat  uns  djis  erste  Paar  bis  zum  Entzücken  ge- 
schildert, den  Bau  ihrer  Glieder,  und  ihre  vergnügte  Mahl- 
zsit,  und  ihre  Liebkosungen,  und  die  holde  Umarmung  der 
Eva  und    -  das  Licblächeln  Adams.^) 

—  ~  as  Jupiter 

On  Juno  smiles»  when  he  impregns  the  clouds 

That  shed  May  flow'rs 

„Welch  ein  Bild!  Ists  Erniedrigung  für  Adam,  in 
ihm  den  küssenden  Jupiter  zu  sehen?  Adam  führt  Eva 
zur  Brautlaubc,  und  da  unsrc  Seele  durch  den  sichtbaren 
Anblick  derselben  mit  Freude  und  Ehrfurcht  gleichsam  er- 
füllet worden;  da  das  Auge  nicht  mehr  sprechen  kann: 
siehe!  so  spricht  die  Phantasie,  gleichsam  in  einen  Traum 
voriger  Zeiten  versenket:") 

—   —  in  shadier  bower 

More  sacred  and  sequester'd,  though  but  feign'd 
Pan  or  Sylvanus  never  slcpt,  nor  Nymph 
Nor  Faunus  haunted. 

„So  dichtet  Milton:  seine  profanen  Gleichnisse  sind  nichts 
als  Hülfsvorstellungen  zum  Dienste  seiner  heiligen  Vor- 
stellungen: er  nimmt  zu  ihnen  seine  Zuflucht,  wenn  Worte 
hinerhalb  dem  Kreise  seiner  Religion    nicht    Triebfedern 

*)  Buch  IV,  V.  499. 
a)  Buch  IV,  V.  705. 


....    75    -- 

geben,  seine  Idee  so  hoch  zu  spielen,  als  er  sie  haben  will: 
und  nur  dann  irret  seine  Phantasie  in  diese  ZaubcrRcgcndcn 
der  Qriechischen  Diciitijnjj,  wenn  er  schon  unsrc  Sinne 
eriüllcic,  und  jetzt  der  Seele  Zeit  läßt,  die  Bilder  ihrer 
JuRcnd  zu  samnilcn.  Konnte  er  dies  nicht  thun,  als  Dich> 
tcr?  Eben  dadurch  sch!ä;?i  er  ja  an  unscrn  Geist,  daB  er 
gleichsam  sich  selbst  dichte.  Üdcr  v-twa  nicht  als  ÜlciUer 
der  ReliKion?  Was  ist  der  Relis;ion  würdiger,  als  solche 
VerKieichunueh  zu  iiirer  Crhühung?  Die  !3ibel.  ja  Jchova 
selbst  in  ihr  spricht  also*'  (IV,  ?^il), 

Ähnlich  hatte  auch  Bodmer  gesprochen,  aber  das  neue 
in  Herder  ist  das  intensive  Miterleben  des  Gleichnisses. 
Milton  sieht  ,,in  Adam  den  küsse:iden  Jjpiter".  Der 
Dichter  braucht  diese  Bilder,  um  auszudrücken,  was  er 
erblickt.  .^Eben  dadurch  schlägt  er  ja  an  unscrn  Geist*  daß 
er  gleichsam  sich  selbst  dichte." 

Dieses  vollständige  Schauen  der  my- 
thologischen Volksvor Stellungen  ist  der 
Angelpunkt  von  Herders  Kunsturteil,  füf 
ihn  ist  der  Nebel  bei  Homer  nicht  bloß  ein  Symbol  iQr 
das  Unsichtbarmachen  wie  für  Lessing. 

Dabei  will  er  im  Gegensatz  zu  Riedel  Miltons  Teufel 
doch  nicht  sinnlich  messen.  Er  will  nicht  „vor  sie  hin- 
treten,  um  sie  Stückweise  zu  zerlegen''.  Denn  sonst  blei- 
ben sie  „nicht  mehr  die  Geschöpfe  der  Phantasie,  die  als 
grosse  Rauchwolken  mein  Poetisches  .\uge  vorbcigehn.  und 
eben  durch  dies  unsinnliche  Phantastische  Große  und 
Unermüßliche  ins  Gedicht  würkci".  soic-n'*  ^4,  Wäldchen. 
Suphan  IV,  174.) 

Dieses  Bestreben,  die  Dichtung  jntuiiiV  zu  crfai>sen, 
d.  h.  die  Gestalten,  die  sie  beleben,  innerlich  zu  sehen,  ver- 
trägt sich  wohl  mit  Herders  realistischer  >.uffassung  der 
griechischen  Götter.  Es  zeigt  seine  Einsicht  In  den  Unter- 
schied zwischen  den  Homerischen  und  Miltonschcn  Wesen. 


•     76  ,^ 

Aber  dcni  Entdecker  der  Volkspoesic  und  der  Volks- 
mytliolois'ie  m  besonderen  niulitcn  die  Kriecliisclien  Oöttcr 
syinputliiseher  sein.  Spilrlicli  iluUert  er  slcli  über  die  Ge- 
stalten hei  Milton.  Kr  schließt  sich  der  Auffassung  Gersten- 
bergs mit  IJegeistening  an  (V,  p,  232).  Aber  wenn  wir 
seine  wenigen  Auslassungen  über  Miltons  Teufel  'zusam- 
menhalten, so  zeigen  sie  uns,  wie  er  ihr  Wesen  weniger 
erfaßt  hat  als  Qerstenbcrg.  „Die  Teufel  hi  Milton  spotten 
und  lachen:  sie  beweisen  zwar  dadurch  nichts  anders,  als 
daß  sie  Teufel,  dumme  Bösewichter  sind,  und  lachen  so 
charakteristisch  als  sie  nicht  reden  könnten  .  .  /',  sagt  er 
in  seiner  Polemik  gc;feii  Klotz  (III,  222). 

Theorcäscii  hat  Herder  recht,  wenn  er  ihr  Gebaren  als 
„charaktciistisch'  erklären  will;  aber  ihre  Charaktere  hat 
er  nicht  erkanni.  1778  führt  er  .Miltons  Satan  neben  Wallen- 
stein und  Cromwcll  als  „ungeheuer  und  wüüo  Tiere''  an; 
echt  große  Seeler.  hätten  auch  Anlagen  „die  tugendhaftesten 
zu  werden".  (Vom  Erkennen  der  menschlichen 
Seele.   Bemerkungen  und  Träume,   VIll,  219.) 

Heracrs  moralische  und  religiöse  Voreingenommenheit 
verhinderte  ihn  wie  Bodmer  am.  Erkennen  der  wahren  epi- 
schen Kraft  im  V,  P.  Er  ist  Lessing  nur  durch  sein  Ver- 
ständnis für  die  Volksmythologie  voraus.  Seine  Abneigung 
gegen  Miltons  Satan  teilte  er  auch  Goethe  mit. 

Ruft  er  über  nichc  aus;  »,Dic  drei  größten  epischen 
Dichter  in  aller  Welt.  Homer.  Ossian  und  M  i  1 1  o  n" 
(VIH,  188,  318)?  Gewiß,  aber  man  fragt  sich:  Ossian 
episch?  Sind  für  Herder  Homer  und  Milton  nur  insoweit 
episch  als  Ossian?  Was  bedeutete  Herder  in  solchen  Aus- 
sprüclien  episch? 

Wohl  nichts  anderes  als  mythologisch.  Herders  An- 
betung Homers  entsprang  nicht  einer  Einsicht  in  die  episclK; 
Technik  des  griechischen  Dichters,  sondern  dem  Verständ- 
nis, das  der  deutsche  Entdecker  der  Volkspoesie  der  au}> 


>..    77    - 

der  Naturbclcbun«  hcrvorseKangenen  griechischen  Mytho- 
logie om^'cßcnbrachtc. 

Aus  dem  A.  T.  besonders  hatte-  er  iremdarlJKe  Büdcr 
schon  zur  Zeit  seiner  juKi-ndliclicn  Naturlraumcrcicn  In 
sicli  aufgenommen  (Muym,  p.  9).  Was  dcu  Jünslinff  be- 
geistert hatte,  suchte  der  Mann  zu  vcrtiefcn. 

Es  ist  nicht  eine  patriarchalisch».:  Sehnsucht,  die  ihm 
den  Orient  lieb  macht,  sondern  das  Vergnügen  an  der  Bc- 
lebuni,'  einer  ihm  unbekannten  Welt.  \us  der  Sprache,  die 
uns  diese  hinterlassen,  wehen  ihm  Bilder  einer  exotische:; 
Natur  ontxeKcn.  Wie  alle  alten  Sprachen  isi  ihm  das  He- 
brülsohc  eine  Natursprachc,  d.  h.  noch  voller  Anschau 
ungcn. 

Milton  hatte  sich  in  die  orieniallschc  Wck  zj  ver- 
setzen gcwußtv  er  hattCv  selbst  sprachschöpferisch,  an 
ihre  Vorstellungen  angeknüpft  Bei  :hm  cn'strmden  die? 
übernommenen  Anschauungen  2U  neuem  Leben.  Das  zog 
Horder  an.  Wesen  seinc7  sprrxhüchen  Fähij^koiten  mußte 
ihm  Milton  als  den  Naturdichier::i  Homer  jnd  Cssian  ver- 
gleichbar  erscheinen. 

Zwar  gab  es  Perioden  m  Klcrdcrs  Leben,  ivi  denen  de« 
Theologische  in  seinen  Anschau.msen  die  Oberhand  ge- 
wann, in  denen  er,  den  Uisprun^j:  dQr  Sprache  Qoti  zu^ 
schreibend,  Jede  christliche  Poesie  von  sich  wlti  So 
konnte  er  in  den  Briefen,  das  Studium  der 
Theoloffie  betreffend  (2.  Theil  1780.  17S5^  im  19.  Brief 
(Suphan  X.  217/8)  fragen;  „Wollte  ein  Christ  so  köhn 
scyn.  die  Phantasien  seines  Kopfs  den  Thaicfwcisen  Got- 
tes einzumischen,  oder  zwischen  zu  schieben,  das  ist, 
wenn  er  es  auch  wider  Wissen  und  Willen  th.itc,  sie  nach 
seiner  Gedankcnweisc  zu  vertcestalien?" 

Aber  auch  in  solchen  Lebenspcrioden  kann  er  sich 
dem  Kindrucke,  den  gewisse  Parlier  aus  dem  V.  P.  auf 
ihn  machen,  nicht  entziehen.    Einige  Stellen  sind 


—    78    — 

es  ci^'o. ntlich  nur»  in  denen  er  den  Hauch 
Gottes  zu  verspüren  glaubt,  aber  sie  begleiten 
ihn  sein  .cjanzcs  Leben  hindurch.  Bei  ihnen  erbebt  sein 
Herz. 

Hüfcn  wir,  wie  er  uns  in  den  Unterhaltungen 
und  Briefen  über  die  ältesten  Url<unden 
(1771/2)  ein  Qeniülde  des  werdenden  Tages  der  Schöpf- 
ung gibt  (Suphan  VI.  133): 

„Füiilen  Sic  i;egenwärtii;  ics  war,  wie  gesagt»  die 
erste  Frühe  des  Tages)  den  kühlen,  durchwehenden  Mor- 
genschauer: haben  Sie  ihn  bei  kälteren,  dunkelern  Nüehten 
durchdringender  gefühlt:  haben  Sie  insonderheit  je  auf 
dem  Meere  etwu  nach  einer  gefährlichen,  dunkeln,  Qraucn- 
vollon  Nacht  (wohin  Sic  eigentlich  diese  Scene  versetzt) 
auf  den  ersten  Stral  der  Morgcnröthc  gehofft,  und  alsdcnn 
den  webenden  Qcist  gefühlt,  clor  vor  dem  erwachenden 
Tage  sich  vom  Himmel,  wie  ein  Hauch  üoties  sich  von 
der  Bahn  der  Winde  auf  die  Fluten  senkt,  wandelt,  und 
wie  ihn  der  Ocean  zu  fühlen  scheint,  webet  er  empor  — 
ich  dichte  Ihnen  nichts  aus  dem  Kopie:  Oßian  und  Milton 
und  Klopstock  und  Homer^  und  die  Morgenländischen 
Dichter  noch  mehr,  haben  diesen  Qeist  der  Nacht,  diesen 
Wind  und  Hauch  Gottes  lebendig  gnug  beschrieben  .  .  /' 

Es  kommen  ihm  sogar  während  des  Niederschreibens 
Miltons  Worte  selber  in  den  Sinn,  wie  in  den  Aeltesten 
Urkunden  des  Menschengeschlechts  (1774). 
v/c  er  von  dQt  Erschaffung  des  Lichts  erzählt  (VI,  222/3); 
„Welch  Wunder  Gottes,  ein  L  i  c  h  t  s  t  r  a  IT'  Wir  mögen 
„das  Licht  messen  und  spalten,  in  ihm  Farben  und  Zau- 
berkünste finden,  damit  brennen  und  zerstören,  in  Stern 
und  Sonne  steigen  —  grosse  Entdeckungen  des  Mensch- 
lichen Forschungsgclstcs  und  wo  Irgend  Etwas  ein  Qött- 
lichci,  Krcditiv  liclner  RechtmäÜigkeii  luid  Würde  --  Ge- 
fühl   ist   Etwas  anders!    Empfindung  Gottes  in  diesem 


^    79    -~ 

seinem  Ersten  ungeborn en  Kinde,  dem  rein- 
sten Ausfluß  seines  Wesens,  dem  ent- 
zückenden Sirom,  der  sich  durch  alle 
SchiJpfunK.  durch  Herzen  nnd  Seelen  uncr» 
forsch  lieh  ergculit.  Organ  der  Qöitlieit  im 
Weltall! 

„Hai!  holy  üRhi!    ofsprir.g  of  Heav'n  firsi-born! 
or  oft  thc  cternal  cor*tcrnal  !)c;^m! 
niay  \  exprcss  thec  unblani'd?  shicc  Qo(\  is  sight 
and  never  but  in  unapproaclied  lijs'hr 
dwclt  jroni  cternity  —  dwcit  ihcn  m  thce!'* ") 
Und  wie  das  Lichi  hat  Milien  auch  die  Nachi  gekannt, 
„i'^ne.  alte,  cwi^c  Nacht,  die  der  unKehcuermalcnde  M  i  1  ■ 
ton,    dieser  Anjjelo    oder  Caravaggio  unier  den 
Dichtern  allein  beschreiben  konnte,  und  die  Mcr^enlandcr 
so  oft  malen"  (VI.  226'). 

Was  Herder  in  Milton  fiüdcl,  ist  „Nachhaü  Ci6ttl;:hcr 
Stimme  in  Natur  und  Schrit"  (VII.  300).  Mir  seinem 
ästhetischen  Einleben  in  den  Mythen  schaffcnderi  Geist 
der  Ebiäer  verbindet  sich  immer  wieder  sein  orthodoxer 
Glaube,  „Die  ersten  w  ü  r  k  s  a  m  e  n  Geüxhtc  in  der 
Volkssprache  Vv'aren  also  auch,  da  sich  die  Dichtkunst 
wieder  empor  hob,  aus  dem  Schooi  und  Bus  in  der 
Religio  11  Kinder  .  .  .  Von  diesem  Baume  brach  Milton 
seinen  Zweig,  da  er  das  v erlahme  und  uicdcr' 
gefundene  Paradies  schrieb"  (U  c  b  e  r  die  W  ü  r- 
k  u  n  £  der  Dichtkunst  auf  die  S  i  ♦  t^c  n  der  V  <>  i . 
ker  in  alten  und  neuen  ZqU'^u.  1778   Vill.  405) 

Im  Werke  Vom  Geist  der  Ebräisohcn 
Poesie  (I782>  1787)  brauchte  Herder,  da  er  nur  vom 
Geiste  der  Dichtung  sprechen  wollte,  auf  deren  gött- 
lichen Ursprung  keine  RücksiiMi»  zu  haben,  sondern  konnte 

*)  Anfang  des  dritten  Uuctic:iv. 


—    80    - 

i-iicli  ticiiic-n  iisihctisclieji  EmpfinduiiKcii  saiiz  iiiiiKcbcn. 
Auch  da  erinnert  er  sich  wieder  an  das  „hail  ho!y  light/' 
das  er   vollständiji  übersetzt.*) 

„Heil,  heilig  Licht,  dir!    Himmels  erstes  Kind» 

oder   des  Kwigcn   mitewiger   Strahl! 

(Dürft'  ich  so  nennen  dich:)  denn  Gott  ist  Licht 

und   unzuj^angbar  wohnt'  er  ewiglich 

im  Lichte;  v/ohnct  ewig  da  in  dir, 

du   Ausfluß-Qlanz  vom   unerschaffnen   ülanze. 

u.  £.  w.  (Buch  III,  Vrs.  1—55,  XI,  278/9.) 

p  277  iQitct  Gutyphron  den  Qcsan?:  ein:  Da  Sie 

doch  aber  Hymnen  wollten;  hier  ist  einer,  ganz  in  mor- 
geiiländischen  Bildern.  Meines  WiUens  giebt!:.  nur  Einen 
Ton  des  Lobgesanges  in  allen  jetzt  lebenden  Europäischen 
Sprachen;  and  dör  ist  der  Ton  Hiobs,  der  Propheten  und 
Psalmen.  Mihon  hat  -ihn  insonderheit  in  sein  unsterblich 
Qcdicht  eingcwcbct;  mit  schwächern  Tritten  betrat  Thom- 
son seine  Spur  und  bei  uns  hat  ihn  Kleist  sehr  philoso- 
phisch verschönert.  Diesen  Ton,  diese  Bilder  sind  wir 
der  Ebraischen  Einfalt  schuldig."  In  einer  Anmerkung 
lügt  Herder  noch  hinzu:  „Es  sollte  hier  Miltons  Hymnus 
auf  alle  Qeschöpfc  der  Natur  oder  Adams  Morgengesang 
(Paradisc  lost  B.  Vi.)  stehn;  er  mußte  aber  wegbleiben,, 
weil  er  zu  lang  ist  und  im  Ganzen  doch  nur  die  Bilder 
des  104.  und  148.  Psalms  wiederholet."") 

Weil  im  Geiste  der  hebräischen  Pocbie  i^eschrieben» 
erschien  Herder  das  V.  P.  als  ein  großes  Dichtwerk.  Des- 
wegen gefallt  ihm  auch  die  Paradiesszene  (XI,  327/8). 

Aber  bei  ihm  ist  das  ästhetische  Verständnis  höher 
entwickelt  als  bei  Bodmer.  Allerdings:  Wie  der  Zürcher 
Kritiker  sieht  er  nur  das  A.  T.  im  V.  P.,  aber 
er  ist  sich  dessen  bewußt,    und   wenn  er  es   ein  großes 

■*)  Schon   ganz  früh  hatte  sich  Herder    dafür    begeistert,, 
vgl.  IV,  254. 

'')  Vgl.  Suphans  AnmerkuriK  zu  dieser  Stelle. 


-    81     - 

episclics  üediclu  nennt,    >o   uit   -.t    das.    wcjl   er   »ntor 
episch  etwas  anderes  versteht  als  wir 

Qegen  Schwächen  im  Werke  war  er  schon  früh 
nicht  blind.  In  der  A  II  ß  c  ni  c  ?  n  c  r.  Deutschen 
Bibliothek  {!767.  1770)  machte  ci  auf  die  dogmati- 
schen Stellen  aufmerksam:  »Homur  hatte  keine  solche; 
V  i  r  g  i  1  hr.be  sie  weniger:  uno  bei  S\  i  1 1  o  n »  bei  Dante, 
bei  A  r  i  0  s  t  müssen  wir  sie  —  übersehen  Zur  Epopcc 
selbst:  schüren  sie  nicht:  si-c  schv.ächcn  den  beständis: 
fortwailendun  Kpisclicn  Ton     .  /'  (IV,   l%5,} 

Und  Herder  sah  über  sie  hhiwegv  wie  auch  über  das 
ganze    epische    Gerüste.     ..Wo  Ml! ton  TeufcIsbrOcken 
bauet,  rührt  er  nicht"  (VIU.  422),  sagic  er  v;nd  hielt  sich 
an  die  wenigen  Stellen,    die  ihm    zusagten. 
1778  sclirieb  er  in  U  c  b  e  r  die  W  ü  r  k  ü  n  2  der  Dicht- 
kunst a  n f  die  S i  1 1  cn   der  \^  ö i  k e  r  in  alten  und 
neuen    Zeiten    (Vlll,    4!8/:    .Mit    Scheu    setze    ich 
Shakespear  und  A\ i  1 1 o n  neben  einander.  Der  zweite 
an  Poetischer  Kraft  jenem  sc  unierlc>ren,  ersetzte  schon 
durch  Dichtunj;.    durch  leere    ofi  ungeheure  fikticn  und 
durch  klaßische  Rundigkeit  und  Feinheit  (welches  beides 
er  aus  Italien  holte),  was  ihm  an  Kraft,  durch  erste  Natur 
und  Wahrheit  zu  rühren  und  za  'Aürcken,  abging/'    Denn 
das  w  e  n  i  g  ..natürliche'*  in  ;s\  i !  t  o  n  "Aar  hebrä- 
isch, das  andere  „D  i  c  h  t  u  n  g",  weshalb  Merder  in 
den    Fragmenten    über    die    beste    Leitung 
eines  jungen   Genies    zu  den  Schütrcn  der 
Dichtkunst  (IX,  543)  sagen  !:onnt.'r    „Es  kennen  nie 
größere  Kontraste  in  der  Well  entsteh  jn,  als  O  ß  i  a  n  und 
M  i  1 1 0  n  ,  in  dem  was  Dichtung  ist;  und  in  mehr  als  Sinem 
Gesichtspunkte  werden  Zeiten  kommen,  die  da  sagen:  Wir 
schlagen  Homer,  Virgil  und  M j  1 1 o n  zu.  und  richten 
aus  0  ß  i  a  n."     Dieser  ist  für  Herder  wie    die  Bibe!  „ur- 
sprünglich". 

Pikio,  Mllton  6 


Viertes  Kapitel 

Sturm  und  Drang 

I. 

Als  1773  die  letzten  Gesänge  von  Klopstocks  Messias 
erschienen,  da  „schlug  die  Qliith  der  jugendlichen  Begei- 
sterung auch  an  ihnen  in  neuen  Flammen  empor,  und  wäh- 
rend das  übrige  Deutschland  diesen  Schluß  des  Messias 
ziemlicii  lau  und  mit  einer  Art  von  Krmattung  hinnahm, 
steiften  die  Qüttinger  sich  darauf,  ihrerseits  in  der  Auf- 
nahme auch  dieser  letzten  Gesänge  nicht  zurückzubleiben 
hinter  der  dankbaren  Vergültcrung,  mit  der  einst,  ein  Men- 
schcnalter  zuvor,  eine  andere  Qeneration  die  ersten  Qe* 
sänge  empfangen  hatte."  *) 

Milton  erging  es  wieder  wie  zu  Bodmcrs  Zeiten. 
H.  Christian  Boie,*)  Voli  und  seine  Freunde*)  hatten  ihn 
in  ihrer  Jugend  begeistert  gelesen,  aber  er  mußte  bald  wie- 
der dem  Deutschen  weichen.  „Was  ist  Milton,  Ossian,  was 
Virgil  und  Homer"  gegen  den  Messiassänger?  fragt  Voü  im 
März  1773  einen  Freund.*)  Und  in  jenen  Jahren  urteilten 
Joh.  M.  Miller,  L.  Hrch.  Chr.  Mölty,  Joh.  F.  Hahn,  die  bei- 


^)R.  E.  Prutz,  Der  Oüttinger  Dichterbund, 
Zur   Qescliichte   der   deutschen   Literatur,   Leipzig   1841,   p.   246. 

»)Karl  Weinhold,-  H.  Christian  Boie,  Halle 
1868.  p.  8. 

5)  W  i  1  h  e  1  m  Herbst,  Joh.  Heinrich  V  o  ß  ,  1.  Bd. 
Leipzig  1872,  p.  52. 

*)  Herbst.  1.  Bd.,  p.  103. 


—.    83    — 

den  Stolbcrg  nicht  anders/)  1780  92  gab  C.  F.  Cramer 
seiner  Vergötterung  Klopstocks  Ausdruck.*)  C.  V.  l).  Schu- 
bart sagte:  „Er  (Kiopstock)  kommt  nicht  nur  den  größten 
Genies,  die  jemals  gelebt  haben,  einem  Homer,  Shake- 
speare, Dante  und  Milton  vollkommen  gleich,  sondern  über- 
trifft sie  an  Empfindung  und  Erhabenheit."')  In  seinen 
Gedichten  erinner::  Schubart  nur  einmal  an  Milton.  in  sei- 
nem „Ein  Blick  ins  AI  1",  wo  er  auf  die  Schöpfungs- 
geschichte zu  sprechen  kommt.')  Das  Zeitalter  Klopstocks 
war  für  ihn  die  goldene  Ära  der  deutschen  Literatur.  An- 
fangs der  siebziger  Jahre  klagt  er:  „Wie  herabgesunken 
unsre  Dichter  von  der  Würde  der  biblischen  Seher,  von 
der  Sonnenhöhe  Homers,  Ossians*  Shakcspcar.s.  Miltons, 
Youngs,  Bodmers,  Klopstocks!"  *)  Darin  schlössen  sich  ihm 
der  Ossianübcrsetzer  Michael  Denis   an.  Dusch,  der  1770 

*)  Muncker,  Kiopstock,  p.  439. 

•)  C.  1*.  Cramer,  Kiopstock.  Kr  und  über   ihn. 

')  C.  D.  V.  S  c  h  u  b  a  r  t  des  Patrioten  k  c  s  a  in  - 
ni  c  1 1  e  Sctiriftcn  und  Schicksale,  Stulti^art  iK39,4U, 
3d.  6,  p.  36/37. 

*)  VkI.  Siimtliche  Qcdichtc.  !.  Bd.,  SiuJtKart  l'hS, 
).  436—453. 

")  0  c  s  a  ni  11)  e  I !  e  Schriften  und  Schicksale, 
I.  Bd.,  p.  286.  —  Bd.  2.,  p.  147  erzählt  sein  Sohn  von  ihm:  „Nächst 
dem  Messias  rccitirte  er  am  liebsten  Steiler:  aus  Lutiicr»; 
Bibel:  aus  dem  Dante  und  dem  :!öttlichcn  Mitton*'.  Bd.  b, 
p.  39  fl  druckt  er  Bodmers  ersten  neuen  kriiischen  Brief  ab.  in 
svelchcm  der  Eindruck  geschildert  ist.  den  das  V.  I>.  auf  Klop- 
stock  machte,  vgl.  oben  p.  35  f.  Ebd.,  p.  133  meint  er,  Miliou 
^abe  durch  (jelehr.<;amkcit  Rcwiß  seinem  göulichen  Oedicht  v:e- 
ichadct.  Bd.  7,  p.  224,  schreibt  er  an  Wicland  unterm 
20.  Juni  1764  im  Tone  der  früheren  Schwärmer:  «Or esset, 
QIcim,  Lessing,  Weiß,  Qerstcnbcrir  —  und 
Milton,  Kiopstock,  Younj:  und  Sic!  —  welch 
ein  Contrast!  Jene  blieben  bei  den  Quellen  stehen  und  »»chlum- 
merten  bei  ihrem  Rieseln  ein;  —  und  diese  hatten  Oceane  vor 
sich,  aus  welchen  Sie  allein  die  erhabensten  und  der  Unstcrb«- 
lichkeit  würdigsten  Gedanken  schöpfen  konnten".  G* 


^    84    -^ 

die  Idee  einer  christlichen  Mythologie  wieder  aufnahm,") 
und  Jolh  Georg  Schlosser,  der  in  seinem  Versuch  über 
das  Erhabene  Klopstock  weit  über  Milton  stellt, 
weil  er  ein  Dichter  des  Herzens  sei.")  Was  waren  diesen 
Homer,  Shakespeare,  Milton  wohl  anderes  als  Seher? 

Doch  erlebte  auch  die  von  Lessing  eröffnete  realisti- 
sche Richtung  ihre  Blütezeit. 

In  ihren  jungen  Jahren  sind  Stürmer  und  Dränger  wie 
Lenz  und  Müller  zwar  noch  von  den  Patriarchaden  und 
Klopstock  beeinflußt.  Dann  aber  schlagen  sie  neue  Wege  ein. 

J.  M.  R.  Lenz  zeigt  in  seinen  Jugendgedichten  die  Ein- 
wirkung Klopstocks.^')  Youngs,")  Kleists,")  Thomsons,  der 
Bibel,  Homers^")  und  Bodmers.'")  In  seinen  Land- 
plagen (1769)  Soll  ihm  auch  Milton  vorgeschwebt  haben.") 
Direkter  Einfluß  Miltons  läßt  sich  wohl  nicht  nachweisen, 
auch  wenn  er  im  5.  Buche  (Die  Wassernoth)  ausruft*. 

seid  mir  gegrüßet. 
Seid  mir  paradiesische  Szenen  gegrüßet.     Auf  weichem 
Rasen  will  ich  hier  sitzen  und  alle  Gerüche  des  Frühlings 
Einziehn "  ") 


^")  Briefe  zur  Bildung  des  Qeschmacks  an 
einen  jungen  Herrn  von  Stande,  4.  Theil,  Leipzig 
und  Berlin  1770,  p.  127. 

")  In  seinem  der  Lo  ngi  n  ü  he  r  se  t  zu  n  g  (Leipzig  1781) 
nachgedrucktem  Versuch  über  das  Erhabene,  p. 
301/2. 

")  Vgl.  ().  A  n  w  a  n  d  ,  Beitrüge  zum  Studium  der 
Gedichte  von  J.  M.  R.  Lenz,  München  1897,  p.  25 f.  33. 

'")  ebd.,  p.  .^.2  f. 

'*)  ebd.,  p.  7ü. 

")  ebd.,  p.  80  i. 

*•»)  Hier  vereinige  sich  das  Vorbild  Klopstocks  zugleich  mit 
dem  Thomsons  und  AMltons,  sagt  0.  F.  Gruppe,  Reinhold 
Lenz,  Leben  und  Werke,  Berlin  1861,  p.  247. 

»n  J.  M.  R.  Lenz.  Gesa  mm  che  Schriften,  hsg. 
V.  F  r  a  n  z  H  !  cl ,  München  und  Leipzig,  1909  f,  p.  39. 


-.    85    -- 

177vS  betrat  Maler  Müller  mit  seinen  Idyllen 
GcBiicrs  (jcbict.  War  die  cntrianimcndc  Cinicituns:  zu 
Adams  erstem  Erwachen  und  ersien  scli- 
genNächten  (1778)  Miiton  oder  Gcßner  nach:::cMldet?"') 
Auch  bei  Müller  erzähle  Eva  ihr  erstes  Erwachen: 

„Es  war  noch  todtes  Leben,  v/ar  noch  lebendi;^cr  Tod, 
meine  Seele  schlummerte  noch,  meine  Sin:ie  alle  noch  ge- 
schlossen. Bald  aber  erwacht'  ich  weiter,  meine  Sinne  er- 
öffneten sich  mehr,  klarer  murmelten  Jetzt  die  Bäche  vor 
mir,  die  Winde  rauschten  lieblicher,  neben  mir,  über  mir  in 
den  Büschen,  in  den  Cedern,  alles  so  wundersam,  alles  — 
ha!  daß  ichs  einmahl  ganz  aussagen,  hinlallen  könnte!  Die 
"Winde  rauschten  so  lieblich!  Bache  murmelten  so  klari 
Die  schönen  lebendigen  Bäume  vor  meinen  Augeni  Das 
Qebrüll  der  Thierc  in  meinen  Ohren!  alles,  so  fremd  und 
doch  mir  einfü!ilend,ganz  mir  vcrwandi**.'*)  Auch  die  Stelle, 
"WO  Gott  den  schlafenden  Adam  mit  der  Sehnsucht  nach 
Eva  erfüllt.'")  hat  Miiton  zum  Vorbild. 

Miiton,  Young,  Thomson  waren  für  den  jungen  Lenz 
Autoritäten."*)  Als  er  aber  mit  Herder  zusammenkam,  er- 
schloß ihm  dieser  die  Bibel.  Lenz  „sieht  in  ihr  ein  Denkmal 
der  Volkspoesie,  stellt  sie  auf  eine  Stufe  mit  Homer,  und 
"betrachtet  sie  mit  den  Augen  Goethes  und  Herders".*')  In 
Herderscher  Beleuchtung  lernt  er  die  Volkspoesie  kennen, 
Homer  und  Shakespeare. 

Shakespeares  Menschenkenntnis  offenharte  den  Stür- 
mern und  Drüngern  eine  neue  Welt.    Das  Seraphische  zog 

")  Vk'l.  Bernhard  :?cuf(cr*,  Maler  Möller. 
Berlin  lh77,  p.  118. 

'")  Maler  Müllers  Werke,  l.  Bd..  HcidcIlKiji  IMI. 
p.   15/U). 

»")  ebd.,  p.  87  i. 

=*»)  Vel.  M.  N.  Rosanow.  Jakob  M.  R.  Lcni.  LclpiiR 
1909.  p.  77. 

")  ebd..   p.    108. 


•  —    86    — 

sie  nicht  mehr  an.  „Aber  vergiß  nicht,  Liebchen'*,  schreibt 
Lenz  im  März  1776  an  Herder,  da  er  die  Distanz,  die  sie 
trennt,  bci^laKt:  „daß  wir  auch  Thiere  bleiben,  und  nur 
Klopstocks  Engel  und  Miltons  und  Lavaters  Engel  auf  den 
Sonnenstrahlen  reiten.  Ich  bin  stolz  darauf,  Mensch 
z  u  sein."  "^) 

Wie  für  Herder  blieb  auch  für  Lenz  Milton  ein  großer 
Dichter.  Im  Gedichte  Ueber  die  deutsche  Dicht- 
kunst wird  er  unter  den  großen  Geistern  angerufen,") 
und  noch  in  spätem  Jahren  macht  Lenz  seinen  jungen  russi- 
schen Freund  Karamsin  auch  auf  Milton  aufmerksam.") 

Aber  die  neuen  Muster  verdrängten  den  chemaligert 
Abgott  aus  dem  Bewußtsein  der  Stürmer  und  Drünger,. 
Der  Name  blieb  /war,  doch  wem  bedeutete  er  noch  ein 
Erlebnis? 

In  der  Bibel,  im  Volkslied  fand  man  „ursprünglichere*'' 
Naturbeschreibungen»  in  diesem  bodenständigere.  Das 
Naturgefühl  fing  an  sich  vom  Dogma  zu  emanzipieren.  In 
Herder  begegnen  wir  zum  erstenmal  dem  Versuch,,  die  so- 
genannten mythologischen  Vorstellungen  für  sich  zu  ge- 
nießen.   Solcher  Bilder  gibt  es  auch  im  V.  P.,  aber  noch 


'^^)  Aus  Herders  Nachlaß,  hsg.  v.  Heinrich 
Düntzer  und  Ferdinand  Gottfried  Herder,  I.  Bd. 
Frankfurt  1856,  p.  240. 

'''*)  Werke,  ed.  Blei.  p.   148: 
0  Homer,  o  Ossian,  o  Shakespeare, 
0  Dante,  o  Ariosto,  o  Petrarcha, 
O  Sophokles,  o  Milton,  o  ihr  untern  Geister  — 
0  ihr  Pope,  ihr  Horaz,  ihr  Polizian,  ihr  Prior,  ihr  Wallerl 
Gebt  mir  tausend  Zungen  für  die  tausend  Namen, 
Und  jeder  Name  ist  ein  kühner  Gedanke  — 
Ein  Gedanke  —  tausend  Gedanken 
Unsrer  heutii:en  Dichter  wert. 
")  1787  schrieb  Karamsin  sein  Gedicht  Poesie  (1792 
sedruckt),  wozu  ihn  Lenz  anceregt  und  worin  auch  Milton  ge- 
priesen wird.    V>:1.  Rosanow,  p.  430. 


—    87    - 

m  c  li  r  in  der  Spruche  der  Bibel,  des  Volksliedes.  Ossians, 
Shalsespeares. 

Mit  dem  erwachenden  realistischeren  Sinn  konnte  sich 
die  Miltonsche  ü  ö  1 1  c  r  w  c  1 1  nicht  vertragen. 

Nur  eines  Stürmers  und  Drängers  Weit  war  von  den 
Engeln  des  V.  P.  crfülli:  Carl  Philipp  .Moritz*.  1783  er- 
schienen zu  Berlin  seine  Reisen  eines  Deutschen 
in  Kngland  im  Jahr  1782,*')  in  denen  auch  Milton 
eine  große  Rolle  spielt. 

In  London,  erzählt  Moritz,  kauft  er  sich  für  zwii 
Schillinge  einen  Taschenmilton  (p.  25).  der  ihn  nun  während 
seines  ganzen  englischen  Aufenthaltes  nicht  verläßt.  Schon 
in  London  liest  er  gern  darin  in  der  nichterccke  der  West- 
minsterabtei  (p.  60).  Wenn  er  nach  Richmond  fahri,  nimmt 
er  seinen  Milton  mit  sich  (p.  61).  und  auf  seiner  Fußwande- 
rung nach  Oxford  ruht  er  gern  mit  ihm  in  einer  ..schonen 
grünen  Hecke"  aus  (p.  68).  Gehend  und  stehend  liest  er  in 
ihm  (p.  87). 

Womit  erfüllt  denn  Milton  seine  Phantasie  besonders? 
Hören  wir  ihn.  wie  er  seine  Ankunft  in  Matlock  beschreibt 
(p.  112): 

„Oben  war  der  jähe  Felsen  mit  grünem  Ge.sträuch  um- 
kränzt, zuweilen  kam  ein  Schaf  oder  eine  Kuh  von  der 
weidenden  Hecrdc  an  den  steilen  Abhang»  unc'  blickte  durch 
das  Gesträuch  hinunter, 

„Ich  war  in  Miltons  verlornem  Paradiese,  das  ich  nach 
der  Reihe  durchlese,  gerade  bis  an  die  Beschreibung  des 
Paradieses  gekommen,  als  ich  in  diese  Gegend  kam.  und 
folgende  Stelle,  die  ich  nun  im  Grunde  am  Ufer  des  Flusses 
las,  that  eine  sonderbare  Wirkung  auf  mich,  da  sie  auf  die 

**)  Deutsche  Litcra  turdcnkmalc  No.  \26  (Dritte 
FoUe,  No.  6),  hsK.  von  Otto  zur  Linüc,  Berlin  1903.  Dar- 
nach sind  die  folscndcn  Zitate. 


—    88    — 

Natursccne,  die  ich  hier  vor  mir  sähe,  so  sehr  paßte,  als  ob 
sie  der  Dichter  selbst  davon  genommen  hätte: 

„  delicious  Paradise, 

Now  nearer  crowns  with  her  Enclosure  green, 
As  "wlth  a  rural  Mound,  the  Champain  Head 
Of  a  stccp  Wilderncss,  Whose  hairy  sides 
With   Thickct   overgrown,   grottcsqye   and   wild, 

Access  denicd. "  ") 

Und  noch  einmal  in  Northhampshire  sieht  er  die  Natur 
mit  Miltons  Augen  (p.  132): 

„Da  ich  nun  von  da  weiter  ging,  und  die  Berge  wieder 
vor  mir  aufstiegen,  welche  mir  von  meiner  Hinreise  noch 
bekannt  waren,  las  ich  gerade  im  Milton  die  Schöpfungs- 
scene,  welche  der  Engel  dem  Adam  schildert,  wie  sich  das 
Wasser  senkt,  und  die  nackten  Berge  ihren  breiten  Rücken 
emporheben. 

„Immediately  the  Mountains  huge  appear 
Emergent,  and  their  broad  bare  Backs  upheave 
Into  the  Clouds,  their  Tops  asccnd  the  Sky."  '^) 
„Mir  war  es,  indem  ich  diese  Stelle  las,  als  ob  alles, 
was  um  mich  her  war,  erst  wurde,  und  die  Berge  schienen 
wirklich   vor  meinen   Augen   emporzusteigen,    so    lebhaft 
wurde  mir  diese  Sccne. 

„Etwas  ahnliches  empfand  ich  bei  meiner  Herreise,  da 
ich  gerade  einem  Berge  gegenüber  saß,  dessen  Spitze  blos 
mit  Bäumen  bewachsen  war,  und  im  Milton  die  kolossali- 
sche  Beschreibung  von  dem  Streit  der  Engel  las,  wo  die 
abgefallenen  Engel  ihre  Gegner  mit' einem  starken  Bombar- 
dement angreifen,  diese  sich  aber  dagegen  vertheidigen,  in- 
dem ein  jeder  einen  Berg  gleichsam  oben  beim  Schopf  er- 
greift, ihn  mit  der  Wurzel  ausreißt,  und  so  in  seinen  Händen 
aufgehoben  trägt,  um  ihn  auf  die  Feinde  zu  schleudern. 


-')  P.  L.  IV,  132  ff. 
")  P.  L.  VII.  285  ff. 


—    89    — 

,. they  ran,  they  flew 

From  thcir  Foundations  loos'ning  to  and  fro 
They  pluck't  thc  seated  Hills  will  all  their  Load. 
Rocks,  Waters,  Woods,  and  by  ihc  shajrjo  Tops 
UpliftinjT  bore  them  in  thcir  Hands. ^*) 

„Mir  däuchte,,  als  sähe  ich  den  Enjrcl  stehen,  wie  er 
den  Berg,  der  vor  mir  lag,  in  den  Lüften  schüttelte." 

So  tief  hatte  ein  Bodmer  die  Miltonschen  Darstellungen 
nicht  erfaßt.  In  seiner  Fähigkeit,  die  Katur  zu  beleben,  ist 
Moritz  ein  echter  Stürmer  und  Dränjicr.  aber  noch  r.ai 
sich  ihm  die  Natur  nicht  selber  offenbart.  Kr  sieht  sie 
durch  das  Medium  einer  Drittperson,  in  diesem  Falle 
Miltons. 

Die  Schüler  Herders  jedoch  gingen  direkt  auf  die  Na- 
tur zurück.  Deshalb  sagte  ihnen  auf  einmal  die  ganze  .N\il- 
tonsche  Mythologie  in  ihrer  zu  großen  Abstraktheit  nichts 
mehr.  Wir  hören  kein  Wort  über  sie  in  diesen  Jahren;  sie 
mußten  sie  als  Unnatur  beiseite  lassen. 

Der  realistische  Ton  von  Goethes  ewigem  Juden 
entsprach  dem  Geschmack  jener  Zeit.  Wie  ein  Bänkel- 
sängerlied hebt  das  Gedicht  an,  humcrvoli  stellt  es  uns 
Gottvater  und  seinen  Sohn  vor.  Und  doch,  welcher  Christus 
erfüllt  uns  mit  mehr  Innigkeit,  der  Miltonsche,  der  sich 
unter  dem  Jubel  des  Himmels  zum  Opfer  für  den  Menschen 
entschließt,  oder  der  Goethesche,  von  dessei\  Niederfahrt 
zur  Erde  nur  wenige  Verse  erzählen: 

„Er  fühlt  in  vollem  Himmelsflug 
Der  Irdischen  Atmosphäre  Zug. 
Fühlt  wie  das  reinste  Glück  der  Welt 
Schon  eine  Ahnung  von  Weh  enthält. 

=•)  P.  L.  VI.  642  ff. 


.  _    90    — 

Er  denkt  an  jenen  Augenblick, 

Da  er  den  letzten  Todesblick 

Vom  Sclimcrzen-Hügcl  herab^^ethan, 

Fieng  vor  sich  hin  zu  reden  an: 

Sei,  Erde,  tausendmal  gegrüßt! 

Gesegnet  all',  ihr  meine  Brüder! 

Zum  ersten  Mal  mein  Herz  ergießt 

Sich  nach  dreitausend  Jahren  wieder, 

Und  wonnevolle  Zähre  fließt 

Von  meinem  trüben  Auge  nieder. 

O  mein  Geschlecht,  wie  sehn'  ich  mich  nach  dir!'* 

Gegen  diese  paar  Verse  können  auch  die  „hosannas", 
die  die  ewigen  Regionen  zum  Preise  des  Sohnes  erfüllen, 
nicht  aufkommen. 

Nachdem  sich  einmal  der  Geschmack  dem  Menschlichen 
zugewandt  hatte,  fanden  auch  die  im  Vergleich  zu  den  Klop- 
stockschen  realistischeren  Engel  des  V.  P.  selten  Bewunde- 
rung. Denn  für  Engel  überhaupt  war  die  neue  Zeit 
nicht  mehr  zu  haben.  Immer  seltener  werden  die  Leute, 
die  sich  für  sie  erwärmen.'"')  1779  tritt  der  unbekannte  Ver- 
fasser der  Betrachtungen  über  die  englischen 
Dichter  für  die  Göttlichkeit  des  V.  P,  ein.  Seine  Ideen 
•werden  aber  von  der  Allg.  DeutschenBibliothek, 
Bd.  44  (1780),  p.  105 f.  abgelehnt  und  im  Teut sehen 
Merkur  (38.  Bd.  1780,  II.  Vierteljahr,  p.  250)  „fichief" 
genannt.  Zeigt  er  doch  gerade  für  das  Realistische  im  Epos 
kein  Verständnis  (p.  697,  p.  71). 

Die  religiöse  Vergötterung  Miltons  hatte  sich  überlebt. 


•"'*')  <^aroline  Pichler,  geb.  von  Greiner,  ei zühit  in 
ihren  Denkwürdigkeiten  aus  meinem  Leben.., 
Erster  Band  (1769—1798),  Wien  1844,  p.  81/82,  wie  ihr  kindliches 
Herz,  von  Miltonschen  Vorstellungen  ergriffen,  sich  den  Engel 
Ithuriel  zum  Schutzengel  erkor. 


—    91    -* 

II. 

Herder  zok  die  Bibel,  die  VolksdichtunK.  Shake- 
speare Milton  vor/')  Lenz  fand  mir  noch  im  mensch- 
ücheri  Herzen  mit  seinen  Leidenschaften  einen  Gci:enstand 
seines  Interesses.     Was  konnte  da  Muten  noch  bieten? 

In  Lessink's  poetischer  Theorie  halte  das  V.  P.  noch 
eine  sroüc  Rolle  gespielt,  Gerstenber}:  hatte  mit  eben- 
bürtigem Verständnis  das  Grolic  in  Miltons  Göttern  er- 
kannt, war  aber  nicht  wie  Lcssing  weiter  auf  das  Werk 
cinKcjiangcn. 

Lessings  Urteil  war  es  nicht  wie  dem  Bodmerschea 
vergönnt,  auch  in  weitere  Kreise  zu  gelangen.  Denn  der 
Realismus  entwickelte  sich  weiter.  Von  den  natürlich  un- 
sichtbaren Göttern  des  großen  Kritikers  drängte  Herder  zur 
Naturmythologie,  und  damit  war  es  um  Miitcns  Kngei  ge- 
tan, in  ihrer  Doppelexistenz  als  konkrete  und  abstrakte 
Wesen  (und  nichts  haßten  Herder  und  seine  Schule  mehr  als 
abstrakte  Geschöpfe)  boten  sie  den  Stürmern  und  Drän- 
gern nichts  mehr.  Nur  in  Übergangsptrsoncn  wie  Moritz 
konnten  sie  noch  als  mythologische  Geschöpfe  leben- 
dig sein.  Sie  wurden  in  diesen  Jahren  jedoch  nicht 
theoretisch  abgetan,  sondern  das  Interesse  an  ihnen 
fiel  einfach  dahin.  Für  Herder  blieb  Milton  der  große  Epi- 
ker wegen  seiner  biblischen  Sprache.  So  auch  zum  großen 
Teil  für  Lenz. 

Im  Bewußtsein  anderer  Stürmer  und  Dränger  lebte  der 

'^)  J  0  h.  K.  L  a  V  a  t  c  r  wollte  nur  den  einfachen  Qchalt  der 
Bibel.  „Ihr  O  s  s  i  a  n  e  und  Shakespeare,  ihr  M  i  1 1  o  n  c  und 
Klopstockc.  was  habt  ihr,  ihr  alle  zusammen,  was  scwirkt, 
das  mit  den  WirkunKcn  zu  vcrRlcichcn  sei,  welche  bereits  vor 
siebenzehnhundcrt  Jahren  die  vier  kunst-  uud  schwun^Moscn Poeten 
Matthäus,  Markus,  Lukas  und  Joh.-xnncs  hervor- 
gebracht haben?"  (Lavaicrs  ausccw.  Schriften,  hsc 
V.  Jöh.  K.  Orelli,  Zürich  1860,  3.  Bd..  p.  133).  Kunst-  und 
schwunclos  wollte  L.  in  seinen  £i>cn  sein. 


—    92    — 

eriKlischc  Kpikcr  nur  noch  in  seinem  menschlichsten,  d.  h. 
höllischen  Teile  fort:  in  Satan. 

In  seiner  Ausgabe  der  A  e  n  e  i  s  (Leipzig  1767—1775) 
sagt  der  Altphilologe  Chr.  Q,  Heyne  bei  Anlaß  der  Schil- 
derung des  Tartarus  im  6.  Buche:  „Fatendum  lamen,  haec 
omnia  iiiferiora  esse  terroribus  Tartari,  quem  Miltonus 
descripsit.  et  Teutonum  Miltonus  Messiadis  conditor." 
(Ich  zitiere  nach  A.  Farinelli,  Bullettino  della  Societä  Dan- 
tesca  Italiana,  Glugno   1909,  f.  2,  p.  101.) 

Aber  wer  jubelte  dem  gefallenen  Engel  zu,  der  seine 
stolze  Stirn  gegen  den  Herrn  der  Welt  erhoben?  Der  Maler 
Müller  fühlte  sicherlich  seine  Größe,  als  er  seinen  Lucifer 
unwillig  ausrufen  Heß:  „.  .  .  lohnt  sich  der  Mühe  nicht 
mehr,  den  Teufel  unter  diesen  vermatschten  Weltkindern 
zu  spielen,  die  nicht  mahl  mehr  volle  Kraft  zum  Sündigen 
übrig  haben".") 

Unter  den  Teufeln  der  damaligen  Faustdramen  dür- 
fen wir  allerdings  kaum  geistige  Nachfahren  der  Milton- 
schen  Gestalt  suchen.  In  der  Volkstradition,  dem  Quell  der 
Poesie  jener  Zeit,  war  der  Böse  eine  absolut  negative 
Kraft.")  Die  Sage,  Paracelsus,  Swedenborg  zeichneten 
dem  Goeiheschen  Mephisto  den  Weg  vcr. 

Aber  die  Lieblingspersonen  der  Stürmer  und  Dränger, 
die  Herders  Vorurteile  nicht  mehr  hatten,  eignete  ihnen 
nicht  der  Stolz,  die  Größe,  der  Unabhängigkeitstrieb 
Satans? 


")  Werke.    2.  Bd.,    Heidelberg  1811,  p.  16. 

*")  So  suchte  C  h.  W,  K  i  n  d  l  e  b  n  in  seinem  vielgelesenen 
Buch  Ueber  die  Non -Existenz  des  Teufels  (Berlin 
1776)  die  Geistißkeit  des  Teufels-  zu  erweisen.  Als  rein  necative 
Kraft,  als  Geist  der  Kabale  u.  ü.  ist  Satan  dargestellt  in  C  r  a  n  - 
Ä  e  n  s  Buch  Qallerie  der  Teufel,  bestehend  in 
einer  auserlesenen  Samlung  von  Qemilhlden 
moralisch  politischer  Figuren,  deren  Origi- 
nale   zwisclien  Himmel    und  Erden    anzutreffen 


—    93    ~ 

Dem  junRcn  Goethe  brachten  auch  diese  EiRenschaften 
Milton  nicht  näher.'*)  Er  zog  Prometheus  dem  ge- 
fallenen Engel  vor. 

Im  111.  Theil  von  Dicht  unj;  und  Wahr- 
heit. J5.  Buch,  sagt  er  später;  ..Die  Titanen 
sind  die  Folie  des  Polytheismus,  so  wie  man  als  Folie 
des  Monotheismus  den  Teufel  betrachten  kann;  doch  ist 
dieser  so  wie  der  einzige  Gott,  dem  er  entgegensteht,  keine 
poetische  Figur.  Der  Satan  Miltons,  brav  genug  gezeichnet, 
•bleibt  immer  in  dem  Nachtheil  der  Subalternität,  indem  er 
die  herrliche  Schöpfung  eines  oberen  Wesens  zu  zerstören 
sucht,  Prometheus  hingegen  im  Vorthcil,  der.  zum  Trutz 
höherer  Wesen,  zu  schaffen  und  zu  bilden  vermag.*'  .... 

„Der  titanisch-gigantische  himmclstürmendc  Snin  jedoch 
verlieh  meiner  Dichtungsart  keinen  Stoff.  Eher  ziemte  sich 
mir,  darzustellen  jenes  friedliche,  plastische,  allenfalls  dul- 
dende Widerstreben,  das  die  Obcrgcvali  unerkannt,  aber 
sich  ihr  gleichsetzen  möchte.  Doch  auch  die  kühneren 
jenes  Geschlechts,  Tantalus,  Ixion.  Sisyphus»  waren  meine 


sind,  nebsi  einigen  bewährieu  Reccptcn,  cc- 
gen  die  Anfechtungen  der  bösen  Qcisicr  von 
Pater  Qassner  dem  Jüngern,  Krstcs  Stück.  Frankfurt 
und  Leipzifir  1776.  Da  erinnert  Saian  nur  einmal  an  den  Miltoii- 
schen,  wem  er  wie  bei  .N\ilton  eine  Rede  hä!i,  in  der  er  seine 
Getreuen  an  die  vergangenen  Kämpfe  erinnert  usw.  «p,  101.) 

")  Wir  haben  kein  Anzeichen  daföw  daß  sich  der  junec 
Goethe  für  Milton  erwärmt  hätte.  Er  erwähnt  ihn  ilüchtic  in 
einem  Briefe  an  die  Schwester  vom  27.  Sept.  1766  (Wcim.  Ausß. 
IV,  1.  p.  71)  als  Dichter  des  hohen  Stils  neben  Younf:  usw.  In 
den  Frankfurter  Gelehrten  Anseilen  (1772»  ruf»,  er 
als  echter  Schüler  Herders  aus:  „Geliert  isi  gcwiQ  kein  Dichter 
auf  der  Scala,  wo  OQian,  Klopstock.  Shakespeare  und  .Mihon 
stehen"  (D.  L.  D.  7,  p.  99).  Für  Ar..->pic!unKen  vgl.  Jubiläums- 
ausg.  VII,  196  und  359,  vgl.  auch  Regisier.  Klopsiocks  Einfluß 
hatte   der   Knabe    Goethe   hingegen   bckanntliJi    erfahren. 


—    94    — 

Heiligen.  In  die  Gesellschaft  der  Götter  aufgenommen, 
moclitei;  sie  sich  nicht  untergeordnet  genug  betragen,  als 
übermiithige  Gäste  ihres  wirthlichen  Gönners  Zorn  verdient 
und  sich  eine  traurige  Verbannung  zugezogen  haben.  Ich 
bemitleidete  sie;  .  .  ."  (Werke,  Weimarer  Ausgabe,  28.  Bd., 
p.  313/4.) 

Goethes  Prometheusfragment  ist  der  Ausfluß  des  über- 
mächtigen Schöpfcrgefühls,  das  den  Schüler  Herders  be- 
seelte. Obgleich  Milton  die  griechische  Sagenfigur  vor- 
.•schwebte,  so  verändert  er  sie  doch  nach  der  negativen 
i^ichtunK  hin.  Reiner  Stolz,  nicht  Schöpferlust  ist  der  Grund 
von  Satans  Abfall.  Deshalb  erschien  er  Herder  als  ein 
„Ungeheuer''.  Aus  demselben  Grunde  sagte  er  Goethe  nicht 
zu.  Ab'jr  durfte  ihn  dieser  daher  eine  unpoetische  Figur 
nennen?  Konnte  nicht  auch  der  bloße  unbeugsame  Stolz 
eine  diciiterische  Verkörperung  erfahren?  Waren  Goethe 
und  sein  Lehrer  nicht  ungerecht  gegen  die  wirklich  tita- 
nisch-gigantische Gestalt,  weil  sie  für  sie  zu  wenig  fried- 
lich, zu  wenig  „plastisch"  war?  Entging  nicht  ihren 
anders  gearteten  Naturen  das  wirklich  Plastische  in 
Satan? 

Miltons  Satan  appelliert  allerdings  nicht  an  unser  Mit- 
leid, sondern  in  erster  Linie  an  das  Heroische  in  uns. 
Er  ist  eine  paihetische  Figur  und  als  solche  fand  er  in  gleich- 
gestimmten Herzen  unter  den  Stürmern  und  Drängern 
ein  Echo. 

Friedrich  Leopold  Graf  zu  Stolberg  lebte  sich  in  Mil- 
tons Welt  hinein.  Schon  1771  berichtete  er  seiner  Schwester 
über  die  ersten  Eindrücke,  die  er  vom  V.  P.  empfangen.") 
Er  zog  Kiopstock  noch  vor;  aber  „mich  deucht,  Du  liebst 
Milton  nicht  genug.    Seine  Fehler  will  ich  nicht  entJichuldl- 

")  Vgl.  Fried  r>  Leopold  Qrai  zu  Stolberg  .  .  . 
von  Johainia'Janssen,  Freibar 2  1S77,  1.  Band,  p.  19,  p.  189 
wird  Milton  in  einem  Briefe  vom  23.  Juni  1786  den  Größten  aller 
Zeiten  sieichsestellt. 


~    95    — 

gen.  Die  Kanonen  der  teuflischen  Armee  mißfallen  mir  so 
sehr  wie  den  Kngeln,  aber  was  ist  erhabener  als  der  Kampf 
im  Himmel,  wie  die  beiden  Heere  Berge  entwurzeln,  sie 
gegen  einander  schleudern  und  unter  a  dismal  shadc  fech- 
ten, bis  der  Messias  die  Teufel  wie  eine  Heerde  Ziegen  vor 
sich  treibt."  Aus  dieser  Stelle  spricht  noch  der  Klopstock- 
jünger,  wie  auch  aus  dem  Kntzückcn.  in  das  er  bei  der  L Lek- 
türe des  Morgengebetes  gerät.  Nur  etwas  zu  viel  Lehr- 
haftes findet  er  in  diesem.  Schon  zeigt  sich  auch  die  Freude 
arn  Realistischen. 

Später  aber,  nachdem  der  Funken  des  Genies  auch  in 
seinem  Geiste  zündend  gewirkt,  ist  es  Satan,  für  den  er 
sich  begeistert.  Wie  er  Rubens'  Gemälde  sieht,  bemerkt  er: 
„Hätte  Rubens  Miltons  verlornes  Paradies  erlebt,  so  würde 
der  Maler  auf  Flügeln  des  Dichters  sich  höher  erhoben,  mit 
mehr  Würde  den  Fall  der  herabgestürzten  Engel  dargestellt, 
manchen  Einfall  zu  muthwilliger  Laune  dem  Ernste  des 
Gegenstandes  aufgeopfert  haben.  Der  mit  Kraft  der  Hlmm- 
iischen  sich  den  Satanen  nachschwingende,  mit  flrsmmcn- 
dem  Schwerte  siegreich  sie  verfolgende  Engel  ist  des  MiU 
tonischen  Michaels  nicht  unwürdig,  Milton  würde  vielleicht 
an  einigen  der  Satanc  nichts  getadelt,  würde  gewiß  der  dem 
Maler  cigenthümlichen  hohen  Laune  Gerechtigkeit  haben 
widerfahren  lassen.  !n  vielen,  wo  ich  nicl'.t  irre  in  den 
meisten.  Vorstellungen  dieses  Gemäldes  sinkt  der  Maler 
zum  Unedlen,  zum  fürchterlich  Possierlichen  hinab/**"*) 
Man  wäre  versucht  zu  sagen:  Das  von  KlOi.stock  in  Stol- 
berg geweckte  edle  Pathos  wirkt  noch  lebendig  nach  und 
hat  sich  mit  dem  erwachten  Sinn  für  das  Charakteristische 

"^)  Vgl  Gesammelte  Werkt  Jcr  Brüücr  sihri. 
siian  und  Friedrich  Leopold  Grafen  zu  Siol» 
b  e  r  g ,  Sechster  Band.  Hamburc  1S27.  p.  10  f.  Im  3.  HJ.  p.  6 
und  im  6.  p.  33  f.  Je  ein  Zitat  aus  Milton.  Bd.  la  p.  4m  .Milton 
erwähnt. 


—    96    — 

zu  einer  für  die  Wertung  des  V.  P.  glücklichen  Mischung 
verbunden. 

Auch  Isaak  Iselin  gibt  Lavatcr  den  Ratschlag,  Satan 
groß  erscheinen  zu  lassen:  „Es  ist  nichts  anderes  möglich» 
als  Sie  müssen  diesen  Letzteren  (==  Jehova)  für  einen 
untergeordneten  Schöpfer  und  Gott,  nicht  für  den  allmäch- 
tigen Schöpfer  halten  —  und  auch  so  wäre  Satan,  wie  die 
Franzosen  bei  Milton  gesagt  haben,  mehr  ihr  Held,  wäre 
mehr  sicghaf  c  und  groß  als  Jehova."  ") 

Max  Klinger,  dem  nach  Unabhängigkeit  strebenden 
Kraftgenie,  mochte  in  jenen  Jahren  der  Höllenfürst  ebenfalls 
als  Ideal  vorschweben,  wenn  auch  unter  seinen  Jugend- 
werken keines  die  Einwirkung  Miltons  zeigt.  Wir  wissen,, 
daß  er  dem  englischen  Dichter  während  seines  ganzen 
Lebens  seine  Zuneigung  bewahrte."^)  In  seinem  1790  er- 
schienenen Faust,  der  seinem  Inhalte  nach  nicht  mehr  in  die 
Sturm-  und  Dranspe/iode  gehört^  tönt  in  der  ersten  Höllen- 
Szene  Miltons  Wirkung  nach  und  zeigt  uns,  was  dem  älte- 
ren Klinger  aus  jüngeren  Jahren  vom  V.  P.  in  Erinnerung 
geblieben  war."") 

Wie  Miltons  Satan  steht  Klingers  Leviathan  vor  uns: 


^^)  Vgl.  A.  L  a  n  g  m  e  s  s  e  r ,.  Jacob  S  a  r  a  s  i  n  .  .  . 
Zürcher  Diss.  1«99,  p.  122. 

'"*)  In  seinen  in  Rußland  geschriebenen  Betrachtun  gen 
(1803)  gedenkt  er  noch  iMiltons  mit  Liebe.  Vgl.  Max  Rieger, 
Klinger    in  seiner  Reife,  Darmstadt  1896,  p.  474. 

"")  Georg  Joseph  Pfeiffer  hat  in  seiner  Würzburger 
Dissertation  (1887),  Klingers  Faust,  Eine  litterar- 
historische  Untersuchung,  alle  Züge  zusammenge- 
tragen, die  von  Milton  stammen  können.  Schoiv^  P  r  o  s  c  h  , 
Klingers  philosophische  Romane,  Wien  1882,  p.  55, 
hatte  auf  Miltons  Einfluß  hingewiesen.  Wie  sich  aus  Pfeif- 
fers exakter  Untersuchung  ergibt,  gehen  nur  kleine  Züge  am 
Anfang  des  Romans  auf  Milton  zurück  (p.  41  ff). 

Noch  im  Qiafar  und  im  Zu  frühen  Erwachen  de.s 
Genius  der  Menschheil  kommt  Klinger  auf  solche  Höllen- 
S7.cnen  zurück.    Vgl.  R  i  e  g  e  r ,  1,  c,  p.  299  und  345. 


_-    97    — 

„Der  Ttufel  .  .  .  stand  in  erhabner,  statilicher,  kühner 
und  kraitvoller  Gestalt  vor  dem  Kreise.  Fc'jrsj;e.  gcbietri- 
sche  Augen  leuchteten  unter  zwey  schwarzen  Braunen  her- 
vor, zwischen  welchen  Bitterkeit,  Haß,  Groll.  Schmerz  und 
Hohn,  dicke  Falten  zusammcngerolli  halten  ...  Er  hatte 
die  Miene  der  Kcfallnen  Engel,  deren  Angesichte  einst  %'on 
der  Gottheit  beleuchtet  wurden,  und  die  nun  ein  düstrer 
Schleyer  deckt."  *") 

„Fürsten,  Mächtige,  unsterbliche  Geister,'"  spricht  Klin- 
gers Satan  seine  Scharen  wie  der  Milionsche  an:  „seyd 
mir  alle  willkommen!  Wollust  durchglüht  mich,  wenn  ich 
über  euch  zalillose  Helden  hinblicke!  Koch  sind  wir.  nas 
wir  damals  waren,  als  wir  zum  erstenmal  in  diesem  Piuhl 
aufwachten,  zum  erstenmal  uns  sammelten!  Nur  hier 
herrscht  E  i  n  Gefühl,  nur  in  der  Hölle  herrscht  Einigkeit.***') 

Den  dankbarsten  Verehrer  unter  diesen  heißspornigen 
Jünglingen  fand  aber  der  mächtige  Beherrscher  der  Hölle 
im  jungen  Schiller.  Was  dem  schwärmerischen  N'oß  ")  vor- 
schwebte, als  er  am  15.  Nov.  1772  an  Brückner  über  den 

*°)  Vgl.  F.  M.  Klingers  Werke.  Lcspzii:  1832.  Bd.  Hl 
(Fausts  Leben. T baten  und  Höllenfahrt),  p.  48.  Vj). 
dazu  l\  L.   I.  589  fi'.: 

He,  above  the  rest 
In  sliapc  and  gcsture  proudly  eminent, 
Stood  like  a  tow"r;  bis  iorn*.  had  yct  not  !ost 
All  her  original  brightness,  nor  appcared 
Less  than  Archaneel  rnin'd,  and  the  cxccss 

Of   glory   obscur'd: 

Darkened   so,  yet  shone 
Above  them  all  the  Archa:iKcl:  but  bis  face 
Dccp  scars  of  ihunder   had  intrcrch'd.  and  care 
Sat  on  his  fadcd  chcek,  but  under  brows 
Of  dauntless  couragc,  and  considcraic  pridc 
Waiting  rcvcnge:   crucl  his  eye,  but  cast 
Slgns  of   remorse  and  passivon  .  .  . 
")  Werke,  1.  c,  p.  21. 
")  Briefe  von  J.  H.  Voß,  1.  Bd..  Halbcrstadt  1829.  p.  !(». 

Piczo.MUton  7 


—    98    — 

Teufel  schrieb:  „Wir  wollen  ihn  uns  wie  Milton  und  Klop- 
stock  Kcdcnken.  Kr  wird  edler  und  schrecklicher",  das 
wurde  in  der  Phantasie  des  Karlsschülers  zur  Wirklichkeit. 

Der  stolze,  haßerfüllte  Satan,  der  manchmal  von 
einem  leisen  Gefühl  der  Reue  beschlichen  wird  und  dessen 
edler  Gestalt  der  göttliche  Ursprunj^  noch  anzusehen  ist, 
mußte  zum  Genie  gestempelt  werden,  dessen  Verhängnis 
nur  ist,  keinen  Herrn  über  sich  dulden  zu  wollen. 

Die  Sprache  der  Räuber  zeigt  Spuren  von  Klopstocks 
edlem  Schwung;  das  Stück  atmet  aber  Revolutionsluft. 

In  einer  nachher  getilgten  Szene  sagt  Karl  Moor  zu 
Spiegclberg:  , Das  Gesetz  hat  noch  keinsn  Mann  ge- 
bildet, aber  die  Freiheit  springt  über  die  Pallisaden  des  Her- 
kommens, und  brütet  Kolosse  und  Extremitäten  aus  —  Ich 
weis  nicht  Moriz  ob  du  den  Milton  gelesen  hast  —  Jener 
der  es  nicht  dulden  konnte,  daß  einer  über  ihm  war,  und 
sich  anmaßte  den  Allmächtigen  vor  seine  Klinge  *zu  fordern, 
war  er  nicht  ein  ausserordentliches  Genie?  —  Er  hatte  den 
Unüberwundenen  angegriffen,  und  ob  er  schon  erlag,  so 
hatte  er  doch  seine  ganze  Kraft  erschöpft,  und  ward  doch 
nicht  gedemüthiget,  und  macht  immer  neue  Versuche  bis 
auf  diesen  Tag,  und  alle  Streiche  fallen  auf  seinen  eigenen 
Kopf  zurück,  und  wird  doch  nicht  gedemüthigt.  Dieser 
ists  über  den  unsere  Waschweiber  das  Kreutz  machen." 
Kurz  darauf  sagt  Spiegclberg:  „Geh  mir  mit  dem  Schla- 
raffen  Leben  —  dank  du  Gott,  daß  der  alte  Adam  den  Apfel 
angebissen  hat,  sonst  wären  wir  mit  sammt  unsern  Talen- 
ten und  Geisteskraft  auf  den  Polstern  des  Müssiggangs  ver- 
modert." •"■) 

")  Es  ist  gewagt,  auf  Qrund  dieser  Stellen  (die  zuerst  von 
A.  C  0  h  n  in  S  c  h  n  o  r  r  s  Archiv  IX,  277  ff.  u.  dann  bei  R. 
Weltrich,  Friedrich  Schiller,  I.  Bd.  Stuttgart  1899, 
p.  357/8  abgedruckt  wurden),  der  Äußerung  Schillers  in  der 
Vorrede:  „Miltons  Satan  folgen  wir  mit  schauderndem  Erstaunen 


—    99    — 

Als  Schiller,  unter  der  strengen  Disziplin  leidend,  die 
Räuber  mit  sich  herumtrug,  als  der  Unabhän:4is:kcitstricb 
in  ihm  erwachte,  da  mußte  der  große  Apostat  in  seinem 
Merzen  einen  Widerhall  finden.  Aber  nicht  für  lange.  Als 
der  weltunkundige  Dichter  ins  Leben  hinaustrat  und  die 
Niedrigkeit  des  Alltags  kennen  lernte,  da  empörte  sich 
sein  edler  Sinn  nicht  gegen  Gott  und  seine  Ordnung,  son- 
dern gegen  die  Menschen  und  ihre  Gesetze.  Die  Räuber 
wurden  zum  sozialen  Drama.  Deshalb  wurde  die  „Mil- 
tonszene**  wohl  auch  gestrichen  und  nicht  nur,  wie  Welt- 
lich p.  357  glaubt,  um  den  „Christlichgesinnten"  kein  Ärger- 
nis zu  geben. 

Karl  Moor  und  Satan  sind  „große  Verbrecher'*,  wie 
sie  der  junge  Schiller  liebte.    „Was  Schiller  wie  Milton  an 

durch  das  unweKsamc  Chaos'*  (Werke.  Sükularauscabc  ßd.  16. 
p.  17)  und  einJKcr  Anklänjic  im  Drama  cir.cn  zu  großen  KirfluB 
Miltons  auf  die  R  Ji  u  b  e  r  anzunehmen,  Heinrich  KfaCicr 
hat  dies  in  seinem  Byronschcn  Helden  typus  (Munckcr- 
sehe  ForschunKcn  VI,  München  1898)  im  Kapitel  Das  F*ara- 
dise  lost  und  Schillers  Räuber  jician.  Man  darf  nicht 
vergessen:  Kari  Moor  wird  durch  die  Unccrechtlskcit  der  Welt 
zu  dem  gemacht,  was  er  ist;  er  empört  sich  k'Ck'cn  die  Gcsctzcs- 
welt,  weil  sie  schlecht  ist,  während  Mütons  Satan  aus  reinem 
Stolz  von  Gott  abfiel.  Mit  diesem  fundamentalen  Unterschied 
fällt  aber  die  HauptKrundlaye  einer  Bceinilussunj:  dahin.  Der 
Satz  Kracsers:  „und  wenn  Karl  Moor  den  Beruf  für  einen  Brutus 
oder  Catilina  in  sich  fühhe,  so  weist  das  wieder  auf  den  Luciftr, 
der  Qott  werden  wollte  und  doch  als  Satan  endicen  mußte" 
(p.  16)  ist  deshalb  verfehlt,  weil  Brutus  sich  nicht  an  die  Stelle 
Cäsars  setzen  wollte  und  Gott  bei  Milton  die  ewige  Liebe  ist 
Für  den  Leser  des  Dramas  bleibt  Karl  Moor  der  Kdclsic  von 
allen.  Das  Wort  Teufel,  das  im  Stücke  haufii:  und  in  vielen  \'er- 
bindungen  vorkommt,  geht  nich;  nur  auf  Milton  oder  Klopsto;k 
zurück.  Auch  bei  Klinger  kommt  es  oft  vor.  wie  Richatd 
Philipp,  Beiträge  zur  Kenntnis  von  Klingers 
Sprache  und  Stil  in  seinen  Jugenddramen  (Frcib. 
i.  B.  Diss.  1909),  p.  102,  nachgewiesen  hat  Und  daß  Schiller  v)n 
Klintcer  gelernt,  ist  bekannt 

7» 


—    100    — 

diesen  Gestalten  bannt,  ist  das  Verlorengehen  des  Edel- 
sten,'' sagt  Eugen  Kühnemann/*)  Bei  beiden  schlagen  wir 
uns,  wie  Schiller  sich  in  der  Selbstrezcnsion  der  Räuber 
ausdrückt,  so  gern  aui  die  Partie  der  Verlierer,  „ein  Kunst- 
griff, wodurch  Milton,  der  Panegyrikus  der  Hölle,  auch  den 
zartfühlendsten  Leser  einige  Augenblicke  zum  gefallenen 
Engel  macht"  (1782,  Werke,  Säkularausg.  16,  p.  24). 

Aber  nur  allgemeine  Züge  berechtigen  uns,  sie  neben- 
einander  zu  stellen. 

Der  innere  Kampf,  welcher  die  Räuber  durchtobt,  geht 
nicht  auf  das  V.  P.  zurück.  Die  Erlösung,  welche  Moor 
und  seine  wilden  Genossen  in  der  Ireicn  Natur  suchen,  hat 
mit  der  Freiheit,  die  Satan  erstrebt,  nichts  zu  tun/^)  Es  ist 
wahr,  Cromwell  hat  dem  englischen  Dichter  vorgeschwebt, 
Milton,  der  Republikaner,  hat  das  Epos  geschrieben.  Aber 
der  soziale  Charakter,  den  Rousseau  seinem  Zeitalter  gab, 
verlieh  auch  den  Räubern  eine  Färbung,  die  das  puritanische 
Gedicht  nicht  kannte.  Deshalb  konnte  Miltons  Satan,  trotz 
der  ästhetischen  Anerkennung,  keine  Idealfigur  Schillers 
werden,  wie  Kracger  und  Kühnemann  annehmen  möchten. 

**)  Schiller  von  Eugen  Kühnemann,  Vierte  Auf- 
lage, München  1911,  p.  79,  p.  76  ff.  spricht  Kühnemann  vom 
Einfluß  des  V.  P.  auf  den  jungen  Schiller.  Meiner  Ansicht  nach 
hat  sich  K.  Kraesjcrs  Anschauung  zu  sehr  angeschlossen.  Wenn  er 
p.  82  sagt:  „Zu  Schiller  ist  die  Miltonische  Poesie  auf  dem  Wege 
über  Kiopstock  gekommen,"  so  ist  das  wohl  nicht  ganz  richtig, 
da  eben  Kippstocks  Teufel  dem  jungen  Schiller  eine  neue  Auf- 
fassung Satans  nicht  vermitteln  konnten,  sondern  diese  erst  durch 
neue  Vorbilder  und  Strömungen  ermöglicht  wurde. 

*•'■)  Darf  man  aus  dem  Zusammenhang  sich  entwickelnde  ähn- 
liche Situationen  zu  einander  in  ursächliche  Beziehung  bringen? 
Wenn  der  Räuber  Moor,  durch  den  Anblick  der  Sonne  an  seine 
Jugendzeit  erinnert,  sich  den  Hut  übers  Gesicht  drückt  und  sagt: 
„Es  war  eine  Zeit  —  laßt  mich  allein,  Kameraden!",  darf  man 
da  an  den  Anflug  von  Reue  denken,  welcher  Satan  erfaßt,  wenn 
er  die  eben  erschaffene  Erde  mit  ihrer  Glückseligkeit  sieht? 


—    lOi    — 

Das  auslöschende  Miltonfeuer  gümmt  am  Ende  der 
Sturm-  und  Dranjjzeit  nur  noch  für  einen  kurzen  Auaen- 
blick  auf.  Seit  Bodmcrs  Auftreten  halte  Milton  erst  siär- 
ker,  dann  schwächer  in  Deutschland  gdcbt.  Er  hatte  die 
Dichter  in  religiöse  Begeisterung  verseut,  sie  in  ideale  Ge- 
filde geführt,  halte  durch  seine  Plastik  gewirkt  und 
schließlich  war  er  dem  titanischen  Dran^  einer  neuen 
Generation  entgegengekommen.  Der  Übergang  hatte 
sich  allmählich  vollzogen.  Das  eine  schloO  das  andere 
nicht  aus.  Wie  Friedrich  v.  Stolbcrg.  so  war  Schiller  zu- 
erst für  Klopstocks  erhabene  Sprache  entflammt.  Als  sich 
sein  Herz  dem  gefallenen  Engel  öffnete,  wirkten  der 
Schwung  und  die  Anschauungen  des  Messiasdichters  in 
seiner  Seele  noch  nach.  Aber  es  war  das  Schicksal  des 
V.  P.  in  Deutschland,  daß,  sobald  sich  das  Verständnis  für 
seine  gewaltigste  Person  Balm  gebrochen  ha»tc.  die  Be- 
dingungen, die  für  dieses  größere  Verständni.';  notwendig 
waren,  zur  Folge  hatten,  daß  das  Interesse  an  Satan  und 
noch  mehr  am  Seraphischen  in  den  Hintergrund  trat.  Die 
neue  Zeit  konnte  Satan  wohl  begreifen,  aber  sie  fand  kein 
Genüge  mehr  an  ihm.  In  neuen  Vorbildern,  in  den  empor- 
schießenden einheimischen  Werken  war  das  Emprlnden  der 
Stürmer  und  Dränger  noch  besser  ausgedrückt  als  im 
V.  P.  Im  Q  ö  t  z ,  in  den  Räubern,  in  Klingers  Dramen 
konnten  sich  die  Kraftgenies  mehr  ausleben,  als  der  gegen 
die  Allmacht  blind  ankämpfende  Satan,  Der  Milionsche 
Teufe),  ist  eine  bedeutende  Leistung  für  das  puritanische 
Zeitalter.  Sturm  und  Drang  hatte  noch  Bedeutenderes  auf- 
zuweisen. 

Um  Menschen  zu  schaffen,  schloß  sich  Schiller  wie 
Goethe  an  Shakespeare  an.  Lenz  mochte  wohi  dem  .\us- 
ruf  Mirciers:  „O  combats  d'Ossian!  6  chants  tcnebrcux 
de  Milton!  6  enfer  du  Dante!  «*•  nuits  d'Young****)  zusiim- 


")  Mon  bonnet  de  nuit,  Ncuchätel  1784.  II.  p.  242. 


—    102    — 

mcn.  Der  größere  Brite  blieb  sein  Abgott.  Auch  Klinger 
nahm  sich  in  seinei  Sturm-  und  Dranijpcriode  Shakespeare 
zum  Muster.  Für  Milton  behielt  er  Interesse.  Aber  in  seinem 
J^oman  Fausx  (1790)  bewegt  er  sich  in  einer  modernen 
philosophischen  Sphäre.  Die  oben  erwähnte  Satansszene, 
nur  Staffage  im  Ganzen,  ist  wie  eine  Erinnerung  aus  frühe- 
ren Tagen. 


Fünftes  Kapitel 

Die  Klassik 
l. 

Es  ist  imcressant  zu  sehen,  wie  ungefähr  zur  gleichen 
Zeit,  da  sich  die  führenden  Geister  Deutschlands  von  Mil- 
ton  abwenden,  die  wissenschaftliche  oder,  besser  Rcsagt, 
popularisierende  BeschüfiiRunji:  mit  den  enRÜschcn  Dichtern 
einscizt. 

1781  erschienen  in  Altenburg:  in  der  Richicrschcn  Buch- 
handlung Samuel  Johnsons  biographische  und 
kritische  Nachrichten  von  einigen  engli- 
schen Dichtern,  Aus  dem  Englischen  übersetzt  und 
mit  AnmerkunRen  vermehrt.  Erster  Thcü.  1783  erschien 
der  zweite  Band. 

Ebenfalls  1781  wurde  In  Leipzig  (Weygandsche  Buch- 
handlung) Wartons  Geschichte  der  engli- 
schen Poesie  von  D.  Christian  Heinrich  Schmidt 
deutsch  herausgegeben. 

In  den  Englischen  Blättern,  jn  Gesell- 
schaft mehrerer  Gelehrten  herausgegeben 
von  Ludwig  Schubar». .  Vierter  Band.  Mit  Miitons 
Bildnis,  1795  Erlangen  (Walihersche  Buchhandlung),  findet 
sich  eine  kurze  Lebensbeschreibung  MÜtons. 

1797  erschien  Das  Leben  Miitons  von  W.  Hay- 
lay,  Nach  einer  zweyttn  Ausgabe  aus  dem  Englischen 
übersetztv    Winterthur,  Steiner  1797.  XXVII    und    210    S. 


—    104    — 

Mehr  nocK  als  durch  bloße  Biographien  wurde  durch 
Ausgaben  oder  Stücke  in  Anthologien  gewirkt. 

1783  kündigte  eine.  Gesellschaft  an,  daß  sie  zur  Aus- 
breitung der  englischen  Lektüre  die  besten  Schriftsteller, 
als  Shakespeare.  Thomson,  Pope,  Milton,  Yorick,  zu  einem 
sehr  billigen  Preise  drucken  lassen  wolle.  Die  Hermann- 
sche  Buchhandlung  in  Frankfurt  am  Main  besorge  die 
Hauptversendung. 

Fast  gleichzeitig  zeigte  Dietrich  in  Göttingen  ein  ähn- 
liches Unternehmen  an,  indem  er  unter  Prof.  Lichten- 
bergs Aufsicht  die  Works  of  the  English  poets 
with  prcfaces  biographical  and  critical  by 
Johnson  drucken  lassen  wollte.  1784  erschien  der  L 
Band  mit  Miltons  Leben  und  dem  V.  P.v  1785  die  übrigen 
Werke  Miltons. 

1784  wurde  in  E'.rfurt  (Kayser)  herausgegeben:  A 
new  Collection  of  poetical  pieces  original 
and  translated  —  od  er  neue  englische  poe- 
tischeChresiomathie  —  zusammengetragen  und  mit 
erläuternden  Anmerkungen  versehen  von  F.  G.  Barth, 
Zweyte  vornehmlich  im  Wortregister  stark  vermehrte  Auf- 
lage, Aus  dem  V.  P.  finden  sich  die  ersten  375  Verse  des 
I.  Buches  darin. 

In  seiner  Beispieisammlung  zur  Theorie 
und  Literatur  der  schönen  Wissenschaften 
gibt  J.  J.  Von  Escheuburg  im  5.  Band  (1790),  p.  309—14 
Buch  V,  V.  1—219  und  in  früheren  Bünden  Proben  aus 
anderen  Werken  Miltons.    Kurze  Einleitungen  orientieren. 

Da  die  Beschäftigung  mit  Milton  einen  wissenschaft- 
lichen Anstrich  bekommen  hatte,  wurden  mehr  als  früher 
die  übrigen  Werke  des  Dichters  berücksichtigt. 

Auch  mit  Übersetzungen  hielt  man  nicht  zurück.^) 


*)  Vgl.   die   .Aufzählungen  bei    Qo  cd  ecke,    Grundriß 
VII,  p.  712  und  in  der  von  Hermann  Ullrich  besorgten  Aus« 


—    105    ^ 

Bruchstücke  aus  dem  V.  P.  übertrug  Rainler  1782  in 
dem  zu  Berlin  erscheinenden  Auszuj;  des  En^ii- 
sehen  Zuschauers  in  einer  neuen  Über- 
setzung (Bd.  I,  p.  73/4,  II,  80/82,  III.  87.  IV,  42.  118,9» 
369/70,  372,  374,  376,  377,  396.  398:  Die  Stücke,  welche 
Addison  anführt). 

Diese  Fragmente  brachten  den  Verleger  Chr.  Fricdr. 
Himburg  auf  den  Gedanken,  den  Deutschen  eine  neue 
Übertragung  zu  bieten.  Er  schrieb  in  dieser  Sache  am  21. 
Okt.  1782  an  Gottfr.  A.  Bürger:  „Was  sagen  Sie.  bester 
Mann,  wenn  ich  Sie  im  Nahmen  aller  Verehrer  Miltons  auf- 
fodcre  uns  den  Ersten  epischen  Dichter  Europens  in  bür- 
gerischcr  Übersetzung  zu  schencken?"  Ramler  sei  zu  alt 
und  nicht  mehr  „von  hell  brennenden  Feuer  und  zu  pein- 
lich in  seinen  Arbeiten".  Oder  ob  er  sich  an  einen  der 
Stolbcrgs  wenden  solle?  Er  werde  einen  Übersetzer  sicher- 
lich gut  bezahlen,  und  das  Buch  aufs  schönste  ausstatteji.*) 

Die  Sache  kam  nicht  zustande.  Bü'-ger  lehnte  ab.') 
Auch  die  Slolbergs  scheinen  nicht  dafür  gewonnen  worden 
zu  sein. 

Es  vergingen  noch  elf  Jahre,  bis  eine  neue  Ge.samtüber* 
Setzung  erschien:  Joh.  Miltons  verlornes  Para- 
dies übersetzt  von  Samuel  Goitlicb  Bürde, 
Berlin  1793  (bei  Friedrich  Vierweg,  dem  alleren;. 

In  der  Zeit  von  1760/63  bis  1793  waren  nur  Bruchstucke 
'  übertragen    worden:    Von  Karl  Philipp  Moritz    in  seinen 

jjabe  von  Miltons  Werken  (Hesse)  .  .  ,  p.  141  ii.  Meine 
Aufzälilung  ist  vollständiger.  Sowohl  Goedccke  als  auch 
Ullrich  Überjichcn  Moritz,  Ramlcr,  {a  sosi:ar  Herder  <vgU 
oben  p.  80  und  unten  p.  120). 

')  VrI.  Briefe  von  und  an  Gottfried  .\usust 
Bürger,  hsg.  v,  .-Idolf  Strodtmanr.  Berlin  IS74.  3. 
Bd.,  p,  99. 

^)  Val.  W  o  I  f  ß  a  n  j:  v.  W  u  r  z  b  a  c  t: .  O.  .A.  B  ü  r  g  e  i 
Leipzig  1900,  p.  216. 


—    106    — 

Denkwürdigkeiten  zur  Beförderung  des 
Edlen  und  Schönen  (Zwcytes  Vierteljahr,  Berlin 
1786.  18.  Stück,  p.  271—276:  Adams  erstes  Er- 
wach c  n  =  Buch  Vlil.  V.  250—345;  22.  Stück,  p.  335—341 
u.  2Z,  Stück,  p.  351—354:  DerÜbergangvom  Quten 
zum  Bösen  — -  Buch  IX,  192— c.  390.  Prosa);  von  Lud- 
wig Qotthard  Kosegarten  („M  o  r  g  e  n  h  y  m  n  e"  in  den 
Q  e  d  i  c  h  t  e  n  ,  Leipzig  1788,  !3d.  I,  p.  42—47,  mehrmals 
wiedergcdruckt'/)  von  unbekanntem  Verfasser  1794  „Der 
Löbgesang  Adams  und  Evas"  (5.  Buch)  in  der 
Neuen  Bibliothek  der  sch"önen  Wissen- 
schaf t  e  n  53,  2;  S.  237—240;*)  schließlich  noch  von  Her- 
der (s.  Anm,  l). 

II 

Aus  der  obigen  Übersicht  kann  man  kaum  den  Schluß 
ziehen,  daß  Milton  in  den  letzten  zwei  Jahrzehnten  des 
achtzehnten  Jahrhunderts  in  Deutschland  nicht  mehr  lebte. 
Im  Gegenteil:  Wollte  man  bloß  die  Ausgaben  und  Über- 
setzungen sprechen  lassen,  so  könnte  man  versucht  sein 
zu  glauben,  daß  sich  der  Dichter  wie  vorher  eines  hohen 
Ansehens  erfreute. 

Aber  man  darf  nicht  vergessen,  daß  gegen  das  Ende 
des  Jahrhunderts  das  allgemeine  Interesse  an  der 
Literatur  zunahm,  weshalb  Ausgaben  und  Übersetzungen 
fremder  Dichtwerke  allen  Poeten,  besonders  denen  eng- 
lischer Nation,  zugute  kamen. 

Ob  Milton  dem  Geschmack  der  Allgemeinheit  noch 
entgegenkam? 


*)  Vgl.  dazu  Qoedecke  und  Ullrich. 

'')  Vgl.  ebd.  Was  Qeorg  Fried  r.  Niemeyer,  A  Col- 
lection  out  of  some  oi  the  most  approved  Eng- 
1  i  s  h  P  0  e  t  s ,  viz.  Pope,  Miltor.  .  .  .  translated,  Hannover  1794, 
enthält,  weiß  ich  nicht. 


-    107    -^ 

Was  dachten  die  größten  Dichter  jener  Epoche  und  ihr 
Kreis  über  den  enjjlischen  Epiker? 

Goethe  konnte  sich  sein  ganzes  Leben  lan;:  mit  dem 
V.  P.  nicht  befreunden.  Im  Juli  1799  nalim  er  es  neben 
andern  Werken  vor,  um,  ^x•ie  er  in  den  A  n  n  a  I  c  n  sagt, 
sich  „die  mannichfaltigsten  Zustände.  Denk-  und  Dicht- 
weisen  zu  vcrKejrcnwärtijrcn".")  Er  berichtete  drsriiber  am 
31.  Juli  an  Schiller: 

„Das  verlorne  Paradies,  das  ich  diese  Ta^e  zufällig  in 
die  Hand  nahm,  hat  mir  zu  wunderbaren  Beirachtungen 
Aniafi  gej^eben.  Auch  bey  diesem  Qcdichte.  wie  hey  allen 
modernen  Kunstwerken,  ist  es  eigentlich  Jas  Individuum, 
das  sich  dadurch  manifestirt,  welches  das  Interesse  hervor- 
bringt. Der  Gegenstand  ist  abscheulich,  äußerlich  schein- 
bar und  innerlich  wurmstichig  und  hohl.  Außer  den  weni- 
gen natürlichen  und  energischen  Motiv,m  ist  eine  ganze 
Partie  lahme  und  falj;che,  die  einem  wehe  machen.  Aber 
freylich  ist  es  ein  interessanter  Mann,  der  spricht,  m?.n 
kann  ihm  Charakter,  Gefühl,  Verstand,  Kenntnisse,  dichte- 
rische und  rednerische  Anlagen  und  sonst  noch  mancherley 
Gutes  nicht  absprechen.  Ja  der  seltsame  einzige  Fall  daß 
er  sich,  als  verunglückter  Revolutionair.  besser  in  die  Rolle 
des  Teufels  als  des  Engels  zu  schicken  weiß,  hat  einen 
großen  Einfluß  auf  die  Zeichnung  und  Zusammensetzung: 
des  Gedichts,  so  wie  der  Umstand,  daß  der  Neriasscr  blind 
ist  auf  die  Haltung  und  das  Kolorit  desselben.  Das  Werk 
wird  daher  immer  einzig  bleiben,  und  wie  gesagt,  so  viel 
ihm  auch  an  Kunst  abgehen  mag,  so  sehr  wird  die  Natur 
dabey  triumphieren."    (Werke,  H.  Bd.,  p.  13S9). 

Durch  das  Gedicht  sei  er  auch  genötigt  worden,  über 
den  freien  Willen  nachzudenken:  ..er  spielt  in  de/n  Ge- 
dicht, so  wie  in  der  christlichen  Religion  überhaupt,  eine 


^)  Werke,  Weimarer  Ausgabe,  35.  Bd.,  p.  S4. 


—    108    — 

schlechte  Rolle.  Denn  sobald  man  den  Menschen  von  Haus 
aus  für  füllt  annimmt,  so  ist  der  freye  Wille  das  alberne 
Vermögen  aus  Wahl  vom  Guten  abzuweichen  und  sich  da- 
durch schuldig  zu  machen."     (ebd.,  p.   139/40.) 

Am  3.  Aug.  kommt  Goethe  noch  einmal  auf  das  V.  P. 
zu  reden. 

„Miltons  verlornes  Paradies,  das  ich  Nachmittags  lese, 
giebt  mir  zu  vielen  Betrachtungen  Stoff,  die  ich  Ihnen  bald 
mitzutheilen  wünsche.')  Der  Hauptfehler,  den  er  begangen 
hat,  nachdem  er  den  Stoff  einmal  gewählt  hatte,  ist,  daß 
er  seine  Personen,  Götter,  Engel,  Teufel,  Menschen,  sämmt- 
lich  gewissermaßen  unbedingt  einführt  und  sie  nachher,  um 
sie  handeln  zu  lassen,  von  Zelt  zu  Zeit,  in  einzelnen  Fällen, 
bedingen  muß,  wobcy  er  sich  denn,  zwar  auf  eine  ge- 
schickte, doch  meistens  auf  eine  witzige  Weise  zu  entschul- 
digen sucht.  Übrigens  bleibts  dabey,  daß  der  Dichter  ein 
fürtrefflicher  und  in  jedem  Sinne  interessanter  Mann  ist, 
dessen  Geist  des  Erhabenen  fähig  ist,  und  man  kann  be- 
merken, daß  der  abgeschmackte  Gegenstand  ihn  bey  dieser 
Richtung  oft  mehr  fördert  als  hindert,  ja  dem  Gedicht  bey 
Lesern,  die  nun  einmal  den  Stoff  gläubig  verschlucken,  zum 
großen  Vortheil  gereichen  muß."     (ebd.,  p.  142/3.) 

Wenn  Miß  Mary  Carr  im  Anschluß  an  die  zitierten 
Stellen  schreibt:  „It  must  be  confessed  that  Goethe  is  right 
in  somc  points  in  his  criticism  of  Paradisc  Lost,  but  surely, 
in  pronoucing  the  subject  to  be  „detestable,  outwardly 
plausible,  and  inwardly  wormeaten  and  hollow",  he  does 
not  justice  to  the  earnest  purpose  of  Milton  in  writing  the 
great  eplc  of  Puritanism",*)  so  hat  sie  Goethes  Ausspruch 
gründlich  mißverstanden. 

')  Er  hat  es,  schriftlich  wenigstens,  nie  getan. 

*)  Pubiicaiions  of  the  English  Goethe  Society,  N.  IV,  Lon- 
don 1888,  Goethe  in  his  connection  with  Enelish 
L 1 1  e  r  a  t  u  r  e ,  p.  55. 


—    109    - 

Goethe  war  weit  davon  ejitfcrnt,  AJiltons  ernste  Ab- 
sicht zu  bezwcifehi.  „Abscheulich  (v^'ohl  gleich  ab- 
schreckend), äußerlich  scheinbar  und  innerlich  wurmstichig 
und  hohl"  nennt  er  den  Stoff  des  V.  P.  in  rein  ästhetischer 
Bczichunij;  seinem  undoKmatischcn  Sinn  war  die  Anti- 
nomie im  Gedicht  nicht  nur  erkennbar,  sondern  sie  machte 
es  ihm  ungenießbar.  Der  Widerspruch  zwischen  der  All- 
macht Gottes  und  dem  freien  Willen  des  Menschen,  zwi- 
schen der  Unbedingtheit  des  Wesens  der  r.ngel  und  der  Be- 
dingtheit ihres  Handelns  ist  ein  Grundfehler  in  der  poeti- 
schen Intuition,  über  welchen  nur  der  kindliche  Glaube  hin- 
weghelfen kann.  Goethe  besaß  diesen  Glauben  nicht.  Mil- 
tons  Persönlichkeit,  dem  verur  glückten  Revolutionär» 
brachte  er  menschliche  Teilnahme  entgegen,  im  V.  I\  selbst 
erkannte  er  nur  ,.w  enige  natürliche  und  ener- 
gische iMotive"  an.  Was  er  unier  diesen  verstand, 
ist  wohl  unschwer  zu  erraten:  Die  Partien  im  ifpos.  die 
sich  natürlich  geben  und  uns  das  Unkünsilerische  der  Anti- 
nomie nicht  fühlen  lassen,  die  ..allgemein  menschlich"  wir- 
ken; Stellen,  wie  die  idyllischen  Liebesszenen  im  irdischen 
Paradies,  wie  der  lyrische  Anruf  an  das  heilige  Licht 

So  verhaßt  war  Goethe  das  Dogmatische  im  christ- 
lichen Epos,  daß  er,  wie  wir  sahen,  nichi  einmal  Satan 
einen  poetischen  Wert  zuerkennen  wollte.  Ihm  lag  so  sehr 
jeder  Dualismus  fern,  daß  er  nicht  einrtal  das  wirklich  Poe- 
tische in  der  Gestalt  des  gefallenen  Erzengels  erkennen 
wollte. 

Was  war  ihm  da  erst  Mutans  Gott! 
„Was  war'  ein  Gott,  der  nur  von  außen  stieße. 
Im  Kreis  das  All  am  Finger  laufen  ließe! 
Ihm  zient's,  die  Welt  im  Innern  zu  bewegen, 
Natur  in  Sich,  Sich  in  Natur  zu  hegen.  .  .  ." 

Das  Höchste,  das  dem  Menschen  widerfahren  kann, 
ist,  daß  „sich  Gott-Natur  ihm  offenbare".    Was  war  gegen 


—    110    — 

eine  solche  Weltanschauung  die  engherzige  Schöpfung  des 
puritanischen  Dichters?  Wenn  der  deutsche  Dichter  sagt: 
„Vergib  mir,  daß  ich  so  gerne  schweige,  wenn  von  einem 
göttlichen  Wesen  die  Rede  ist  .  .  .**,  so  erinnert  das  nur 
äußerlich  an  die  mahnenden  Worte  des  Erzengels: 

„Solicit  not  thy  thoughts  with  matters  hid!"")  Milton 
verlangt  den  kindlichen  Glauben  an  die  Lehren  der  Kirche, 
Qoethe  will  über  das  Göttliche  nicht  reden,  sondern  es 
fühlen. 

Stoffliche  Gründe,  nicht  nur  künstlerische,  ließen  Qoethe 
so  sein  Leben  lang  am  V.  P.  vorbeigehen. 

Ist  es  möglich,  daß  etwas  vom  Geiste  des  V.  P.  in  den 
Faust  übergegangen? 

Man  hat  versucht,  in  den  zu  Enile  der  neunziger  Jahre 
entstandenen  Faustszenen  Beeinflussung  durch  Milton  nach- 
zuweisen.''*') Im  Juli  1799  las  ja  Goethe  das  V.  P.  und  im 
August  entlehnte  er  für  längere  Zeit  Zachariaes  Übersetzung 
aus  der  Weimarer  Bibliothek. 

Die  Anklänge,  denen  R.  Sprenger  mit  Sorgfalt  nach- 
gespürt» betreffen  jedoch  nur  gemeinsame  Einzelheiten,  wie 
die  Personifikation  Mammons  und  ähnliche  .ausdrücke  in 
der  Walpurgisnachtszene.  Die  Auffassung  des  Dramas 
gehen  sie  nichts  an, 

Einen  Einfluß  dei  V.  P.  auf  diese  möchte  nun  Max  Mor- 
ris annehmen.  In  den  Goethestudien,  I.  Bd.,  2.  Aufl., 
Berlin  1902,  p.  84  ff.  und  224  ff.  (Die  Walpurgisnacht  und 
die  Faustparalipomenii)  und  in  Mephistophelcs 
(Qoethejahrbuch  XXII,  p.  150 ff.)  will  er  folgende 
drei  Punkte  beweisen: 


•)  Houston  Stewart  Cliamberlain,  Qoethe, 
München  1912,  p.  683  stellt  die  beiden  Stellen  nebeneinander. 

")  Q.  V.  L  0  e  p  e  r ,  Hempelsche  Ausgabe,  12.  Teil,  p.  126. 
Besonders  siehe  R.  Sprenger,  Englische  Studien, 
Bd.  18,  p.  304/6.  Über  Max  Morris  unten.  Vgl.  auch  Jubil.- 
Ausg.,  Register,  und  Faust  ed.  Witkowsky',  Leipzig  1912,  p.  357. 


—  111   ~ 

1)  In  Miltons  Dichtung  fand  Goethe  eine  völli.4:  durch- 
geführte und  mit  einer  Fülle  von  anschaulichen  liinrolzügcn 
ausgestattete  Hierarchie  des  Bösen.  Er  bcschloli.  diese 
Vorstellungen  in  das  Drama  einzufühcen  (Goethest.  I,  84). 
„Unter  der  Einwirkung  des  verlorenen  Paradieses  plant 
Goethe. Miltons  Satan  leibhaftig  in  die  faustdichiung  ein- 
zuführen" (Goethc-Jahfouch  XXII,  p,   186), 

2)  Mephistopheles  bekommt  viele  Züge  von  Miltons 
Satan  (Goethe-Jahrbuch  XXII,  p.  177 f..  179). 

3)  „Aus  den  Miltonschcn  Anregungen  erwuchs  endlich 
auch  ein  Plan  für  den  Abschluß  der  gesamten  Faustdich- 
tung, der  erste  zu  unserer  Kenntnis  gelangte-  Schlußpian*" 
(Q.-J.  XXII.  p.  188.  ähnlich  Qoethcsi..  I.  86  and  Fausi- 
par.  1.  c). 

Als  Beweis  für  die  erste  Behauptung  iührt  Morris  neben 
einigen  Anklängen  im  Drama  selbst  die  P  a  r  a  1 '  p  o  m  c  n  a 
48  und  50  an  (Goethes  Werke.  Weimarer  Aus- 
gabe, 14.  Bd..  p.  305  ff.).  Par.  48  ist  eine  Skizze  zu  einer 
Szene,  in  der  offenbar  unter  Donner  und  Blitz  Satan  er- 
scheinen soll.  Par.  ISO  ist  eine  dazu  gehörige  aus^icfülirtc 
Szene.  Morris  druckt  nicht  das  ganze  Par  48  ab.  sondern 
nur  einige  Worte  daraus,  in  denen  \on  TroinpetcnstöG«.n. 
Feucrsüulen,  Rauch,  Qualm,  einem  daraus  ragenden  Fels 
etc.  die  Rede  ist.  Dann  bringt  er  aus  dem  1.  Buch  des  V. 
P.  ähnliche  Stellen  zusammen  und  ordnet  sie  nach  den  Tat- 
sachen im  Paraüpomenon.  Die  Trompetenstöße,  die  bei 
Goethe  Satans  Erscheinen  verkünden,  gehen  nun  nach 
Morris  auf  die  zurück,  die  bei  Milton  die  Scharen  -Icr  Krie- 
ger ins  Heerlager  einberufen.  Der  Fels,  der  aus  dem  Rauche 
hervorragt,  gehi  auf  die  Vorsvellung  des  feuerspeienden 
Berges  zurück,  auf  den  sich  A^ammon  und  seine  gierige 
Bande  stürzen,  um  Gold  zu  finden. 

Morris  zieht  alle  seine  Parallelstellen   an  den  Haaren 
herbei.    Der    in  Par.  48    angedeutete    Spuk    hat    in  Tat 


—    112    — 

und  Walirlieit  mit  der  Miltonschcn  Hölle  nichts  zu  tun. 
Das  bestätigt  auch  Par.  50,  das  uns  l<lar  zeigt,  was  mit  der 
ganzen  Szene  ^:emeint  ist:  Ein  „phantastisch-satirisches 
Nachtsiück",  wie  Morris  selbst  entfährt  (Goethe-Jahr- 
buch XXII,  p.  186). 

Diese  sog,  Satansszenen  5;ind  vielleicht  viel  früher  ent- 
standen ^^)  als  jGnde  der  neunziger  Jahre.  Sicherlich  ge- 
statten sie  uns  nicht  anzunehmen,  Goethe  habe  die  Mil- 
tonsche  Hierarchie  des  Bösen  in  seinen  Faust  einführen 
wollen.  Auch  nicht  Miltons  Satan.  Denn  mit  diesem  hat 
der  humoristische  Geselle,  der  über  die  Schriftsteller  deut- 
scher Zunft  Musterung  abhalten  sollte,  nur  den  Namen 
gemein.") 

Aber,  wenn  der  Satan  der  geplanten  Szene  nichts  mit 
demjenigen  Miltons  zu  tun  hat,  hat  es  Mephistopheles? 

Bis  zum  ersten  Gespräch  mit  Faust,  nimmt  Morris  an, 
haben  wir  in  Mephisto  einen  volksmäßigen  Spuk  vor  uns; 
dann  aber,  da  über  des  Teufels  Art  und  Wesen  ein  kräftig 
Wörtlcin  not  tut,  sind  wir  mehr  auf  Miltonschem  Boden 
(G.-J.  XXII,  p.  179).  „Unter  dem  Einflüsse  Miltons  wandelt 
sich  nun  die  Anschauung  der  Faustdichtung  vom  Bösen 
wieder  ins  Schärfere,  Ernsthaftere.  Das  heitere  Spiel  des 
Schalks  Mephisto  mit  dem  alten  Herrn  tritt  zurück.    Me- 

^^)  Vgl.  Paralipomena  zu  Goethes  Faust,  Eni- 
würfe,  Skizzen,  Vorarbeiten  und  Fragmente,  geordnet  und  er- 
lüutert  von  Fr.  Strehlke,  Stuttgart,  Leipzig,  Berlin,  Wien 
1891,  p.  35. 

*')  In  Morris'  beschriebener  Beweisführung  finde  ich  nichts 
Zwingendes.  So  könnte  man  alles  beweisen.  Dennoch  scheint 
Erich  Schmidt  sie  angenommen  zu  haben,  wenn  er  im  13.  Bd. 
der  Jubiläumsausgabe  p.  XXVI  sagt:  „Nachdem  Satan  um  Mit- 
ternacht als  Vulkan  versunken  ist  —  ein  Motiv  von  Miltons 
Großmacht  her  —-".  Dabei  handelt  es  sich,  wie  wir  sahen,  um 
den  Berg,  auf  den  sich  Mammon  stürzt!  Vgl.  in  dieser  Ausg. 
Register.  Alle  möglichen  Anklänge  werden  in  den  Anm.  an- 
geführt.    Sprengers  wird  aber  nie  gedacht. 


—    113    — 

phisto  will  Fausts  Seele  um  ihrer  selbst  willen,  er  will  sie 
für  sich,  für  sein  höllisches  Reich,  das  Reich  der  Finster- 
nis, das  mit  dem  Lichtreiche  wie  bei  Milton  in  ewij^em  un- 
versöhnlichem Kampfe  liegt",    (ebd..  p.  177.) 

Behauptete  Morris  zuerst,  daß  MiUons  S:.!an  seihst 
auftreten  sollte,  so  nimmt  er  hier  im  Widerspruch  zu  sich 
selbst  an,  daß  Miltons  Teufel  Mcphistopheles  zum  Vorbild 
gedient. 

Aber  eine  Welt,  würde  man  i^iiauben,  sollte  xwischen 
dem  Satan  des  republikanischen  Puritaners  und  dem  Mc- 
phistopheles des  modernen  Dichters  üegen.  Wo  ver- 
lautet denn  im  Faust  etwar  darüber,  daß  Mcphisio- 
phe.les  dem  gefaücnen  Erzengel  gleichzusicüen  sei,  der 
sich  gegen  Qott  empört?  Besteht  wirklich  ein  so  großer 
Unterschied  zwischen  dem  Teufel,  der  sich  im  Prolog  auf 
den  Augenblick  freut,  da  Faust  Staub  fressen  soll,  und  dem- 
jenigen, der  sein  Opfer  durch  wildes  Leben,  durch  flache 
Unbedeutendheit  schleppen"  will? 

.Mcphistopheles  ist  das  Produkt  einer  höheren  Welt- 
anschauung, nach  v/elcher  Qoit  nicht  im  Kampfe  mit  dem 
Bösen  liegt.  Wie  im  Buche  Hiob  ist  der  Teufel  ein  Diener 
Gottes.  Fällt  er  später  aus  der  Rolle,  wenn  er  sich  defi- 
niert als 

„Einen  Theil  von  jener  Kraft* 
Die  stets  das  Böse  will  und  stets  das  Gute  schafft"? 
Darf  man  mit  Morris  die  Worte  Mephistos 
„So  ist  denn  alles,  was  ihr  Sünde, 
Zerstörung,  kurz  das  Böse  nennt. 
Mein  eigentliches  Element" 
neben  den  ingrimmigen  Ausruf    des  besiegten  Erzengels 
setzen: 

„Nur  in  dem  Verderben,  nur  in  der  Zerstörung 
Findet  dies  Herz  voll  Bitterkeit  Lust"?  ") 

»•)  Morris  zitiert  (Q.  J.  XXU,  p.  179)  di«  Parallclsicllen 
nach  der  von  Qocthc  benutzten  UbersetzuneZachariaet. 

Pinto,  UUtOB  8 


—    114    - 

Goethes  Mcpliistopheles  saß  nie  zur  Rechten  des  All- 
mächtigen.   Er  ist 

„Ein  Theil  des  Theils,  der  Anfangs  Alles  war, 
Ein  Theil  der  Finsternis,  die  sich  das 'Licht  gebar". 
Er  bleibt  das  ans  Irdische,  an  den  Staub  geknüpfte 
Wesen,  das  für  ein  höher  gerichtetes  Streben  kein  Ver- 
ständnis hat.  Was  verbindet  ihn  also  mit  dem  gefallenen 
Gott,  der  nur  in  der  Zerstörung  Lust  findet,  weil  es  ihm 
nicht  gelingt,  Herr  zu  werden  und  den  obersten  Schöpfer 
zu  entthronen?  ^*) 

Wenn  wirklich  Mephisto  in  der  zweiten  Hälfte  des  l. 
Theiles  dämonischer  wird,  warum  nicht  die  Nachwirkun- 
gen früherer  Anschauungen  annehmen,  da  ja  Morris  selbst 
sagt,  im  Urfaust  stelle  Goethe  die  furchtbare  Kraft  des 
Bösen  dar?")  Besonders  da,  wie  wir  sahen,  Mephisto  mit 
Miltons  Satan  nichts  gemein  hat,  sondern  immer  der  Ver- 
treter des  gemeinen  Irdischen  bleibt,  weil  Goethe  einen 
nach  der  Herrschaft  strebenden,  aber  doch  nur  zerstören- 
den Satan  für  unpoetisch  hielt.  Denn  das  ist  der  Un- 
terschied zwischen  dem  Teufel  des  deutschen  und 
dem  des  englischen  Dichters.  Sie  sind  wohl  beide 
negativ.  Aber  Mephisto,  seit  Ewigkeit  ein  Theil 
der  Finsternis,  wollte  nie  Licht  werden;  ihm  ist  jegliches 
Pathos  fern.  Satan  dagegen  war  einst  der  Nächste  neben 
Gott  und  fiel,  weil  er  selbst  der  erste  im  Reiche  des 
Lichtes  werden  wollte.  Er  möchte  unser  Mitleid  er- 
regen, seine  Reden  sind  voll  von  republikanischem  Pathos; 


^*)  Keine  gemeinsamen  Züge  finddt  auch  David  Masson 
in  Tlie  three  devils:  Luthers,  Miltons  and 
Qoethe's,  London  1874,  p.  46 f. 

")  Vgl.  A.  Bartscherer,  Zur  Kenntnis  des  jungen 
Goethe,  Dortmund  1912,  p.  91:  „War  Ihm  nicht  durch  sein  eif- 
riges Bibeliesen  und  das  Studium  des  Hebräischen,  ebenso  durch 
Klopstocks  „Messias"  der  Satan  des  alten  und  neuen  Bundes 
vertraut?" 


~    115    — 

denn  er  konnte  sich  vor  niemand  beulen.  Daß  aber  eine 
solche  pathetische  Figur  rein  nc-^^aiiv  s^in  s-ollte.  wollte 
Goethe  nicht  verstehenv  Eine  Persönlichkeit,  deren  Linab- 
hänRiRkeitssinn  ihn  packte,  mußte  ein  schaffender  Prome- 
theus sein.  Kin  Wesen  aber,  das  nur  zerstört,  wurde  unter 
seinen  Händen  zu  Mephisto,  dem  alles  eignen  kann,  nur 
nicht  das,  was  der  GrundzuR  des  englischen  Teufels  ist: 
Das  Heroische^  Wenn  also  Goethe  auch  den  einzelnen 
Ausdruck  „Fliesengotf  von  Milton  hatte,  wer  wagte  zu 
behaupten,  daß  wir  auf  Miltonschem  Boden  stehen?  **) 

Auch  Morris'  3.  Behauptung  ist  willkürlich;  Daß  der 
in  Par.  1  angedeutete  „Epilog  im  Chaos  auf  dem  Weg  zur 
Hölle"  auf  Milton  zurückzuführen  sei;  Der  Gedanke  einer 
Höllenfahrt  Christi  hatte  immer  zu  Goethes  Lieblingsvor- 
stcllungen  gehört.")  Den  Begriff  „Chaos"  kannte  er  von 
Klopstock  her. 


")  In  derselben  Szene  nennt  sich  Mephisto 
Den  Qott  der  Ratten  und  der  Mäuse, 
Der  FlicKcn,  Frösche,  Wanzen,  Läuse. 
Ob  Qocthe  n  ir  die  FlicKen  von  Milton  ecnömncn?    über  das 
häufige  Vorkommen    des  Ausdrucks  FiieKcnsott    vsl.  cd.  Wit- 
kowsky*.  p.  223. 

'')  Als  Hauptcrund  für  seine  Behauptung    führt  Morris  fol- 
gende Parallclstelle  an.     Im  ParaÜp,  49: 

Siehst  du,  er  kommt  den  Bert  hinauf 

Vor  weitem  steht  des  Volckes  Haut. 

Es  scRnen  staunend  sich  die  Frommen. 

Qewiß  er  wird  als  SicKcr  kümmci; 
soll  der  Berg,  den  Christus  offenbar  hinaufkommt,  nur  auf  Jenen 
heiÜRen  Berg"  zurückgehen,  „Wo  vor  der  Himmlischen  Heer  der 
große  Messias  erklart  ward".  Auch  hier  ist  eine  Fnt'chnung 
unsicher,  —  Weil  es  im  Prolog  heißt:  „Und  wandelt  mit  be- 
dächtiger Schnelle  Vom  Himmel  durch  die  Welt  zur  Hölle", 
nimmt  Morris  jetzt  schon  im  Proloe  eine  Eccinnussung  durch 
Milton  an,  während  ja  in  derselben  Szene  Mephisto  noch  nichts 
von  Miltons  Satan  zeigen  soll.  E.  Schmidt,  der  der  Interpretation 
von  Par,  1  zustimmt  (14,  XL),  steht  derjenigen  des  Verses  im 
Prolog  skeptisch  gegenüber  (13,  269).  8« 


—    116    — 

Außer  einigen  Dctailschilderungen  hatte  somit  das  V. 
P.  dem  Dichter  des  Faust  nichts  mehr  zu  bieten.  Wenn 
auch  ein  Zug  auf  eine  von  Max  A4orris  angeführte  Parallel- 
stelle zurückginge  —  auf  die  Auffassung  und  Entwicklung 
der  Faustdichtung  blieb  Milton  sicherlich  ohne  Wirkung. 
In  keiner  von  Goethes  Dichtungen  verspüren  wir  nur  einen 
leisen  Hauch  des  V.  P.  Noch  später  im  Westöstlichen 
Di  van  wird  sich  der  Schüler  Herders  Jones  anschließen, 
der  uns  mit  offenbarer  Bitterkeit  vor  Augen  stelle,  wie  ab^ 
surd  sich  Milton  und  Pope  im  orientalischen  Gewand  aus- 
nähmen (Werke,  Bd.  7,  p.  219).  Erst  am  Abend  seines 
Lebens  wird  der  S  ?.  m  s  o  n  A  g  o  n  i  s  t  e  s  Goethe  „einen 
höheren  Begriff  von  Milton"  vermitteln  (18.  Aug.  1829, 
vgl.  Biedermann,  G's  Gespräche,  Bd.  IV,  139).") 


III. 

Auch  dem  reiferen  Schiller  bedeutete  das  V.  P.  nicht 
mehr  viel.  Anregungen  empfing  er  von  ihm  keine.  In 
seinen  philosophisch-Ustheiischcn  Schriften  erwähnte  er  zu 
Anfang  der  neunziger  Jahre  Milton  hie  und  da  lobend. 
Satan  ist  ein  erhabener  Charakter,  weil  er  von  den  Schick- 
salsschlägen unberührt  bleibt.  „Selbst  Miltons  Lucifer,  wenn 
er  sich  in  der  Hölle,  seinem  künftigen  Wohnort,  zum  ersten 
Mal  umsieht,  durchdringt  uns,  dieser  Seelenstärke  wegen, 
mit  einem  Gefühl  der  Bewunderung"  (Über  dasPathe- 
tische,  1793  entstanden,  >A'erke,  Säkularausgabe 
11,  263). 

In  der  Abhandlung  Über  naive  und  sentimen- 
t  all  sehe  Dichtung  (1795)    gehört  Milton    zu  den  senti- 


")  Am  24.  Mai  1829  erhielt  Goethe  eine  Auswahl  der  Ge- 
dichte des  Prinzen  Job.  v.  Sachsen,  darunter  auch  Über- 
setzungen nach  Milton  (vgl.  Goethe- Jahrbuch  XXI,  p.  192). 


—    117    --^ 

mentalischen  Dichtern  und  kann  deswegen  nicht  ein  moder- 
ner Homer  genannt  werden.  Mit  Vergnügen  entsinnt  sich 
Schiller  der  paradiesischen  Szene;  „Eine  höhere  Befricdi» 
gung  (als  der  Idylliker  Geßner)  gewährt  Miltons  herrliche 
Darstellung  des  ersten  Menschenpaarcs  und  des  Standes 
der  Unschuld  im  Paradiese;  die  schönste  mir  bekannte 
Idylle  in  der  sentimentalischcn  Gattung.  liier  ist  die  Natur 
edel,  geistreich,  zugleich  voll  Fläche  und  voll  Tiefe;  der 
höchste  Qehalt  der  Menschheit  ist  in  die  anmuthigstc  Form 
eingekleidet".     (Werke,  Säkuhrausg.  12.  227.) 

Es  ist  wohl  kein  Zufall,  daß  Schiller  in  seinen  Ab- 
handlungen gerade  der  Schilderung  Adams  und  Evas  und 
eines  der  schönsten  Charakterzüge  des  Satans  geder.kt; 
diese  Stellen  hatten  offenbar  den  nachhaltigsten  Eindruck 
auf  sein  Gemüt  gemacht:  Wir  denken  aber  unwillkürlich 
an  die  „wenigen  natürlichen  und  energischen  Motive** 
Goethes. 

Als  er  auf  der  Höhe  seiner  Kunsteinsicht  stand,  er- 
kannte Schiller  das  V.  P.  wohl  auch  nicht  mehr  als  ein  Gan- 
•  zes  an.  „Die  Puritaner  spielen  so  ziemlich  die  Rolle  dcrJaco- 
biner."  antwortet  er  Goethe  am  2.  August  17^9,  ..die  Hülfs- 
mittel  sind  oft  dieselben  und  eben  so  der  Ausschlag  des 
Kampfs.  Solche  Zeiten  sind  recht  dazu  gemacht  Poesie  und 
Kunst  zu  verderben,  weil  sie  den  Geist  aufregen  und  ent- 
zünden, ohne  ihm  einen  Gegenstand  zl  geben.  Er  crripidngt 
dann  seine  Objekte  von  innen  und  die  Mißgeburten  der 
Allegorischen,  der  Spitzfindigen  und  Mystischen  Dar- 
stellung entstehen." 

Schiller  will  dasselbe  sagen  wie  Goethe.  Der  Geist 
empfängt  in  solchen  Zeiten  seine  Objekte  von  innen,  d.  h. 
abstrakte  Gegenstände,  und  die  Darstellung  abstrakter 
Gegenstände  führt,  wenn  sie  abstrakt  bleiben  sollen,  zur 
Allegorie  und  Spitzfind^igkeit  Davon,  meint  er  wohl,  hat 
sich  auch  Milton  nicht  frei  halten  können. 


—    118    — 

„Ich  erinnere  mich  nicht  mehr,  wie  Milton  sich  bei 
der  Materie  vom  freien  Willen  heraushilft,"  fährt  Schiller 
weiter.  Also  hat  er  das  V.  P.  nicht  mehr  gegenwärtig. 
Vielleicht  hat  er  es  seit  Jahren  nicht  mehr  gelesen,  viel- 
leicht nicht  mehr  seit  dem  Verlassen  der  Karlsschule.  Er- 
klärt uns  aber  seine  Äußerung  vom  Jahre  1799  nicht,  warum 
er  in  seinen  früheren  ästhetischen  Schriften  nur  die  oben 
erwähnten  Motive  anführt?  Machte  sich  doch  in  ihnen  das 
Abstrakte  im  Gedichte  nicht  unangenehm  bemerkbar. 

Nach  dem  Erscheinen  von  Fr.A.  Wolfs  Prolego- 
men a  ad  Homcrum  (1795)  wandte  Herder  sein 
Interesse  wieder  dem  Epos  zu. 

Häufiger  begegnet  uns  Miltons  Name  wieder  in  seinen 
Schriften.  Herder  reift  in  diesen  Jahren  eine  Theorie  des 
Epos  aus,  die  dann  in  der  Kalligone  (1800)  und  ganz 
besonders  in  der  Adrastea  (1802—1805)  ihren  Ausdruck 
findet.  Auch  hier  kein  Verständnis  dafür,  was  wir  epische 
Gestaltung  nennen. 

Der  Epiker  muß  eine  Weit  in  sich  tragen,  einen  Kos- 
mos. „H omers,  Dante's,  Milton's  Epopeen  sind 
Encyklopüdieen  und  Universa  aus  dem  Herzen  und  Geist 
ihrer  Dichter;  sie  entwerfen  die  Charte  ihrer  Innern  und 
äußern  Welt**  (XXII,  p.  148).  Deshalb  haben  die  alten 
und  sollten  auch  die  neuen  Epen  etwas  Wunderbares 
haben.  „Das  epische  Gedicht  N/oIlte,  es  foderte  einen 
göttlich-menschlichen  Schauplatz  (XXIV, 
280).  „Dem  alten  Epos  sind  die  Götter  wesentlich, 
unentbehrlich;  aber  auch  höchst  natürlich.  Sie  sind  as 
auch,  wie  man  nicht  nur  bei  .M 11 1  o  n  und  K 1  o  p  s  t  o  c  k  , 
sondern  selbst  bei  manchem  Roman  siehet,  jedem 
wahren  Epos**  (XXIV,  p.  240). 

Aber  das  Göttliche  im  Epos  birgt  Gefahren  in  sich. 
„Ist  z.  B.  die  Handlung  gar  nicht  anschaubar,  sondern 
dogmatisch,  allegorisch,  tropisch,  mystisch  ....  wie  viel 


—     119    -. 

Kräfte  verschwendet  der  Dichter,  ohne  daß  er  dennoch  zu 
seinem  Ziel  kommt.*'  Mütons  Erzählungen  vom  Abfall  der 
Engel,  vom  Bau  der  Hölle,  von  der  Zukunft  des  Menschen- 
geschlechts gehören  zum  Langweilen  in  seinem  V.  P. 
(XXIV,  p.  286). 

Herders  alter  Haß  gegen  das  Dogmatische  und  Didakti- 
sche ist  noch  rege.  Was  ihm  schon  1778  vorschwebte,  als 
er  Klopstock  beklagte,  daß  er  von  Milton  einen  Haufen 
Glauben  abzwingender  und  abwürgender  Dichtungen  über- 
nommen (VIII,  431),  das  wird  jetzt  zum  System. 

i3ewußtcr  denn  je  verlangt  Herder  das  Mensch- 
liche. Im  modernen  Epos  muß  ein  neues  Wunderbares 
erstehen,  das  sich  nicht  an  die  durch  die  Aufklärung  über- 
wundenen Maschinerien  eines  kindischen  Zeitalters  anlehnt. 

In  Dante  und  Milton  haben  wir  schon  das  Aufkommen 
des  Menschlichen  in  der  Epopee.  „In  Milton,  wie  rein 
und  edel,  dabei  wie  schwach  und  zart  ist  der  Charakter 
der  Menschennatur  gehalten!  Ein  von  der  Mutterhenne  be- 
brütctes  Ei;  ein  Keim,  der  der  sorgfältigsten  Wartung  be- 
durfte und  ihrer  werth  ist.  Miltons  Gesänge  schildern 
diese  göttlich  eWartung;  aber  gegen  wen?  vorinn? 
und  wie  unkräftig!  Ohne  Zweifel  lags  an  dem  zu  Miltons 
Zeiten  angenommenen  System,  daß  er  den  ewigen  N'ater. 
daß  er  den  Glorreichen  Sohn,  daß  er  Engel  und  Teufe!  so 
darstellte,  und  gleichsam  auf  Excavationcn  des  Abgrundes 
seine  neue  Schöpfung  baute.  So  viel  Stärke  des  Genius, 
so  viel  Macht  der  Sprache  und  Gedanken  in  diesen  Be- 
schreibungen hervorleuchtet,  fühlen  wir  nicht  in  uns  etwas 
Widerstrebendes?  Indem  wir  das  Göttliche  im  Dichter  mit 
verdecktem  Antlitz  betrachten,  kehren  wir  gern  zur 
Menschheit  zurück  und  gewinnen  diese  in  ihm  desto  lieber" 
(XXIV,  p.  292). 

Mit  der  Frage,  gegen  wen  der  göttliche  Schutz  gerich- 
tet sei,  verrät  Herder,  daß  ihm  die  Nutzlosigkeit  des  hiram- 


—    120    -- 

lischen  Apparates  aufgefallen.  Er  kann  das  Mißbehagen, 
das  die  Miltonsche  Qötterwelt  in  ihm  erregt,  nicht  so  tief 
begründen,  wie  z.  B.  Goethe,  der  die  Antinomie  klar  er- 
kannte. Aber  er  fühlt  das  Unkünstierisch-Dogmatische  in 
ihr.  Er  sieht  auch,  daß  sie  ihm  nichts  mehr  sagt,  weil  er 
nicht  mehr  an  sie  glauben  kann. 

„Du  kennst  Miltons  klaßische  Denkart  und  seine  schöne 
lateinische  Verse,"  sagte  Herder  1796  in  den  Hören  (XVIII, 
p.  486),  „die  stärksten  und  besten  Stellen  indeß  seiner 
beiden  Paradiese  .  .  .  .  sind  rein  G  o  t  h  i  s  c  h." 

Was  er  mit  den  besten  und  stärksten  Stellen  meinte, 
ist  nicht  schwer  zu  erraten.  Einmal  die  zarten  paradiesi- 
schen Szenen,  dann  aber  Partien,  wie  das  hail  holy  light, 
mit  dessen  ersten  Versen  Herder  1800  seine  in  der  Kalli- 
gone  erscheinende  Abhandlung  Vom  Angenehmen 
und  Schonen  eröffnet  (XXII,  p.  55)  und  das  er  1802  im 
dritten  Bande  der  A  d  r  a  s  t  e  a ,  Zweites  Stück,  nochmals 
zum  Teil  übertragt  (XXIII,  p.  538/9). 

Der  alte  Vv^  i  e  1  a  n  d  hatte  trotz  der  Wandlungen,  die 
er  durchgemacht,  Milton  seine  Verehrung  bewahrt.  Seinen 
Neuen  Teutschen  Merkur  eröffnet  er  1790  mit 
einer  Probe  aus  der  noch  ungedruckten  Bürdeschen  Über- 
setzung des  V.  P.,  von  dem  er  sagt,  daß  es  „bey  allem 
was  seine  Tadler ,  mit  Recht  und  Unrecht  daran  auszu- 
stellen finden,  immer  eines  der  bewundernswürdigsten, 
größten  und  interessantesten  Werke  des  Genies  und  der 
Musenkunst  bleiben  wird"  (1.  Stück,  p.  18).  Auch  er  ver- 
ehrte es  also  nicht  ohne  Einschränkungen;  und  daß  er  den 
Anfang  des  fünften  Gesanges,  der  uns  ins  irdische  Paradies 
führt,  als  Probestück  wählte,  zeigt,  in  welchen  Teilen  des 
Gedichts  er  seine  Lieblingsstellen  immer  noch  suchte. 

Trotz  seines  Studiums  der  englischen  Literatur  im 
Winter  1795/6")  hat  sich  Wilhelm  von  Humboldt 


^•)  Vgl.  Ansichten  über  Aesthetlk  und  Litera- 
tur von  Wilh.  V.  Humboldt,  Seine  Briefe  an  Christian 


—    121    — 

nie  tiefer  auf  Milton  eingelassen.  Er  kennt  seinen  Namen, 
denn  er  hat  sein  Leben  in  Johnson's  L  i  v  e  s  gelesen.**) 
sa^t  einmal,  man  könne  gewissermaßen  Homer  und  Milton 
als  zwei  Extreme  neuer  und  alter  Weise  betrachten,*')  lobt 
Miltons  Hölle,")  erwähnt  den  Dichter  in  seinen  Schriften 
flüchtig")  —  seine  Welt  machen  aber  andere  [)ichter, 
Homer,  Ariost,  Qocthe  aus.  „Ein  Vers  Homers,  selbst  ein 
unbedeutender,  ist  ein  Ton  aus  einem  Lande,  das  wir  alle 
als  ein  besseres  und  doch  uns  nicht  fernes  anerkennen. . . . 
Durch  das  Christentum  und  den  Zustand  ;:esellschaftlicher 
Wildheit  .  .  .  wurde  der  Mensch  so  mürbe  gemacht,  daß 
natürliche  Ruhe,  ungestörter  innerer  Friede  auf  ewig  für  ihn 
verloren  war,  .  .  .  Man  spaltete  seine  Natur.  sctJte  der 
Sinnlichkeit  eine  reine  Geistij^keit  entgegen,  und  erfüllte 
ihn  mit  nun  nie  mehr  weichenden  Ideen  von  Armut.  Demut 
und  Sünde  ....  in  seinem  Innern  zerknirscht  durch  ein 
Gemisch  gnostischer  Spitzfindigkeiten  und  Schwärmereien, 
engherziger  schreckenvoller  Begriffe  des  Judentums  ,  "  '*) 

Gottfried  Körner  (1793—1830).  hsg.  v.  f.  Jonas-,  Berlin  ISSO, 
p.  54. 

«>)  ebd.,  p.  55. 

")  ebd..  p.  88.  H.  meint  p.  SI;  «Die  Oichtkunsi  .hat  aus.  dem 
Gebiete  des  Denkens  und  Empfindens  sovie?  in  ihr  eigenes  hin- 
über Ketragcn,  daß  es  ihr  selbst  manchinaJ  um  ihre  Eisenschaft 
als  Kunst  bange  wird."  Er  hat  di<i  moderne  Pociic  im  Auge, 
Milton  ist  also  modern,  weil  zu  viel  Gedanken  in  ihm  sind. 

^*)  Briefe  von  W.  v.  Humboldt  an  Friedrich 
Heinrich  Jacobi,  hsg.  und  vrlSutert  von  Mb.  Leltz- 
mann,  Halle  1892,  p.  60. 

'")  Gesammelte  Schriften,  ed.  A.  Lcitzmann, 
hsK.  V,  d.  kgl.  preußischen  Akademie  der  Wjsscnschahen,  Ber- 
lin, 1904  ff.  Bd.  VI,  2,  p.  505. 

**)  Goethes  B  r  i  c  f  w  e  c  n  s  e  I  mit  W,  u.  Alex  von 
Humboldt,  hsg.  v.  L.  Geige  r,  Berlin  1909.  p.  164. 


—    122    — 

Was  war  unseren  Klassikern,  die  sich  ein  Ideal  edier 
und  freier  Mcnschlichl<eit  gebildet,  die  subtile,  dogmatische 
Welt  eines  Milton?  eines  Puritaners? 

Was  Knebel,  der  Charlotte  v.  Schillers  Neigung  zur 
englischen  Literatur  unterstützte,^*)  von  Milton  zu  wissen 
scheint,  ist  nur,  daß  er  sich  nach  den  Reizen  des  himm- 
lischen Lichts  gesehnt.'^")  Und  auch  Charlotte  von 
Schiller,  die  noch  in  späteren  Jahnen  Milton  und  Klop- 
stock,  die  aus  dem  Himmlischen  entsprungenen,  dem  nach 
dem  Himmlischen  strebenden  Dante  vorzieht,") 
schwebt  diese  Stelle  vor,  wenn  sie  sich  am  8.  Nov.  1787 
ihrem  Tagebuch  anvertraut:  „Schöne  Sonne!  wie  wohl- 
thätig  Ist  dein  Einfluß  auf  die  Erde;  du  erwärmst,  erfreust 
Alles;  so  auch  mein  Herz  ,  .  .  Mit  inniger  Empfindung 
rufe  auch  ich  dir  zu:  hail,  holy  light".^') 

Zu  Anfang  des  19.  Jahrhunderts  urteilte  Jean  Paul 
in  seiner  Vorschule  der  Aesthetik  .  .  .  (1804,  mir 
liegt  die  zweite  verbesserte  Auflage  von  1813  vor)  wie 
die  Klassiker;  p.  124  anerkennt  er  die  Größe  Satans,  was 
allerdings  Goethe  und  Herder  nicht  getan,  und  faßt  p.  522 
sein  Urteil  zusammen:  „Der  Krieg  der  geschlagenen  Teufel 
gegen  den  Allmächtigen,  ist,  sobald  dieser  nicht  selber  seine 


")  Vjil.  Charlotte  v.  Schiller  und  ihre  Freunde, 
Stuttgart  1860,  3.  Bd.,  Einleitung  v.  Urlich,  r>.  XVI. 

*")  K.  L.  voii  Knebels  literarischer  Nachlaß 
und  Briefwechsel,  hsg.  v.  K.  A,  Varnhagen  von 
Ensc  und  Th.  Mundt,  Leipzig  1835/6,  3.  Band,  p.  291 
(Ueber  die  Natur  des  Menschen,  1792/3). 

")  C  h.  V.  S  c  h  i  1 1  e  r'  u  n  d  ihre  Freunde,  Erster  Bd., 
p.    123  (Jahr   1820). 

")  ebd.,  p.  47.  Vgl.  auch  Briefe  von  Goethe  und 
dessen  Mutter  an  Fried  r.  Freiherrn  von  Stein, 
Nebst  einigen  Beilagen,  hsg.  v.  J.  J.  H.  Ebers  u.  Aug.  K  a  h  - 
l0rt,  Leipzig  1846,  p.  124,  wo  sie  ausruft:  „Ich  habe  doch  die 
Engländer  gar  lieb". 


~    123    -» 

Feinde  untcrstüizi  und  krönt,  ein  Krieg  der  Schatten  gegen 
die  Sonne,  des  Nichts  gegen  das  All;  so,  daß  dagegen  bloße 
Ungereimtheiten  fast  verschwinden,  solche  sx'ie  z.  B.  eine 
gefährliche  Kanonade  zwischen  Unsterblichen,  —  die  ein- 
fältigen Schildwachen  und  Schweizer  von  Engeln  vor  dem 
Kdenthore.  damit  die  Teufel  nicht  wagrcchi  einschleichen, 
welche  dafür  nachher  steilrecht  anlangen,  usw.  Aber  man 
braucht  diesem  großen  Dichter  nur  seine  Hülismaschinen 
von  Hülfsengeln  wegzunehmen*  so  ist  ihm  geholfen  und 
durch  die  Menschen  wird  er  göttlicher  als  durch  die  Engel." 
Noch  1847  wirkte  in  Alexander  von  Humboldt 
die  Anerkennung  der  Paradiesszenen  nach,  als  er  im 
Kosmos  il,  p.  64  schrieb:  „Der  ganze  Reichtum  der 
Phantasie  und  der  Sprache  ist  auf  die  Schilderung  der 
blühenden  Natur  des  Paradieses  ausgegossen.       .  ." 


IV. 

Mit  Jean  Paul  haben  wir  schon  nicht  klassischen  Boden 
betreten. 

Wir  wissen,  wie  das  wissenschaftliche  Studium  sich 
auch  Miltons  angenommen  und  ,wic  der  Name  des  Dichters 
in  weitere  Kreise  getragen  wurde.  Manchen  war  das  V. 
P.  noch  vertraut,  wie  Georg  Christoph  Lichtenberg  **)  u.  a. 

Was  bot  die  Dichtung  denjenigen  zu  Ende  des  Jahr- 
hunderts, die  sich  nicht  auf  klassischer  Höhe  bewegten? 


-•)  Vgl.  seine  Aphorismen  D.  L.  D.  46/7.  Ui.  127.  1«. 
136.1  wo  die  Rciiistcr  die  Siellen  anheben,  die  von  Milton  han- 
deln. Ebenso  Lichtenbergs  Briefe,  hsc  v.  Albert 
Leitzmann  u.  Carl  SchQddekcpf,  Leipzig  1901  f.,  Bd. 
2  u.  3  (s.  Recister).  Es  handelt  sich  mehr  um  kurze  Bcmer* 
kuHKen,  Anführuiiscn  u.  5.  D.  L  D.  136.  p.  73  sasrt  L,  er  schätze 
Dichter  wie  Milton,  Vircil,  Horaz  erst  recht,  seitdem  er  mit  der 
Welt  bekannt  geworden. 


—    124    — 

Daß  es  immer  Klopstockschwärmer  gab,  die  die 
Mcssiadc  wenn  nicht  dem  V.  P.  vorzogen,  so  doch  ihm 
gleichstellten,  bezeugt  uns  nicht  nur  der  in  Deutschland 
reisende  Colcridge/")  sondern  auch  die  Tatsache,  daß  die 
1796/7  erschienenen  Abhandlungen  von  C.  F.  Benkowitz'O 
und  J.  C.  A.  Qrohmann  ")  preisgekrönt  wurden. 

Noch  gab  es  Leute,  denen  das  V.  P.  ein  Erlebnis  bedeu- 
tete: Lichtenberg,  Asmus  Jakob  Carstens,")  der  Zürcher 
Maler  Heinrich  Füßli,  der  in  seiner  neuen  Heimat  London 
1799  eine  Miltonaussicllung  veranstaltete,")  dann  aber  be- 


•'"»)  VkI.  M.  Bernays,  Schriften  .  .  .  II.  p.  135.  Als 
ColeridKe  von  einem  Ratieburger  Pastor  gesagt  wurde,  Klop- 
stock  sei  der  Jciitschc  Milton,  soll  er  geantwortet  haben; 
„Wahrhaftig  ein  gar  deutscher  Milton". 

^^)  Der  Messias  von  Klopstock,  ästhetisch 
beurteilt  und  verglichen  mit  der  Iliade,  der 
Aeneide  und  dem  verlornen  Paradies  von  C.  F. 
Benkowitz,  Eine  Preisschrift,  die  von  der  Amsterdamer  Ge- 
sellschaft zur  Beförderung  der  schönen  Wissenschaften  eine 
doppelte  Medaille  erhalten  hat,  Breslau  1797,  vgl.  Q.  Jenny, 
p.  81  ff, 

"')Aesthetische  Beurteilung  des  Klop- 
stock i  sehen  Messias,  von  J.  C.  A.  G  r  o  h  m  a  n  n  ,  Eine 
von  der  Amsterdamer  Akadenie  der  Dichtkunst  und  schönen 
Wissenschaften  gekrönte  Preisschrift,  Leipzig  1796,  Benko- 
witz' und  Qrohmanns  Abhandlungen  griff  A.  W.  Schle- 
gel an.  (Vgl,  Werke,  Leipzig  1847.  11,  Bd.,  p.  153). 

"")  Vgl.  Leben  des  Künstlers  Asmus  Jakob 
Carstens  .  .  .  von  Carl  L  u  d  w  i  g  F  e  r  n  o  w ,  p.  29,  wo  er- 
zählt wird,  daß  Carsten  1780  Adam  und  Eva  nach  Milton  malte. 
Ungef.  1790  schul  er  seinen  Sturz  der  Engel  (vgl.  ebd.,  p. 
88),  der  in  Carstens  Werken  in  ausgewühlten  Um- 
riß-Stichen von  Wilhelm  Müller,  hsg.  v.  Hermann 
Riegel,  Leipzig  1869,  Tafel  4  u  5,  wiedergegeben  ist, 

•*)  Heinrich  Füßli  (1741—1825)  sollte  Anfangs  der 
neunziger  Jahre  die  Illustrationen  zu  einer  von  Cowper  beab- 
sichtigten .Ausgabe  von  .Miltons  Werken  machen.  Cowper 
wurde  aber  geisteskrank,  sodaß  die  Ausgabe  nicht  zustande  kam. 


—    125    — 

sonders  der  alle  Denis,  der  im  zweiten  Teil  seiner  Lese- 
fr  ü  c  h  t  c  (Wien  1797)  eine  Lanze  für  den  englischen  Dich- 
ter brach. 

Als  W.  V.  Humboldt  in  Wien  war,  kam  ihm  Deni?  als 
der  Repräsentant  einer  vergangenen  Zeit  vor.")  Und  doch 
waren  weder  Füßli  noch  Denis  blinde  Verehrer  Milien'». 
Der  Zürcher  Maler  meint  in  schien  A  p  h  o  r  i  s  m  s  spöt- 
tisch: ,v.  .  .  Milton  dropt  the  trumpet  that  had  asionishcd 
hell,  ieft  Paradise,  and  introduccd  a  pcdatrogue  to  Hea- 
vcn".^°)  Der  Wiener  Dichter  macht  auch  auf  unschöne 
Stellen  aufmerksam.  Neben  anderen  schönen  Schilde- 
rungen ziehen  ihn  die  Paradiesszenen  am  meisten  an. 

FüÜli  stellte  seine  40  Qcmaldc  (uovon  27  nach  dem  V.  P.i  1799 
in  Pall  Mall  aus.  Vgl.  Jchn  Kno-vlcs,  The  Life  and 
writinßs  oi  Henry  Füsclj  .  .  .  Vol.  ],  London 
MDCCCXXXI.  p.  171  ff,  p.  193  u.  p.  204  ff. 

Füßli  hatte  offenbar  seine  Mütcnbcscisic.'wnz  nach  Eng- 
land von  zu  Hause  milKenommcn.  Bodrner  becinflusstc  ihn.  Wir 
wissen,  daß  Rudolf  Füßli,  sein  älterer  Bruder.  1758  eifrig  im 
V.  P.  las  (so  berichtet  Wieland  am  24.  April  1758  an  Zimmer- 
mann, AusKC wählte  Briefe  von  C.  M.  W.,  p.  274). 
K  n  0  w  1  e  s  gibt  uns  die  Themata  der  Gemälde  und  p.  236  be- 
richtet er  uns  vom  Verkaufe  verschiedener.  In  Hrch.  PucSIis 
Saemmtlichen  Werken,  von  denen  nur  iwc.  Licfcran- 
Ken  herauskamen,  befindet  sich  im  2.  Heft  (Zürich  !*09)  ein  Stich 
„Satan,  von  Ithuricls  Speer  berührt".  Ijcssings  Rat,  die  Engel 
nicht  zu  malen,  befolgte  P.  nicht 

")  Vgl.  Neue  Briefe  W,  v,  Humboldt»  an 
Schiller  (1796-1803),  bearbeite,  a.  hrsg.  v.  Fried  r.  Cle- 
mens Ebrard,  Berlin  1911,  p.  154  (4.  September  1797): 
„Unter  den  Menschen,  die  ich  bisher  sali,  hat  mich  noch  am 
meisten  der  alte  Denis  intercssir:.  Cr  hat  das  für  sich,  dafl  er, 
wie  alle  älteren  Leute,  außer  seiner  eignen  Individualität  eine 
sanze  Zeit  und  eine  ganze  Classe  rcpräscntirt  .  .  .  Lob  der 
frühern  Deutschen  Literatur,  Khge,  daß  das  goldnc  .K\\ct  vor- 
über ist,  .  .  .". 

»•)  Knowles,  3.  Bd..  p.  68. 


—    126    — 

Und  verraten  nicht  die  in  den  achtziger  und  neun- 
ziger Jahren  entstandenen  Übersetzungsfragmente,  daß 
man  sich  auch  in  den  weitern  Kreisen  mit  Vorliebe  der 
paradiesischen  Motive  oder  der  lyrischen  Partien  er- 
innerte? 

Wenn  also  noch  von  einem  Lebendigsein  Miltons  die 
Rede  sein  kann,  so  betrifft  das  nur  die  wenigen  angedeu- 
teten Stellen,  unter  welchen  natürlich  auch  die  Hymne  an 
das  Licht,  die  Fr.  von  Matthison  kennt,")  oder  einige  Züge 
der  Größe  in  Satans  Charakter.^^)  1797  setzte  der  Musikus 
Reichard,  der  Besitzer  zweier  Opernhäuser,  für  sie  den 
Morgen gesang  in  Musik  (Text  von  Bürde  nach  Mil-* 
ton),  der  oft  aufgeführt  und  Jahrzehnte  hindurch  zu  den 
klassischen  Musikwerken  gerechnet  wurde."') 

V/as  war  Milton  den  Gelehrten?  Es  mochte  noch 
solche  geben,    die  wie  Adelung    gegen  den  schwülijtigen 


•'■)  Vgl.  Briefe  von  Fr.  Matthison,  verb.  Anfluge, 
Zürich  1802,  p.  234  (14.  Juli  1793).  Beim  Hinaustreten  aus  der 
Quelle  bei  Pfäffers  erzählt  er:  „Hierauf  begaben  wir  uns  auf  den 
Rückweg;  und  freudig,  wie  Milton  nach  seiner  Hüllenreise, 
begrüßte  ich  das  Sonr.cnlicht,  als  wir  wieder  beim  Badehause 
ankamen".  (Ähnlich  in  den  Erlnnerungea  von  Fr.  v. 
Matthison,  1.  Bd.,  Zürich  1810,  p.  168).  Imfs.  Bd.  der  Er- 
innerungen (Zürich  1812),  p.  23  f  erzählt  ^\.,  wie  Joh.  v. 
Müller  ihm  ein  Fragment  über  die  beste  Leistung 
eines  jungen  Genies  gegeben,  woraus  er 'die  p.  81  unten 
angeführte  Stelle  von  Herder  zitiert. 

**)  Darauf  weist  auch  Carstens  Stoffwahl,  s.  oben  p.  124. 
Jo  h.  Q  e  0  r  g  M  ü  1 1  e  r  schreibt  am  31.  Jan.  1791  an  seinen  Bru- 
der Johann:  „An  v/ahrer  Größe  ziehe  ich  Milton  weit  vor. 
Klopstoks  Engel  sind  oft  schwache  empfindclnde  Seelen".  (Der 
Briefwechsel  der  Brüder  J.  Georg  Müller  und 
Joh.  v.  Müller,  1789—1809,  hsg.  von  Eduard  Haug, 
Frauenfeld  1893,  p.  25  f.).  In  längst  vergessenen,  schwer 
zugänglichen  Dichtungen  ließe  sich  vielleicht  noch  ein.  Nachfahr 
Satans,  finden. 

»*)  Vgl.  Wilhelm  Bode,  Die  Tonkunst  in 
Goethes  Leben.  Berlin  1912,  1.  Bd.,  p.  259. 


~    127    — 

Milton    auftraten    (über  den   deutschen  Styl   !78I).     Sie 
bilden  jedoch  die  Ausnahme. 

J.  J.  Eschenburg  schrieb  1784  in  seinem  E  ni  w  wri 
einer  Theorie  und  Literatur  der  schönen 
Redekünste  zur  Qrundlasrc  bei  Vorlesun- 
gen (p,  216  der  Ausgabe  von  1817,  ßeriin  und  Stettin): 
„Das  klassische  epische  Gedicht  der  Engländer,  und  zu- 
gleich das  edelste  und  erhaben!  te  Muster  der  neuem  Re~ 
ligionsepopöe,  ist  Milton's  "veriornes  Paradies: 
reich  an  Dichtung,  an  kühnen  und  großen  Bildern,  man* 
nichfaltiger  Beschreibung,  hoher  Dichtersprache,  und  vielen 
andern  Schönheiten,  über  die  man  einigen  Widersinn  in 
der  Anlage  des  Ganzen  imd  im  Gebrauch  der  Maschinen 
leicht  vergiüt."  Wie  wir  sahen,  wählte  er  für  seine  Bei- 
spielsammlung (1788)  den  Anfang  des  5.  Buches, 

In  der  in  der  Allgemeinen  deutschen  Bibllo« 
thek  von  1794  (Bd.  10.  2.  Stück)  erschienenen  Anzeige 
von  Bürdcs  Übersetzung  heißt  es  (p.  532k  „Man  'vciß,  daE 
sich  an  der  Manier  des  großen,  und  im  Giinzen  mit  Ri'chi 
bewunderten,  englischen  Dichters  manches  aussetzen  Ilßt» 
,  .  .  Besonders  gehört  dahin  Milions  oft  verschwendete  ind 
übel  angebrachte  Gelehrsamkeit,  der  scientifischc  Schwung 
in  manchen  Unterredungen  seiner  Personen,  die  cinge- 
flochtcncn  Erörterungen  theologischer  und  metaphysischer 
Spitzfindigkeiten  u,  s.  f."  Deshalb  hätte  der  Übersetzer 
kürzen  «ollen. 

Ähnlich  lauten  die  Urteile  in  den  um  die  Jahrhundert- 
wende erscheinenden  theoretischen  "Schriften. 

Die  Nachträge  zu  Sulzers  allgemeiner 
Theorie  der  :>chöncn  Künste  (oder  Charak- 
tere der  vornehmsten  Dichter  aller  Natio- 
nen... von  einer  Gesellschaft  von  Gelehrten.  7.  Bandes 
1.  Stück,  Leipzig  1803)  widmen  John  A\ilton  und  besonders 
dem  V.  P.  eine  längere  Abhandlung  (p.I69— 208).  Sie  rüh- 
men an  der  Dichtung  die  gewaltige  poetische  Kraft,  beson- 


—     128    — 

ders  in  der  Schilderung  des  himmlischen  Krieges  (p.  191). 
„Aber  leider!  drängte  sich  in  die  Darstellung  des  alttesta- 
mentlichen  Mythus  die  christliche  Dogmatik  ein  und  unter- 
jochte die  Einbildungskraft  des  Dichters,  so  daß  sie  nur 
bisweilenv  in  dem  Gefühl  ihrer  eigenthümlichen  Macht,  die 
usurpirte  Gewalt  von  sich  stieß  und  ihren  Fesseln  ent- 
schlüpfte." Die  Antinomie  wird  hervorgehoben  (p.  197  f.). 
Auch  die  Schilderung  des  ersten  Menschenpaares  ist  durch 
Pedanterie  verdorben  (p.  203).  Aber  ».nichts  ist  schöner 
und  reichhaltiger,  als  die  Beschreibung  des  Traums,  in 
welchem  Adam  die  Schöpfung  des  Weibes  erblickt  (VIII» 
355);  eine  Beschreibung,  welcher  vielleicht  nur  die  beseelte 
Schilderung  von  Adams  erstem  Besinnen  und  Aufmerken 
(VIII,  253")  an  die  Seite  gestellt  werden  kann."  (p.  205.) 
Noch  andere  mächtige  Einzelszenen  werden  gerühmt.  Pro- 
ben werden  in  Bürdescher  Übersetzung  angeführt. 

Ludwig  Wachler  meint  in  seinem  Handbuch  der 
allgemeinen  C  u  1 1  u  r ,  Zwcyte  Hälfte  1805,  p.  759, 
Miltons  unsterbliches  Meisterwerk  sei  „das  Produkt  einer 
lange  unterhaltenen,  melancholisch-erhabenen  Gemüths- 
stimmung,  in  welchem  das  Gefühl  eines  unbefriedigten  Da- 
seyns  laut  und  kräftig  ausgesprochen"  sei.  Obwohl  dies 
Urteil  kaum  von  eigener  Lektüre  zeugt,  redet  auch  Wachler 
das  Allgemeingut  gewordene  Urteil  nach,  daß  sich  Milton 
nur  zu  oft  theologische,  dogmatisch-polemisierende  und 
allegorisierende  Digressionen  erlaube;  überall  herrsche 
aber  großes  Leben,  tiefe  Empfindung  und  unerschöpflich 
reiche  Phantasie. 

Weil  das  V.  P,  nicht  mehr  gelesen  wurde,  arteten  die 
Urteile  in  Phrasen  aus.  Die  Meinung  über  Milton  war 
mehr'  oder  weniger  bei  allen  dieselbe,  wenn  auch  die  theo- 
retische Begründung  je  nach  den  überlieferten  Maßstäben 
verschiedene  Färbung  erfuhr. 

Friedrich    Bouterwek    macht    sich    in    seiner    Qe- 


-^    129    -' 

schichte  der  Künste  und  Wissenschaften 
seit  der  Wiederherstellung  derselben  bis 
an  das  Ende  des  18.  Jahrhunde  rtSv  Dritte  Abtei- 
lung, Geschichte  der  schönen  Wissenschaf- 
ten» 7.  Bd.  (Göttinnen  1809).  p.4!6  ff.  anheischig',  die  hohc.a 
Schönheiten  und  großen  Fehler  des  V.  R  im  richtigen  Ver- 
hältnisse zueinander   darzustellen. 

Das  Gedicht  lasse  sich  aber  nicht  nach  den  alt  licrge- 
brachtcn  Regeln  beurteilen.  Boutei'-vck  kommt  zum  Kr- 
gebnis,  daß  das  V.  P.  eine  gelungene  Verschmelzung  meh- 
rerer Dichtungsaiten  sei.  (p.  420 )  „Wah'-haft  episch  sind 
in  dem  verlornen  Paradiese  nur  die  Partiecn,  in  denen  die 
bösen  Geister  glänzen,  und  die  Erzählung  des  wundervollen 
Krieges,  den  längst  vorher  die  guten  Geister  mit  den  abge- 
fallenen geführt  usw."  Adam  und  Eva  und  der  allmilchiigc 
Gott  seien  nicht  heroisch,  sondern  nur  Satan,  dessen  Größe 
Bouterwek  anerkennt*")  (p.  418,9).  Hinter  dem  Epischen 
verberge  sich  auch  Dramatisches. 

Aber  das  Interesse  sei  mehr  didaktisch  als  episch. 
Die  didaktischen  Stellen  seien  sehr  gu:  in  die  Erzählung 


*°)  In  seiner  A  c  s  t  h  c  t  i  k  (Leipzig  iS(i6»  schreibt  er,  zui- 
sclien  seiner  moralischen  und  äsiiieiischcr  Aufiassunj:  kämpfrnd, 
(p.  157/S):  „Nicht  das  Moralische  seihst,  sonJcrn  das  Imposante 
in  der  nioralisciicn  Natur,  hat  aejthetischc  Grüße"  .  .  .  ^ber 
wen::  dann  auch  ein  rniltonischcr  Satan  in  seiner  Art  nichts  zu 
wünschen  übrig  liiüt,  so  darf  das  höhere  Bewußtscyn  dts  Großen 
in  tns  doch  nur  ein  weni»:  in  die  acsthctischc  Reflexion  ein- 
drin,4cn,  und  die  canze  satanische  Majestät  versinkt  unter  der 
Erscheinung  eines  kidpstockischen  Messias".  Solch  ein  LTtcil 
crkläri;  uns.  warum  Bouterwek  Satan  nie  als  „Held*  des  Kp.is 
ansehen  wollte.  Von  moralischen  Faktoren  hat  er  sich  noch 
nicht  voüstündiß  befreit,  was  er  in  der  Geschichte.... 
jedoch  nicht  merken  laßt.  Da  hat  er  auch  die  frühere  Behaup- 
tung fallen  lassen,  den  höllischen  Geistern  Miltons  fehle  trotz 
ihrer  Manigfaltigkeit  eine  „bestimmte  acsthctischc  Idee"  (Acsihe- 
tik  p.  258/9). 

PUeo,  MJlton  d 


—     130    — 

verflochten.  Daher  sei  der  Eindruck  auf  ein  für  religiöse 
Poesie  empfängliches  Gemüt  hinreißend  und  begeisternd, 
(p.  417.) 

Doch  auch  für  didaktische  Poesie  sei  Milton  nicht  ge- 
boren gewesen.  „Sobald  er  Verse  machte,  wurde  sein 
Gefühl  lyrisch,  und  selbst  die  moralischen  und  religiö- 
sen Betrachtungen,  denen  er  sich  so  gern  überließ,  erhielten 
einen  lyrischen  Ausdruck.  Das  Interesse  der  Erzählung 
war  ihm  also  auch  bei  der  Erfindung  seines  verlornen  Para- 
dieses das  untergeordnete.  Er  fand  keine  Begebenheit,  an 
welche  er  seine  Lieblingsgefühle  und  Betrachtungen  so  poe- 
tisch anknüpfen  könnte,  als,  an  die  biblische  Geschichte 
des  Sündenfalls.  Den  Himmel  und  die  Hölle,  zwei  Extreme 
im  moralischen  Sinne,  feierlich  zu  beschreiben,  und  zwi- 
schen beide  das  reizende  Bild  der  Unschuld  der  Stamm- 
eltern des  Menschengeschlechts  in  einer  lieblichen  Glorie 
hinstellen;  was  konnte  seiner  kühnen  und  doch  immer  auf 
das  Moralische  gerichteten  Phantasie  willkommener  sein?" 
(p.  41S). 

In  seiner  A  e  s  t  h  c  1 1  k  (Zweyter  Theil,  p.  388)  hatte 
Bouterwek  die  Behauptung  aufgestellt,  das  V.  P.  habe  eine 
verkehrte  Einheit,  denn  eine  Verherrlichung  Satans  wolle 
es  doch  nicht  sein.  Dadurch  hatte  er  sich  auf  Lessings 
Seite  gestellt,  der  darlegte,  daß  das  Interesse  an  Satan 
dasjenige  am  Allmächtigen  weit  übertreffe.  .letzt  aber 
sprach  er  dem  Gedichte  überhaupt  jegliche  Einheitlich- 
keit ab. 

Bouterwek  bietet  uns  keine  durchdachte  Auffassung 
des  V.  P.,  sondern  eine  geschickte  und  gelehrte  Zusammen- 
fassung dessen,  was  schon  darüber  gesagt  wurde.  Schablo- 
nenmäßig gliedert  er  das  Gedicht  in  seine  epischen,  drama- 
tischen und  didaktischen  Bestandteile.  Soweit  ist  er  aka- 
demisch-objektiv. 


—    131    -^ 

Wenn  er  aber  behauptet,  Milions  Qeiüh!  werde  lyrisch, 
sobald  er  Verse  mache  —  dann  wird  er  willkürlich.  Kr- 
kenni  er  doch  selbst  an.  daß  gewisse  Szenen  „wiindcrvoll 
episch**  seien.  Noch  willkürlicher  ist  er,  wenn  er  saRt, 
das  Interesse  der  Erzählung  sei  Milton  das  untergeordnete 
gewesen.  Da  schreibt  er  Milton  zu.  was  c  r  verschuldet 
Ihm  ist  die  Fabel  Nebensache,  nicht  dem  Dichter.  Ihm 
gefällt  nur  das  Lyrische. 

Herder,  der  das  „Wunderbare"  im  Gedichte  nicht  ver- 
dauen konnte,  machte  das  puritanische  Dogma  dafür  ver- 
antwortlich. Er  war  darin  klüger  als  Boutcrwek,  obschon 
er  so  wenig  wie  dieser  den  Grund  einsah,  weshalb  das  V. 
P.  als  Ganzes  unkünstlerisch  ist. 

Aber  das  Ziel,  dasBouterwek  auf  seinem  Weg  erreichte, 
war  schließlich  auch  die  bloße  Anerkennung  einiger  „Lieb- 
lingsgefühle und  Betrachtungen**. 

So  stand  der  Gelehrte  dem  Geschmacke  seiner  Zeit 
nicht  fern,  besonders,  wenn  er,  der  Tradition  gemäß,  das 
Gelehrte,  Scholastische  und  manchmal  allzu  Groteske  im 
Gedichte  kritisierte  (p.  423/4).  Die  Leute,  die  Klopstocks 
Pathos  nicht  mehr  verstanden,  unterschrieben  wohl  den 
Satz,  daß  der  gleichförmig-feierliche  Gang  von  Miltons 
Sprache  auf  die  Länge  ermüde  (p.  424). 

Bouterwek  packten  vor  allem  die  lyrischen  Stellen. 
dann  auch  „die  Schrecken  der  Hölle  und  die  Freuden  des 
Paradieses**  (p.  423). 

Bei  denjenigen,  die  fremde  und  -eigene  Anschauungen 
zusammenstoppeln,  ist  die  Erkenntnis  dessen,  was  in 
ihnen  von  einem  Kunstwerk  lebendig  ist,  nicht  leicht. 
Vielleicht  ist  sogar  das  wenige,  das  wir  aus  Bouterwcks 
„aesthetischem  Kramladen**  herausdestilliert  haben,  nicht 
das,  was  ihm  Milton  sagte,  sondern  nur  das  Echo  zusam- 
mengetra;5ener  fremder  Wertschätzungen.  Aber  auch  in 
diesem  Falle  ist  es  für  uns  interessant,  da  es  uns  zeigt. 


—    132    — 

was  ein  Mann,  der  das  Wissen  seiner  Zeit  zusammenfassen 
wollte,  über  den  Dichter  des  V.  P.  sagt.  Deckt  sich  doch 
Bouterweks  „Geschmack"  im  Grunde  mit  den  von  uns  ge- 
sammelten Geschmacksäußerungen,  die  er  also  bestätigt. 


Sechstes  Kapitel 
Die  Frühromantik 

„Welcher  Lebendige,  Sinnbcjrablc,  liebt  nicht  vor  allen 
Wundererscheinungen  des  verbreiteten  Raums  um  ilm,  das 
allerfrculiche  Licht  —  mit  seinen  färben,  seinen  Strahlen 
und  Wogen,  ,  .  .  .  Wie  ein  König  ^qt  irdischen  Natur  ruft 
es  jede  Kraft  zu  zahllosen  Verwandlungen»  knüpft  und  löst 
unendliche  Bündnisse,  hängt  sein  himmlisches  Bild  jedem 
irdischen  Wesen  um.  —  Seine  Gegenwart  allein  offenbart 
die  Wunderherrlichkeit  der  Reiche  der  Welt. 

„Abwärts  wend  ich  mich  zu  der  heiligen,  unaussprech- 
lichen, geheimnisvollen  Nacht  .  .  .  /* 

„Wie  arm  und  kindisch  dünkt  mir  das  Licht  nun." 

So  sang  um  die  Jahrhundertwende  Novalis.*)  Cr,  der 
trunken  der  göttlichen  Liebe  im  Schoß  lag.  suchte  das  Über« 
irdische  nicht  mehr  im  Glänze  des  holy  light.  sondern  Ira 
geheimnisvollen  Dunkel  der  Naclit.  Und  was  ist  gegen 
diese  Miltons  Nacht,  die  Herder  noch  so  sehr  geiricsen. 

In  Hardenbergs  mystisches  Reich  wollten  alle  Früh- 
romantlkcr  steigen.  Eine  neu  erwachte  Religiosität  erfüllte 
sie,  aber  eine  Relijriosität,  die  sie  von  Milton  weg  in  die 


*)  Nova]is  Schriften.  Kritische  Ncuauss:abe  lut 
Gfiind  des  handschriftlichen  Nachlasses  von  Ernst  Heil* 
born,  Erster  Teil,  Berlin   1901.  p.   4'<5  6. 


—    134    — 

Arme  Dantes  trieb.'*)  Tieck/)  Schelling,*)  Caroline  Schle- 
j;cl,'')  vielleicht  auch  Heinrich  Steffens  *)  und  Fichte '')  mag 
das  V,  P.  in  ihrer  Jugend  vorübergehend  etwas  gewesen 
sein  ~  in  ihrem  späteren  Leben  spielte  es  sozusagen  keine 
Rolle  mehr. 

Es  war  um  180Ö,  als  Friedrich  Schlegel  nach  einer 
neuen  Mythologie  suchte  und  in  Schelling  einen  Gleich- 
gesinnten fand.  Unter  dem  Einfluß  der  idealistischen  Phi- 
losophie kam  Schlegel  zum  Postulat  einer  Mythologie,  die 
sich  nicht  wie  die  alte  unmittelbar  an  das  Nächste  und 
Lebendigste  der  sinnlichen  Welt  anschließen  darf,  sondern 
aus  der  Tiefe  des  Geistes  herausgebildet  werden  muß.  Die 
Mythologie  ist  somit  die  neue  Poesie  überhaupt,  die,  als 
reelle  Erscheinung,  mit  dem  Ideellen,  dem  sie  entsprungen, 
in  Einklang  steht.  Die  Dichtung  ist  die  sinnliche  Pro- 
jektion des  Universalgeistes.  Zur  selben  Ansicht  kam 
Schelling:  „Die  Philosophie  schaut  das  Absolute  in  seinen 

')  Vgl.  Arturo  Farinelli  in  seiner  Rezension  von  Emil 
Sulger-QebinK»  Qoetlie  und  Dante,  Bullettino  della  So- 
cietä  Dantesca  Italiana  vol.  XVI,  f.  2.  (Qiugno  1909)^ 
p.  91  ff. 

^)  Tieck  schreibi  am  17.  Dez.  1818  anSoiger:  „Zuwider  waren 
mir  fast  immer  die  geistliclien  und  christlichen  Dichter,  wie 
Milton,  vor  allem  aber  Klopstock  in  seinem  Messias."  (Sol- 
gers nachgelassene  Schriften  und  Brief- 
wechsel I.,  hsg.  V.  L.  Tieck  u.  Fr.  v.  R a  u m  e r ,  Leipzig 
1826,  p.  695).  Vgl.  auch  E.  A.  Regener,  Tieckstudien,  Ro- 
stocker Diss.  190.3,  p.  22.  M.  kommt  in  einem  unveröffentlichten 
Aufsatz  T.s  über  das  Erhabene  vor. 

*)  Vgl.  Aus  Schellingä  Leben,  In  Briefen,  Erster 
Band   (1775-1803),  Leipzig   1869,  p.   17. 

'■•)  Vgl.  Caroline,  Briefe' aus  der  Frühromantik,  Nach 
üeorg  Waitz  vermehrt  hsß.  v.  Erich  Schmidt,  Leipzig 
1913.  p.  74. 

")  Vgl  Heinrich  Steffens,  Was  ich  erlebte, 
Zweiter  Bd.    (Breslau  1840),  p.  112. 

')  Vgl.  J.  Q.  F  i  c  h  t  e  s  Leben  und  literarischer  Briefwechsel, 
Von  seinem  Sohne  J.  H.  Fichte.  2.  Aufl.,  L  Bd.,  Leipzig  1862, 
p.  17  Anm. 


^    135    - 

besonderen  Formen  an,  den  Ideen,  wie  sie  zn  sich  sind,  den 
Urbildern.  Auch  die  Kunst  schaut  das  Urschönc  in  seinen 
besonderen  Formen  an,  aber  den  Ideen,  sofern  sie  real  sint!, 
—  den  GeKenbildern*'.') 

Nach  dieser  Theorie  kann  also  der  Ünivcrsalseisi,  Qot:, 
in  der  Kunst  nur  in  seinem  GeKcnbilde.  der  Welt,  dargestellt 
werden  und  niclit  in  persona.  Deshalb  finden  v-ir  bei  den 
Romantikern  nur  ablehnende  Urteile  über  das  V.  P. 

Der  Katholizismus  hat  eine  wahrhaft  poeiische  Mytho- 
logie geschaffen,  die  der  Protestantismus  durch  sein  ab- 
strakteres Wesen  zerstörte. 

!n  neuer  Formulierung  taucht  der  Vorwurf  ^cgen  die 
Antinomie  im  V.  P.  auf. 

Der  orientalische  Dichter,  sagt  Sclielling  in  seiner 
Philosophie  der  Kunst,  ist  ..mit  seiner  Einbildungs- 
kraft ganz  in  der  übersinnlichen  oder  Intellektuaiwelt,  wo- 
hin er  auch  die  Natur  versetzt,  statt  umgekehrt  die  Intel- 
Icktualwelt  —  als  die,  worin  Endliches  und  Unendliches  eins 
sind  —  durch  die  Natur  zu  symbolisircn  und  so  ins  Reich 
des  Endlichen  zu  versetzen.*) . . ."  ..Wollte  man  die  Engel 
als  Personificationen  von  Wirkungen  Gottes  auf  die 
Sinnenwelt  denken,  so  wären  sie  als  solche  in  ihrer  Unbe- 
stimmtheit doch  wiederum  ein  bloßer  Schematismus,  und 
also  zur  Poesie  unbrauchbar".'*")  Im  Gegensatz  zu  Milton 
ist  Dante  das  Muster  eines  Univcrsalgeistes,  da  er  die 
ganze  Welt  in  ihrer  realen  Form  hat  darstellen  können.") 


*)  VrK  für  diese  Stelle:  Dr.  .^riiz  Strich.  Die  My- 
thologie in  der  deutschen  Literatur  von  Klop- 
stock  bis  Wagner,  Halle  1910.  Zweiter  Band.  p.  125  u$u. 
(s.  Register). 

°)  Vgl.  Vorlesungen  über  die  Philosophie  der 
Kunst  (gehalten  1802/3  und  1804  In  Jena  und  18fi5  in  Würi- 
burg)  in  den  Sämmtlichen  Werken,  1.  Abt.,  5.  Bd. 
(Stuttgart  und  Argsburg  1859),  p.  422. 

'")  ebd.,  p.  43^. 

'')  Werke,  1.  Abt,  5.  Bd..  p.  152/163  (im  Aufsau  Ucber 
Dante   in   philosophischer   Bexiebung). 


—    136    — 

An  Hand  dieser  Philosophie  deckt  A.  W.  Schlegel  in 
seinen  Vorlesungen  über  schöne  Litteratur 
und  Kunst'')  alle  Widersprüche  im  V.  P.  auf,  und 
predijit  Friedrich  Schlegel  in  seiner  Geschichte  der 
alten  und  neuen  Litteratur")  die  indirekte 
Darstellung  des  Christentums,  d.  h.  die  Darstellung  des 
Einflusses,  den  sein  Geist  auf  die  Poesie  ausübt. 

Diese  Betrachtungsweise  war  aber  nicht  die  bloße 
Folge  einer  philosophischen  Abstraktion,  sondern  der  Aus- 
fluß eines  Scelenzusiandes  oder  Geschmackes,  der  in  der 
Weltanschauung  der  Frühromantik  seinen  Ausdruck  fand. 
Dieser  Seelenzustand  war  nicht  verschieden  von  demjeni- 
gen Hardenbergs,  als  er  sich  zur  Befriedigung  seiner  gött- 
lichen Sehnsucht  vom  klaren  Lichte  abwandte. 

Die  Romantiker  wollten  das  Göttliche  nur  ahnen, 
nicht  sehen.  „Was  ist  es  denn,  was  im  Homer,  in  den 
Nibelungen,  im  Dante,  im  Shakespeare  die  Gemüter  so  un- 
widerstehlich hinreißt,  als  jener  Orakelspruch,  des  Herzens, 
jene  tiefen  Ahnungen,  worin  das  dunkle  Räthsel  unseres 
Daseyns  sich  aufzulösen  scheint",  schreibt  einmal  A.  W. 
V.  Schlege!.'') 

Schlecht  verträgt  sich  das  Heroische  mit  dem  Rätsel- 
haften, Unbestimmten.  „Wie  freut  es  mich,  daß  Sie  die 
kindliche,  spielende  Seite  der  Religion  fühlten !*',  ruft  Tieck 
in  einem  Briefe  an  Solger  aus.")  „Wie  hat  Klopstocks 
M  i  1 1 0  n  immer  nur  das  Ernste,  ja  Abschreckende  dabei  im 

^^)  Im  2.  Teil,  vQeschichte  der  klassischen  Litte- 
ratur (1802—1803)  --=  D.  L.  D.    Bd.  18,    p.  205  ff. 

!''■)  Vorlesungen  gehalten  1812,  gedruckt  1815  in  Wien, 
Zweyter  Teil.  vgl.  p.  9  if.  und  ?.  142, 

»*)  Vgl.  Briefe  an  Fr.  Baron  de  la  Motte  Fouqu6, 
hsg.  V.  Dr.  H.  Klctkö,  Berlin  1848,  p.  357  (12.  März  1806). 

")  Vgl.  Solgers  nachgelassene  Schriften... 
1.  Bd..  p,  453  (13.  Okt.  1816). 


—    137    — 

Sinne!"  Auch  Friedrich  Schlegel  empfahl,  man  solle  Jen 
christlichen  Teufel  in  Form  von  Sataniskcn  einführen  (ob- 
gleich vielleicht  der  Satan  der  italienischen  und  cnclisclien 
Dichter  poetischer  sei).  „Es  giebt  vielleicht  kein  ange- 
messneres  Wort  und  Bild  für  gewisse  Bosheiten  en  minia- 
ture,  deren  Schein  die  Unschuld  lieb;;  und  für  jene  reizend 
groteske  Farbenmusik  des  erhabensten  und  zartesten  Math- 
willens,  welche  die  Oberfläche  der  Größe  so  gern  zu  um- 
spielen pflegt**.") 

Aus  der  bloßen  romantischen  Theorie  läßt  sich  die 
Stellung,  die  die  neue  Schule  Milton  gegenüber  einnimmt, 
nicht  völlig  erklären.  Denn  wenn  sie  vom  Dichter  ver- 
langte, daß  er  sich  auf  diese  Welt  beschränken  solle,  so 
konnte  ihr  Miltou  zum  Teil  auch  genügen,  nämlich  da.  wo 
er  unserer  ersten  Eltern  idylliscncs  Leben  schildert,  und  in 
einigen  höllischen  Szenen,  Bleibt  also  die  Frage,  ob  die 
Romantiker  die  künstlerisch  vollkommenen  Partien  des  V. 
P.  rein  ästhetisch  beurteilten  oder  ob  auch  diese  ihnen 
aus  psychologischen  Gründen  nicht  zusagten. 

Da  die  Schule  sich  für  das  Ahnuiigsvol  e,  Rätselhafte 
begeisterte,  konnte  sie  nicht  diese  Eigenschaften  auch  in 
den  oben  angedeuteten  Stellen  vermissen? 

Unter  den  Frühromanlikern  war  August  Wilhelm 
Schlegel  in  seiner  Wertschätzung  des  V.  P.  der  doktri- 
närste. 

Und  zwar  wurde  die  .Meinung,  die  er  von  Milun  hcgic, 
immer  schlechter,  je  mehr  er  sich  in  die  neuen  Lehren  hin- 
einlebte. Früh  schon  verglich  er  die  Teufel  Mütons  mit 
denjenigen  Dantes.")    1794  nannte  er  in  dem  neben  seiner 


*")  Vgl.  Jak.  .Minors  Ausgabe  dtr  Prosaischen 
Jugendschriften  (Wien  1882).  2.  Bd^  p.  271. 

*')  Vgl.  Germanistische  Abhandluntcn.  Mer- 
mann   Paul   zum   17.   Märt   1902    dargtbrach;.    StraBburg   1902, 


—  ISS'- 
Danteübcrsctzung  herlaufenden  Kommentar  Miltons 
Satan  „gigantisch,  aber  durchaus  edel'*")  und  erkannte 
den  Kunstgriff  an,  „wodurch  er  (Milton)  die  Bewohner  der 
Hölle,  die  sonst  aus  der  Poesie  eben  sowohl  wie  aus  dem 
Himmel  verbannt  sein  müßten,  einer  schönen  Darstellung 
fähiger  gemacht  hat".    Noch  1797  urteilt  er  ähnlich.") 

Zwei  Jahre  später  warf  er  im  Athenäum ")  einen 
scheelen  Seitenblick  auf  den  kindlichen  Anthropomorphis- 
mus  im  V.  P. 

Obgleich  er  Dantes  Teufel  bevorzugte,  erkannte  Schle- 
gel 1794  auch  das  Poetische  des  Miltonschen  Satans  an. 
In  seinen  1802/3  abgehaltenen  Vorlesungen  hingegen  spricht 
er  nur  den  Geschöpfen  des  Italieners  dichterische  Existenz- 
berechtigung zu.  „Er  (Milton)  behauptet  ausdrücklich,  daß 
die  bösen  Engel  durch  den  Fall  nicht  alle  Tugenden  ein- 
gebüßt haben,  und  in  der  That  spricht  Satan  wie  ein  Cato; 
dieß  widerspricht  aber  dem  Begriff,  denn  so  wäre  er  'ja 
nicht  wirklich  in  der  Hölle  gewesen,  die  nichts  anders  be- 
deuten kann  als  die  vollendete  innre  Verderbniß".*^) 

Qoethe  fand  Miltons  Satan  zu  negativ,  Schlegel  zu  po- 
sitiv. Dieser  ließ  sich  offenbar  durch  die  philosophische 
These  irre  machen,  daß  die  Kunst  das  reelle  Qegenbild  des 
Ideellen  sein  soll.  Das  der  Hölle  entsprechende  Ideelle  ist 
das  rein  Böse,  das  in  seinem  reellen  Pendant  nichts  Gutes 
haben  kann.  Infolge  dieser  Theorie  trägt  A.  W.  Schlegel 
noch  viel  mehr  Abstraktes  in  die  Kunst  als  Milton,  er  ver- 

Auk'ust  Wilhelm  Schlegel  und  Dante,  von  Emil 
S  u  1  g  e  r  -  G  e  b  i  n  g ,  p.  122  u.   124. 

")  SUmmtliche  Werke,  ed.  Ed.  Böcking,  Leipzig 
1846  f.    Bd.  III,  p.  290  f. 

")  ebd.,  11.  Bd..  p.  156,  in  der  Beurteilung  von  Benko- 
wltz'  u.  Qrohmanns  Schriften. 

*>)  II.  Bd.,  2.  Stück,  p.  208.. 

")  D.  L.  D.  18,  p.  206, 


—    139    — 

langt  direkt  eine  abstrakte  Poesie,  welche  eine  contradictio 
in  adjccto  ist,  weil  das  Wesen  der  Kunst  das  Konkrete  und 
Individuelle  ist. 

Deshalb  findet  Schlegel  auch  an  den  prächtigen 
Kämpfen  zwischen  den  bösen  und  guten  Engeln  nichts 
Gutes.    Sic  haben  keine  „symbolische  Bedeutung". 

„Diese  fehlt  bey  Milton  gänzlich;  und  in  der  Tliat,  wie 
ist  es  denkbar,  daß  Geister  anders  mit  einander  fechten, 
als  durch  Gedanken  und  Gesinnungen;  und  was  soll  ans  ein 
Krieg  der  Engel,  wenn  darin  nicht  der  im  Universum  sich 
offenbarende  Kampf  des  guten  und  bösen  Princips  einge- 
kleidet ist?    Hier  berühre  ich  den  Hauptmangel  des  ganzen 
Gedichts,  daß  es  ihm  nämlich  an  religiöser  .N\ystik 
und   symbolischer   Naturansicht   fehlt.... 
So  wie  der  Fall  Lucifers  unter  Miltons  Händen  eine  ganz 
äußerliche  und  zufällige  Begebenheit  geworden,  so  hat  er 
auch  den  Sündcnfall.  dieses  heilige  Rüthscl.  weiches  am  Ein- 
gange der  Geschichte  der  Menschheit  steht,    diese  ewige 
Hieroglyphe  durch  sein  moralisierendes  Detail  gänzlich  ent- 
mystisirt  und  tu  einer  kahlen  Verständlichkeit  gebracht"  ") 
A.  W.  Schlegel  wurde  so  gerade  den  Partien,  in  wel- 
chen Müton  seine  Individualisierungskunst  zeigt,  nicht  ge- 
recht.  Nur  etwas  erkannte  er  im  V,  P.  an;  Die  Allegorie 
von  Sünde  und  Tod. 

Auf  Grund  derselben  Weltanschauung  kam  Schellinif 
zu  einem  günstigeren  Urteil  über  die  Dichtung.  .\uch  er 
vermißte  im  Gedichte  die  Symbolik  und  wahre  Mythologie 
und  entrichtete  damit  der  romantischen  Theorie  seinen 
Tribut.  Aber  die  Einsicht,  daß  im  sog.  reellen  Gcgcnbild 
alles  individuell  dargestellt  werden  müsse,  bewahrte  ihn 
vor  weiteren  Irrtümern.  „Miltons  Gestalten  sind  zum  Thcil 
wenigstens  wirkliche  Gestalten  mit  Umriß  und  Bcstimmt- 

")  ebd.,  p    208. 


—    140    ^ 

licit,  so  dali  man  z.  B.  seinen  Satan,  den  er  als  einen  Qig:an- 
ten  oder  Titanen  behandelt,  von  einem  Qcmälde  abge- 
nommen glauben  könnte,  während  bei  Klopstock  alles 
Wesen-  und  gestaltlos,  ohne  Gediegenheit  wie  ohne  Form, 
schwebt".")  „In  der  Thai  verräth  M  i  1 1  o  n  eine  Bildsam- 
keit des  Geistes,  die  kaum  zweifeln  läßt,  daß,  wenn  er  das 
unverstellte  Vorbild  des  Epos  vor  Augen  hatte,  er  sich  ihm 
beträchtlich  mehr  genähert  hätte,  als  es  geschehen  ist,  .  .  - 
Milton  theilt  übrigens  die  meisten  Fehler  des  Virgil,  z.  B. 
den  Mangel  derjenigen  Absichtslosigkeit,  die  zum  Epos 
gehört,  obvvohi  er  in  Ansehung  der  Sprache  z.  B.  sich  ver- 
hältnißmäßig  der  Einfalt  des  Epos  mehr  als  Virgil  nähert. 
Zu  den  Fehlern,  die  '^r  mit  Virgil  gemein  hat,  kommen  die 
eigcnthiimlichcn  hinzu,  deren  Grund  in  den  Begriffen  und 
dem  Charakter  der  Zeit,  sowie  in  der  Natur  des  Gegen- 
standes liegen".-*) 

V^ie  alle  jener  Zeit  kann  Schclling  das  Lehrhafte  im 
V.  P.,  das  Absichtliche,  nicht  ertragen.  Aber  er  gibt  doch 
Miltons  Gestaltungskraft  zu,  wenn  ihm  auch,  eben  wegen 
des  Stoffes,  das  Gedicht  nichts  mehr  zu  sagen  scheint. 

Friedrich  Schlegel  verurteilt  an  Hand  der  romantischen 
Doktrin  v/ohl  die  direkte  Darstellung  des  Christlichen,  fügt 
aber  dann  hinzu:  „Der  Werth  dieses  epischen  Werks  liegt 
daher  nicht  sowohl  in  dem  Plar  des  Ganzen»  als  in  ein- 
zelnen Schönheiten  und  Stellen,  und  demnächst  in  der  Voll- 
kommenheit der  höhern  dichterischen  Sprache.  Was  dem 
Milton  die  allgemeine  Bewunderung  erworben  hat,  die  er 
im  achtzehnten  Jahrhundert  fand,  das  sind  die  einzelnen 
Züge  und  Darstellungen  paradiesischer  Unschuld  und 
Schönheit,  und  dann  das  Gemähide  der  Hölle,  und  die  Cha- 


-')  Philosophie  der  Kunst.  Werke,  1.  Abt.,  Bd.  V, 
p.  441. 

")  ebd.,  p.  656. 


Liter? 

Il*^  ~     141     — 

rakteristik  ihrer  Bewohner,  die  er  in  einer  j^roCen  und  fast 
antiken  Art  wie  (jijrantcn  des  Abj;rundes  schildert".") 

Schlcjjel  ist  in  einem  Irrtum  befangen,  wenn  er  glaubt, 
im  achtzehnten  Jahrhundert  hätten  nur  einzelne  Stellen  des 
V.  P.  gefallen.  Diese  sind  nach  seinem  Qeschmackc  das 
einzig  Schöne  des  Gedichtes. 

ihm  stimmt  Ludwig  Tieck  bei.  wenn  er  im  Brief  an 
Solger  sein  Urteil  über  Milton  zusammenfaßt:  „Im  Muten 
ist  gerade  die  Allegorie  von  Sünde  und  Tod.  die  man  hat 
tadeln  wollen,  recht,  die  Schilderungen  des  Paradieses  und 
der  Unschuld  schön,  einige  Qcmüthsbewcgungen  Satans 
groß,  und  Gott  Vater  und  die  Hierarchie,  die  Disputation  im 
Himmel,  der  Kntschluß  Christi  für  die  We'.t  zu  sterben,  und 
alles,  was  damit  zusamenhängt,  höchst  albern".'*)  Daß 
t^in  A.  W.  Schlegel  oder  ein  Tieck  die  Alhgoric  von  Sünde 
und  Tod  anerkennen  würde,  war  bei  ilirer  Vorliebe  für 
alles,  hinter  dem  sich  noch  etwas  suchen  läßt,  zu  tru  arten. 

Als  Schiller  in  dem  uns  bekannten  Brief  auf  Miltons 
Zeit  zu  reden  kam,  verglich  er  sie  mit  der  eigenen,  die  der 
Entstehung  der  allegorischen  Kunst  auch  förderlich  sei:  Cr 
stellte  also  Miltons  Dichtungsari  der  romantischen  zur  Seite. 
Nicht  mit  Unrecht,  macht  sich  doch  in  beiden  das  Ab- 
strakte schädlich  bemerkbar.  Aber  die  Romantiker  waren 
doch  vom  Wahne  frei,  das  Übersinnliche  verkörpern  zu 
wollen.  Deshalb  kamen  sie  zu  Ergebnissen,  die  sich  mit 
denjenigen  der  Klassiker  decken.  Goethe  will  das  Gött- 
liche fühlen,  die  Romantiker  es  ahnen. 

Wir  haben  die  romantischen  Urteile  iibcr  .Milton  im 
19.  Jahrhundert  suchen  müssen:  aber  in  ihnen  spiegeln  sich 
die  Gedanken,  die  die  junge  Generation  um  1800  erfüllten. 


'*)  Geschichte  .  .  .    Zweiter  Teil.  p.  M3. 
^*)Sol]i;ers    nachgelassene    Schriften.    Bd.   1., 
p.  453. 


—    142    — 

Fr.  Schlegels  Vorlesungen  besonders  zeigen  uns  den  roman- 
tischen Geschmack  in  seiner  abgeklärtesten  Form. 

Weder  den  Romantikern,  noch  den  Klassikern  sagte 
das  V.  P.  etwas;  sie  erkannten  in  ihm  nur  einige  Partien  an, 
die  vielen  ihrer  Zeitgenossen  ein  Erlebnis  bedeuten  konnten. 


Miltons  Verlornes  Paradies  hat  in  Deutschland  ein 
eigenartiges  Schicksal  erfahren. 

Den  begeisterten  Empfang,  der  ihm  vor  1750  auf  deut- 
schem Boden  bereitet  wurde»  verdankte  es'  nicht  in  erster 
Linie  seinen  künstlerischen  Vorzügen,  sondern  seinem  dog- 
matisch-didaktischen Inhalt.  Gerade  Miltons  Gestaltungs- 
fähigkeit, wie  sie  in  seinem  Satan  zum  Ausdruck  kommt, 
wurde  am  wenigsten  gewürdigt. 

Seil  Lessing  erst  wurde  des  Dichters  Schö'pierkraii 
als  solche  gewertet.  Satan  fand  Anerkennung,  ja  Ver- 
ehrung. Abe»*  im  aufkommenden  realistischeren  Geschmack, 
der  dem  V.  P.  mehr  Gerechtigkeit  verschaffte,  lag  Miltons 
Todesurteil  begründet:  Das  Seraphische,  das  im  Gedicht 2 
keinen  reinen  Ausdruck  gefunden,  wurde  bei  Seite  gescho- 
ben und  dann  abschätzig  verurteilt.  Selbst  Satan,  der  sich 
im  dogmatischen  Milieu  nicht  ganz  ausleben  kann,  fand 
in  den  Gestalten  anderer  Dichter,  die  dem  neuen  Ge- 
schmack und  Verständnis  mehr  zusagten,  eine  erdrückende 
Konkurrenz.  So  kam  gerade  das  beinahe  Beste,  das  Milton 
hervorgebracht,  in  Deutschland  nie  recht  zur  Geltung. 

Besser  als  dem  gefallenen  Erzengel  erging  es  den 
Szenen,  in  denen  Adams  und  Evas  unschuldiges  Leben  ge- 
schildert wird;  sie  fanden,  weil  in  ihnen  Dogma  und  Kunst 
beinahe  völlig  verschmolzen  sind,  sowohl  zu  Bodmers  Zeit 
als  auch  später  begeisterte  Leser. 

Sie,  einige  gewaltige  Satanszenen  und  die  lyrischen 
Stellen,  wurden  zu  Ende  des  Jahrhunderts  auch  von  den 


Liier? 

H-'  —    143    — 

maßgebenden  Dichtern  mehr  oder  weniger  gebilligt,  ohne 
daß  sie  ihnen  etwas  bedeutet  hätten.  Denn  das  deutsche 
Geistesleben  hatte  um  1800  solche  Höhen  erklonmicn.  daß 
die  fraglichen  Partien,  schon  ihres  bnichstückariigcn  Cha- 
rakters wegen,  nur  noch  Geistern,  die  der  neuen  Zeit  nicht 
folgen  konnten,  zum  Erlebnis  wurden. 

Das  neunzehnte  Jahrhundert  bewegt  sich  in  seinem 
Urteil  in  den  von  der  Klassik  und  Romantik  vorgczcich- 
nctcn  Bahnen. 

Miltons  Name  stirbt  nicht;")  aber  selten  tritt  ein  Be- 
wunderer auf  wie  .\ug.  v.  Plaien."*)  Von  Zeit  zu  Zeit  wird 
eine  Übersetzung  versucht  1S64  kann  Immanuel  Schmidt 
inHerrigsArchiv  (Bd.  36,  p.  117)  sagen:  .,In  Deutsch- 
land .  V  .  gibt  es  nur  höchst  Wenige,  die  mit  dem  Verlornen 
Paradiese  bekannt  sind;  unserer  Zeit  scheint  alles  Interesse 
an  Milton's  Poesie  zu  fehlen".  Kenner  der  englischen  Lite- 
ratur gab  und  gibt  es  immer,  für  sie  niag  das  Dichterwort 
gelten: 

„Verschollen  ist  der  Lärm  der  Gasse, 
Döch  ob  Jahrhundert  um  Jahrhundert  flicht, 
Von  einem  bangen  Mädchen  aufgeschrieben. 
Sind   Miltons   Rächerverse  stchu   gebüeben. 
Verwoben  In  sein  ewig  Lied". 

(C.  F.  Me>cr,  Miltons  Rache.) 


'0  Die  historische  Persönlichkeit  wird  sogar  auf  die  Bühne 
zcbracht.  Zu  einem  Singspiel  M  i  1 1  o  n  von  S  p  o  n  1 1  n  i  schrieb 
Qeorc  Fr.  Treitschke  den  Text  (Wien  1S05).  .\uch  R  a  u  • 
pach  und  Carl  von  Holtei  truzcn  sich  mit  dem  ücdankcn. 
für  S  p  o  n  t  i  n  i  dasselbe  zu  tun.  Vj:l.  Qocdcckc,  Grund- 
riss  IX,  p.  521. 

='')  Daß  In  Heines  Schöpfungsliedern  Qott  aui 
Satans  Vorwürfe  im  V.  P.  antworte,  nimmt  S  i  e  e.  Lcvy  ohne 
zwingende  Gründe  an.  (Vgl.  Schnorrs  Archiv  .  .  Bd.  12, 
p.  482/3).  Die  Vorwürfe  erhebt  der  Dichter  selbst  und  läßt  den 
verhöhnten  Gott  darauf  erwidern. 


Curriculum  vitae 


Ich,  Enrico  Pizzo  aus  Padua,  wurde  am  6.  Apri!  1890 
als  Sohn  eines  Italieners   und  einer  Deutschschweizerin  in 
Zürich    geboren.     1896—1902    besuchte    ich   daselbst    die 
Primarschule    und    1902— 190S    das    kantonale    Literargym- 
nasium,   das   ich   im  Oktober  1908   mit   dem  Reifezeugnis 
verließ.    Darauf  habe  ich  an  der  ersten  Sektion  der  philo- 
sophischen  Fakultät  der  Universität  Zürich  mit  Ausnahme 
eines  Jahres  (Herbst  1910  bis  Herbst  1911),  während  dessen 
ich  an   der  Royal  Gramm.ar  School  Colchester  eine  Lehr- 
stelle bekleidete  und  die  Edinburger  Ferienkurse  mitmachte, 
bis   Frühling   1913  germanische  und  englische  Philologie 
studiert,    ich  besuchte  die  Vorlesungen  und  Seminarien  der 
Herren  Professoren  A.  Bachman,   A.  Frey,"  NX'.  Freytag,  0. 
Meyer  von  Knonau,  A.  Stadler  f,  A.  Wreschner,  Th.  Vetter 
und  der  Herren  Privatdozenten  R.  Faesi,  B.  Fehr,  K.  Frey. 
Am  26.  April  bestand  ich  das  Doktorexamen.  Gegenwärtig 
bin  ich  Hilfslehrer  an  den  höheren  Stadtschulen  Winterihur 
und  am  Gymnasium  Zürich.    Allei;i  meinen  Lehrern,  beson- 
ders aber  den  Herren  Professoren  A.  Bachmann,  A.  Frey 
und  Th.  Vetter  sei  für  das  Empfangene  der  herzlichste  Dank 
ausgesprochen. 


Literarhistorische  rorschun'geu .  .<.■  .^■:\..,:rg 

lieft  IS  ilcliodor  niul  seine   ncdptiljuisr  ftir    i'        f.  ••, 
Ocftoriii;:.     -j.—  M.  r^iib-k-ij.tso;.«'  : 
,:    19  Thomas   Kjd's  SpaisUh  Ti-nrödjr.    \,,  .   ,    .,  ,        k^-j^,.;. 

-  ^'  ?/'e""J'^,''  '^''-^'^  '""^  .•^>!?S''''i.^^^  ^  raV5!-,.if«  .'i:i«'af(V„  Qn*r.^. 

,.    20  Wort  iiik]  r.rru'utunar  in  (^oothos  Sivrn.h«'    ^  i>,-„^v* 

o. —  .tl,  ^^l!)SK^lIlt!0il^-pr^•l8  4.40  M 

..    21   IiiuiWTniaiJiis  „KalMM*  Fri«HlrU-h  ilrr  Zni'lte**.    1   ,;  -kiirai' /nr  G*^- 

H'huhte  (icT  i^o^0IlMn^lf^Iu■rn^'^  n.  Von  Wem    r  l)<eiir'      '       ■'^' 
.SuhFkrij^ronsj.reis  3..';0  M  .     •  ' 

„  22  LiiJsri  I'.ilcl  ixuil  tho  Mf-rjaufi-»  Mory^or*.  iJr  f...v.is  ,,,,  .  ,^ 
2.—  ."\I,  Sul>kr:pii(t:)i-prcis  1.70  Ji  * 

'     -'^  I^.i't-  Uffrain  l»  .<lcr  frarizrrsischpa  Cha  <v,r.  Von  Cu«iar  ?htir*u. 

1^  —  M,  Snbskriptiotiiiprcs  !0.1>»  M 

"    -'•   ^VA^^Vr  yV■^^^'.^'•'»»^•  Kjn^'rnto^sn.-^ ^^•:JheimM;?^.nc:^ 

_.iO  :^l,  hnliikniuon^prois  2.2;.»  M 

..    5.-)  Der   Ma.inliohnor  Miak?sponn\  nir  n.s<>liioh>  d^ 

LJulc-lJcrnny«.    2.-~M,  j^uhr; "vM 

„  2G  l)ic  nio.VrliijMliM;!«'»  «nd  tlfulM-Iu«  I{«irH»:jt,nsoi.  vom  Tli^nin. 
K.vd«   SpanJsh   Tnigodv.     Von   »t-M."   t?-hü'?jnverlh     ts   -   ^ 

Snl)sknj)i.on;-'j)rcis  7.  -  >l 

,,    27  Ilfiuiioli  Ht'WjfK  VorhHIfnis  /.a  I^^nj  ilvi  .s».  Vnp  ¥>''/•%  ^«olc«.  r 

'?.:>:•  M,  .Si)ljkri})tionFpreis  :}.-  M  '  '"       "~ 

,.    28  IJalicl    Vaniliufffii    und   die    nosnaiti^k.    Vor    fL  iiraf      'j?0  >f 

i'>uh.s.jriptionsprcif?  2.—  M  "  ' 

„    2i3  !)«(>    LlolK'sliiroHn    der    Provpm -.»l.'n     i-..    di.i    .V 

Stauforzdi.    Ivne  ÜJcraihiiäU:^:^.:};.-   l',  •  — i;tinnif 

doritz.    .'{.  -  M,  Snliskription"-;):.;:!  2.<lc^  ■■' 
,.    30  Natlimilcl  loo's  Traii<>jspWl  Tlt(>.'Kt<H,Sit*  .  -  r  (Vr,.    Vnn 

Fritx  Hesß.     K-V)  M,  S!ili-kji()iio;5sr.ro-  4.-  -   ^t 
,,    31   JoJin  IJanlajs  Arsronls.    Eine  !itc-r^';i  ,  r^«.  »l^  ?*  .    , 

Kar!  FrifnJrich  Hchtni.!.     }.— >J,  f*i:' .  />  sl 

,,    32  IJopvc-AinIcthiis.    Das  alifraiur,siMhi;  Kjk.^  ,.    liamtonc 

;!ii(l  (icr  l-rspruiii;  der  Hamlclcaef.    Von  lln^^U  /.eu,>-r     '..  -  M 

Subskriptionspreis  *>.—  M 

„  ci  SMIoy  und  die  Frauen.  Von  Otto  Maurer.  3..,,  M,  Subskrip« 
tionsprciK  3.—  M  "^ 

,.  34  Ben  JonsoM.  3I;t  ciium  nüdi.'s.  Vcn  Ph-I; -,;  .«ror^-^ii.  <•  ..  M 
Subskriptionspreis  r-.-tÜ  M  

.,  35  Sltidles  \n  Kn-^MMi  Fauvl  I.lleratnrr.  V^r.  Ali;  tj  K  H-.  •  ard» 
J.  'Ihc  Fn^ilish  Wa^rntr  Book  o(  J.M^J  F^iied  wiih  h.tjv-.JuMi^.tj  ml 
>of.(s.     J..7)  M,  Sul^kriplior.iipreis  j.—  M 

.,  3C  Ileinc  und  sein  >Vifz.  Von  Kr» eh  K^'k <•.»/.  4  ~  Af  j^unskrn. 
tionsprcis  3.'»0  31  •  •       t       i 

,,  37  Neue  IJcWriice  zur  Ix-fknnde  und  Kritik.  InsW^ndere  lam  CÄMir 
l5orj:!a  uiid  zur  S(,plionMuu  Von  Ulio  Mehr.  3^:»M  fciuUinfc. 
lionsprciB  3X»0  M  '  ' 

,    38  Itohert  IlroMnlnsrR  Vcrhillini«  i:«  Frnnkrflifc.  Von  K^rl  F.  hniidt 

■s.—  M,  Subskriptionfprcif  3.50  M 
„  3&  Die  drei  Diauianlen  de»;  I.op<'  de  V<fra  u 

Von  ])r.  Gertrud  Xlunsner.     1  —  M.  •  a.-  >! 


VERLAG  von  EMIL  FELBER  in  ESERLi.N'  \V  57 


SINDJNGSECT.  JUL241972 


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UNIVERSITY  OF  TORONTO  LIBRARY 


PR  Pizzo,   Enrico 

3562  Miltons  Verlornes 

P59  Paradies  im  deutschen 

urteile  des  18.   Jahrhunderts 


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